Kapitel 8

Der Computermann, so um die Zwanzig, mit langen dunkelblonden Haaren, durch die er alle paar Sekunden geziert die Finger gleiten ließ, hatte den Versuch, unsere Hardware wiederzubeleben, schon aufgegeben, als ich zurück ins Büro kam.

«Was für ein Virus?«fragte ich, als ich an Isobels Schreibtisch stehenblieb, und fühlte mich über die Maßen heimgesucht. Wir hatten die Grippe, wir hatten Ufos, wir hatten Leichen, wir hatten Vandalen, wir hatten Gehirnerschütterung. Ein Virus im Computer konnte das Faß zum Überlaufen bringen.

«All unsere Daten«, klagte Isobel.

«Und unsere Buchhaltung«, fiel Rose ein.

«Es empfiehlt sich, Sicherungskopien anzufertigen«, sagte ihnen der Computermann mit gespieltem Bedauern, während sein unverstelltes junges Gesicht voll Verachtung war.»Immer Sicherungskopien machen, meine Damen.«

«Was für ein Virus?«fragte ich nochmals.

Er zuckte die Achseln und steckte mich mit in die Dummbeutelschublade.»Vielleicht Michelangelo… Michelangelo wird am 6. März aktiviert, und er ist noch ziemlich verbreitet, aber das wissen Sie sicher.«

«Vielleicht hab ich’s vergessen. Erklären Sie bitte.«

Er erklärte es mir wie einem geistig Zurückgebliebenen.»Der 6. März ist Michelangelos Geburtstag. Wenn der Vi-

rus in Ihrem Computer schlummert und Sie schalten Ihren Computer am 6. März ein, wird der Virus aktiviert.«

«M-hm. Nun, der 6. März war vergangenen Sonntag. Niemand hat am Sonntag den Computer bedient.«

Isobels große Augen wurden noch größer.»Das stimmt.«

«Michelangelo ist ein Bootsektor-Virus«, sagte der Fachmann und erklärte es uns verständnislos Blickenden mit Engelsgeduld.»Es genügt, wenn man das Gerät einschaltet — die Maschine hochfährt. Einfach einschalten, ein oder zwei Minuten warten und wieder aus. Das Hochfahren nennt man Booten. Alle Daten auf der Festplatte werden durch Michelangelo sofort gelöscht, und Sie erhalten die Meldung FATAL DISK ERROR. Das ist mit Ihrem Rechner passiert. Die Daten sind hin. Die bekommen Sie nicht wieder.«

Entsetzt und verzweifelt, vom Gewissen gepeinigt, starrte Isobel mich an.»Ich weiß, Sie haben uns gesagt, wir sollten Sicherungskopien machen. Sie haben es uns immer wieder gesagt. Es tut mir schrecklich leid. Es tut mir ja so leid.«

«Sie hätten darauf bestehen sollen«, sagte Rose zu mir.»Ich meine, Sie hätten uns zwingen sollen.«

«Sie scheinen noch nicht mal beunruhigt zu sein«, sagte Isobel.

Ich wandte mich an den Computermann.»Würde der Virus auch auf Sicherheitskopien aktiviert werden?«

«Sehr wahrscheinlich.«

«Wir haben doch sowieso kaum welche«, jammerte Iso-bel.

Wir hatten zufällig komplette Kopien von allem, was die Sekretärinnen bis einschließlich vorigen Donnerstag in den Computer eingegeben hatten. Ich wußte, daß ihnen das tägliche Anlegen der Sicherungskopien etwas lästig gefallen war. Manchmal hatten sie es tagelang hinausgeschoben. Ich hatte sie immer und immer wieder daran erinnert, nur ja die Kopien zu machen, und wußte, daß sie sich von mir unnötig getriezt fühlten. Der Computer schien auf ewig zuverlässig. Schließlich war ich dazu übergegangen, die täglichen Kopien auf dem Terminal in meinem Wohnzimmer selbst anzufertigen und die Disketten in meinem Safe zu verwahren. Wenn du willst, daß etwas richtig gemacht wird, hatte meine Mutter immer gesagt, dann mach es selbst.

Jetzt im Augenblick war an die Kopien, obwohl sie existierten, wegen der mit der Axt behauenen Safekombination nicht heranzukommen.

Ich hätte sie alle hinsichtlich unserer Daten beruhigen können und würde es normalerweise auch getan haben. Mißtrauen hielt mich davon ab. Ein Mißtrauen, das ich nicht festmachen konnte. Aber es war mir ein zu sonderbarer Zufall, daß das Computersystem ausgerechnet jetzt zusammenbrach.

«Es trifft nicht nur Sie«, sagte der Computermann.»Ärzten, Anwälten, allen möglichen Firmen wurden die Daten gelöscht. Einer Frau ist ein ganzes Buch verlorengegangen, an dem sie gearbeitet hat. Und dabei kostet es keinen Pfennig, Kopien anzulegen.«

«Ach je. «Isobel war den Tränen nahe.

«Was ist denn eigentlich ein Virus?«fragte Rose unglücklich.

«Ein Programm, das dem Computer befiehlt, alles, was in ihm gespeichert ist, durcheinanderzuwerfen oder zu löschen. «Er erwärmte sich für sein Thema.»Es sind mindestens dreitausend Viren in Umlauf. Berühmt ist Jerusalem II, der an jedem Freitag, den 13., aktiv wird, ein besonders übler Geselle. Der hat schon viel Ärger gebracht.«

«Aber was steckt dahinter?«fragte ich.

«Vandalismus«, meinte er vergnügt.»Zerstörung und Beschädigung als Selbstzweck. «Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.»Ich könnte Ihnen zum Beispiel einen netten kleinen Virus kreieren, der dafür sorgt, daß Ihre Buchführung nicht mehr aufgeht. Nichts Spektakuläres wie Michelangelo, kein Totalschaden, nur so, daß es Sie verrückt macht. Eine eingebaute Fehlerquelle, damit Sie endlos nachrechnen und suchen müssen und nie die richtige Zahl rauskommt. «Man sah, daß ihm die Vorstellung gefiel.»Wenn Sie so ein Programm erst mal geschrieben haben, müssen Sie es verbreiten. Ich meine, der Virus kann von einem Computersystem auf ein anderes übergehen. Man braucht dazu eine Diskette mit dem Virus. Man lädt die Diskette in einen Computer und überträgt die Daten von der Diskette auf das System — wie es ständig geschieht —, und zack! springt der Virus über und legt sich auf die Lauer.«

«Was macht man dagegen?«fragte ich.

«Es gibt heute alle möglichen teuren Programme, um Viren aufzuspüren und zu neutralisieren. Und eine Menge Leute bemühen sich, Viren zu erfinden, die man nicht loswerden kann. Das ist ein ganzer Gewerbezweig. Reizend. Ich meine, schlimm.«

Viren, überlegte ich, brachten ihm Einnahmen.

«Wie stellt man fest, ob man einen Virus hat?«fragte ich.

«Man checkt die Informationen in dem betreffenden Computer durch. Auf der Platte, die ich dazu nehme, sind über zweihundert gängige Viren. Die sagt Ihnen, ob Ihr Rechner von Michelangelo oder Jerusalem II infiziert ist. Hätten Sie mich vorige Woche geholt, hätte ich das machen können.«»Vorige Woche sahen wir dazu keine Notwendigkeit«, sagte ich.»Und, ehm… wenn dieser Michelangelo nur am 6. März aktiviert wird, dann hatten wir ihn voriges Jahr am 6. März offensichtlich noch nicht in unserem System.«

Der Experte gab weitere Informationen preis.»Michelangelo wurde erst nach dem 6. März 1991 erfunden und greift nur bei IBM-kompatiblen Geräten wie dem Ihren.«

«Das ist kein Trost«, sagte ich.

«Äh… nein. Aber ich kann Ihnen die Anlage säubern. Dann ist sie erst mal virenfrei und bleibt es auch, vorausgesetzt, Sie passen auf, daß nichts von draußen reinkommt. Freunde, Bekannte könnten Ihnen infizierte Platten leihen. Und… haben Sie noch andere Terminals?«

«Bei mir zu Hause steht eins«, sagte ich.»Aber das ist demoliert worden.«

Der Fachmann war entgeistert.»Sie meinen, noch ein Virus?«

«Nein, ich meine mit der Axt.«

Die äußerliche Zerstörung eines Computers schmerzte ihn sichtlich. Bösartige innere Krankheiten waren sein Metier. Äxte fielen unter mutwillige Beschädigung, sagte er.

«Mir scheint, Computerviren sind auch mutwillige Beschädigung«, sagte ich.

«Ja, aber das ist ein Spiel.«

«Nicht, wenn man dabei sein Lebenswerk verliert«, gab ich zu bedenken.

«Wer keine Sicherungskopien anfertigt, der spinnt.«

Ich war ganz seiner Meinung, was Sicherungskopien anging, vermochte Viren aber nicht als Spiel zu betrachten. Für mich waren sie genauso schlimm wie chemische Kriegsführung. Ich hatte von einem Computervirus gehört, der eine ganze geologische Untersuchung gelöscht hatte, so daß man in einer Wüstenregion nicht rechtzeitig Brunnen bohren konnte und über tausend Menschen zugrunde gingen. Der Urheber dieses Virus war angeblich über seine Durchschlagskraft entzückt. Die Opfer hatten eben Pech gehabt.

Ich sagte:»Es läßt sich wohl nicht feststellen, ob dieser Virus absichtlich oder aus Versehen in unser System eingeführt worden ist?«

Er starrte mich ernst an, die Hand geschäftig in den Haaren.

«Das mit Absicht zu machen, wäre unfein.«

«Ja.«

«Die meisten Viren werden unabsichtlich verbreitet, wie Aids.«

«Wie lange können sie schlummern?«

«Ein Virus kann ziemlich lange dasein, bevor er zum Leben erweckt wird. «In seinen Augen lag das ganze traurige Wissen seiner Generation.»Man muß Vorsichtsmaßnahmen treffen.«

Ich sagte ihm, daß ich wünschte, wir hätten ihn schon früher gekannt, und erwähnte den Namen der Firma, an die wir uns bisher gehalten hatten.

Er lachte.»Die Hälfte der PCs, die die verkauft haben, war von Viren überschwemmt. Die haben selber infizierte Virensuchprogramme benutzt und verseuchte Disketten, die ihnen wütend zurückgeschickt wurden, neu verpackt, um sie wieder unters arglose Volk zu bringen. Sie sind über Nacht verschwunden, weil sie wußten, daß ihnen der

6. März eine Flut von Schadensersatzklagen empörter Kunden beschert. Obwohl der 6. März ein Sonntag war, mußten wir vergangene Woche zig Fälle wie diesen hier bearbeiten. Nicht unsere, sondern deren Kunden.«

Isobel sah bestürzt aus.»Aber sie waren immer so nett und hilfsbereit, die kamen jederzeit her, wenn wir sie brauchten.«

«Und es sollte mich nicht wundern, wenn sie den Rechner dann so programmiert haben, daß Sie sie auch weiterhin brauchten«, sagte der Experte mit nur halb verborgener Bewunderung.

«Wenn Sie das mit mir machen«, sagte ich freundlich,»klage ich Ihnen Ihr letztes Hemd vom Leib.«

Er betrachtete mich nachdenklich.»Ich doch nicht«, sagte er und fügte, wie um sich vor künftigen, zu Unrecht erhobenen Vorwürfen zu schützen, hinzu:»Denken Sie daran, daß Fehlbedienung der häufigste Grund für kompletten Datenverlust ist. Ich meine, Sie können die ganze Festplatte leerputzen, einfach indem Sie ein Delete für >Löschen< im Hauptverzeichnis eingeben.«

Wir blickten verständnislos.

Er sagte zu Isobel:»Mal angenommen, Sie geben DEL Stern-Punkt-Stern ein — mehr braucht es nicht. Das ist genauso wirkungsvoll wie Michelangelo. Sie würden alles für immer verlieren.«

«Nein!«Wie vorauszusehen, war sie entsetzt.

«Doch. «Er lächelte.»Aber davon halten die Leute nichts, die sich Viren ausdenken.«

«Aber warum?«fragte Isobel unglücklich jammernd.»Warum erfindet einer Viren, die so viel Unheil stiften?«

«Um sich wichtig zu machen«, sagte ich.

Die Augen des Fachmannes weiteten sich. Meine Einschätzung gefiel ihm nicht. Er bewunderte eher die Kunstfertigkeit des Erfinders, statt dessen Eitelkeit zu verachten.

«Nun ja«, sagte er langsam,»es stimmt schon, daß eine Menge Virusleute ihren Namen im Programm hinterlas-sen. Einer zum Beispiel heißt Eddie, der hat schon mehrere erfunden.«

«Machen Sie uns mal wieder flott«, unterbrach ich ihn, denn plötzlich war ich das ganze Thema leid.»Sie können unsere Anlage ab jetzt betreuen und regelmäßig ihren Betriebszustand prüfen. Wir arbeiten noch einen Wartungsvertrag aus.«

«Mit Vergnügen«, sagte er, und die Hand fuhr doppelt schnell durch das Haar.»Morgen sind Sie wieder voll aktionsfähig.«

Ich ließ ihn allein, als er rasch noch eine (teure) Liste von den Sachen zusammenstellte, die wir brauchten, und ging in mein eigenes Büro, um mit den Herstellern meines Safes zu telefonieren.

«Eine Axt?«riefen sie verblüfft aus.»Sind Sie sicher?«

«Ich brauche jemand, der mir den Safe öffnet«, bestätigte ich.

«Was können Sie tun und bis wann?«

Sie gaben mir die Telefonnummer ihres nächsten Vertreters. Der Vertreter werde selbstverständlich einen Schlosser vorbeischicken, damit der sich die Sache einmal ansah.

Der Vertreter klang nicht eben begeistert und schlug zögernd eine Inspektion in der nächsten Woche vor.

«Morgen«, sagte ich.

Ein scharfer Atemzug. Ich sah die geschürzten Lippen, den nachdenklich wiegenden Kopf richtig vor mir. Vielleicht am Freitag nachmittag. Vielleicht. Das sei dann aber als eine Riesengefälligkeit zu werten.

Ich legte auf und dachte bei mir, wenn ich auf Anfragen mit so viel Widerwillen und so wenig Bereitschaft reagieren würde, wäre ich bald raus aus dem Geschäft. Nicht nur, daß ich jederzeit selbst überallhin fuhr, wenn sonst kein Fahrer zur Verfügung stand, sondern oft lieh ich kurzfristig einen Wagen bei der Konkurrenz aus, nur um keinen Auftrag abzulehnen. Bis jetzt hatte ich noch praktisch alles, was ich transportieren sollte, transportiert. Das hatte natürlich mit Stolz zu tun, aber mit einem Stolz, der Leistung bringt.

Aziz kam ins Büro, um die Schlüssel für den Fourtrak zu holen, da er Lizzie nach Heathrow bringen sollte. Ich bat ihn zerstreut, sie vorsichtig zu fahren.

«Im Kreisverkehr vom Gas runter?«fragte er strahlend.

«O Gott. «Zum erstenmal an diesem Morgen war mir zum Lachen.»Ja. Bringen Sie sie rechtzeitig zu ihrem Flug.«

Als er fort war, dachte ich eine Zeitlang über dies und jenes nach und rief dann noch einmal den Computerspezialisten an. Er meldete sich sofort, berichtete zufrieden, daß er gerade wieder ein Michelangelo-Opfer verarzte, und versicherte mir, er werde morgen früh wieder bei uns vorbeischauen.

«Gut«, sagte ich,»aber… äh, könnten Sie mir eine Frage beantworten?«

«Schießen Sie los.«

Ich sagte:»Läßt sich das Datum im PC verändern? Ließe sich seine Uhr so einstellen, daß der 6. März gar nicht im System erscheint? Könnte man aus dem 6. März den 7. machen?«

«Klar«, sagte er bereitwillig.»Das ist eine bekannte Methode, um den 6. März zu umgehen. Man stellt die Uhr auf den 7. vor, und ein paar Tage später stellt man sie wieder richtig. Sehr einfach, wenn man sich auskennt.«

«Und könnte man. den 6. März auch vor- oder zurückverlegen, so daß der Schaden effektiv am 5. oder am

7. März eintritt?«»Ja. «Eine Pause.»Das wäre aber reine Bosheit. Dazu müßte man wissen, daß der Virus da ist.«

«Aber es ginge? Und auch die Stunden könnte man verstellen?«

«Ja.«

«Wie lange würden Sie brauchen, um die Uhr zu verstellen?«

«Ich selbst? Sagen wir, höchstens eine Minute.«

«Und wenn ich es machen würde?«

«Nun«, meinte er nachdenklich,»wenn Ihnen Schritt für Schritt jemand aufschreibt, wie es geht, oder wenn Sie eine Bedienungsanleitung haben, dann sollten Sie vielleicht fünf Minuten rechnen, aber ungestört, da Sie sich konzentrieren müssen. «Er schwieg erneut.»Glauben Sie ernstlich, daß Ihnen jemand die Uhr verstellt hat? Denn jetzt geht sie jedenfalls richtig.«

«Ich weiß es nicht«, sagte ich.»Ich habe nur gefragt.«

«In Ordnung«, erwiderte er.»Also dann. Bis morgen.«

Ich kämpfte gegen Schatten, dachte ich. Sah Schurken hinter jedem Strauch. Mit großer Wahrscheinlichkeit war mein Computer, wie so viele andere, durch Zufall abgestürzt. Und wenn nicht… dann mußten irgendwo in seinen Daten die Informationen enthalten sein, die ich brauchte, um die Rätsel um mich herum zu lösen. Informationen, von denen irgendein Feind wußte, daß ich sie besaß.

Daten ließen sich am einfachsten zerstören, indem man DEL Stern-Punkt-Stern eingab. Aber dazu mußte man anwesend sein, und die Platte würde sofort den Geist aufgeben. Wenn man die Uhr des Rechners verstellte, um Michelangelo zu aktivieren, konnte man einen beliebigen künftigen Zeitpunkt bestimmen, wie bei einer Zeitbombe.

Sandy Smith kam mit seinem Streifenwagen auf den Hof gefahren und parkte ihn vor dem Bürofenster, ein überraschender, aber willkommener Besuch. Er kam zu mir herein, nahm seine Schirmmütze ab und setzte sich in den Sessel mir gegenüber.

«Joggers Verhandlung«, sagte er und wischte sich die Stirn.

«Wie ist sie gelaufen?«

Er zuckte die Achseln.»Eröffnet und vertagt, wie ich voraussagte. Ich habe ihn identifiziert. Dr. Farway hat den Tod festgestellt. Der Coroner sah sich die Fotos an, und er hatte den Obduktionsbericht gelesen. Er hat wegen noch laufender Ermittlungen vertagt. «Sandy seufzte tief.»Ich sollte Ihnen vielleicht sagen, daß er nicht glücklich ist. Es war die Rede davon, daß Jogger durch den Bruch und das Ausrenken des obersten Halswirbels gestorben ist und daß sich im Bereich der Verletzung Rostteilchen in seiner Haut befunden haben.«

«Rost!«wiederholte ich argwöhnisch.

«Wahrscheinlich sind am Rand der Schmiergrube rostige Stellen«, sagte Sandy.

«Das hoffe ich zu Gott.«

Wir sahen uns ausdruckslos an, wollten den naheliegenden Schluß noch immer nicht in Worte fassen.

Sandy sagte:»Laut Obduktionsbefund ist er gegen Mittag gestorben.«

«So?«

«Es wird eine Menge Fragen geben.«

Ich nickte.

«Man wird wissen wollen, was Sie um diese Zeit gemacht haben«, sagte Sandy.»Danach fragen sie bestimmt.«

Blumen gepflückt, sie aufs Grab meiner Eltern gelegt, zum Lunch bei Maudie Watermead gefahren. Nicht gerade ein umwerfendes Alibi.

«Gehen wir in der Kneipe was trinken«, schlug ich vor.

«Ich kann nicht. «Er blickte ein wenig schockiert drein.»Ich bin im Dienst.«

«Wir könnten ja Cola trinken«, sagte ich.»Ich muß die Rechnung für Joggers Gedenkrunde bezahlen.«

«Oh. «Sandys Gesicht sah erleichtert aus.»Na, in Ordnung.«

«Können wir mit Ihrem Wagen fahren? Mein Fourtrak ist unterwegs.«

Er wollte mich nicht mitnehmen, tat sich aber mit der Ablehnung schwer.

«Keine Sorge, Sandy«, foppte ich ihn müde.»Ich kompromittiere Sie schon nicht. Ich nehme Joggers alten Lieferwagen. Sie brauchen nicht mitzukommen, wenn Sie nicht wollen.«

Er wollte aber. Wir fuhren im Konvoi zu Joggers Kneipe, und ich überreichte dem Wirt einen dicken Scheck. Der Wirt war mit dem Geschäft sehr zufrieden und hatte sich mit der Autogrammsammlung alle Mühe gegeben. Die Unterschriften füllten einen Bogen Papier von der Größe einer Zeitungsseite und waren von gutgemeinten Kommentaren begleitet.»Armer alter Jogger, jetzt hat er ausgejoggt.«

«Macht die Tür auf, aber quer, der Jog ist ziemlich breit, o Herr.«

«Macht hoch die Tür«, sinnierte Sandy, der mit mir las.

«Auf dem Weg zum großen Ölwechsel im Himmel«, sagte der Wirt und zeigte mit dem Finger.»Das ist von mir.«»Sehr passend«, versicherte ich ihm.

Die halbe Einwohnerschaft von Pixhill schien unterschrieben zu haben, aber leider kreuz und quer, nicht in übersichtlichen Spalten, wie es mir vorgeschwebt hatte. Die meisten meiner Fahrer standen auf der Liste, einschließlich Lewis, der an dem Samstagabend in Frankreich gewesen war, um die Zweijährigen für Michael abzuholen. Ich machte eine Bemerkung darüber. Der Wirt gab zu, daß sich mehr Leute eingetragen hatten als nur die, die an Joggers letztem Abend mit ihm zusammengewesen waren.»Sie wollten ihm die letzte Ehre erweisen«, erklärte er.

«Und das Freibier trinken«, sagte Sandy.

«Na ja… der alte Jogger war ein guter Kumpel.«

«M-hm«, stimmte ich zu.»Aber wer von diesen Leuten war denn nun am Samstag wirklich hier? Sandy, Sie waren dabei. Sie wissen es bestimmt noch.«

«Ich war nicht im Dienst«, wandte er ein.

«Aber Sie hatten doch Augen im Kopf.«

Sandy sah auf die dichtgedrängten Namen und pickte mit einem dicken Finger einzelne heraus.

«Von Ihren Fahrern auf jeden Fall Dave, der wohnt ja praktisch hier. Dann Phil und seine Liebste und Nigel, der sie zu Phils Empörung angequatscht hat, und Harve kam noch kurz rein. Und Brett, der den toten Ogden gefahren hat, war definitiv auch da, obwohl es hieß, er sei schon weg aus Pixhill. Er hat herumgemeckert, daß Sie ihn gefeuert hätten.«

Sein Blick glitt über die Namen.

«Bruce Farway! Er hat unterschrieben. Den hab ich hier nicht gesehen.«

«Den Doktor?«Der Wirt nickte.»Er kommt oft mit diesen Intellektuellen her, die sich in die hinterste Ecke verziehen, um die Welt zu verbessern. Er trinkt Aqua Libra. «Konzentriert las er die Liste von oben nach unten.»Ein ganzer Schwarm von Watermeads Pflegern war hier und ein paar von jedem zweiten Stall in Pixhill. Die Neue, Mrs. English, von der sind auch ein paar Jungs gekommen. Neue Gesichter. Kein übler Haufen. Und John Tigwood, der schaut ja alle Naselang nach seinen Sammelbüchsen. Und Watermeads Sohn und seine Tochter waren am Samstag zwar auch hier, aber seitdem nicht mehr, deshalb fehlen ihre Namen, verstehen Sie?«

Ich fragte überrascht:»Meinen Sie Tessa und Ed?«

«Ja.«

«Die sind noch minderjährig«, sagte Sandy wichtigtuerisch.

«Die sind noch keine achtzehn.«

Der Wirt fühlte sich etwas gekränkt.»Ich gebe ihnen nur Alkoholfreies. Die beiden trinken Diätcola. «Er warf mir einen verschmitzten Blick zu.»Sie mag diesen Nigel auch. Ihren Fahrer.«

«Ermutigt er sie?«fragte ich.

Der Wirt lachte.»Er ermutigt alles, was Titten hat.«

«Sie kriegen Ärger, wenn Sie sie bedienen und kein Erwachsener dabei ist«, sagte Sandy.

«Sie hat gesagt, Nigel zahlt.«

«Sie bekommen Ärger«, wiederholte Sandy.

«Die waren doch nicht lange da«, verteidigte sich der Wirt.

«Als Sie kamen, waren die wahrscheinlich schon weg. «Er schniefte.»Wenn ich ehrlich bin, glaube ich auch nicht, daß die Pferdepfleger alle schon achtzehn sind.«

«Sehen Sie sich vor«, warnte Sandy.»Sie können ganz schnell Ihre Lizenz los sein.«»Um welche Zeit war Jogger denn abgefüllt?«fragte ich.

«Betrunkenen gebe ich nichts«, sagte der Wirt scheinheilig. Sandy schnaubte.

«Um welche Zeit«, formulierte ich die Frage neu,»hat Jogger denn angefangen, von Kuckuckseiern, kleinen grünen Männern und Ufos zu reden?«

«Er war hier von sechs Uhr an, bis Sandy ihn heimgefahren hat«, sagte der Wirt.

«Und der Bierverbrauch? Wieviel Halbe pro Stunde?«

«Mindestens zwei«, sagte Sandy.»Jogger konnte schlucken wie ein Weltmeister.«

«Er war nicht voll«, beharrte der Wirt.»Vielleicht nicht mehr fahrtüchtig, aber noch nicht voll.«

«Leicht angeschlagen«, sagte Sandy.»Von den Kuk-kuckseiern hat er schon geschwafelt, bevor ich so um acht hierherkam. Und dauernd fing er an, von einem Hut zu erzählen, den voriges Jahr im Sommer ein Pferd aufgehabt hat.«

«Wieso?«fragte mich der Wirt.»Wen interessiert das?«

«Ja«, sagte Sandy,»und was hat Jogger gemeint?«

«Das weiß der Himmel.«

«Jogger weiß es im Himmel. «Der Wirt freute sich über seinen Geistesblitz.»Habt ihr das gehört? Jogger weiß es im Himmel!«

«Sehr gut«, sagte Sandy mit schwerer Stimme.

«Ist sonst noch was passiert?«fragte ich.»Wer hat ihm das Werkzeug aus dem Wagen gestohlen?«

Der Wirt sagte, er habe keine Ahnung.

«Dave hat Jogger gesagt, er soll still sein«, erinnerte sich Sandy.

«Was?«»Jogger ging ihm auf die Nerven. Aber statt den Mund zu halten, hat Jogger bloß gelacht, da ist Dave die Hand ausgerutscht.«

Der Wirt nickte.»Er hat Joggers Glas umgeworfen.«

«Er hat Jogger geschlagen?«sagte ich erstaunt. Jogger mit seiner eigentümlichen Beinarbeit war von Natur aus reaktionsschnell.

«Er hat ihn verfehlt«, sagte Sandy.»Um Jogger zu erwischen, muß man früher aufstehen.«

Alle horchten wir schweigend auf das, was er gerade gesagt hatte.

«Gut dann…«, sagte Sandy und raffte sich auf.»Zeit, daß ich mich wieder zum Dienst melde. Bleiben Sie noch, Freddie?«

«Nein.«

Ich folgte ihm nach draußen und überließ die Gedenkurkunde dem Wirt, der sie rahmen und an die Wand hängen wollte.

«Diese Tessa«, meinte Sandy, seine Dienstmütze aufsetzend,»die ist ein Wildfang. Nicht übermütig, das meine ich nicht. Ich meine vielmehr, na ja, kriminell angehaucht. Sollte mich nicht wundern, wenn sie mal mit dem Gesetz in Konflikt gerät.«

Ich fand zwar, daß er übertrieb, nahm seine Einschätzung aber ernst. Wie jeder Schutzmann auf dem Land, verbrachte er sein Lebtag mit jugendlichen Straftätern, aber er verstand sich besonders gut auf die Vorbeugung, im Gegensatz zur Vergeltung.»Sie könnten Michael Wa-termead nicht vielleicht mal darauf hinweisen?«fragte er.

«Schlecht.«

«Versuchen Sie es«, sagte er.»Ersparen Sie Mrs. Watermead Tränen.«

Seine gewählte Ausdrucksweise verblüffte mich.»Okay«, sagte ich.

«Gut.«

«Sandy.«

Er blieb stehen.»Ja?«

«Wenn jemand Jogger umgebracht hat… wenn er nicht bloß gestürzt ist… dann fangen Sie den Kerl!«

Er hörte das Engagement in meiner Stimme.»Und den Kerl, der Sie nach Southampton verschleppt hat? Den Kerl, der Ihr Auto und Ihre Einrichtung zertrümmert hat und den kleinen Flieger Ihrer Schwester?«

«Nach Möglichkeit.«

«Aber Sie trauen meinen Kollegen nicht. Sie unterstützen sie nicht.«

«Wenn sie mich als Verbündeten statt als Verdächtigen behandeln würden, kämen wir besser miteinander aus.«

«Die sind nun mal so.«

Wir schauten uns friedlich an, bis zu einem gewissen Grad alte Freunde. Er und ich allein hätten bei jeder Ermittlung zusammengearbeitet. Da aber seine Kollegen hier zuständig waren, wuchs die berufsbedingte Abgrenzung zwischen uns empor wie Drachenzähne. Zwischen die Fronten gestellt, würde er treu zu den gegnerischen Gräben halten, auch wenn er mir vielleicht heimliche Blinkzeichen zukommen ließ. Damit mußte ich mich zufriedengeben. Und er auch.

Ich fuhr mit Joggers altem Lieferwagen zum Bauernhof zurück und parkte ihn wieder neben der Scheune. Die Hecktür war noch unverschlossen, und im Innern war noch immer nichts als rötlichgrauer Staub. Ich ließ die Finger durch den Staub gleiten und schaute sie mir an, keineswegs beglückt über das, was ich sah. Mit dem bloßen Auge betrachtet, sahen die rötlichen Teilchen zwischen den grauen verdächtig nach Rost aus.

Ich wischte den Staub ab, ging in die Scheune und schaute mir den Fußboden an, besonders um den Rand der Schmiergrube. Da war reichlich Fett und überhaupt viel Schmutz. Natürlich würde auch Rost dabeisein. Stahl und Feuchtigkeit ergaben Eisenoxyd. Rost war zu erwarten.

Trotzdem ging ich in Gedanken Joggers verschollenes Werkzeug durch; das alte Rollbrett, die scharfe Axt, die Schraubenschlüssel aller Art, die Kabelrollen… und den Montierhebel. Ein alter, robuster Montierhebel, so lang wie ein Arm. Eisenhaltiges Metall, eine offene Einladung an den Rost.

Ich ging wieder in mein Büro und wußte nicht, ob das flaue Gefühl in meiner Magengegend eher von dem Schlag auf meinen Kopf kam oder von der Vorstellung, wie Jogger ein rostiges Montiereisen ins Genick bekam.

Um Jogger zu erwischen, muß man früh aufstehen.

Er war gegen Mittag am hellichten Tag gestorben.

Es mußte ein Unfall gewesen sein. Ich wollte nicht, daß er bloß gestorben war, weil er bei mir gearbeitet hatte. Mit Angriffen gegen mich selbst wurde ich fertig. Aber ich wollte nicht die Schuld am Tod eines anderen tragen.

Aziz kam von Heathrow zurück, und seine ununterdrückbar gute Laune ließ ihn sogar noch pfiffig lächeln, als er mir sein Mitgefühl wegen des Jaguars aussprach.

«Es kann nicht leicht gewesen sein, einen Wagen mit dem Tempo in einen Hubschrauber zu jagen. Nicht auf dem flachen Land. Da riskiert man seinen Hals.«

«Das ist kein Trost«, hob ich hervor.

«Ich habe mir den Schaden kurz angesehen«, sagte er strahlend.»Ich würde sagen, das Gaspedal war mit einem Ziegelstein festgeklemmt.«»Einem Ziegelstein? Ich habe keine Ziegelsteine.«

«Und wie kommt dann ein Ziegelstein dahin?«

Ich schüttelte den Kopf.

«Dafür muß man aber schon wendig sein«, sagte er.»Es bleiben einem nur Sekunden zum Aussteigen, wenn man erst mal genug Tempo draufhat.«

«Der Wagen hat Automatik«, sagte ich nachdenklich.»Er fährt — fuhr — langsam an, wenn man nicht schaltete.«

Er nickte glücklich.»Hübsches kleines Problem.«

«Und wie würden Sie es lösen?«

Darüber hatte er schon nachgedacht, denn er antwortete ohne Zögern.»Zuerst würde ich mal das Fahrerfenster runterdrehen. Ich hätte einen Stock, an den ein Ziegelstein gebunden ist, und den würde ich durchs Fenster stecken. Ich würde mich ans Steuer setzen, den Motor anlassen, den Gang einlegen, bei Schleichtempo wieder aussteigen und die Tür schließen, dann würde ich durchs Fenster den Ziegelstein aufs Gas drücken und wegspringen, bevor es knallt. «Er grinste.»Wohlgemerkt, dazu braucht man Nerven. Und man muß ein ganzes Stück von dem Helikopter entfernt starten, damit er schnell genug wird, um so wüst einzuschlagen. Zum Schluß müßte man rennen.«

«Es geht bestimmt auch einfacher«, sagte ich.»So würde doch keiner seinen Hals riskieren.«

«Sie haben es nicht mit gesundem Menschenverstand zu tun«, sagte Aziz.»Ihre Schwester hat mir das Schlachtfeld in Ihrem Wohnzimmer gezeigt. Da läuft ein waschechter Berserker frei herum. Hören Sie ihn nicht? Der ruft Ihnen zu: >Schauen Sie her, schauen Sie, was ich kann, wie schlau ich bin.< Solche Naturen lieben das Risiko. Sie brauchen es zum Leben. Es macht ihnen Spaß.«

Ich fragte:»Woher wissen Sie das?«

Die glänzenden Augen flackerten.»Beobachtung.«

«Beobachtung von wem?«

«Ach, von diesem und jenem. «Er wedelte flüchtig mit der Hand.»Niemand Bestimmtes.«

Ich verfolgte es nicht weiter. Er würde es mir nicht sagen. Dennoch interessierte mich seine Einschätzung. Sie paßte ziemlich gut zu dem, was der Experte über das Verhalten der Erfinder von Computerviren gesagt hatte, das Schaut-wie-schlau-ich-bin-Syndrom. Das übersteigerte Selbstwertgefühl, das sich nur in Zerstörung äußern konnte.

«Stacheln Berserker«, sagte ich langsam,»sich gegenseitig an?«

Sein Gesichtsausdruck war unnachahmlich durchtrieben.

«Schon mal von Fußball-Rowdies gehört?«

Mörderisch, dachte ich.

Ich dankte Aziz, daß er Lizzie gefahren hatte.

«Nette Frau«, sagte er.»Gern geschehen.«

Ich rieb mir mit der Hand übers Gesicht, bat Aziz, sich bei Harve nach der Arbeit für den nächsten Tag zu erkundigen, und sagte Isobel und Rose, ich käme am Morgen wieder.

Auf dem kurzen Heimweg fiel mir auf, daß mein Nachbar einen kleinen Stapel Ziegelsteine neben dem Tor hatte. Die Steine waren schon seit Wochen da, wurde mir klar. Ich hatte nie auf sie geachtet.

Ich hielt die alte Kiste vor dem Wrack des Jaguars an und blickte durch das Loch, das einmal das Fenster auf der Fahrerseite gewesen war. In dem zusammengedrückten Innern lag tatsächlich ein Ziegelstein — oder die Reste eines Ziegelsteins. Der Stein war in drei Teile zerbrochen. Ziegel waren spröde. Ziegelstaub war rötlich, wie Rost.

Du phantasierst, dachte ich.

Ich schloß mir mit dem Schlüssel, den Aziz mir von Lizzie mit zurückgebracht hatte, die Haustür auf und schaltete den Fernseher in meinem Schlafzimmer ein, um mir die Rennen in Cheltenham anzusehen.

Erst saß ich im Sessel, dann legte ich mich aufs Bett, dann nickte ich ein, als hätte mich der Hirntod ereilt, und schlief weiter, bis längst das letzte Pferd ins Ziel gegangen war.

Am Donnerstag morgen, dem Tag des Cheltenham Gold Cup, einst Anlaß für erhöhten Puls und hochfliegende Hoffnungen, erwachte ich mit steifen Gliedern und dem sehnlichen Wunsch, mich zusammenzurollen und die Welt draußen zu vergessen.

Statt dessen zog ich, mehr von Neugier als von Pflichtgefühl getrieben, Schlips und Kragen an und fuhr nach Winchester, mit einem 5-Minuten-Zwischenhalt bei Isobel und Rose. Sie könnten die Zeit bis zum Eintreffen des Computerfachmanns damit ausfüllen, daß sie eine Liste erstellten von allen, die in der vergangenen Woche auch nur einen Fuß in ihr Büro gesetzt hatten, schlug ich vor. Sie sahen mich verständnislos an. Wie es schien, hatten zig Leute bei ihnen auf der Matte gestanden, angefangen bei den Fahrern. Die Fahrer würde ich als selbstverständlich betrachten, sagte ich. Schreibt alle auf, die sonst noch da waren, und kennzeichnet die Freitagsbesucher mit einem Sternchen. Sie zweifelten, ob sie sich erinnern könnten. Versucht es, sagte ich.

Ich holte Dave aus der Kantine und nahm ihn mit nach Winchester, obwohl ihm wenig daran lag und er während der ganzen zwanzigminütigen Fahrt ungewohnt still war.

Die Verhandlung über Kevin Keith Ogden erwies sich, wie Sandy vorausgesagt hatte, als relativ unkomplizierte

Geschichte. Der Coroner, ruhig und geschäftsmäßig, hatte vor der Sitzung die Akten studiert und hielt es bei aller Gründlichkeit für unnötig, Zeit zu vergeuden.

Er sprach freundlich mit einer dünnen, unglücklichen Frau in Schwarz, die bejahte, daß sie Lynn Melissa Ogden sei und daß sie den Toten als ihren Mann, Kevin Keith, identifiziert habe.

Bruce Farway sagte aus, daß er am vergangenen Donnerstag abend zum Haus von Frederick Croft gerufen worden sei und den Tod von Kevin Keith festgestellt habe. Von einem Blatt ablesend, bestätigte der Coroner den Obduktionsbefund, wonach der Tod durch Herzversagen infolge einer Reihe abstruser medizinischer Faktoren eingetreten war, die wahrscheinlich niemand im Raum verstand außer Farway, der nickte.

Der Coroner hatte ein Schreiben von Kevin Keiths Hausarzt erhalten mit Angaben zur Krankengeschichte und zu den Medikamenten, die ihm verschrieben worden waren. Er fragte die Witwe, ob ihr Mann die Tabletten gewissenhaft eingenommen habe. Nicht immer, erwiderte sie.

«Mr… äh… Yates?«sagte der Coroner und sah sich fragend um.

«Hier, Sir«, antwortete Dave mit belegter Stimme.

«Sie haben Mr. Ogden in einem von Mr. Crofts Pferdetransportern mitgenommen, nicht wahr? Erzählen Sie uns davon.«

Dave, schwitzend und verlegen, faßte sich so kurz wie möglich.

«Wir haben ihn nicht wachgekriegt in Chieveley…«

Der Coroner fragte, ob man Kevin Keith davor bereits angemerkt habe, daß es ihm nicht gut ging.

«Nein, Sir. Er hat auch kein Wort gesagt. Wir dachten irgendwie, er schläft.«

«Mr. Croft?«sagte der Coroner und griff mich mühelos heraus.»Sie haben Polizeiwachtmeister Smith gerufen, nachdem Sie Mr. Ogden gesehen hatten?«

«Ja, Sir.«

«Und Wachtmeister Smith, Sie haben Dr. Farway gerufen?«

«Ja, Sir.«

Der Coroner raffte seine Papiere zusammen und blickte die Anwesenden gleichmütig an.»Das Gericht entscheidet, daß Mr. Kevin Keith Ogden eines natürlichen Todes gestorben ist. «Als sich niemand regte, setzte er nach einer Pause hinzu:»Das war’s, meine Damen und Herren. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Sie haben sich in dieser traurigen Angelegenheit alle beispielhaft vernünftig und hilfsbereit verhalten.«

Er schenkte Mrs. Ogden ein letztes mitfühlendes Lächeln, und damit hatte es sich. Wir strömten hinaus auf den Gehsteig, und ich hörte, wie Mrs. Ogden sich hilflos nach einem Taxi erkundigte.

«Mrs. Ogden«, sagte ich,»kann ich Sie mitnehmen?«

Sie richtete die grauen, kurzsichtig wirkenden Augen auf mein Gesicht und wedelte unschlüssig mit den Händen.»Ich will nur zur Bahn.«

«Ich bringe Sie hin… wenn Ihnen ein Fourtrak recht ist.«

Sie sah aus, als hätte sie noch nie von einem Fourtrak gehört, wäre zur Not aber auch mit einem Elefanten einverstanden gewesen.

Ich überredete Sandy, Dave mit zurück nach Pixhill zu nehmen, und fuhr mit Mrs. Ogden los, die zwar nicht direkt heulte, aber eindeutig unter Schock stand.

«Das hat ja nicht lang gedauert, was?«sagte sie bedrückt.

«Keine große Sache irgendwie. So als Schlußstrich unter ein Menschenleben.«

«Keine große Sache«, gab ich zu.»Aber vielleicht geben Sie ja noch eine Trauerfeier.«

Das munterte sie auch nicht auf. Sie sagte:»Sind Sie Freddie Croft?«

«Ganz recht. «Ich sah sie an und überlegte.»Wann geht Ihr Zug?«fragte ich.

«Noch eine Ewigkeit nicht.«

«Wie wäre es dann mit einer Tasse Kaffee?«

Sie sagte, das wäre nett, und ließ sich apathisch in einen Sessel in der leeren Eingangshalle eines Pseudo-Tudor-Hotels sinken. Der Kaffee brauchte seine Zeit, kam aber frisch in einer Warmhaltekanne, mit Sahne und Rosenknospenporzellan auf einem silberfarbenen Tablett.

Mrs. Ogden, bislang blaß in ihren umhangartigen schwarzen Mantel gehüllt, überwand sich, ihn aufzuknöpfen. Unter dem Mantel weiteres Schwarz. Schwarze Schuhe, schwarze Handtasche, schwarze Handschuhe, schwarzer Schal. Übertrieben.

«Ein furchtbarer Schlag für Sie«, sagte ich.

«Ja.«

«Da ist Ihnen die Tochter sicher ein Trost.«

«Wir haben keine Tochter. Das hat er erfunden, damit die Leute ihn mitnehmen.«

«So?«

«Er mußte sich Sachen ausdenken. «Sie warf mir plötzlich einen erschrockenen Blick zu, der erste Riß im Eis.»Er hatte keine Arbeit, verstehen Sie?«»War er… Vertreter?«tippte ich an.

«Nein. Er war Verkaufsleiter. Zweiter Verkaufsleiter. Die Firma wurde übernommen. Die meisten leitenden Angestellten wurden nicht mehr gebraucht.«

«Das tut mir sehr leid.«

«Er kriegte keine andere Stelle. Nicht mit vierundfünfzig und einem schwachen Herz.«

«Das Leben ist unfair.«

«Er war seit vier Jahren arbeitslos. Wir haben die Abfindung und unsere Ersparnisse aufgebraucht. die Bausparkasse fordert das Haus zurück. und. und. das ist alles zuviel.«

Und er hatte ungedeckte Schecks ausgestellt, dachte ich, und Hotelrechnungen nicht bezahlt und sich als EinmannTransportunternehmen über Wasser zu halten versucht, indem er sich kostenlos von Leuten durch die Gegend fahren ließ, denen er eine rührselige Geschichte von der Hochzeit einer inexistenten Tochter erzählte.

Lynn Melissa Ogden sah so am Boden zerstört aus wie der Hubschrauber vor meiner Tür. Sie hatte angegrautes, glattes braunes Haar, das im Nacken von einem schmalen schwarzen Band gehalten wurde. Kein Make-up. Verkniffener Zug um den Mund. Der sehnige Hals des Alters.

Ich fragte mitfühlend:»Haben Sie denn Arbeit?«

«Ich hatte. «Der Grauschimmer auf ihrer Haut sah nach Verzweiflung aus.»Ich war bei einem Obst- und Gemüsehändler angestellt, aber Kev… na, er ist jetzt tot, es kann ihm nicht mehr weh tun… Kev hat sich da Geld aus der Kasse genommen, und die waren zwar anständig, sie haben nicht die Polizei geholt, aber sie sagten, ich müsse gehen.«

«Ja.«

«Wir hatten von dem Geld gelebt.« Sie bebte vor unnützem Zorn.»Uns von meinem Lohn ernährt und von dem Obst- und Gemüseausschuß, der in dem Laden anfiel. Wie konnte er nur!«

«Er hätte vielleicht den Ring verkaufen können«, meinte ich.

«Ich habe ihn an seinem Finger gesehen… Gold und Onyx.«

«Das war ein Imitat«, sagte sie dumpf.»Den echten hat er schon vor Monaten versetzt. Er fehlte ihm so. wirklich so, daß er geweint hat. Also hab ich ihm wieder einen gekauft… das war Tinnef, aber er hat ihn getragen.«

Ich goß ihr Kaffee nach. Sie trank geistesabwesend, und die Tasse klapperte gegen die Untertasse, als sie sie absetzte.

«Weshalb wollte Ihr Mann zur Tankstelle in Chieve-ley?«fragte ich.

«Er mußte — «Sie unterbrach sich jäh, überlegte und sagte dann:»Es spielt wohl keine Rolle jetzt. Er kann ja keinen Ärger mehr bekommen… Ich sagte ihm, ich könnte das alles nicht mehr ertragen, aber natürlich hab ich’s ertragen. Wir waren dreiunddreißig Jahre verheiratet… Ich hatte ihn mal geliebt, aber dann… das ging schon lange so… hat er mir bloß noch leid getan, und ich konnte ihm doch keinen Tritt geben, oder? Wo sollte er denn hin? Und er blieb wochenlang von zu Hause weg, weil die Polizei dagewesen war… ich weiß nicht, warum ich Ihnen das erzähle.«

«Weil Sie es irgend jemandem erzählen müssen.«

«Ah ja. Und dann, was die Leute denken, verstehen Sie? Zu unseren Nachbarn kann ich damit nicht gehen, und Freunde haben wir kaum noch, weil Kev sie angepumpt hat.«

Und nie etwas zurückgezahlt. Die Worte standen so klar im Raum, als hätte sie sie ausgesprochen.

«Was wollte er also in Chieveley?«fragte ich nochmals.

«Er hat immer Anrufe von Leuten bekommen, für die er Sachen von einem Ort zum anderen bringen sollte. Ich sagte ihm, das bringe ihn noch in Schwierigkeiten. Ich meine, es konnte doch sein, daß er Teile zur Herstellung von Bomben befördert, oder Rauschgift oder sonst was. Ziemlich oft hat er Hunde und Katzen befördert. das gefiel ihm. Er hat ein paarmal in Horse & Hound annonciert. Die Leute haben ihm die Bahn bezahlt, damit er die Tiere abholt, aber er hat die Fahrscheine zu Geld gemacht und ist per Anhalter gefahren. Ich meine, er hatte wirklich keinen Stolz mehr. Alles war aus den Fugen.«

«Schlimm«, sagte ich.

«Wir haben das Telefon bezahlt«, sagte sie.»Die Telefonrechnung haben wir immer bezahlt. Und ich habe die Nachrichten für ihn entgegengenommen, und er hat mich jeweils angerufen, wenn er gratis bei jemandem telefonieren konnte. Aber lange hätten wir so nicht weitermachen können.«

«Nein.«

«Eigentlich ist es ein Segen für ihn, daß er gestorben ist.«

«Mrs. Ogden.«

«Doch, doch. Weil er sich nämlich geschämt hat, mein armer alter Junge.«

Ich dachte an ihr ganzes gemeinsam getragenes Leid und fand, es war ein unverdientes Glück für Kevin Keith gewesen, Lynn Melissa zu haben.

«In meinem Pferdetransporter hatte er aber kein Tier dabei«, sagte ich.

«Nein. «Sie schaute unsicher drein.»Es hatte aber schon was mit Tieren zu tun. Es war eine Antwort auf die Horse & Hound-.Anzeige. Eine Frau rief an. Kev sollte jemanden an der Tankstelle Pontefract treffen und zur Tankstelle von South Mimms fahren und dann mit Ihrem Transporter nach Chieveley.«

«Ah«, sagte ich.

Sie hörte das tiefe Verständnis in meiner Stimme, ohne sich einen Reim darauf machen zu können, und sah mich überrascht an.

«Wen sollte er in Chieveley treffen?«fragte ich.

«Das hat sie nicht gesagt. Nur, daß jemand zu ihm hinkommen würde, wenn er aus dem Transporter steigt. Jemand würde ihn ansprechen, ihn bezahlen und seine Fracht übernehmen, und der Fall wäre erledigt.«

«Und darauf sind Sie eingegangen?«

«Aber natürlich, ja. Wir haben doch davon gelebt.«

«Wen sollte er in Pontefract treffen?«

«Sie sagte nur, >jemand< würde ihn ansprechen und ihm eine kleine Tragtüte geben.«

«Hat sie gesagt, was drin ist?«

«Ja, eine Thermosflasche, sagte sie, aber die dürfe er nicht öffnen.«

«M-hm. Hätte er sie denn sonst geöffnet?«

«Aber nein. «Sie war sich ganz sicher.»Er hätte Angst gehabt, sein Geld nicht zu bekommen. Und er meinte immer, was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.«

Ein glänzendes Rezept, um auf die Nase zu fallen.

Sie sah auf ihre Uhr, dankte mir für den Kaffee und sagte, sie werde sich langsam auf den Weg zum Bahnhof machen, wenn ich nichts dagegen hätte.

«Wie ist es mit dem Fahrgeld?«fragte ich.

«Ach… ich habe einen Gutschein bekommen. Von der Polizei oder vom Gericht oder so. Am vorigen Samstag auch schon, als ich herkommen sollte, um ihn zu identifizieren. «Sie seufzte schwer.»Alle waren gut zu mir.«

Arme Mrs. Ogden. Ich fuhr sie zum Bahnhof und wartete mit ihr, bis der Zug kam, obwohl sie sagte, das sei nicht nötig. Ich hätte ihr gern Geld gegeben, um ihr über ihre gegenwärtigen Schwierigkeiten mit hinwegzuhelfen, aber sie hätte es wohl nicht angenommen. Ich würde mir von Sandy ihre Adresse besorgen, dachte ich, und ihr etwas zum Gedenken an Kevin Keith schicken, den armen alten Jungen, der mich in einen Mahlstrom gestürzt zu haben schien.

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