Kapitel 9

Als ich Winchester verließ, klingelte das Autotelefon. Isobels Stimme sagte:»Ah, gut. Ich hab Sie schon mal zu erreichen versucht. Die Polizei ist wegen Jogger hier.«

«Welche Polizei?«

«Nicht Sandy Smith. Zwei andere. Sie möchten wissen, wann Sie zurückkommen.«

«Sagen Sie ihnen, in zwanzig Minuten. War der Computermann da?«

«Er ist gerade hier. Noch eine halbe Stunde, sagt er.«

«Schön.«

«Nina Young hat angerufen. Sie und Nigel haben das Springpferd für Jericho Rich abgeholt und sind jetzt auf dem Rückweg. Keine Zwischenfälle, soll ich Ihnen ausrichten.«

«Okay.«

Ich fuhr zurück und ließ die Polizei warten, während ich mit dem jungen Computerfachmann in Isobels Büro sprach. Ja, bestätigte er, er habe wie gewünscht ein Ersatzterminal für meine Wohnung mitgebracht und werde gleich mitkommen, um es anzuschließen.

Wenn ich mit der Polizei gesprochen hätte, sagte ich.

Er sah auf seine Uhr und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.»Ich muß noch zum Rennstall von Michael Watermead. Der gleiche Salat wie hier. Ich fahre erst zu ihm, dann komme ich zu Ihnen.«

«Michael?«fragte ich überrascht.

Er lächelte.»Direkt passend zu Michelangelo, aber er fand das gar nicht komisch.«

«Kann ich mir vorstellen.«

Bevor ich die Nachricht vom Ausfall der Watermead-schen Festplatte, geschweige denn ihre Bedeutung noch richtig verarbeitet hatte, ging ich nach nebenan in mein Büro, wo die Polizisten warteten.

Es waren die beiden, deren Benehmen bei ihrem Besuch am Montag so schnell meinen Widerstand hervorgerufen hatte. Sandy zuliebe entschloß ich mich, hilfsbereit zu sein, und beantwortete ihre Fragen wahrheitsgemäß, höflich und kurz. Sie trieften vor Argwohn und Feindseligkeit, wofür ich keinen Grund sah, und sie stellten die meisten Fragen vom Montag noch einmal.

Sie müßten Proben von dem Schmutz in und um die Schmiergrube entnehmen, erklärten sie. Bitte sehr, sagte ich. Sie teilten mir mit, daß sie dabei seien, sich bei meinem Personal zu erkundigen, wieso Jogger am Sonntag morgen zum Bauernhof gekommen war.

Schön.

Hatte ich ihn angewiesen, dort am Sonntag morgen zu erscheinen?

Nein.

Hatte ich etwas dagegen, daß er an einem Sonntag morgen dorthin ging?

«Nein. Wie ich schon sagte, kann das ganze Personal auf dem Bauernhof ein und aus gehen, wann es will.«

Wieso?

«Betriebsgrundsatz«, sagte ich und fühlte mich nicht geneigt zu erklären, daß der Besitzerstolz der Fahrer sie ver-anlaßte, ihre Wagen ein wenig persönlich zu gestalten, und daß sie dazu hauptsächlich den Sonntag benutzten. Sonntags wurden die Gardinen aufgehängt, die Sitze und Matratzen bezogen, der Boden mit Teppich ausgelegt. Frauen halfen ihren Männern, das Haus auf Rädern herauszuputzen. Metall- und Möbelpolitur gingen mit dem Stolz einher. Loyalität und Zufriedenheit gediehen an Sonntagen.

Kam Jogger normalerweise sonntags zum Bauernhof?

Ich sagte, daß Pferdetransportunternehmen immer sonntags arbeiteten, wenn auch nicht so viel wie an anderen Tagen. Für Jogger sei es bestimmt ganz normal gewesen, an einem Sonntag zum Bauernhof zu kommen.

Getreu der Vorhersage Sandys fragten sie, was ich an diesem Sonntag morgen gemacht hatte. Ich sagte es ihnen. Sie schrieben es skeptisch auf. Sie haben in Ihrem Garten Osterglocken gepflückt und sie Ihren Eltern aufs Grab gelegt, sagen Sie? Ja. Tun Sie das gewohnheitsmäßig? Hin und wieder bringe ich Blumen hin, sagte ich. Wie oft? Fünf oder sechs Mal im Jahr.

Ich schloß aus ihrer Haltung allgemein und aus dem engen Rahmen ihrer Fragen, daß man sich bei der Polizei noch immer nicht darüber einig war, wie Joggers Tod nun anzusehen sei — als Unfall oder Schlimmeres.

Der Rost, dachte ich, würde den Ausschlag geben.

Ich ging mit ihnen und sah zu, wie sie rings um die Grube Proben entnahmen. Sie steckten die Abschabsel in kleine Plastiktüten, verschlossen sie und gaben auf dem Etikett jeweils den Herkunftsbereich an. Grubenboden Nord… Ost, West, Süd. Grubeninnenwand Nord… Ost, West, Süd. Grubenrand Nord… Ost, West, Süd.

Sie waren gründlich und unparteiisch. Rost oder nicht, jetzt würde es sich zeigen.

Schließlich fuhren sie und ließen mich mit meinen gemischten Gefühlen und zwei bestürzten Sekretärinnen allein.

Isobel sagte entrüstet:»Die haben uns gefragt, wie Sie und Jogger miteinander ausgekommen sind! Wieso fragen die das? Jogger ist doch in die Grube gefallen, oder nicht?«

«Das müssen sie eben rausfinden.«

«Aber… aber.«

«M-hm«, sagte ich,»hoffen wir, daß er gefallen ist.«

«Die Fahrer meinen doch alle, er muß gefallen sein. Die ganze Woche haben sie das gesagt.«

Weil sie es glauben wollten, dachte ich.

Ich fuhr nach Hause, wo der Computerspezialist bald zu mir stieß. Er blieb breitbeinig in der Mitte meines verwüsteten Wohnzimmers stehen, und die Hand kam aus den Haaren nicht mehr raus.

«Ja«, sagte ich in sein verblüfftes Schweigen.»Dazu hat schon ein bißchen Kraft und sehr viel Lust gehört.«

«Lust?« Er dachte darüber nach.»Ja, wahrscheinlich.«

Er setzte das Wrack des alten Computers auf eine der wenigen freien Stellen des Teppichs und schloß dafür das neue Gerät an die Telefonverbindung zu dem Rechner in Isobels Büro an. Obwohl ich weiterhin an meinen Bleistifttabellen festhalten würde, war es doch beruhigend, die Direktverbindung zum Geschäft wieder auf dem Bildschirm erblühen zu sehen.

«Ich garantiere Ihnen, daß die neue Platte sauber ist«, sagte der Experte.»Und ich verkaufe Ihnen ein Programm, mit dem Sie die Sauberkeit überprüfen können. «Er zeigte mir, wie man die Platte» durchcheckt«.»Wenn Sie darauf einen Virus entdecken, rufen Sie mich bitte sofort an.«

«Bestimmt. «Ich schaute seinen fleißigen Fingern zu und stellte ein paar Fragen.»Wenn jemand Michelangelo in den Rechner im Büro einschleust, würde dann auch der Rechner hier infiziert?«»Ja, sobald Sie die Programme vom Büro auf Ihren Bildschirm rufen. Und umgekehrt. Wenn jemand hier den Virus einschleust, überträgt er sich aufs Büro. Und greift von dort auf alle Rechner über, die mit ihm vernetzt sind.«

«Wie der von Rose?«

«Ist Rose die andere Sekretärin? Klar, auf den im Handumdrehen.«

«Und, ehm… wenn wir Sicherungskopien anlegen, geht der Virus dann da auch rein?«

Er sagte ernst:»Falls Sie Sicherungskopien haben, lassen Sie mich die bitte prüfen, bevor Sie sie benutzen.«

«Ja.«

«Aber Ihre Mädchen sagten ja, sie hätten schon ewig keine mehr gemacht.«

«Ich weiß. «Ich hielt inne.»Hat Michael Watermeads Sekretärin Kopien angelegt?«

Er zögerte.»Weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen sollte.«

«Berufsethos?«

«So ungefähr.«

«Isobel wird sie’s ohnehin sagen.«

«Na ja, dann… äh… ja, sie hat, und auf der Diskette, die sie zuletzt dafür benutzt hat, ist Michelangelo. Ich muß ihr ganzes System säubern.«

«Können Sie die Daten retten?«

«Sehr wahrscheinlich.«

Er schloß die Anlage fertig an und warf mir einen vergnügt-mitleidigen Blick zu.»Sie brauchen Nachhilfe«, sagte er.»Vor allem müssen Sie mal über Schreibschutz und Startdisketten Bescheid wissen. Ich könnt’s Ihnen beibringen, wenn Sie auch nicht mehr der Jüngste sind.«

«Wie lange arbeiten Sie schon mit Computern?«fragte ich.

«Gespielt habe ich damit schon, bevor ich einen Griffel halten konnte.«

So wie ich reiten gelernt hatte, dachte ich.

«Ich werde Unterricht bei Ihnen nehmen«, sagte ich.

«Wirklich? Na, prima. Gebongt.«

Nachdem er gegangen war, hielt ich mich wach, um das ganze Tagesprogramm von Cheltenham zu sehen, und erlebte mit bittersüßer Genugtuung, wie ein Pferd, das ich eingesprungen und sein Metier gelehrt hatte, den Gold Cup gewann.

Ich hätte ihn reiten sollen. Wenn ich gewollt hätte… Nun, es mußte genügen, sich an seinen ersten Triumph zu erinnern, eine Zweimeilenhatz über die Hürden. Oder an seine erste Steeplechase, ein hochklassiges Sieglosenren-nen, bei dem er die Konkurrenz leicht hinter sich gelassen hatte, um dann beinah doch noch überrollt zu werden, als er auf den letzten hundert Metern ins Schwimmen kam. Insgesamt achtmal hatte ich ihn als Ersten ins Ziel gebracht, und jetzt, als neunjähriger Star, ging er hier in Cheltenham die Einlaufgerade entlang wie ein Pfeil, mit aller Eleganz und allem Mut, den ein Jockey sich erhoffen konnte.

Verdammt.

Ich schüttelte das öde, selbstmitleidige Bedauern ab. So langsam solltest du darüber hinweg sein, sagte ich mir. Nichts gegen eine angemessene Trauerzeit, aber wer blickt denn nach drei Jahren immer noch zurück? Etwas unbehaglich stellte ich mir vor, daß ich die Nostalgie vielleicht erst überwand, wenn auch das letzte von mir gerittene Pferd reif für Kentauros war. Oder auch dann noch nicht, wenn viele so wie Peterman plötzlich vor meiner Tür standen.

In dem Moment, als ich den Fernseher ausschaltete, klingelte das Telefon, und ich hörte Lizzies überraschte Stimme.

«Hallo! Ich dachte, ich kriege deinen Anrufbeantworter. Ich dachte, du wärst in Cheltenham.«

«Bin nicht hingefahren.«

«Scheint so. Warum nicht? Was macht dein Kopf?«

«Kein Grund zur Sorge. Ich könnte nur immer schlafen.«

«Völlig natürlich. Hör auf die Natur.«

«Ja, gnä’ Frau.«

«Danke, daß du mir Aziz mitgegeben hast. Ein faszinierender junger Mann.«

«So?«

«Zu klug für seinen Job, würde ich sagen.«

«Wie kommst du darauf? Ich brauche kluge Fahrer.«

«Die meisten Fernfahrer können sich aber nicht über chemische Elemente auslassen, schon gar nicht auf französisch.«

Ich lachte.

«Denk mal drüber nach. Jedenfalls«, sagte sie,»hab ich einen Bericht über deine Röhrchen.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis mir aufging, welche Röhrchen sie meinte — bezeichnend für mein auf Sparflamme arbeitendes Gehirn.

«Röhrchen«, sagte ich.»Ah ja, prima.«

«Beide Gläser haben je 10 Kubikzentimeter Virustransportmedium enthalten.«

«Zehn Kubikzentimeter was?«

«Genaugenommen setzt der Inhalt der Gläser sich zusammen aus Rinderalbumin, Glutaminsäure, Sucrose und einem Antibiotikum namens Gentamicin, alles in sterilem Wasser mit einem ausgewogenen pH-Wert von 7,3.«

«Äh…«, sagte ich und griff nach einem Stift.»Buchstabier das alles noch mal langsam.«

Lachend wiederholte sie es.

«Aber wozu ist das gut?« fragte ich.

«Für Virustransporte, wie ich gesagt habe.«

«Aber was für ein Virus?«Ich dachte unwillkürlich an Michelangelo, und das war Unsinn. Michelangelo brauchte Röhren anderer Art.

«Jedes beliebige«, sagte Lizzie.»Viren sind etwas sehr Rätselhaftes und selbst unter dem Elektronenmikroskop kaum sichtbar. Normalerweise bekommt man nur ihre Wirkung zu sehen. Und man entdeckt die Antikörper, die der befallene Organismus entwickelt, um sich zu wehren.«

«Aber…«, ich ordnete schnell ein paar wirre Gedanken,»war denn ein Virus in den Röhrchen?«

«Läßt sich unmöglich feststellen. Es hat den Anschein, da die Gläser ja sorgfältig versiegelt waren und im Dunkeln in einer Thermosflasche transportiert wurden — und die Thermosflasche hätte man übrigens gebraucht, um die Röhren nicht warm, sondern kühl zu lagern, bei etwa vier Grad —, aber du sagtest, du hattest die Gläser schon tagelang, ja?«

«Sie sind heute vor einer Woche in einem meiner Transporter befördert worden.«

«Hatte ich doch recht. Also, Viren überdauern außerhalb eines lebenden Organismus nur ganz kurze Zeit. Virustransportmedium benutzt man, um infiziertes Gewebe in ein Labor zu schaffen, damit es untersucht oder seine Wirkung auf einen anderen Organismus erforscht werden kann, aber Viren halten sich nicht lange in Medien oder Kulturen.«

«Wie lange denn?«

«Es kommt drauf an. Die widerstreitenden Meinungen hier an der Uni reichen von gerade mal fünf Stunden bis zu achtundvierzig. Danach wäre jedes Virus unwirksam.«»Aber Lizzie.«

«Ja?«

«Ich meine… ich verstehe nicht ganz.«

«Das geht noch mehr Leuten so«, sagte sie.»Man kennt bisher ungefähr sechshundert verschiedene Viren; wahrscheinlich gibt es mindestens doppelt so viel, aber sie sind eben schwer sichtbar zu machen. Im Unterschied zu Bakterien können Viren nicht unabhängig existieren. Sie bestehen aus einer — meist zylindrischen oder vielflächigen — Eiweißhülle und einem Nukleinsäurefaden. Viren dringen in lebendes Gewebe ein, da sie sich nur mit Hilfe von Wirtszellen, sei es im Tier oder im Menschen, vermehren können. So erzeugen sie Grippe, Schnupfen, Kinderlähmung, Pocken, Masern, Tollwut, Aids; die Auswahl ist groß. An der Wirkung kennt sie jeder. Niemand weiß, wie sie entstanden sind. Manche, wie die Grippeviren, ändern sich immer wieder.«

Schweigend dachte ich über das nach, was sie mir erzählt hatte, bis sie schließlich fragte:»Freddie? Bist du noch da?«

«Ja«, sagte ich.»Soll das heißen«, fragte ich langsam,»daß man jemandem ein Grippevirus entnehmen, es meilenweit transportieren und jemand anders damit anstecken könnte, ohne daß die Leute sich auch nur begegnen?«

«Sicher könnte man das. Aber warum sollte man?«

«Aus Bosheit?«tippte ich an.

«Freddie!«

«Es ginge doch, oder?«

«Wenn ich es recht verstehe, brauchte man dazu ein beträchtliches Inokulat in einer geringen Menge Nährlösung, das Virus müßte überaus pathogen sein und der Rezeptor überaus empfänglich.«

«Ist das O-Ton Professor Quipp?«

Sie sagte bissig:»Da du schon fragst, ja.«

«Lizzie«, sagte ich entschuldigend,»ich hätte es nur gern noch mal in einfachen Worten.«

«Ach so. Ja, dann — also, es bedeutet, daß man dazu ein sehr aktives Virus braucht, und zwar in möglichst hoher Konzentration im Verhältnis zur Nährlösung, und die Zielperson müßte anfällig sein. Es wäre zwecklos, jemandem die gerade umgehende Grippe anhängen zu wollen, der dagegen geimpft ist. Du könntest keinen mit Kinderlähmung infizieren, der die Schluckimpfung gemacht hat, und keinen mit Masern oder Pocken, der dagegen geimpft ist. Es gibt noch keinen bewährten Impfstoff gegen Aids, und Aids ist deshalb so gefährlich, weil es sich möglicherweise wie Grippe verändert, obwohl auch das noch nicht erwiesen ist.«

«Wenn in den Röhrchen ein Grippevirus wäre«, sagte ich nachdenklich,»würde man das injizieren?«

«Nein. Grippe wird durch Tröpfchen aus den Atemwegen oder durch Speichel übertragen. Man müßte jemandem die Flüssigkeit in die Nase spritzen. Das könnte gehen.«

«Oder ihm die Cornflakes damit besprenkeln?«

«Nicht ganz zuverlässig. Ein Tröpfchenvirus muß durch die Atemwege gehen, nicht durch den Verdauungstrakt. Von der Nase oder der Lunge aus könnte es das ganze System angreifen, aber es hätte vielleicht keine Wirkung, wenn man es in einen Muskel oder direkt in die Blutbahn injizierte. «Sie schwieg.»Du hast wirklich schauerliche Gedanken.«

«Es war eine schauerliche Woche.«

Der Einschätzung stimmte sie zu.»Ist mein lieber kleiner Hubschrauber immer noch da, wo ich ihn gelassen habe?«»Ja. Was soll ich mit ihm machen?«

«Meine Partner schlagen vor, daß wir ihn auf einen Tieflader verfrachten und nach Hause holen.«

«Glaubst du, der ist noch zu retten?«Ich hörte mich wahrscheinlich überrascht an, doch sie meinte, verschiedene Teile an ihm sähen unbeschädigt aus. Der Heckrotor etwa und die Kette des Hauptrotors, das Teuerste am Getriebe. Hubschrauber ließen sich instand setzen. Er müsse allerdings bleiben, wo er sei, sagte sie, bis der Flugsicherungsdienst ihn sich angesehen und ein Gutachten erstellt habe. Auch Unfälle am Boden bedurften offenbar genauester Prüfung.

«Apropos Viren«, sagte ich,»wir hatten ein Prachtexemplar davon im Computer.«

«Ein was?«

«Einen Killer. Leider hatten wir die Schutzimpfung versäumt.«

«Wovon redest du eigentlich?«

Ich erklärte es ihr.

«Unangenehm«, meinte sie.»Melde dich, wenn du sonst noch was brauchst.«

«Werde ich tun. Aziz fand übrigens, du seist eine nette Frau.«

«Das will ich doch hoffen.«

Ich lachte herzlich, legte auf und sah vom Schlafzimmerfenster aus, wie ein schnittiger kleiner Wagen auf meinen Parkplatz fuhr und beim Anblick der Jaguar-und-Robinson-Umarmung mit einem Ruck stehenblieb.

Als mein Besuch dann ausstieg und auf die Trümmer starrte, sah ich zu meiner Freude, daß es Maudie Watermead war; blond, zierlich, endlos lange Beine in blauen Jeans.

Ich riß das Fenster auf und rief von oben herunter.

«Hallo«, rief sie zurück.»Darf ich reinkommen?«

«Bin gleich unten.«

Mit ein paar Sätzen sprang ich die Treppe hinunter und machte ihr die Tür auf.

Ich küßte sie auf die Wange und sagte:»Du bist wohl nicht gekommen, um mit mir ins Bett zu steigen?«

«Sicher nicht.«

«Dann laß uns was trinken.«

Sie nahm die weniger dramatische Einladung als selbstverständlich hin und folgte mir ins Haus. Der Zustand des Wohnzimmers verschlug ihr die Sprache.

«Mensch«, sagte sie atemlos.»Ganz Pixhill hat davon gehört, aber wo dachte ich… ich meine.«

«Die Gründlichkeit«, sagte ich trocken,»ist beeindruk-kend.«

«O Freddie!«Sie klang wirklich mitfühlend und drückte mich an sich. Zu keusch allerdings.»Und dein toller Wagen…«Sie bückte sich und hob eines der zerhackten Fotos auf, einen alten Schnappschuß von einem mächtigen Sprung über den Chair bei der Grand National, und es regnete Glassplitter.»Wie erträgst du das?«

«Trockenen Auges«, sagte ich.

Sie sah mich von der Seite an.»Immer noch zäh wie Leder.«

Was hieß zäh, fragte ich mich. Gefühllos? Ich fühlte schon.

«Ich kam mit dem Computerjungen ins Gespräch«, sagte Maudie.»Er hat das alles hier beschrieben. Er meinte, wenn ihm das einer angetan hätte, würde er den selbst mit der Axt bearbeiten.«»M-hm. Man muß sich aber den Richtigen vornehmen, und er hat nicht sein Autogramm hinterlassen. «In meinem Hinterkopf blitzte ein Licht auf. Es hatte etwas mit Autogrammen, mit Unterschriften zu tun. Das Licht verschwand.»Was trinkst du?«fragte ich.»Es steht Champagner im Kühlschrank.«

«Wenn dir wirklich danach ist«, meinte sie zweifelnd.

«Warum nicht?«

Also gingen wir in die Küche, setzten uns an den Tisch dort und tranken aus meinen besten Gläsern, alle noch unversehrt in einem Geschirrschrank.

«Michael war wütend wegen unseres Computers. Der Wunderknabe, der ihn wieder hingekriegt hat, sagte uns, der Virus hätte da seit höchstens vier Wochen geschlummert. Betsy verwendet seit vier Wochen neue Disketten für die Sicherungskopien. Da war der Virus drauf, aber nicht auf den Kopien, die sie vorher gemacht hat. Also, sagt der ED V-Mann, hatten wir damals den Virus noch nicht.«

Ich dachte darüber nach.»Dann hat Betsy die alten Sicherungskopien in letzter Zeit nicht benutzt?«

«Nein. Kein Bedarf. Ich meine, die Kopien braucht man doch nur, wenn der ganze Computer abstürzt, oder?«

«Ja.«

«Der Wunderknabe sagt, es schwirren Hunderte von diesen verdammten Viren herum. Michael ist drauf und dran, wieder zu Pergament und Federkiel zurückzukehren.«

«Kann man ihm nicht verdenken.«

«Betsy sagt, Isobel hat ihr erzählt, daß ihr bei euch in der Firma gar keine Sicherungskopien angelegt habt.«

«Man lernt nie aus.«

«Aber was machst du denn jetzt?«»Ach«, sagte ich,»Pergament und Federkiel rausholen, wie es aussieht. Ich meine, die Daten und Zahlen aus dem Rechner sind ja alle noch auf Papier da. Rose behält von den Rechnungen, die sie verschickt, immer eine Zweitschrift. Für alle Wareneingänge haben wir Lieferscheine. Und die Fahrtenbücher existieren auch noch.«

«Ja, aber was für eine Mordsarbeit.«

«Ärgerlich«, gab ich zu.

«Wieso knurrst du nicht und fletschst die Zähne?«

«Das nützt doch nichts.«

Sie seufzte.»Du bist erstaunlich, Freddie, wirklich wahr.«

«Aber ich bekomme nicht, was ich will.«

Sie wußte, was ich meinte. Sie wurde beinah rot, sagte dann, viel zu bestimmt» M-m «und trank ihren Champagner.»Ich wollte mal hören, ob ich dir irgendwie helfen kann«, fuhr sie fort und setzte, bevor ich etwas sagen konnte, schnell hinzu:»Und nicht auf die Art, sei nicht blöd.«

«Schade.«

«Michael sagte, ich soll dich für Sonntag zum Essen einladende

«Sag Michael, ich nehme dankend an.«

Sagen Sie Michael, hatte Sandy gesagt, daß seine Tochter Tessa das Zeug hat, kriminell zu werden. Ich schaute auf Maudies hohe Wangenknochen, ihre blonden Augenbrauen, ihren herrlichen Mund; dachte an ihre Vernunft und ihr großes Herz. Wie konnte man einer solchen Mutter oder einem solchen Vater raten, ein wachsames Auge auf ihre Tochter zu haben? Vielleicht hätte eine krittelige Tante das fertiggebracht, ich konnte es jedenfalls nicht.

Ich hatte weder das Recht dazu noch die Neigung, und sie würden mir nicht glauben und mir ihre geschätzte

Freundschaft entziehen. Auch wenn ich es insgeheim für möglich hielt, daß Sandy richtig lag — es würde mein Geheimnis bleiben. Allerdings konnte ich Maudie auf weniger nebulöse Gefahren hinweisen.

Ich sagte zögernd:»Hast du meinen Fahrer Nigel mal kennengelernt?«

Sie zog die blonden Brauen hoch.»Wir haben fast immer Lewis.«

«Ja. Aber… ehm, Nigel ist ein knackiger Typ, finden meine Sekretärinnen, und, ehm.«

«Nun mal raus damit«, drängte Maudie.

«Ich dachte nur… du solltest vielleicht zusehen, daß er Tessa nicht zu nahe kommt.«

«Tessa! O Gott. Ich dachte, sie sei auf Lewis scharf. Sie tuschelt immer mit Lewis herum.«

«Der Kneipenwirt hat mir gesagt, daß Nigel neulich abends Tessa und Ed was zu trinken spendiert hat. Da ist zwar bestimmt nichts dabei, aber vielleicht solltest du es wissen.«

«Kinderkram!«Sie schien grundsätzlich unbesorgt.»Coca-Cola in der Kneipe!«Sie lachte.»Als ich jung war, sind die Eltern ausgeklinkt, wenn es >meine Nadel oder deine?< hieß.«

Ich füllte ihr Glas nach. Sie runzelte die Stirn, nicht wegen des Champagners, sondern weil ihr plötzlich etwas einfiel, und sagte nachdenklich:»Du hast uns diesen Nigel letzte Woche mal geschickt, damit er die verdammten Gäule von Jericho Rich nach Newmarket schafft, oder?«

«Ja. Am Freitag. Aber ich teile ihn nicht mehr für euch ein.«

«Betsy hat mir das erzählt. Er kam zu früh oder so, und Tessa ist zu ihm ins Führerhaus und hat gesagt, sie will mitfahren, aber Michael hat sie gesehen und gesagt, sie darf nicht.«

Diese Version der Geschichte klang viel wahrscheinlicher als die, die ich von Isobel gehört hatte, daß nämlich Nigel es mit Hinweis auf mein Anhalterverbot brav abgelehnt habe, sie mitzunehmen.

Maudie sagte:»Michael wunderte sich, daß sie Jerichos Pferde begleiten wollte, wo sie den Mann doch angeblich nicht ausstehen kann, aber wenn sie Nigel begleiten wollte, wird eher ein Schuh draus. Meinst du wirklich, wir könnten da ein Problem haben?«

«Er ist unverheiratet und hat sehr starke Pheromone, wie man hört.«

«Was für eine Ausdrucksweise. «Sie war belustigt.»Ich werde die Augen offenhalten. Vielen Dank.«

«Ich petze nicht gern.«

«Tessa kann ganz schön schwierig sein manchmal. «Sie schaute etwas geknickt, aber auch nachsichtig drein.»Siebzehn ist wohl ein rebellisches Alter.«

«Hast du rebelliert?«fragte ich.

«Eigentlich nicht. Müßte ich nein sagen. Und du?«

«Ich war zu sehr mit Reiten beschäftigt.«

«Und der Erfolg? Du wohnst heute noch im Haus deines Vaters. «Sie nahm mich ein wenig auf die Schippe.»Du bist noch nicht mal von zu Hause weg.«

«Ich bin überall zu Hause«, sagte ich.

«Donnerwetter. Die universale Geborgenheit.«

«Du hättest wohl keine Lust, Michael zu verlassen?«

«Und vier Kinder? Und ein geordnetes Leben? Und außerdem bin ich älter als du.«

Das Schönste an dem Spiel, dachte ich, war die Gewißheit, daß ich es nicht gewinnen würde. Sie trank gutgelaunt aus — mein Verlangen nach ihr war für sie ein ebenso prickelndes Vergnügen wie der Schampus. Ein Ehebruch aus Gelegenheit hätte nur die Zukunft verdorben, und dafür war sie zu nett. Sie setzte ihr Glas ab und stand lächelnd auf.

«Wenn du etwas brauchst, laß es uns wissen.«

«Ja«, sagte ich.

«Also bis Sonntag.«

Ich ging mit hinaus zu ihrem Wagen und bekam einen herzlichen, leidenschaftslosen Kuß und ein unbekümmertes Winken, als sie wendete und losfuhr. Enthaltsamkeit, dachte ich auf dem Rückweg ins Haus, konnte zu lange dauern, und zu lange war jetzt ein Jahr. Je älter ich wurde, desto klarer sah ich die Folgen meines Tuns voraus, und um so wichtiger war es mir, genau wie Maudie, nicht um eines flüchtigen Vergnügens willen Unheil anzurichten. Manchmal blickte ich entsetzt auf die Vergangenheit zurück. Nach der Trennung von Susan Palmerstone hatte ich etliche Beziehungen geknüpft und wieder fallenlassen, ohne mir klarzumachen, daß ich vielleicht viel tiefere Gefühle geweckt hatte, als ich selbst empfand; und ich war mehr als einem nach mir geworfenen Teller ausgewichen und hatte darüber gelacht, Furchtbar lange hatte ich gebraucht, um mit dem Streunen aufzuhören. Trotzdem. ich seufzte.

Ich ging ins Wohnzimmer, um zu sehen, was sich aus dem Chaos retten ließ, und blieb vor dem Anrufbeantworter stehen, der entzweigehackt war, so daß seine Eingeweide in Gestalt schwarzen Tonbands sich über den Boden ergossen.

Auf dem Tonband, dachte ich, war Joggers Stimme.

Ich hatte am Ende doch nicht aufgeschrieben, was er gesagt hatte, und obwohl ich es noch mehr oder weniger gut wußte, war ich mir nicht sicher, ob der Wortlaut genau stimmte. Kein noch so umfassendes Reimlexikon würde mir nützen, wenn ich von den falschen Wörtern ausging. Ich kramte in der Küche nach einem Kreuzschraubenzieher und anderem Werkzeug und schälte die zerschlagene Kassette vorsichtig aus dem Anrufbeantworter, um das Band nicht zu zerreißen, stellte aber fest, daß die Axt eine der Spulen getroffen und dabei viele Meter Band in kleinste Stücke zerlegt hatte.

Fluchend suchte und fand ich eine alte Kassette mit unwichtigem Inhalt, nahm sie auseinander und entfernte das Tonband. Dann löste ich behutsam das längste Stück Band von der unbeschädigten Spule des Anrufbeantworters und rollte es der Länge nach auf eine der freigewordenen Spulen. Das Endstück klemmte ich in die zweite freie Spule ein, drückte beide wieder in das Kassettengehäuse und schraubte es zusammen.

Dann suchte ich im ganzen Haus nach einem selten benutzten Taschenrecorder, der noch irgendwo herumliegen mußte, doch als ich ihn endlich aufstöberte, waren natürlich die Batterien leer.

Es gab eine kurze Verzögerung, während ich ein anderes Gerät mit gleich großen Batterien plünderte, aber mit einer Art Stoßgebet drückte ich schließlich auf» Stan «und hielt den Atem an.

«Ich kann den blöden Apparat nicht leiden«, sagte Joggers Stimme.»Wo stecken Sie denn, Freddie?«

Laut und deutlich. Halleluja!

Seine ganze Nachricht war drauf, wenn auch etwas verzerrt, weil ich das Band nicht ganz gleichmäßig aufgerollt hatte. Als ich es zurückspulte und von vorn laufen ließ, war das Leiern verschwunden. Ich nahm ein Blatt Papier und schrieb Wort für Wort auf, was er gesagt hatte, mit

Pünktchen für seine Sprechpausen, aber was er mir sagen wollte, verstand ich immer noch nicht.

Ein toter Cousin in der Schmiergrube, im vorigen August.

Höchst unwahrscheinlich. Egal, wessen Cousin, das hätte mir jemand erzählt, auch wenn ich den August zum großen Teil in Frankreich (beim Pferderennen in Deauville) und in Amerika (bei den Rennen in Saratoga) verbracht hatte.

Was reimte sich auf Cousin? Gobelin, Kretin, Mannequin, Ragout fin…

Nichts da. Was ging mit Cousin zusammen?

Cousin und Cousine.

Cousine. Apfelsine, Beduine, Biene, Blondine, Brah-mine, Gardine, Kabine, Lawine, Maschine, Pelerine, Sardine, die Delphine.

Ein toter Delphin? Tote Sardinen? Toter Brahmine? Toter Beduine? Eine Lawine von toten Bienen?

Ich würde den Text Nina geben, dachte ich, und das Kollektivgehirn der Sicherheitsleute des Jockey-Clubs darauf loslassen. Wobei es ebensogut sein konnte, daß die Nachricht, falls wir den Code knackten, sich als belanglos erwies. Jogger hatte offensichtlich nicht geahnt, daß er sterben würde. Er hatte mir keine ungeheuer wichtige Nachricht hinterlassen im Gefühl, es könnte seine letzte sein.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem neuen Computer zu und hoffte, als ich ihn einschaltete, daß es nicht gleich mit Blitzen und Gezisch zu einem neuen Festplatteninfarkt kam. Wundersamerweise aber hatte der Experte mir das volle Computerleben wiedergeschenkt, und alles funktionierte wie vorher. Ich rief Isobels Bürogerät auf, um zu sehen, was sie und Rose seit heute früh schon eingegeben und gespeichert hatten.

Sie waren beide fleißig gewesen. Schnell, gewissenhaft, großzügig mit ihrer Zeit. Ich hatte ihnen gesagt, sie sollten mit den Buchungen vom Tage anfangen und zwischendurch, wenn ihre andere Arbeit es erlaubte, langsam zurückgehen, auf keinen Fall aber weiter als bis zum Monatsanfang.

«Lassen Sie es erst mal auf Papier«, sagte ich.

«Aber die Tabellenkalkulation…«:, sagte Rose.

«Die kann warten.«

«Wenn Sie meinen«, stimmte sie zweifelnd zu.

«Wir sind doch selbst schuld, daß wir alles verloren haben«, sagte Isobel traurig.

«Schwamm drüber. «Ich sagte ihnen immer noch nicht, daß ich vielleicht mit vollständigen Sicherungskopien aufwarten konnte, wenn erstens der Schlosser sie beim Öffnen des Safes nicht irgendwie beschädigte und wenn zweitens Michelangelo, der Virus, sie nicht bereits ausradiert hatte. Außerdem wollte ich keinen Zweitangriff auf mich oder mein Eigentum provozieren, falls jemand hörte, daß die Kopien existierten und annehmen mußte, daß sie brisante Informationen ans Licht bringen könnten. Auch wenn die Schwellung an meinem Kopf zurückging, mein Wagen und mein Wohnzimmer erinnerten mich nach wie vor daran, daß eine Woge melodramatischer Ereignisse in Pixhill durch meine Tür gerollt war und sich nicht unbedingt schon erschöpft hatte.

Vom Bildschirm las ich die Transportaufträge für den nächsten Tag ab. Nicht übel für die Woche: Hindernispferde nach Wolverhampton und Lingfield Park. Zuchtstuten für drei Gestüte. Irische Pferde zum Flughafen Bristol, auf dem Rückweg von Cheltenham.

Die Vorauspläne für Samstag sahen gut aus. Ich rief das Inhaltsverzeichnis auf, um zu sehen, was Isobel und Rose

sonst noch eingegeben hatten, und entdeckte eine ungewöhnliche Datei:»Besucher«.

«Besucher«, so zeigte sich, war die von mir gewünschte Liste der Personen, die ihres Wissens in jüngster Zeit zum Bauernhof gekommen waren.

Die Lieben, dachte ich erfreut. Hilfsbereiter als man verlangen konnte.

Die Liste lautete:

Alle Fahrer bis auf Gerry und Pat, die Grippe haben.

(Nächste Woche oder kurz darauf wollen beide wieder

antreten.)

Vic und seine Frau (beide haben jetzt Grippe).

Tessa Watermead (wollte zu Nigel oder Lewis).

Jericho Rich (wegen seiner Pferde).

Wachtmeister Smith (wegen des Toten).

Dr. Farway (wegen des Toten).

Mr. Tigwood (Sammelbüchse).

Betsy (Mr. Watermeads Sekretärin).

Brett Gardner (bei seiner Kündigung).

Mrs. Williams (Putzfrau).

Lorna Lipton (wollte zu F. C., der aber auf Pendelfahrt

war).

Paul (Isobels Bruder, hat sich Geld geliehen).

Desinfektionsmittellieferant.

Ich tippte ein Dankeschön unter die Liste und legte eine Sicherungskopie von den Neueingaben auf einer sauberen, freien Diskette an, obwohl ich vermutete, daß man im Büro von jetzt an knöcheltief durch Sicherungskopien waten konnte. Ich schaltete den Rechner aus, machte mir etwas zu essen, trank den restlichen Champagner und dachte eine Menge über Viren nach, organische wie elektronische.

Gegen zehn rief gähnend Nina an.

«Wo sind Sie?«fragte ich.

«Im Fahrerhaus des Transporters, auf dem Bauernhof. Wir haben getankt, und Nigel spritzt gerade den Wagen ab, Gott sei Dank. Ich bin gerädert.«

«Was ist passiert?«

«Nichts, keine Sorge. Die Fahrt ist nach Plan gelaufen. Wir haben das Springpferd abgeliefert. Der Vater der Besitzerin, Jericho Rich, war beim Ausladen dabei und hat alle herumkommandiert. Was für ein Rhinozeros. Ich hätte ihm beinah den Kopf abgerissen, dachte aber aus Rücksicht auf Sie, ich laß es mal. Sonst war nichts weiter, aber so ein Ferntransport ist doch eher was für kräftige junge Männer, da haben Sie schon recht.«

«Wie sind Sie mit Nigel ausgekommen?«

«Mein Gott, ist der geil. Hatte ein paarmal die Hand auf meinem Knie, dabei könnte ich seine Mutter sein. Sonst ist er gar nicht so übel. Keine Klagen. Wir haben viel geschwätzt. Kann ich Ihnen das morgen erzählen?«Sie gähnte wieder.»Er ist mit dem Waschen beinah fertig. Eine unerschöpfliche Ausdauer.«

«Sein größter Vorzug«, stimmte ich bei.

«Also bis morgen. Tschüs.«

Am Morgen fuhr ich zeitig zum Bauernhof, da ich einige der Fahrer sprechen wollte, bevor sie ausrückten. Harve selbst hatte eine frühe Tour nach Wolverhampton, und wenn er nicht da war, hielt ich meistens die Stellung für den Fall, daß sich in letzter Minute noch Fragen oder Änderungen ergaben.

Frühtouren waren normal, denn die meisten Trainer bestanden darauf, daß ihre Pferde mindestens drei Stunden vor dem Start auf der Rennbahn ankamen. Im Winter, wenn die Austragungen oft schon mittags begannen, damit das ganze Programm im verkürzten Tageslicht über die Bühne gehen konnte, nahmen die Fahrer nicht selten um sechs oder sieben im Dunkeln ihre Fracht auf und luden sie je nach Fahrstrecke zwölf Stunden später im Dunkeln wieder aus. Nach Frühlingsanfang, wenn die langen, hellen Sommertage winkten, luden wir in der Morgen- und der Abenddämmerung ein und aus, und in den drei Jahren, seit ich die Spedition betrieb, hatte ich ein wiederkehrendes Bild von der energiefördernden Wirkung der Sonne erlebt. Die Arbeitsbelastung mochte im Januar und im Juni gleich sein, aber die Ermüdbarkeit war es nicht.

Die meisten Fahrer saßen in der Kantine, als ich an diesem Freitag ankam. Der Himmel draußen war herrlich rosa und ingwerrot, hoch, klar und kalt. Der Tee in der Kantine hatte die Farbe von Teakholz, mit der entsprechenden Stärke, und weiße Plastikteelöffel standen aufrecht in der Zuckerdose.

«Guten Morgen, Freddie…«

Ich antwortete dem Chor.»Guten Morgen.«

Harve war schon unterwegs nach Wolverhampton. Anhand der Liste, die ich mir vom Computer hatte ausdruk-ken lassen, sprach ich kurz mit den anderen eingeteilten Fahrern, aber sie hatten von Harve und Isobel schon alle nötigen Anweisungen erhalten. Mir wurde klar, daß diese beiden mir seit Dienstag abend sehr viel abgenommen hatten und daß der Schlag auf den Hinterkopf mir doch stärker zugesetzt hatte, als ich wahrhaben wollte.

Phil, Dave und Lewis waren da, Lewis ohne Anzeichen von Grippe. Nigel strömte trotz seiner späten Rückkehr am Abend vorher nur so über von tierischer Kraft. Aziz lächelte wie immer. Etliche andere sahen auf ihre Uhr, tranken ihr Thein, gingen zur Toilette und schlenderten hinaus, um in gemeinschaftlichem Einsatz die Mehrzahl der Pixhiller Pferde abzuholen, die an diesem Tag in Ling-field starteten.

Dave sollte mit Aziz in dem Neun-Pferde-Transporter Zuchtstuten nach Irland schaffen. Die beiden hatten noch reichlich Zeit, und ich bat Dave, auf ein Wort in mein Büro zu kommen. Er kam unbekümmert wie üblich, den Becher Tee in der Hand und einen liebenswürdigen, nichtsahnenden Ausdruck im Gesicht.

Ich bedeutete ihm, in dem Sessel vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen, und schloß die Tür hinter ihm.

«Also, Dave«, sagte ich und setzte mich hinter den Schreibtisch, eher ungehalten als richtiggehend böse auf ihn,»wer hat Ihren Durchfall arrangiert?«

«Was?« Er blinzelte und verwarf den Gedanken, der ihm durch den Kopf geschossen war. Verwarf die Möglichkeit, daß ich wußte, was er getan hatte. Verwarf sie zu früh und zu Unrecht.

«Den Durchfall«, erinnerte ich ihn,»Sie mußten doch an der Tankstelle von South Mimms halten, um Imodium zu kaufen.«

«O… ach so, ja. M-hm. Stimmt.«

«Wer hat diesen Halt arrangiert?«

«Was? Na ja, niemand. Ich hatte eben Dünnpfiff.«

«Machen wir uns nichts vor, Dave«, sagte ich ein wenig müde,»Sie haben Kevin Keith Ogden nicht zufällig mitgenommen.«

«Wen?«

«Den Anhalter. Und lassen wir die Spielchen jetzt. Sie wissen ganz genau, wen ich meine. Sie waren gestern auf der Gerichtsverhandlung zur Klärung seines Todes. Sie und Brett haben nicht wegen irgendwelcher geheimnisvoller Verdauungsstörungen in South Mimms angehalten, sondern um einen Fahrgast aufzunehmen und ihn nach Chieveley zu bringen. Das alles haben Sie dem Coroner verschwiegen.«

Dave öffnete unwillkürlich den Mund, um alles abzustreiten, schloß ihn aber wieder, als er mein Gesicht sah.

«Wer hat das arrangiert?«wiederholte ich.

Er wußte nicht, was er sagen sollte. Ich konnte die sich überschlagenden Gedanken förmlich ahnen, die Unschlüssigkeit deutlich sehen. Ich wartete, während er seinen Tee zu Rate zog und auch am heller werdenden Himmel jenseits des Fensters nach Antworten suchte. Die Lausbubensommersprossen gaben seinem Gesichtsausdruck immer etwas von natürlicher Unschuld, doch aus dem listigen, fast verschlagenen Blick, mit dem er mich schließlich taxierte, sprach eher das Schuldbewußtsein eines Erwachsenen.

«Da war doch nichts dabei«, sagte er beschwichtigend.

«Woher wissen Sie das?«

Er versuchte es mit seinem gewinnenden Lächeln, gegen das ich inzwischen immun war.»Wie kommen Sie darauf, daß das arrangiert war? Ich sagte Ihnen doch, da war dieser Typ, der wollte mitgenommen werden.«

«Schluß jetzt, Dave«, unterbrach ich ihn.»Wenn Sie Ihren Job behalten wollen, sagen Sie mir die Wahrheit.«

Der Schock saß. So grimmig kannte er mich nicht.»Die Wahrheit«, drängte ich.

«Ehrlich, Freddie, es war nicht bös gemeint. «Er sah allmählich besorgt aus.»Was war denn schon dabei?«

«Was sollte da laufen?«

«Also, es konnte doch nicht schaden, mal einen Anhalter mitzunehmen.«

«Wer hat Sie bezahlt?«»Ich. also.«

«Wer?« beharrte ich.»Oder Sie steigen jetzt auf Ihr Rad und lassen sich hier nicht mehr blicken.«

«Niemand«, sagte er verzweifelt.»Also gut. Gut. Ich sollte Geld kriegen, hab aber keinen Pfennig gesehen. «Seine Empörung wirkte echt.»Ich meine, Sie sollten ja nichts von ihm wissen, aber wie er dann starb…«Seine Stimme versagte, als ihm aufging, daß er sich verplappert hatte.»Die sagten, ich würde am Freitag in aller Frühe einen Umschlag im Fahrerhaus des Neuners finden, aber der Neuner stand dann ja die ganze Nacht vor Ihrem Haus, und ein Umschlag war am nächsten Morgen nicht drin, ich hab nämlich beim Saubermachen nachgesehen, ja, und seitdem hab ich nichts mehr von denen gehört, und das ist unfair.«

«Geschieht Ihnen recht«, sagte ich ohne Mitgefühl.»Wer sind die?«

«Bitte?«

«>Die<, die gesagt haben, Sie würden im Fahrerhaus einen Umschlag finden.«

«Also.«

«Dave!«sagte ich erbost.»Jetzt reden Sie schon.«

«Würde ich ja, aber ich weiß es nicht.«

Ich sagte sarkastisch:»Sie haben sich bereit erklärt, etwas zu tun, was ich Ihnen immer wieder verboten hatte, und Sie wissen nicht, für wen Sie da Ihren Job aufs Spiel gesetzt haben?«

«Nein, aber…«

«Kein Aber«, sagte ich.»Wie haben >die< sich mit Ihnen in Verbindung gesetzt, und war es ein Mann oder eine Frau?«

«Äh.«

Gleich erwürge ich ihn, dachte ich.

«Na schön«, sagte er.»Schön. «Er holte unglücklich Luft.

«Es war eine Sie, und sie hat mich zu Hause angerufen, und meine Frau ging dran und fand es überhaupt nicht gut, daß da eine Fremde anrief, nicht Isobel oder so, aber jedenfalls meinte diese Frau nur, es würde sich für mich lohnen, den Anhalter mitzunehmen, und so einen unverhofften Gewinn schlägt man doch nicht aus. Ich meine… das ist doch reines Trinkgeld, oder?«

«Haben Sie ihre Stimme erkannt?«

Er schüttelte geknickt den Kopf.

«Was für einen Akzent hatte sie?«

Die Frage schien ihn lediglich zu wundern.»Die war aus England«, sagte er.»Keine Ausländerin.«

«Was hat sie gesagt?«

«Na ja, eben, daß ich den Mann mitnehmen soll.«

«Wie sollten Sie ihn erkennen?«

«Sie sagte, er wäre an der Zapfanlage, und er würde uns kommen sehen und mich ansprechen. und so war es auch.«

«Wer hat sich den Durchfall ausgedacht?«

«Na ja, die. Ich brauchte einen Vorwand, damit Brett in South Mimms anhält, meinte sie. Also hab ich Brett gesagt, wenn er nicht anhält, müßte ich die Hosen im Transporter runterlassen und er müßte es aufwischen. «Er lachte verlegen.

«Brett sagte, dann drück ich dich mit der Nase rein. Aber jedenfalls hat er angehalten.«

«Brett war also nicht mit von der Partie?«

Dave blickte wütend.»Brett ist ein Scheißkerl.«

«Wieso das?«

Daves verletzter Gerechtigkeitssinn war stärker als seine Vorsicht.»Er sagte, er nimmt den Mann nur mit, wenn er uns was dafür gibt. Also hab ich mit Ogden geredet, aber der sagte, er hätte kein Geld dabei. Er hatte bestimmt was, aber er sagte, so sei das nicht vereinbart, ich würde doch nachher bezahlt, und ich sagte ihm, daß Brett nur mitzieht, wenn er vorher Geld sieht. Dieser Ogden lief puterrot an, so sauer war der, und er hat dann doch etwas Moos ausgegraben, aber nicht viel, und weil es Brett zu wenig war, hab ich ihm noch was draufgelegt, und er sagt, nanu? Ich sag, ich krieg’s zurück, und da meint er, von dem Geld hätte er auch noch gern was ab, sonst müßte er Ihnen vielleicht sagen, daß ich gegen Bares eine Mitfahrgelegenheit organisiert hab. Und nicht nur das«, Daves Zorn steigerte sich,»sondern am Samstag abend kommt Brett in die Kneipe und läßt mich für sein Bier blechen und lacht sich einen Ast, und als ich ihm sage, daß aus der Lohntüte nichts geworden ist, meint er lediglich: >Tja, Partner, dann hast du Pech gehabte, und bechert weiter.«

«Und Sie haben nach Jogger geschlagen«, sagte ich.

«Na ja, der wollte keine Ruhe geben, und ich war geladen wegen Brett, und Jogger hat gequasselt wie ein Wasserfall von Sachen, die unter den Transportern hängen, und von der Kassette in Ihrem Wohnzimmer, dem dreckigen alten Kasten, und wieder von Sachen, die unter den Transportern befördert werden.«

«Haben Sie verstanden, wovon er geredet hat?«fragte ich überrascht.

«Ja, natürlich.«

«Von wegen Kuckuckseier?«

«Ja, klar. Unbekannte Fracht.«

«Was ist mit Cousins und Phönix?«»Wie?«

Sein Gesicht war ausdruckslos. Cousins und Phönix sagten ihm nichts.

«Hat Jogger«, fragte ich,»von Ihrer Privatinitiative gewußt?«

«Was? Meinen Sie diesen Ogden? Daß er gestorben war, wußte Jogger natürlich. Aber ich hab ihm nicht erzählt, daß die Fahrt abgesprochen war. Ich bin ja nicht bescheuert, der hätte mich doch innerhalb von fünf Minuten bei Ihnen verpfiffen. Immer auf Ihrer Seite, der Jogger.«

«Ich dachte, das wären Sie auch«, bemerkte ich.

«Jaja. «Er sah ein klein wenig beschämt aus.»Also, es schadet doch nichts, wenn man sich ein bißchen Trinkgeld nebenbei verdient.«

«Diesmal hat es geschadet.«

«Woher sollte ich denn wissen, daß der stirbt?«fragte Dave gekränkt.

«Was hatte er bei sich?«fragte ich zurück.

«Bei sich?«Er runzelte die Stirn.»Eine Tasche. So eine Aktentasche. Und, ehm, dann noch eine Tragetüte mit Sandwiches und einer Thermosflasche. Ich hab ihm die Taschen angereicht.«

«Was hat er mit den Sandwiches gemacht?«

«Die wird er gegessen haben. Ich weiß es nicht.«

«Haben Sie und Brett auch Sandwiches gekauft?«

Die Fragen schienen ihn zu verwirren, aber er konnte sie leichter beantworten als die vorhergehenden.»Brett ja«, sagte er bereitwillig, wenn auch säuerlich.»Er ist lachend los und hat sie sich von meinem Geld gekauft, die Sau.«

«Brett sagte, Sie hätten schon öfter Anhalter mitgenommen.«»Er ist ein Arschloch.«

«Aber stimmt es? Und war das auch vorher verabredet?«

«Nein, es war immer zufällig. Brett hatte auch nichts dagegen, wenn er was von der Knete abbekam.«

«Was ist mit den anderen Fahrern? Machen die das auch

so?«

«Ich verpetze keinen«, sagte er scheinheilig.

«Heißt das, die machen’s auch?«

«Nein. «Er wand sich regelrecht.

Ich hakte nicht nach. Statt dessen sagte ich:»Wie lange vor der Fahrt nach Newmarket wurde der Halt in South Mimms vereinbart?«

«Am Abend vorher.«

«Um welche Zeit?«

«Nach meiner Rückkehr von der Rennbahn in Folkesto-ne.«

«Spät also.«

Er nickte.»Es war meiner Frau gar nicht recht.«

«Hatte die Anruferin Sie schon zu erreichen versucht, bevor Sie zurückkamen?«

«Dann hätte ich das von meiner Frau zu hören gekriegt.«

Es sah aus, als ob er ganz schön unterm Pantoffel stand, und offenbar war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, sich zu fragen, woher die Anruferin gewußt hatte, daß er erst am späten Abend wieder zu Hause war, und woher sie gewußt hatte, daß er am nächsten Tag nach Newmarket fahren würde. Sie hatte außerdem gewußt, daß man ihn mit Geld dazu bringen konnte, einen Anhalter mitzunehmen.

Sie hatte viel zu viel gewußt.

Wer, um Himmels willen, hatte es ihr gesagt?

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