Kapitel 5

Sie war wie üblich schwer zu finden. Ich hinterließ Nachrichten für sie im gesamten Physikalischen Institut der Edinburgher Universität, im dortigen Sekretariat, in den angegliederten Forschungslabors und einem Observatorium, und ich versuchte es mit dem Privatanschluß der Frau des Dekans, lauter Nummern, die von früheren Fahndungen übriggeblieben waren. Ohne Erfolg.

Warten bis sie nach Hause kam war nutzlos, da sie ihre ganze Zeit hinter verschlossenen Türen in Konferenzen und Ausschußsitzungen verbrachte, und um sie morgens in den unregelmäßigen fünf Minuten zwischen Aufstehen und Weggehen zu erwischen, brauchte man einen sechsten Sinn.»Bitte richten Sie ihr aus, sie soll Freddie anrufen«; nach sechs Versuchen gab ich es auf und probierte die Computerleute zu erreichen, die nur etwa ein Dutzend Meilen entfernt saßen.

Diese Bemühung endete mit dem Kein-Anschluß-Geläut und einer Tonbandstimme, die mir ruhig versicherte, daß der Anschluß abgeschaltet worden sei. Ein zweiter Anlauf brachte das gleiche Ergebnis. Gereizt rief ich meinen Friseur an, dessen Laden vier Häuser neben dem EDV-Geschäft lag, und fragte, was los sei.

«Die sind letzte Woche über Nacht abgehauen«, erzählte er mir unbekümmert.»Getürmt. Einfach ausgeflogen. Haben alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war. Wir haben hier alle zu kämpfen, seit sie uns auf Teufel

komm raus die Miete erhöht haben, und es sollte mich nicht wundern, wenn der Schuhladen als nächstes verschwindet.«

«Verdammt«, sagte ich.

«Tut mir leid, Partner.«

Ich blätterte ein wenig im Branchenverzeichnis und sicherte mir das wackelige Versprechen eines Unbekannten, er werde mich» auf die Liste setzen«.»Morgen kann ich nicht kommen, tut mir leid, ausgeschlossen.«

Seufzend blätterte ich noch einmal in den Gelben Seiten, da ich sie schon zur Hand hatte, telefonierte in den Buchhandlungen herum und fand endlich eine, die ein Reimlexikon am Lager hatte; ihr letztes, hieß es, aber sie würden es mir zurücklegen.

Als ich dann auflegte, klingelte sofort das Telefon. Ich nahm den Hörer wieder ab und sagte hoffnungsvoll:»Liz-

zy?«

«Eine Freundin erwartet, ja?«zog Sandy Smith mich auf.

«Kann ich leider nicht mit dienen.«

«Meine Schwester.«

«Na klar.«

«Was kann ich für Sie tun?«

«Andersrum«, sagte er.»Ich wollte Ihnen doch Bescheid geben wegen Ihrem Anhalter. Die Obduktion war jetzt, und er ist an einem Herzschlag gestorben. Myokardinfarkt. Pumpe ging nicht mehr. Die Gerichtsverhandlung ist für Dienstag angesetzt. Eine Sache von einer halben Stunde, Identitätsnachweis und so. Dr. Farways Befund. Kann sein, daß Ihr Fahrer gebraucht wird, dieser Brett.«

«Der hat aufgehört. Tut’s nicht auch Dave?«

«Ach ja, denke ich schon. «Nicht seine Entscheidung, wenn ich recht verstand.

«Danke, Sandy«, sagte ich herzlich.»Was ist mit Jog-ger?«

«Das liegt ein bißchen anders. «Er klang plötzlich vorsichtig.

«Sein Befund ist noch nicht da. Soviel ich weiß, haben sie ihn noch nicht aufgeschnitten. Die haben montags immer viel zu tun.«

«Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie was hören?«

«Kann ich nicht versprechen.«

«Na ja, tun Sie Ihr Bestes.«

Er sagte zweifelnd, das werde er, und ich fragte mich, ob meine beiden Besucher in Zivil ihn dazu gebracht hatten, in mir einen Gegenspieler zu sehen. Aber immerhin hatte er mit Kevin Keith Ogden Wort gehalten, und vielleicht blieb unsere lange Bekanntschaft eine hinreichend stabile Brücke.

Ich saß eine Zeitlang und dachte an alles, was in den vergangenen fünf Tagen geschehen war, bis schließlich wieder das Telefon klingelte, und diesmal war es tatsächlich meine Schwester.

«Wen hast du eigentlich nicht behelligt?«wollte sie wissen.

«Eine wahre Flut von Bitten, dich anzurufen, ist über mich hereingebrochen. Also, was gibt’s?«

«Zuerst mal, wo bist du und wie geht es dir?«

«Du hast diese ganzen SOS-Rufe doch wohl nicht losgelassen, damit wir hier gemütlich einen plaudern?«

«Äh, nein. Aber falls wir unterbrochen werden — wo bist du?«

Sie gab eine Nummer durch, die ich der Liste hinzufügte.»Bei Professor Quipp privat«, sagte sie knapp.

Ich fragte mich, ob alle außer mir gewußt hatten, wo sie zu finden war. Sie hatte mehrere Liebhaber gehabt, fast alle mit Bart, alles Akademiker, nicht immer Wissenschaftler. Professor Quipp hörte sich wie der neueste an. Ich beging jedoch nicht den Fehler, eine nicht zurücknehmbare Vermutung laut auszusprechen.

«Also«, sagte ich zögernd,»ich wollte fragen, ob du wohl etwas für mich analysieren lassen könntest. Im chemischen Institut vielleicht.«

«Und was?«

«Eine unbekannte Flüssigkeit in einem 10-Kubikzentimeter-Glas.«

«Ist das dein Ernst?«Sie klang, als hielte sie mich für verrückt.

«Was ist das denn? Wo hast du’s her?«

«Wüßte ich, was es ist, brauchte ich es ja nicht rauszufinden.«

«Ach, Brüderchen. «Auf einmal hörte sie sich freundlicher an.

«Dann erzähl mal.«

Ich erzählte ihr von der in einem meiner Transporter gefundenen Tragetüte und den sechs Röhrchen in der Thermosflasche.

«Es sind eine ganze Menge komischer Sachen passiert«, sagte ich.»Ich möchte wissen, was mein Pferdetransporter befördert hat, und von dir abgesehen wäre der einzige, den ich fragen könnte, der hiesige Tierarzt oder aber der Jok-key-Club. Der Jockey-Club bekommt von mir ein oder zwei Röhrchen, aber ich möchte die Antwort selbst kennen, und wenn ich das Ganze aus der Hand gebe, es einer Behörde anvertraue, habe ich keine Kontrolle mehr darüber.«

Sie wußte genau, wie es war, die Kontrolle etwa über Forschungsergebnisse zu verlieren. Das war ihr einmal passiert, und es fuchste sie noch jetzt.

«Ich dachte«, fuhr ich fort,»daß du bestimmt jemanden mit einem Gas-Chromatograph kennst oder wie das heißt, und das Zeug privat für mich untersuchen lassen könntest.«

Sie sagte langsam:»Könnte ich schon, aber bist du auch sicher, daß es nötig ist? Ich möchte nicht umsonst einen Gefallen einfordern, den mir jemand schuldet. Was ist denn noch passiert?«

«Zwei Tote und ein paar leere Behälter unter dem Fahrgestell von mindestens drei meiner Lastwagen.«

«Was für Tote?«

«Ein Anhalter und mein Mechaniker. Der hat die Behälter entdeckt.«

«Was für eine Art von Behältern?«

«Zum Schmuggeln vielleicht.«

Sie schätzte schweigend die Lage ab.»Dann wäre es möglich, daß man dich für mitschuldig hält an dem, was da gelaufen ist.«

«Ja. Bestimmt sogar, wenn ich von dem Benehmen der beiden Fahnder ausgehe, die gestern hiergewesen sind.«

«Und du liebst natürlich die Polizei.«

«Ich bin sicher«, sagte ich,»daß es eine ganze Reihe von höflichen und kultivierten Polizisten bei uns gibt, die ausgezeichnete Arbeit als Freunde und Helfer leisten. Bloß bin ich offenbar an die geraten, denen das Lachen vergangen ist.«

Sie erinnerte sich wie ich auch an eine Geschichte von früher, als ich einmal die Polizei (nicht Sandy und nicht in Pixhill) bekniet hatte, eine junge Frau vor ihrem gewalttä-tigen Ehemann zu schützen. Für häusliche Angelegenheiten seien sie nicht zuständig, hatte man mir hochnäsig erklärt, und eine Woche später wurde sie zu Tode geprügelt. Erzürnt hatte mich das anschließende Achselzucken der Polizei, nicht etwa die Vereitelung irgendwelcher persönlicher Absichten, denn ich hatte die Frau gar nicht näher gekannt. Behördliche Gleichgültigkeit hatte sich im Wortsinn als tödlich erwiesen. Da nützte es wenig, daß Jahre später eine Direktive erging, die ein Eingreifen auch in» häusliche Angelegenheiten «vorsah: bei mir war der Schaden angerichtet worden, als ich zwanzig und idealistisch war.

«Wie geht’s sonst?«fragte Lizzie.

«Das Geschäft läuft.«

«Und das Liebesleben?«

«Stockt.«

«Und wann hast du die Ahnen zuletzt mit Blumen geehrt?«

«Gestern erst.«

«Wirklich?«Sie wußte nicht, ob sie beeindruckt oder skeptisch sein sollte.»Ich meine… Tatsache?«

«Tatsache. Aber auch zum ersten Mal seit Weihnachten.«

«Da stehst du wieder mit deiner unseligen Ehrlichkeit. Ich sage dir, die bringt dich mehr in Schwierigkeiten als…«Nachdenklich brach sie ab.»Wie gedenkst du die geheimnisvollen Glasröhrchen hierherzukriegen?«

«Mit der Post, nehme ich an. Oder besser durch Boten.«

«Hm. «Eine Pause.»Was hast du morgen vor?«

«Nach Cheltenham zu fahren. Zum Champion Hurdle.«

«So? Seit du deine Seele nicht mehr über die Hindernisse katapultierst, bin ich vom Rennsport etwas abgekommen. Wie wär’s, wenn ich zu dir runterfliege? Mir stehen noch ein paar freie Tage zu. Wir könnten uns die Rennen im Fernsehen anschauen, du erzählst mir alles und gehst mit mir essen, und am Mittwochmorgen flieg ich zurück. Mach mein altes Zimmer fertig. Was hältst du davon?«

«Willst du zum Haus oder zum Bauernhof kommen?«

«Zum Haus«, sagte sie entschieden.»Das ist einfacher.«

«Gegen Mittag?«

«Wenn’s irgend geht.«

«Lizzie«, sagte ich froh,»hab vielen Dank.«

Ihr Ton war trocken.»Du bist ein abgebrühter Hund, Bruderherz, also laß die Tränendrückerei.«

«Wo hast du denn diese Sprache her?«

«Aus dem Kino.«

Lächelnd sagte ich ihr einstweilen adieu und legte den Hörer auf. Wie immer würde sie kommen, weil ein innerer Zwang sie trieb, ihren Brüdern zu Hilfe zu eilen. Mit einem Abstand von fünf Jahren die Älteste in der Familie, hatte sie erst meinen Bruder Roger bemuttert und sechs Jahre später dann mich; eine wehrhafte Glucke mit Küken. Hätte sie eigene Kinder gehabt, wären diese Instinkte mir gegenüber vielleicht ebenso von selbst erloschen wie gegenüber Roger, der jetzt eine anhängliche Frau und drei Söhne hatte, aber da ich — jedenfalls bis jetzt — ledig geblieben war wie sie selbst, schien ich nach wie vor nicht nur ihr Bruder, sondern auch ihr Sohnersatz zu sein.

Ziemlich klein und dünn, ihr dunkler Bubikopf inzwischen graumeliert, huschte sie in ihrer gewohnten Umgebung entweder in einer schwarzen Doktorrobe oder einem weißen Laborkittel umher, während ihr pfeilschneller Verstand mit Sternweiten, Quantensprüngen und schwarzen oder weißen Zwergen befaßt war. Sie publizierte fleißig, gab Vorlesungen, hatte sich einen Namen gemacht; soweit ich es beurteilen konnte, war ihr Leben, ob im Bett mit dem neuesten Bart oder außerhalb, erfüllt.

Es war gut sechs Monate her, daß ich mit der Bahn nach Schottland gefahren war, um zwei Tage bei ihr zu verbringen. Zwei Tage drängten die Unterhaltung von sechs Monaten auf eine Zeitspanne zusammen, die sie bevorzugte. Ihr Übernachtausflug nach Pixhill war typisch; eine Woche lang würde sie niemals stillhalten.

In Gedanken an sie saß ich noch auf dem Bauernhof, als Nina, deren Fracht wohlbehalten wieder im Stall abgeliefert war, mit dem leeren Transporter zurückkam. Sie hielt an der Dieselpumpe, füllte die Tanks und kam gähnend zum Büro, um das Fahrtenbuch in den Briefkasten zu werfen, wie wir es ihr gesagt hatten.

Ich ging zu ihr hinaus.»Wie war’s?«fragte ich.

«An besondern Vorfällen war überhaupt nichts. Ansonsten war es faszinierend. Ist hier was passiert?«

Ich schüttelte den Kopf.»Eigentlich nicht. Die Polizei war noch mal wegen Jogger da. Ich habe den Umtrunk für ihn in der Kneipe organisiert, da müßten wir morgen eine brauchbare Namensliste bekommen. Der Computer spielt verrückt. Und wenn Sie den Transporter gereinigt haben, möchte ich Ihnen etwas zeigen.«

Sie warf einen unfreundlichen Blick auf das staubige Fahrzeug.

«Meinen Sie wirklich, ich muß ihn saubermachen?«

«Harve wird es erwarten. Innen und außen.«

Sie warf mir einen altmodisch-ironischen Seitenblick zu.»So hat sich Patrick Venables das aber bestimmt nicht gedacht.«

«Tarnung ist Tarnung«, sagte ich mild.»Wenn ich es für Sie mache und mittendrin kommt Harve zurück, ist meine Autorität hier geplatzt wie eine Seifenblase.«

Daraufhin, das mußte man ihr lassen, hörte sie sofort auf zu murren, fuhr den Transporter auf den Waschplatz, bearbeitete ihn mit dem Druckluftschlauch und wischte die Fenster, bis sie blitzten.

Harve kam tatsächlich zurück, während sie damit beschäftigt war, und nahm ihren Fleiß als selbstverständlich hin. Während er auftankte und darauf wartete, daß das Wasser frei wurde, ging ich in mein Büro und ordnete die Sachen auf dem Serviertablett ein wenig um, indem ich vier von den rätselhaften Röhrchen wegnahm und sie ganz hinten in einer Schreibtischschublade verschwinden ließ. Da ich sonst nichts zu tun hatte, hob ich das ungeöffnete Sandwichpäckchen auf und las das Etikett:»Rind und Tomate. «Da war auch ein Preisaufkleber und ein Mindesthaltbarkeitsdatum, nämlich der vergangene Freitag.

Freitag war der Tag, an dem ich die Pendeltour für Marigold gemacht und die Tragetüte mit der Thermosflasche gefunden hatte. Mit der Thermosflasche und den Sandwiches. Aber ich hatte nirgends angehalten, wo die Pfleger Sandwiches oder sonst etwas hätten kaufen können.

Ich runzelte die Stirn.»Rind und Tomate«. Vor ein, zwei Tagen erst hatte ich eine leere Sandwichtüte mit dem Sortenaufdruck» Rind und Tomate «gesehen, aber wo genau? Erst nach einer Weile fiel es mir ein. Unter Bretts Essensabfällen in dem Neun-Pferde-Transporter natürlich.

Nina kam ins Büro und streckte sich in dem Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches aus.

«Was mache ich morgen?«fragte sie.»Heute habe ich viel über den Rennsport erfahren aber verdammt wenig übers Schmuggeln. Patrick hat wohl gedacht, ich würde auf Anhieb schnallen, was da läuft, aber wenn es nach heute geht, kann ich einen ganzen Monat hier sein, ohne etwas mitzukriegen.«

«Noch niemand«, erinnerte ich sie,»hat bisher gesehen, wie hier was passiert ist. Vielleicht sind Sie hier, um zu sehen, wie etwas passieren könnte.«

«Dafür wären Sie doch geeigneter als ich.«

«Das möchte ich bezweifeln. Ich glaube, wenn ich in der Nähe bin, passiert einfach deshalb nicht viel, weil ich da bin. Ich würde Sie gern auf eine Tour nach Frankreich, nach Italien oder Irland schicken, aber da stoßen wir auf eine kleine Schwierigkeit.«

«Was für eine? Ich könnte schon fahren. Würde ich sogar ganz gern.«

«Ich muß zwei Fahrer schicken, wegen der Fahrzeiten.«

«Na, in Ordnung.«

Ich lächelte.»Nicht so ganz. Die Frauen der verheirateten Fahrer möchten nicht, daß ich ihre Männer mit einer Frau ins Ausland schicke. Meine Stammfahrerin Pat kommt deshalb zu ihrer Empörung nie aus England raus. Ich könnte Sie natürlich mit Nigel fahren lassen, der nicht verheiratet ist, aber mit ihm zu fahren, lehnt Pat wiederum ab, denn er würde selbst eine Nonne verführen.«

«Mich nicht. «Sie war sehr bestimmt, aber ich wußte nicht recht.

«Wir wollen sehen, ob sich eine Fahrt ergibt«, sagte ich.»Morgen haben wir hier jedenfalls nicht viel zu tun — in der Woche des Cheltenham Festival ist immer Ebbe, weil an den drei Tagen nur wenig andere Meetings stattfinden. Am Freitag gibt’s wieder Arbeit, und am Samstag geht’s wieder rund, wenn wir Glück haben. Können Sie am Samstag?«»Sieht aus, als täte ich gut daran.«

«M-hm. «Ich beugte mich vor, hob eins der beiden Röhrchen auf, die jetzt noch auf dem Pappteller lagen, und fragte sie, ob sie so etwas schon mal gesehen hätte.

«Glaub ich nicht. Wieso?«

«Die sind in einem meiner Transporter befördert worden, versteckt in dieser Thermosflasche.«

Sie wurde hellwach, alle Müdigkeit verschwand aus ihrem Gesicht.

«Was ist das denn?«

«Ich weiß nicht. Aber es wäre möglich — weiter möchte ich nicht gehen, aber möglich wär’s —, daß sie das sind, was der maskierte Eindringling gesucht hat, denn dort waren sie — im Fahrerhaus. In einer Tragetüte mit den ungegessenen Sandwiches hier, in dieser Thermosflasche voll ungetrunkenem Kaffee.«

Sie nahm mir das Röhrchen ab und hielt es ans Licht.

«Was ist da drin?«

«Ich weiß es nicht. Ich dachte, Patrick Venables könnte das vielleicht herausfinden.«

Sie ließ das Röhrchen sinken, sah mich mit unterdrückter Erregung an und sagte:»Das ist der erste konkrete Beweis dafür, daß irgend etwas im Gange ist.«

Ich hob die Packung Sandwiches auf und zeigte ihr die Etiketten.

«Brett, der Fahrer, der vorigen Dienstag den Neuner mit den Zweijährigen nach Newmarket gefahren hat…«

«Und der jetzt weg ist?«

Ich nickte.»Brett — ich nehme an, Brett, denn Dave hatte Durchfall — jedenfalls einer von ihnen hat solche Sandwiches auf der Tour gekauft, da bei den Abfällen, mit denen der Transporter zurückkam, genauso eine leere Tüte lag. Am Freitag morgen bei der Reinigung des Transporters haben sie den Abfall weggeworfen. Jedenfalls, nehmen wir mal an, Bretts Sandwiches kamen aus dem Laden der Tankstelle von South Mimms, und nehmen wir spaßeshalber weiter an, daß die Sandwiches hier aus dem gleichen Laden sind…«Ich hielt inne, doch sie hörte einfach zu, ohne Stellung zu beziehen oder etwas einzuwenden. Ich fuhr fort:»Dave hat unseren Anhalter in South Mimms aufgelesen. Was also, wenn die Sandwiches und die Thermosflasche zu Kevin Keith Ogden gehört haben?«

Von der Annahme ausgehend, folgten ihre Überlegungen den gleichen Schritten wie meine und gelangten zu der gleichen Erkenntnis.

«Wenn die Röhrchen dem toten Passagier gehört haben, können sie nicht mit den Behältern unter den Transportern in Zusammenhang stehen. Dann haben sie vielleicht überhaupt nichts mit Ihnen zu tun. Der Mann wußte ja nicht, daß er sterben würde. Wahrscheinlich wollte er mit den Röhrchen noch weiter.«

«Ich habe befürchtet, daß Sie das sagen würden.«

«Trotzdem sehr interessant. Und…«Sie schwieg nachdenklich.

«Ja?«

Sie teilte mir mit, welche Schlußfolgerungen sich für sie daraus ergaben, und ich nickte.»Da kommt man ins Grübeln, was?«

«Aber Sie brauchen mich eigentlich nicht, oder?«meinte sie.

«Ich brauche Ihre Augen.«

Harve war mit dem Saubermachen fertig; er kam zu uns ins Büro und erkundigte sich bei Nina, wie es ihr ergangen sei und ob sie Fragen habe. Sie dankte ihm, und mir fiel auf, daß sie heute ihr reines, vornehmes Englisch dabei ein wenig zurücknahm. Ich fragte mich, wie oft und wie regelmäßig sie sich wohl für Patrick Venables verwandelte.

Das Telefon klingelte, und als ich abnahm, war Sandy in der Leitung.

«Die Untersuchung von Joggers Tod«, sagte er.»Der Termin ist gerade durchgekommen. Mittwoch um zehn, Winchester Coroner’s Court. Die Verhandlung wird bloß eröffnet und dann bis zum Abschluß der Ermittlungen vertagt. Normal bei Unglücksfällen. Ich habe gefragt, ob man Sie braucht, aber es hieß, vorerst nicht. Sie werden Harve brauchen, weil der ihn gefunden hat, und natürlich Dr. Farway. An der Verhandlung über Kevin Keith Ogden soll Dave teilnehmen. Ich gebe ihm noch Bescheid, wo er hinmuß. Okay?«

«Ja, danke, Sandy.«

Ich legte auf und sagte Harve, daß er am Mittwoch kurz gebraucht werden würde. Harve schnitt ein wenig begeistertes Gesicht und zuckte die Achseln. Schon klingelte das Telefon wieder, wie zur Fortsetzung des vorigen Gesprächs, doch statt Sandys drang mir eine unbekannte, näselnde Stimme ans Ohr, voll Überheblichkeit und Wichtigtuerei.

«John Tigwood hier«, sagte er.

«Oh. Ja, bitte?«

«Maudie Watermead empfahl mir, mich an Sie zu wenden.«

«John Tigwood. Bekannter von Maudies Schwester Lor-na?«

Er korrigierte mich kurz.»Leiter des Gnadenhofs Ken-tauros.«»Ja, ich weiß.«

«John Tigwood«, murmelte Harve mißbilligend.»Das närrische kleine Würstchen. Immer am Schnorren.«

«Was kann ich für Sie tun?«fragte ich mild in den Hörer.

«Ein paar Pferde abholen«, sagte Tigwood.

«Selbstverständlich«, antwortete ich herzlich.»Jederzeit.«

Geschäft war schließlich Geschäft. Was immer ich von John Tigwood persönlich hielt, sein Geld nahm ich gern.

«In Yorkshire schließt ein Gnadenhof«, erzählte er mir so ernst, daß es wie eine Hiobsbotschaft klang.»Wir haben uns bereit erklärt, die Pferde zu übernehmen und neue Heime für sie zu finden. Die Watermeads wollen zwei in ihre untere Koppel stellen. Benjy Usher nimmt auch zwei. Jetzt frage ich Marigold English, obwohl die hier noch neu ist. Wie steht’s mit Ihnen? Kann ich Sie nicht überreden?«

«Nein, tut mir leid«, sagte ich fest.»Wann sollen sie geholt werden?«

«Ginge es morgen?«

«Sicher«, sagte ich.

«Gut. Lorna selbst möchte in Ihrem Transporter als Begleitung mitfahren.«

«Ja, schön.«

Er erklärte mir den Weg, und ich nannte ihm den Preis.

«Ach, hören Sie, ich hatte gehofft, Sie würden das aus Liebe zur Sache tun.«

«Nein, bedaure. «Ich war angemessen freundlich und entschuldigend.

«Aber es ist für Lorna!«beharrte er.

«Maudie hat Ihnen doch sicher nicht gesagt, ich würde die Pferde umsonst fahren.«

Nach einer Pause meint er:»Sie hat mich gewarnt.«

«M-hm. Soll ich sie also holen oder nicht?«

Ein wenig eingeschnappt sagte er:»Sie bekommen Ihr Geld. Obwohl ich schon finde, Sie könnten etwas großzügiger sein. Es ist schließlich für einen guten Zweck.«

«Sie können ja jemand anders fragen, ob er sie holt«, schlug ich vor.»Vielleicht finden Sie jemand, der es umsonst macht.«

Seinem Schweigen entnahm ich, daß er es schon bei einem anderen versucht hatte. Vielleicht bei mehreren anderen. Es war ein weiter Weg von Pixhill zu dem Ort in Yorkshire, wo ich sieben wacklig auf den Beinen stehende Veteranen abholen sollte, um sie einer neuen Heimstatt zuzuführen.

Als Tigwood aus der Leitung war, gab ich Harve den Zettel mit der Adresse. Nina, die meiner Seite des Wortwechsels zugehört hatte, fragte, worum es gegangen sei.

Harve erklärte ihr entrüstet:»Wir haben hier so ein verrücktes Heim für alte Pferde. Dieser John Tigwood, der gibt sie von da aus überall in Kost. Er stellt den Besitzern der Pferde die Pflege in Rechnung, bezahlt aber nicht die Leute, die die Pferde aufnehmen. Das ist ein Schwindel! Und dann hat er noch die Stirn und bittet Freddie um einen Gratistransport im Namen der Barmherzigkeit.«

Ich lächelte.»Der Gnadenhof gilt hier als wohltätige Einrichtung. Die Leute veranstalten Sammelaktionen dafür. Sie rühren die Trommel, sie machen Druck. Wahrscheinlich hätte ich den Transport umsonst anbieten sollen, aber, um ehrlich zu sein, ich lasse mich nicht gern drängen oder ausnehmen, und da die Besitzer der Pferde Tigwood garantiert dafür bezahlen müssen, daß er ihre Pensionäre hierher schafft, sehe ich nicht ein, warum er mich nicht bezahlen soll.«

«Die Frage ist«, sagte Harve,»wer übernimmt die Tour?«

«Jedenfalls nimmt der, der fährt, Lorna Lipton, die Schwester von Mrs. Watermead, als Pflegerin mit«, erklärte ich ihm und sah auf den Wochenfahrplan.»Wir brauchen einen Neuner dafür. Der neue Fahrer, Aziz, fährt von jetzt an Bretts Neuner. Er kann ja ruhig mit den Pflegefällen anfangen.«

«Was für ein neuer Fahrer?«fragte Harve.

«Ich habe ihn heute morgen eingestellt, als Sie schon unterwegs waren. Der beste von fünf, die zum Vorstellungsgespräch gekommen sind.«

Ich trug Kentauros in das Feld für den Neun-PferdeTransporter ein und schrieb» Aziz «oben in die Spalte.

Kentauros, der Name von Tigwoods Hilfswerk, hörte sich derart nach Penthouse an, daß ich jahrelang gedacht hatte, es hieße wirklich so. Das Büro der in ihrer Art winzigen Institution befand sich in einer kostensparend errichteten eingeschossigen Hütte — um nicht zu hoch zu greifen — am Rand einer zwei Morgen großen Koppel außerhalb von Pixhill. Die angrenzenden wackligen Holzställe, in denen sechs bejammernswerte Gäste mit geringen Ansprüchen Platz finden konnten, hielten einer Prüfung durch die Bezirksverwaltung gerade eben noch stand, da der wohltätige Zweck das Unternehmen vor bösen behördlichen Angriffen schützte. John Tigwoods Öffentlichkeitsarbeit wertete das Ganze im Kollektivbewußtsein Pixhills zu einem herausragend guten Werk auf: Ich war sicher, daß viele, die für den edlen Zweck spendeten, seine Zentrale noch nie zu Gesicht bekommen hatten.

In ganz Pixhill waren Kentauros-Sammelbüchsen verteilt, runde Blechdosen mit einem Einwurf und der dringenden Ermahnung,»alten Freunden ein langes Leben «zu gewähren. John Tigwood kam regelmäßig vorbei, um die Dosen zu leeren und ausführliche Quittungen dafür zu schreiben. Auch in unserer Kantine hatte er eine Büchse aufgestellt, aber vor Wut geschäumt, als er dann Knöpfe, Kekse und ein Kondom mit abgelaufenem Datum darin fand.»Seien Sie froh, daß es nicht benutzt war«, hatte ich gesagt, aber er hatte nicht darüber lachen können.

Harve überflog den ganzen Plan und zuckte gelassen mit den Schultern, als er hörte, daß der Computer ausgefallen war. Wie ich, bevorzugte er immer noch einen handgeschriebenen Plan, tendierte allerdings mehr zu der Wandtafel, die ich inzwischen rausgeworfen hatte. Zuviel Kreidestaub in der Luft, seit der Computer im Haus war.

Ich erzählte Harve, daß das ganze Werkzeug aus Joggers Lieferwagen gestohlen worden war. Er fluchte kurz, sah aber keine große Bedeutung darin. Wir brauchten ein neues Rollbrett, sagte ich, zum Inspizieren der Fahrgestelle, worauf Harve nickte und vorschlug, ich solle Nigel bitten, eins zu bauen.

«Der braucht dafür nur eine Fasergipsplatte und ein paar Laufrollen«, sagte Harve.»Er ist handwerklich sehr geschickt, das muß man ihm lassen.«

Ich unterdrückte ein Lächeln.»Dann kann er es morgen bauen«, sagte ich. Ich überlegte kurz und kam zu einem Entschluß.»Am Mittwoch kann Nigel nach Frankreich fahren und das Springpferd für die Tochter von Jericho Rich abholen. Nina hier begleitet ihn als Beifahrerin.«

Harve sah sie verblüfft von der Seite an und wandte sich mit drollig erhobenen Augenbrauen zu mir.

«Ich habe sie gewarnt«, sagte ich.»Sie meint, sie ist Ni-gelsicher.«

«Sie kennt ihn nicht!«»Sie hat Erfahrung mit Pferden«, erklärte ich.»Jerichos Tochter möchte, daß wir einen Begleiter für das Pferd mitnehmen. Nina kann das mit dem Fahren verbinden.«

«Aber Sie sagten doch, Dave solle mit Phil in Phils Sechser fahren.«

«Ich habe es mir anders überlegt. Nina fährt mit Nigel. Sie können den Vierer nehmen, den Nina heute gefahren hat. Das ist besser, weil sparsamer. «Zu ihr sagte ich:»Packen Sie ein paar Sachen ein, okay?«

Sie nickte, und als Harve zu dem nächsten eintreffenden Transporter hinausging, sagte sie:»Sie wollen sicher, daß einer von uns in dem Transporter schläft?«

«Er hat so einen Behälter unterm Fahrgestell«, sagte ich zustimmend.

«Ja. Gut, dann legen Sie den Köder aus. Erzählen Sie rum, daß dieser Transporter nach Frankreich fährt. Vielleicht beißt jemand an.«

«Hm«, meinte ich zögernd.»Niemand erwartet von Ihnen, daß Sie sich in Gefahr bringen.«

Sie lächelte ein wenig.»Seien Sie da nicht so sicher. Patrick kann verdammt anspruchsvoll sein. «Sie schien unbekümmert.

«Ich springe ja nicht direkt hinter den deutschen Linien im besetzten Frankreich ab.«

Mir wurde klar, daß sie genau die Sorte Frau war, die das im Zweiten Weltkrieg getan hatte, und als könnte sie meine Gedanken lesen, nickte sie und sagte:»Meine Mutter hat das gemacht, und sie hat es überlebt und mich dann noch bekommen.«

«Das muß man ihr erst mal nachmachen.«

«Es liegt mir im Blut.«

«Haben Sie Kinder?«fragte ich.

Mit der wegwerfenden Geste unsentimentaler, von Kindermädchen unterstützter Mütter spreizte sie die Finger.»Drei. Alle aus dem Ponyclubalter raus, alle dem Nest entflogen. Der Mann seit langem tot. Das Leben plötzlich öd und leer, kein Sinn mehr im Springreiten oder im Military. Patrick als Retter in der Not. Muß ich noch mehr sagen?«

«Nein.«

Ich verstand sie völlig in ihrer unwillkürlichen Anwandlung von Gefühl und Selbsterkenntnis, und sie merkte es. Sie schüttelte den Kopf, wie um sich von dem Augenblick zu distanzieren, und stand auf, groß und kompetent, eine Pferdefreundin, der Pferde letztlich nicht genügten.

«Wenn Sie mich morgen nicht brauchen«, sagte sie,»bringe ich Patrick die Röhrchen nach London, bespreche alles mit ihm und komme am Mittwoch wieder. Um welche Zeit?«

«Sie müssen um sieben hier abfahren. Sie setzen von Dover nach Calais über und sind dann gegen sechs an Ihrem französischen Bestimmungsort. Auf der Rückfahrt am Donnerstag müssen Sie das Pferd natürlich bei Jericho Richs Tochter vorbeibringen. Hier kommen Sie erst spät an, vielleicht so gegen zehn.«

«In Ordnung.«

Sie wickelte die beiden bernsteinfarbenen Röhrchen sorgfältig in ein Taschentuch und steckte sie in ihre Handtasche. Dann ging sie mit einem kurzen Nicken als Abschiedsgruß zu ihrem Wagen hinaus und fuhr unauffällig davon.

Ich nahm die anderen vier Röhrchen aus der Schreibtischschublade, wickelte jedes einzeln in ein Papiertuch und steckte sie in meine Jackentasche. Dann goß ich den Becherinhalt wieder zurück in die Thermosflasche, schraubte die innere und äußere Verschlußkappe auf und verstaute sie zusammen mit den Sandwiches wieder in der Tragetüte, um alles mit nach Hause zu nehmen.

Der Arbeitstag ging zu Ende. Es waren zwar noch Transporter unterwegs, aber ihre Rückkehr würde ich nicht abwarten. Die Fahrer erwarteten es keinesfalls und hätten zu viel» Manndeckung «vielleicht als Mangel an Vertrauen aufgefaßt. Allerdings hatte ich im Lauf des Tages sowohl von dem nach Irland abgegangenen Neun-Pferde-Transporter mit Zuchtstuten wie auch von dem Transporter in Frankreich, der die beiden Zweijährigen für Michael Watermeads Stall abholte, telefonisch Nachricht erhalten, und so wußte ich, daß beide erst um zwei oder drei Uhr früh ankommen würden.

Für uns war das ganz normal. Für Michael Watermead mußte es eine arge Zumutung sein. Ich hatte mit dem Fahrer bereits abgesprochen, daß er direkt hierher zum Standort kommen solle und wir die jungen Pferde bis morgen früh auf dem Bauernhof unterstellen würden, doch mir fiel ein, daß ich vergessen hatte, es Michael selbst zu sagen.

Ein Gähnen unterdrückend, tippte ich seine Nummer und erreichte ihn zu Hause.

«Zwei Uhr früh!«protestierte er.»Du weißt doch, daß mir das nicht paßt. Durch den Lärm und das Licht wird die ganze Stallruhe gestört. Die Tiere brauchen ihren Schlaf.«

«Wir können deine Zweijährigen bis morgen früh hier auf dem Bauernhof unterstellen, wenn’s dir recht ist. «Ich schlug es vor, als sei es mir gerade erst eingefallen.»Da passiert ihnen nichts. Mein Fahrer sagt, es geht ihnen gut. Sie fressen und sind ruhig.«

«Das hättet ihr auch besser regeln können«, brummte Michael mit sanftem Tadel, indem er seine Gefühle wie gewohnt vornehm im Zaum hielt.

«Die Fähre in Calais hat Verspätung«, erklärte ich.»Deine Pferde kommen voraussichtlich erst heute abend gegen zehn in Dover an. Mußt du entschuldigen, Michael, aber das haben wir nicht in der Hand.«

«Ja, ja, klar, ich verstehe schon. Trotzdem sehr ärgerlich, verdammt. Na, also gut, den Zweijährigen kann wohl nicht viel passieren. Aber bringt sie morgen so früh wie möglich her. Halb sieben oder so, wenn meine Pfleger zur Arbeit kommen, ja?«

«So früh wie möglich«, versprach ich.

«In Ordnung. «Er hielt inne, um das Thema zu wechseln.

«Etwas… äh Neues über deinen Mechaniker, den armen Kerl?«

«Die Polizei hat Fragen wie nach einem Unfall gestellt.«

«Pech, daß er gestürzt ist.«

«Gar kein Ausdruck.«

«Laß mich wissen, wenn ich etwas tun kann.«

«Danke, Michael.«

«Schönen Gruß von Maudie.«

Ich legte seufzend den Hörer auf, da ich mir mehr von Maudie wünschte, und nach einer Denkpause rief ich das Gestüt an, das die Lieferung aus Irland erwartete.

«Ihre vier Stuten mit Fohlen«, sagte ich beschwichtigend,»sind jetzt auf der Fähre, aber sie kommen frühestens um elf heute abend in Fishguard an, und wenn wir sie von dort direkt zu Ihnen bringen, kann es gut drei Uhr werden. Wäre Ihnen das recht?«

«Aber immer. Wir sind sowieso die ganze Nacht auf — wir haben Stuten, die abfohlen.«

Nachdem das erledigt war, stand ich müde auf, nahm die Tragetüte, schloß die vordere Bürotür ab, ließ die Kantine aber für die Fahrer offen und ging hinaus, um den Four-trak, mein kleines Arbeitspferd, anzuwerfen. Wenn ich mich hinter das Steuer dieses praktischen Wagens setzte, hatte ich manchmal schon das Gefühl, daß die Jaguar XJS-Persönlichkeit mir ganz abhandenkam; aber irgendwo in dem Geschäftsmann atmete auch noch der Jockey, und jetzt sah ich ein, daß es unerläßlich war, ihn am Leben zu erhalten, daß ich ihn nicht untergehen lassen durfte, daß er weiterhin bereit sein mußte, jeden Tag sein Leben zu riskieren, auch wenn er es nicht mehr tat.

Ich fuhr nach Hause, aß, ging zu Bett.

Ich würde den Jaguar wieder öfter von der Leine lassen, dachte ich.

Am Morgen kurz nach halb sieben war ich aufgestanden. Angezogen, satt vom Frühstück fuhr ich im aufkommenden Tageslicht zum Bauernhof, um zu sehen, was anlag.

Der Transporter aus Frankreich mit Michael Water-meads Zweijährigen stand friedlich an seinem gewohnten Platz, seine Ladung döste im Stall, sein Fahrer war nirgends zu sehen. Dafür steckte ein zusammengefalteter Zettel von ihm hinter dem Scheibenwischer. Ich faltete ihn auseinander und las:»Kann die jemand anders zu den Wa-termeads bringen? Ich bin groggy, meine Schicht ist rum, und ich glaub, ich hab die Grippe. Tut mir leid, Freddie. «Darunter stand» Lewis «und als Zeitangabe» Dienstag, 2 Uhr 30.«

Zum Teufel mit der Grippe, dachte ich heftig. Zum Teufel mit allen unsichtbaren Feinden.

Ich schloß die vordere Bürotür auf und ging in mein Arbeitszimmer, um die Zweitschlüssel für Lewis’ Transporter zu holen, denn es schien mir einfacher, ihn selbst hinüber zu Michael zu fahren, statt zu warten, bis ein anderer Fahrer antrabte. Also schloß ich den Transporter auf, lud die geduldigen, unbekümmerten Gäste aus meinem Stall ein und fuhr sie die knappe Meile bis zu ihrem Bestimmungsort.

Michael war bereits auf dem Hof und sah demonstrativ auf seine Armbanduhr — fast sieben, und wir hatten halb sieben vereinbart.

Als ich aus dem Fahrerhaus stieg, ließ sein Mißfallen etwas nach, verschwand aber nicht völlig. Er war für seine Verhältnisse ganz und gar schlecht gelaunt.

«Freddie! Wo ist Lewis?«sagte er.

«Lewis hat sich die Grippe geholt«, sagte ich bedauernd.

«Verdammt!«Michael rechnete ein wenig.»Was wird mit Doncaster? Diese Grippe dauert so lang.«

«Ich stelle dir einen guten Fahrer«, versprach ich.

«Das ist nicht dasselbe. Lewis hilft beim Aufsatteln und so.

Manche von diesen Faulpelzen tuckern zum Pferderennen und schlafen im Führerhaus, bis es Zeit zum Nachhausefahren ist. Brett war so einer. Den konnte ich nicht ausstehen.«

Ich bekundete Verständnis, ließ die Rampe zum Ausladen der Zweijährigen herunter und band den ersten los, um ihn herauszuführen.

«Ich dachte, die blöden Franzosen wollten einen Begleiter mitschicken«, nörgelte Michael, den blonden Kopf zurückwerfend, mit etwas wehleidiger Stimme.

Bei jedem anderen hätte das Mißfallen sich in einem hemmungslosen Wutausbruch geäußert. Bei Jericho Rich zum Beispiel, dem Unbeherrschten.

«Lewis hat uns gestern am Telefon gesagt, daß der französische Pfleger in Calais umgekehrt ist«, erklärte ich.»Anscheinend dachte er, er würde auf der Überfahrt seekrank. Da Lewis mir aber versicherte, er komme allein zurecht, beschlossen wir, nicht noch Zeit mit der Suche nach einem Ersatzbegleiter zu vergeuden. Wo soll ich den Burschen hier hinbringen?«

Der Zweijährige tänzelte ausgelassen an seinem Strick. Michaels Futtermeister kam angelaufen, um sich seiner anzunehmen und ihn in sein neues Heim zu führen.

Als auch der zweite Import heil ausgeladen war, wich Michaels Gereiztheit seiner gewohnten Gutmütigkeit, und er bot mir an, eine Tasse Kaffee zu trinken, bevor ich zurückfuhr. Wir gingen zusammen ins Haus, in die warme, helle, einladende Küche mit dem langen Kieferntisch, wo Freunde der Familie morgens immer Fruchtsaft und Toast bekommen konnten.

Maudie war da in Jeans und Pulli, die blonden Haare noch vom Schlaf zerwühlt, das Gesicht ungeschminkt. Sie nahm meinen Begrüßungskuß abwesend entgegen und fragte nach Lewis.

«Grippe«, sagte Michael knapp.

«Aber der hilft den Kindern bei den Kaninchen! Verdammt und zugenäht. Jetzt muß ich das selber machen.«

«Was denn?«fragte ich arglos.

«Den Stall und das Gehege reinigen.«

«Vorsicht«, neckte Michael,»sonst kannst du ihr noch die blöden Karnickel ausmisten. Laß die Kinder es doch machen, Maudie. Sie sind alt genug.«

«Die sind schon für die Schule angezogen«, wandte sie ein, und tatsächlich kamen ihre beiden Jüngsten, ein Junge und ein Mädchen, in ordentlichem Grau hereingeschlüpft, um ihren Vater zu umarmen und ihren Heißhunger zu stillen. Ihnen folgte zu meiner großen Überraschung meine eigene Tochter, Cinders.

Sie trug die gleichen grauen Sachen. Ich entnahm dem Geplapper, daß sie auf die gleiche Schule ging und bei den Watermeads übernachtet hatte. Hugo, überlegte ich, konnte nicht damit gerechnet haben, daß ich zum Frühstück kommen würde.

Sie sagte lässig» Tag «zu mir als einem, der ihr vor zwei Tagen bei einem Mittagessen über den Weg gelaufen war, einem Bekannten ihrer Eltern. Ihre Aufmerksamkeit kehrte sofort zu den anderen Kindern zurück, mit denen sie unbefangen herumalberte.

Ich versuchte, sie nicht zu beachten, war mir ihrer Gegenwart aber so bewußt, als wären mir plötzlich ein Paar Fühler gewachsen. Sie saß mir gegenüber, dunkelhaarig, zierlich und lebhaft, geborgen und geliebt. Nicht mein. Niemals mein. Ich aß Toast und wünschte, die Dinge lägen anders.

Maudies Tochter sagte:»Wer versorgt denn die Kaninchen, wenn Lewis die Grippe hat?«

«Warum nicht Ed?«brachte Maudie ihren älteren Sohn in Vorschlag.

«Mutter! Du weißt doch, daß der das nicht macht. Als Bruder ist das eine taube Nuß. Lewis mag die Kaninchen. Er knuddelt sie, streichelt ihnen das Fell. Die hoppeln ihm nur so auf die Hand. Keiner kann so gut mit ihnen umgehen wie Lewis. Ich wünschte, Lewis wär mein Bruder.«

Michael sah Maudie mit hochgezogenen Brauen an; die Vorstellung von Lewis als Sohn entzückte beide nicht.

«Wer ist Lewis?«fragte Cinders.

«Ein Fahrer von Freddie«, sagten ihr die Kinder und erklärten, daß ich ein Frachtunternehmen hatte; daß die Wagen mir gehörten.

«Ach so«, meinte sie ohne sonderliches Interesse.

Michael sagte, er werde das Gehege am Nachmittag von einem Pferdepfleger säubern lassen, und Maudie scheuchte die drei Kinder wie einen Schwarm Spatzen durch ihr Frühstück, in die Mäntel und hinaus zum Auto, um sie rechtzeitig um halb neun in der meilenweit entfernten Schule abzuliefern.

Die Küche wirkte still und leer, nachdem sie fort waren. Ich trank meinen Kaffee aus, stand auf und dankte Michael für die Gesellschaft.

«Gern geschehen«, sagte er freundlich.

Mein Blick fiel auf eine von John Tigwoods allgegenwärtigen Sammelbüchsen, die auf der Fensterbank stand.

«Ah ja«, sagte ich, mich erinnernd.»Einer von meinen Transportern holt heute eine Fuhre alter Hindernispferde aus Yorkshire. John Tigwood sagt, du nimmst zwei davon in deine untere Koppel auf. Wie machen wir das? Soll das ganze Lot erst hierherkommen? Ich meine, welche zwei möchtest du?«

Er schaute ein wenig genervt drein, was mich nicht überraschte.»Lorna hat mich wieder breitgeschlagen. Sollen sie und dieser kleine Gnom das in seinem Maulwurfsloch unter sich ausmachen. Aber schau mal, ob du mir zwei bringen kannst, die nicht schon in den letzten Zügen liegen. Bei den zwei vorigen habe ich Tigwood gesagt, er soll sie zum Abdecker bringen, damit sie von ihrem Elend erlöst werden. Es ist doch bloß Gefühlsduselei, diese abgetakelten alten Wracks auf den Beinen zu halten, aber das kann ich natürlich nicht vor den Kindern sagen. Sie verstehen nicht, daß auch der Tod notwendig ist.«

Er kam mit hinaus auf den Stallhof, um in die Downs zu fahren, wo seine Pferde noch bewegt wurden, und fragte mich spontan, ob ich mitfahren wollte, um Irkab Alhawa bei der schnellen Arbeit zu sehen.

Erfreut nahm ich sofort an, denn ich wußte, es war ein Kompliment und ein Geschenk. Er fuhr uns mit seinem hochgelagerten Shogun und hielt an einem Aussichtspunkt nahe dem Ende seiner Allwetter-Trainierbahn. Von dort hatten wir freie Sicht auf die Pferde, die jeweils zu dritt bergan auf uns zu galoppierten, und sahen sie ganz aus der Nähe, wenn sie an uns vorbeifegten, um einhundert Meter weiter dann anzuhalten.

Ich hatte jahrelang unzählige Morgenstunden damit verbracht, Pferde im Training zu reiten. Ich machte es immer noch, wenn ich die Gelegenheit erhielt. Eine Gelegenheit, Watermead-Pferde zu bewegen, würde ich allerdings nicht bekommen, da Hindernisjockeys von meiner Größe, ob aktiv oder nicht, meist zu schwer waren für die jungen Flachpferde.

«Wie macht sich Irkab?«fragte ich zögernd.

«Ganz hervorragend.«

Michaels Stimme war voll Zufriedenheit, der Streß, ein Pferd auf den ersehnten Derbysieg hin zu trainieren, war so früh im Jahr noch längst nicht schweißtreibend. Im Juni würde er dann kein Auge mehr zutun.

Wir sahen drei oder vier Trios in vorher festgelegter Folge an uns vorbeiziehen, und Michael sagte:»Irkab ist bei den nächsten drei, der erste hier auf unserer Seite. Du erkennst ihn an der durchgehenden Blesse.«

«Gut.«

Die drei Pferde kamen in Sicht, schnell und leicht dahingleitende Schatten auf der braunen Bahn. Irkab Alhawa mit seinem schwierigen arabischen Namen war als Zweijähriger ein Spätentwickler gewesen, der das Ausmaß seines sportlichen Könnens erst bei den Middle Park Stakes vergangenes Jahr im Oktober gezeigt hatte. Lewis hatte ihn an diesem Herbsttag als ein Watermead-Pferd von vielen nach Newmarket gebracht und war mit einer Offenbarung zurückgekehrt, die die Presseleute wie einen Schwarm Stare nach Pixhill gelockt hatte.

Die Verheißung des Middle Park war zwei Wochen später bestätigt worden durch einen glänzenden Sechslängensieg bei den Dewhurst Stakes, dem letzten großen Zwei-jährigenrennen der Saison, wo er die Elite von Newmarket auf ihrem eigenen Platz niedergemacht hatte, mit dem Ergebnis, daß während des ruhigen, untätigen Winters Irkab Alhawa fast zu einer Kultfigur geworden war, die merkwürdig klingenden Silben ein Teil seines Nimbus. Die Presse hatte den Namen mit» Reitet den Wind«übersetzt, wenn ich auch irgendwo gehört hatte, daß die Übersetzung nicht ganz stimmte. Sei’s drum; Irkab Alhawa war gut für Michael, für Pixhill, für Lewis und nicht zuletzt für Freddie Croft.

Die braune Sensation mit der schmalen weißen Blesse, von weitem schon erkennbar, fegte die Bahn entlang und auf uns zu in dem reibungslosen Zusammenspiel von Kraft und Masse, das die Natur den wenigen glücklichen Pferden und Menschen mitgibt, bei denen Bewegung gleichbedeutend ist mit Anmut und Geschwindigkeit.

Ich empfand wie immer in der Gegenwart hochklassiger Pferde einen sonderbaren Neid: nicht, weil ich auf ihrem Rücken sein wollte, sondern weil ich sie sein, weil ich den Wind reiten wollte. Es war aberwitzig, aber nach so vielen Jahren der Vertrautheit mit diesen herrlichen Geschöpfen waren sie in gewisser Hinsicht Erweiterungen meiner selbst, ständige Gefährten im Hintergrund meines Bewußtseins.

Nicht jeder hatte sich mit Michael über das Erscheinen eines Wunderkindes in seinem Stall gefreut. Wie die Menschen nun einmal sind, hätte so mancher Vertreter der Rennwelt nur zu gern gehört, daß dem Pferd etwas zugestoßen sei. Michael tat das mit einem Achselzucken ab.»Neid und Mißgunst wird es immer geben. Denk nur dran, wie einige Politiker dazu ermuntern! Wenn die Leute schäumen und Gift spucken, ist das nicht mein Problem, es ist ihres. «Höflich und unbekümmert, wie er war, hatte Michael kein Verständnis für die Eigendynamik grundlosen Hasses.

Irkab Alhawa galoppierte mit majestätischer Kraft an uns vorüber. Michael wandte sich mir zu, ein funkelndes Lächeln in den Augen, und sah, daß er nichts zu sagen brauchte. Bei einem solchen Pferd waren Kommentare unangebracht, banal.

Wir fuhren zum Stall zurück. Ich dankte ihm. Er nickte, und merkwürdigerweise hatte dieser Galopp nicht nur unsere guten Geschäftsbeziehungen gefördert, sondern uns einer echten Freundschaft nähergebracht.

Ich schaffte Lewis’ Super-Sechser wieder zum Bauernhof, wo der Alltagsbetrieb mich erfaßte und in die Wirklichkeit zurückholte.

Aziz war zur Arbeit angetreten, und seine Vitalität, sein strahlendes Lächeln hatten Harves weniger glänzende Augen bereits etwas glasig werden lassen. Harve war über meine Ankunft erleichtert und sagte mir, daß er gerade versuchte, dem über seinen ersten Auftrag enttäuschten Aziz die Devise» ein Job ist ein Job ist ein Job «nahezubringen.

«In dem Fach gibt es eine Menge Leerlauf«, versicherte ich Aziz.»An manchen Tagen fährt man sieben ausrangierte Greise. An einem andern Tag vielleicht auch einen Derbysieger. Die Ladung gesund und wohlbehalten an ihr Ziel zu bringen, nur darauf kommt es an.«

«Okay.«

«Und denken Sie dran, daß Pferde immer einnicken und träumen, wenn Sie mit gleichmäßigem Tempo auf der Autobahn fahren, aber wenn Sie die Autobahn verlassen und in den Kreisverkehr kommen, wachen sie auf und wissen nicht mehr, wo sie sind. Dann schussern sie herum, um sich auf den Beinen zu halten. Das tun alle Pferde, aber diese uralten gehen ja schon am Stock, da müssen Sie besonders aufpassen, sonst liegen bei der Ankunft alle strampelnd am Boden, und selbst wenn sie das überstehen, werden wir für unsere Mühe dann auf keinen Fall bezahlt.«

Aziz hörte dieser Moralpredigt erst mit einem ungläubigen Grinsen und zuletzt mit nachdenklicher Aufmerksamkeit zu. Eigentlich hätte er aber die ganze Zeit nicken müssen.

Ich sagte langsam:»Sie haben doch schon Rennpferde gefahren, oder?«

«Ja«, erwiderte er sofort.»Natürlich. Aber nur in der Umgebung von Newmarket. Und zum Rennen nach Yarmouth. Nicht direkt auf der Autobahn.«

Harve runzelte die Stirn, hakte aber nicht nach, und in meinem Kopf erhoben sich die Fragezeichen stachelig wie eine Schwarzdornhecke. Zwar gab es in East Anglia, wenn überhaupt, wirklich nur wenige längere Schnellstraßen, aber wer wollte glauben, daß in Newmarket ein Rennstall stand, der seine Pferde nie weiter ins Land hinein schickte?

Ich hätte Aziz vielleicht ein wenig auf den Zahn gefühlt, doch in diesem Augenblick rauschte Maudies Schwester Lorna mit ihrem teuren purpurroten Range Rover zum Tor herein, dem Aristokraten unter den Geländewagen, gebaut für rauhes afrikanisches Veldt ebenso wie für die glatten Straßen von Pixhill.

Lorna, immer verbissen, immer besorgt, stieg auf der Fahrerseite aus, kam herüber und gab mir einen Kuß auf die Wange. Blond, blauäugig, langbeinig, reich geschieden und dreißig, sah die reizende Lorna mir fest ins Gesicht und sagte mir, was für ein Schwein ich sei, für den Transport der Rentnerpferde Geld zu nehmen.

«Hm«, sagte ich,»nimmt denn John Tigwood kein Geld von den Besitzern der Pferde?«

«Das ist etwas völlig anderes.«

«Nein, da will einfach jemand beides haben.«

«Kentauros braucht das Geld.«

Ich setzte ein nützliches Allzwecklächeln auf und stellte Aziz als den Fahrer des Tages vor. Lorna staunte. Aziz gab ihr breit lächelnd die Hand und ließ die weißen Zähne und die dunklen Augen blitzen. Lorna vergaß meine Gemeinheit und erzählte Aziz angeregt von dem wundervollen barmherzigen Auftrag, den sie auszuführen hatten, und was für eine Ehre es sei, bei der Rettung alter Freunde helfen zu dürfen.

«Ja, das finde ich auch«, sagte Aziz.

Er grinste mich kaum merklich von der Seite an, als wollte er mich herausfordern, seine Scheinheiligkeit bloßzustellen. Aziz war ein Schlitzohr, dachte ich, aber Schlitzohrigkeit war bis zu einem gewissen Grad ganz erfrischend.

John Tigwood wählte diesen Moment, um uns mit seiner Gesellschaft zu beglücken, auf die ich allemal hätte verzichten können. Das verrückte kleine Würstchen, wie Harve ihn genannt hatte, entstieg einem kaffeebraunen Lieferwagen, auf dem rundum in titanweißen Lettern die Aufschrift Kentauros sorgt für alte Pferde prangte, und kam mit forschen, Beachtung heischenden Schritten auf uns zu. Er hatte graue Kordhosen und ein Hemd mit offenem Kragen und einen grobgestrickten Pullover an und trug einen Anorak über dem Arm.

«Guten Morgen, Freddie.«

Seine Stimme gab sich Mühe, doch ihr aufgeblasener sonorer Klang konnte den Mangel an innerer Substanz nicht verbergen. Tigwood war im wesentlichen ein Niemand, der eine Rolle für sich erfunden hatte; gar kein so seltenes Phänomen, nahm ich an, und auch nicht unbedingt verwerflich. Was sollte er sonst tun? Im Staub kriechen, wie ein armer Sünder die Hände ringen?

Ich hatte die Kentauros-Stiftung immer als eine alteingesessene Institution in der Gemeinde betrachtet. An diesem Dienstag morgen fragte ich mich, ob John Tigwood sie selbst gegründet hatte und ob er von den Sammelbüchsen lebte — und falls ja, ob Pixhill dagegen Einspruch erheben sollte. Man sah immer irgendwelche alten Pferde in der Sonne dösen. Sicher eine unterstützungswürdige Sache, wenn Mitleid noch etwas bedeutete.

«Guten Morgen, Lorna«, sagte der Wohltäter.

«John, mein Lieber. «Lorna küßte seine dünne Wange irgendwo über dem schütteren Bart, der sich um sein spitzes Kinn rankte. Selbst der Bart, dachte ich mit mühsam unterdrückter Gereiztheit, war unzulänglich. In gewisser Weise galt das auch für den dünnen Hals mit dem spitzen Adamsapfel, obwohl er für beides nichts konnte.

«Was kann ich für Sie tun, John?«fragte ich ihn zur Begrüßung.

«Dachte, ich fahre mal mit Lorna«, verkündete er.»Sieben Rösser… da sind zwei Paar Hände besser als eins. Ist das unser Fahrer?«

Lorna warf rasch einen Blick auf Aziz, als wäre sie gar nicht so sicher, daß sie John dabeihaben wollte, aber das närrische kleine Würstchen hatte sich zur Mitfahrt entschlossen, war entsprechend angezogen und würde stur an seinem Plan festhalten.

«Wie nett«, sagte Lorna unaufrichtig.

«Sie haben weit zu fahren«, bemerkte ich,»da machen Sie sich am besten gleich auf den Weg.«

«Ja, genau«, übernahm Tigwood geschäftig das Kommando.

«Also dann los, Fahrer.«

«Er heißt Aziz«, meinte ich sanft.

«So? Dann kommen Sie mal, Aziz.«

Ich sah zu, wie sie einstiegen, zwei völlig ungleiche Männer mit der wohlmeinenden Kämpferin dazwischen. Aziz blickte grimmig aus dem Fenster in meine Richtung: der Spaß war ihm für heute endgültig vergangen. Verständlich. Ich hätte ungern mit ihm getauscht.

Unter diesem Neun-Pferde-Transporter, überlegte ich, als Aziz gekonnt zum Tor hinauslenkte, war der Magnet, den Jogger entdeckt hatte. Ich war davon ausgegangen, daß der Holzblock mit den Nägeln noch daran haftete. Ich hatte Aziz nichts davon gesagt. Ich hatte ihn nicht angewiesen, auf Fremde zu achten, die versuchen könnten, sich im Tankbereich unter das Fahrgestell zu schieben. Wozu hätte jemand zwischen Yorkshire und Pixhill einen so versteckten Transportweg wählen sollen, wenn er doch einfach mit dem Auto fahren konnte?

Harve brach fünf Minuten nach Aziz auf, um noch zwei Starter zu den Nachmittagsrennen nach Cheltenham zu bringen. Ein anderer Transporter war bereits mit dem gleichen Ziel unterwegs, zwei holten am Flughafen von Bristol Pferde ab, die zum Gold Cup aus Irland eingeflogen wurden, und drei hatten Zuchtstuten zu befördern. Alles in allem nicht übel.

Ich ging ins Büro, wo Isobel und Rose frustriert auf leere Bildschirme starrten und mich fragten, was sie mit dem Tag anfangen sollten.

«Briefe auf Opas Schreibmaschine tippen?«schlug ich vor.

«Werden wir wohl müssen«, meinte Rose ungehalten.

«Der Mann hat versprochen, daß er morgen kommt«, versicherte ich ihr.

«Spät genug.«

Tigwoods Sammelbüchse stand auf Isobels Schreibtisch, und ich hob sie hoch und schüttelte sie. Das Ergebnis war ein hohles Klappern, drei oder vier Geldstücke höchstens.

«Mr. Tigwood hat sie vorige Woche leergemacht«, sagte Isobel.»Viel war nicht drin. Er findet, wir sollten uns mehr Mühe geben.«

«Vielleicht sollten wir das.«

Ich ging hinaus zu meiner alten Kiste und fuhr nach Newbury, um meinen Film von Jogger bei einem 1-Stunden-Fotodienst vorbeizubringen und das für mich zurückgelegte Reimlexikon abzuholen. Ich hatte so etwas eigentlich noch nie gesehen, und als ich auf dem Parkplatz darin blätterte, um mir die Stunde Wartezeit zu vertreiben, stellte ich fest, daß die Reime nicht direkt nach dem Alphabet angeordnet waren, sondern nach den Vokalen, mit denen sie anfingen.

«Ai«, las ich.»Bai, Hai, Kai, Lakai, Mai.«

«Itter — bitter, Dritter, Flitter, Geknitter, Gewitter, Gitter, Ritter, Schnitter, Splitter…«

«Ote — Anekdote, Bote, Exote, Knote, Muskote, Note, Pfote, Quote, der Rote, Schote, Zote, im Boote, im Lote.«

Hunderte und Aberhunderte von Reimen, greifbar, aber nutzlos. Mir wurde klar, daß ich Joggers rätselhafte Aussprüche vor Augen haben mußte, nicht nur im Gedächtnis. Wenn ich gleichzeitig geschrieben sah, was er gesagt hatte, sprühte vielleicht ein Funken aus Stichwörtern wie» Um — Aquarium, Brimborium, Delirium, Diarium, dumm, Elysium, Fluidum, Gebrumm…«

Wobei immer zu bedenken war, dachte ich deprimiert, daß Joggers Cockneydialekt die Vokale ein wenig verzerrt wiedergab und somit neue Reimmöglichkeiten eröffnete.

Ich schlug das Buch zu, holte die traurigen, gestochenen Aufnahmen von seinem Tod ab und fuhr nach Hause, um aufzuräumen und das Zimmer meiner Schwester vorzubereiten, indem ich das Bett machte und die Fenster öffnete, um hereinzulassen, was immer der März zu bieten hatte.

Ich pflückte noch ein paar Osterglocken und stellte sie in eine Vase, und pünktlich um zwölf Uhr mittags traf meine Schwester Lizzie ein.

Sie kam buchstäblich vom Himmel herunter, mit einem Hubschrauber.

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