Real big

Als die Sonne durch die Fenster des Mondial scheint, an einem Vormittag, an einem normalen Vormittag im Sommer, ich zwischen den Bestellungen immer wieder hinausschaue, ins Freie, zu den Blättern des Kastanienbaumes, die sich in ihrem satten Grün leicht, zärtlich in der Sonne bewegen, und es ist ungewöhnlich viel los, an diesem Morgen, so viel, dass ich eigentlich gar keine Zeit habe, irgendwohin zu schauen, Glorija, deren schön lackierte Fingernägel immer wieder auf der Theke klimpern, weil ihre Hände und Beine schneller sind als ich, wo bist du? hier! antworte ich; als die Sonne Lichtflecken auf den Teppich zeichnet, den braunen, beige gemusterten, muss ich Glorija immer wieder fragen, was sie gerade bestellt habe, ein Vormittag, an dem ich ständig den Faden verliere, nicht flüssig arbeite, abgelenkt bin, weil ich die Luft sehe, wie sie erfüllt ist mit kleinen Wesen, Stäublingen, Glorija, die sagt, dass sie ein Käsesandwich brauche und ein Vier-Minuten-Ei, aber sie werde die Bestellung selber aufgeben in der Küche, danke! und ich stelle mir vor, während ich die Mahlmaschine anstelle, wie sich die Stäublinge überallhin setzen, auf die Croissants, wie sie es sich in Frisuren gemütlich machen, und ich weiss, dass Dalibor dafür verantwortlich ist, für meine Langsamkeit, meine Lichtverliebtheit, ich sehe Dalibor, wie er mich anschaut, ich sehe, wie seine Lippen lachen, als seine Finger meine Hüfte berühren, als wir uns gegen den Kastanienbaum lehnen, du bist schön, sage ich zu ihm, zum Kastanienbaum, und der Mond dreht sich im nächsten Moment durch die Blätter, wir legen uns hin, wir liegen, als unsere Hände sich suchen, und ich höre seine Stimme in meinem Rücken, ich bin aufgeregt, sagt er, sage ich, und meine Haare suchen seinen Bauch, meine Haare auf seinem Bauch, und ich verliebe mich in die Art, wie sein Atem seinen Bauchnabel bewegt, die feine, aufgeregte Bewegung an meinen Lippen, und als ich gerade drei Espressi eingespannt habe, höre ich die Sprache, die eigentlich absolut verboten ist, Serbokroatisch (Mutter und Vater, die Glorija und Dragana schon vor Monaten untersagt haben, in ihrer Muttersprache miteinander zu sprechen), ich höre also plötzlich die verbotene Sprache, Glorijas Stimme, die ungewöhnlich laut ist, aber noch lauter sind Draganas Konsonanten und Vokale, einen Moment lang höre ich den beiden Stimmen zu, die sich ineinander verzahnen, es fällt mir auf, wie unangenehm es mir ist, dass ich zwei Stimmen höre, die heftig sind, und keine Ahnung habe, warum sie es sind, nur einzelne Worte, die herausblitzen, zena, Frau, dorn, Haus, rat, Krieg, ti, du, und über die Cimbali hinweg sehe ich, dass sich Köpfe in Richtung Küche strecken, ich, die überlegt, ob sie bedienen soll, einfach so tun, wie wenn nichts wäre, Tudman! höre ich, Milosevic! und ich wische meine Hände an der Schürze ab, gehe mit raschen Schritten in die Küche, um zu sehen, was los ist.

Vater, der mir mit den Händen bedeutet, die Tür zuzumachen, Dragana, die sich gerade an der Waschmaschine abstützt, versucht aufzustehen, Marlis, die ihr die Hand hinstreckt, aber Dragana ignoriert die dargebotene Hand, während sie laut weiterspricht, Glorija, die immer noch auf dem Boden liegt, mit zerrissenen Strümpfen, ihr Sprechen, das sich übergangslos an ein hohes Wimmern verliert, was ist los, frage ich, knie zu Glorija, versuche, sie zu beruhigen, Marlis, die sich gegen die Absteilfläche lehnt, wo wir das schmutzige Geschirr hinstellen, zu weinen anfängt, und Vater, der sich die Hand gegen die Stirn schlägt, in unserer Sprache flucht, jeder Hund habe Besseres zu tun als das, was er sich hier mitansehen müsse, mi törtent, was ist passiert, frage ich Vater, du verstehst ja, was sie reden, sage ich zu ihm, und ich helfe Glorija aufstehen, ein Flohfurz ist passiert, ruft Vater auf Ungarisch, gar nichts, die eine ist in die andere hineingerannt, zufällig, und jetzt gehen die beiden aufeinander los, als hätte die eine ein Attentat auf die andere geplant, bis jetzt waren sie ein Herz und eine Seele; Glorija, die immer noch wimmert, ein offenes Knie hat, und die Gäste, flucht Vater, wer bedient die Gäste? ich geh ja schon, sage ich, und Dragana, die jetzt verstummt ist, mit dem Rücken zu mir beim Abwaschtrog steht, zum Fenster hinausschaut (womöglich weiss Dragana in dem Moment schon, dass sie nicht mehr lange bei uns arbeiten wird, ihre Blusen, die wenige Wochen später in der Personalgarderobe an drahtigen Bügeln hängen, ein Paar Schuhe, deren Absätze an der Innenseite abgetreten sind, vergeblich auf die richtigen Füsse warten, Dragana, die nicht einmal mir sagen wird, dass sie nicht mehr wiederkommt), du könntest Glorija wenigstens ein Pflaster geben, sage ich beim Hinausgehen, und dann soll ich wohl noch alle trösten, ruft mir Vater verärgert nach, ich, die Mutter um Hilfe bitten muss, Mutter, die im Büro über Zahlen sitzt, und ich versuche ihr in wenigen Worten zu erklären, was passiert ist, Mutter, die keine Fragen stellt, sondern sofort aufsteht, sich hinters Buffet stellt, und ich bediene die Gäste, ein paar, die sich die Hälse aus den Köpfen schrauben, was ist denn los mit der Serviertochter? und dieses Geschrei, was war denn das? Nomi, die heute frei hat, mir einflüstert, was ich sagen soll, Freude, sage ich, nichts weiter, unsere Hilfsköchin und unsere Kellnerin haben gerade gemerkt, dass sie einen gemeinsamen Bekannten haben, ja, stimmt schon, überschwängliche Freude klingt manchmal wie Streit!

The real big men ziehen heute ein, ins Mondial, denke ich, als ich wieder hinter dem Buffet arbeite und Glorija im Service, nachdem sie von Mutter neue Strümpfe bekommen und sich frisch gemacht hat, ich bin doch nicht Tudman! Glorija, die mit gepresster Stimme zwischen den Bestellungen zu mir spricht, also hör mal, wenn eine zu dir sagt, du bist genauso bösartig wie Tudman, was würdest du sagen? (ich, die an little big men denke, daran, dass ich Dustin Hoffman nie habe besser spielen sehen), Ildi, sag doch was, Milosevic ist doch der grösste Verbrecher aller Zeiten, ich würde mich umbringen, wenn der der Chef wäre von meinem Land, das habe ich dann zu Dragana gesagt, so Glorija, Ildi, du musst mir doch Recht geben, Milosevic und Tudman, das ist wie Schwarz und Weiss (ich erinnere mich an fast nichts, nur an Dustin Hoffmans Gesicht, das mich so beeindruckte in seiner Ernsthaftigkeit), kennst du Tudman, frage ich und bemühe mich, ein ernstes Gesicht zu machen, nicht zu lachen. Ja aber sicher kenne ich ihn, ist dir auch schon aufgefallen, dass Tudman schöne, grosse Augen hat? und ich schüttle den Kopf, klopfe den Kaffeesatz in den Behälter, Milosevic ist ja nicht der Staatschef von Bosnien, sage ich, aber er steuert alle Serben, antwortet Glorija rasch, das weiss doch jeder, und sie stellt die Tassen auf die Untertassen. Sie sei eine Bosnierin, sagt Dragana, so ich, und du hast mir einen Kaffee zu wenig getippt. Ildi, bosnisch, das ist eine Erinnerung, die Erinnerung an etwas Falsches, und Glorija schaut mir in die Augen, wenn wir Kroaten nicht daran geglaubt hätten, dass wir Kroaten sind, wären wir immer noch Jugoslawen. Verlierer, meinst du, und Glorija legt die Kaffeelöffel zu den Tassen, Dragana ist Serbin, ob sie will oder nicht, und bis heute hatte ich nichts gegen sie, aber wenn sie mein Land beleidigt, dann, und Glorija schiebt das Tablett auf ihre rechte Handfläche, dann ist es vorbei zwischen uns, Glorija, die sich in Bewegung setzt, ihre Locken zum Wippen bringt.

Franjo Tudman trägt heute eine weisse Bluse mit Puffärmeln, denke ich, er hat seine Nägel rot lackiert und das für sein Alter immer noch dichte Haar frisch blondiert, und normalerweise ist der kroatische Staatspräsident in aufgeräumter Stimmung, summt leise englische Pop Songs vor sich hin und wiegt sich fast unmerklich in den Hüften, was zu seinem unauffälligen Make-up passt, zu seinen dezent gezupften Augenbrauen, und um seine schönen Wangenknochen besser zur Geltung kommen zu lassen, trägt er heute keine Brille, sondern Linsen, vielleicht farbige, denke ich, Franjo Tudman, dessen Spezialität es ist, geschäftig und elegant durchs Mondial zu düsen, schwungvoll auf die mechanische Kasse zu tippen, lag soeben noch mit einem blutenden Knie auf dem Linoleumboden, in der Küche, neben dem Tiefkühler, in dem Brote liegen, Croissants, Zehn-Liter-Eiskübel; Tudman ist gegen eine Frau geknallt, eine, die behauptet, Bosnierin zu sein, eine, die alle Staatschefs des ehemaligen Jugoslawiens für besessen hält (und plötzlich ist jeder Politiker religiös, ausgerechnet! sagte Dragana zu mir, die waren bis vor kurzem alle noch Kommunisten, Ildi, die kannten nur ihren roten Himmel, und jetzt? Jetzt hat jeder eine andere Idee vom Himmel, jeder isch Gröschte, was meinsch, was isch, wenn alle Paare scheided, wil sie nicht de gliiche Religion sind? sie jedenfalls sei mit einem Muslim verheiratet, der esse sogar Schweinefleisch, ab und zu, wenn sie es gut zubereite).

Mutter, die hinters Buffet kommt, mir sagt, ich solle ins Büro, die Menütafel schreiben, und Ildi, bitte, es gibt keine Unterhaltung über diesen Vorfall, ja klar, sage ich, gebe Mutter meine Schürze, nehme mir noch einen Kaffee mit, ins Büro, und ich setze mich hin, an den braunen Tisch, zünde mir eine Zigarette an, werfe einen Blick auf den Jahreskalender, der an der Wand hängt und bei dem ich immer zuerst auf das Logo schauen muss, Vertretergeschenke, denke ich und lange nach der weissen Kreide, Dalibor, schreibe ich auf die Tafel, Dalibor Dalibor Dalibor, bis sie vollgeschrieben ist, und ich lehne mich zurück, schaue mir den Namen an, denke daran, dass ich zusammengezuckt bin, sofort an Vater gedacht habe, als Dalibor mir sagte, er sei Serbe, ein Serbe aus Kroatien, ausgerechnet? ich bespucke den Schwamm, wische mit ihm über den schwarzen Schiefer.

"Hausgemachte Lasagne mit gemischtem Salat", soll ich auf die Tafel schreiben, hat Mutter gesagt, "Gemüseteller mit Spiegelei" (habe ich an Vater gedacht, weil ich mir ausgemalt habe, wie er reagieren würde, wenn ich ihm Dalibor vorstellen würde, ein Serbe, würde er sagen, ausgerechnet!), heute Abend werde ich mit Vater reden, und ich schreibe den Satz auf die Tafel, damit ich ihn nicht vergesse, zünde mir noch eine Zigarette an, ich werde Vater fragen, ob er nicht auch einen netten Serben kennt (und ich weiss, dass die nette Ausnahme ein schlechtes Argument ist, oft nur die verabscheuungswürdige Regel bestätigt), Mutter, die ihren Kopf zur Tür hineinstreckt, was machst du so lange? und ich, die die Tafel verdeckt, damit Mutter meinen Vorsatz nicht sieht.

Wir sitzen allein am Esstisch, Mutter und ich, Vater sitzt auf seinem Sessel vor dem Fernseher, er schnappt nach der Fernbedienung, als Mutter sagt, komm jetzt endlich, Vater zappt, kein Hunger, brummelt er, steht auf, öffnet den Schrank, langt nach der Flasche, Mutter und ich, wir essen schweigend, Nomis Platz, der gedeckt ist, sie kommt bestimmt bald, sagt Mutter, Vater antwortet nicht, verschwindet in der Küche, Mutter, die mich mit erhobenen Augenbrauen anschaut, weisst du, wo sie ist, flüstert, während Vater fluchend das Eis aus dem Behälter klopft, wahrscheinlich im Wohlgroth, antworte ich, oder bei Dave, aber einen Tag und eine Nacht wegbleiben, das hat sie noch nie gemacht. Ja stimmt, antworte ich, laut genug, damit Vater es hört, ein Mal ist immer das erste Mal, und wir sind doch alt genug, oder? Mutter, die ganz bleich wird, ihre schönen Augen, die verschiedene Geschichten erzählen, die aber alle denselben Inhalt haben: bitte keinen Streit jetzt! Sei still, er könnte uns hören! ich ertrage es nicht, wenn es laut wird. Ein Streit ist wie ein schlechtes Essen, es verdirbt den Magen! Und ich höre, wie Vater aus der Küche tritt, und ich beuge mich etwas nach vorne, lange nach einem Stück Brot, aber Vater geht an mir vorbei, an meinem Rücken, die Eiswürfel klingen hell, als er sich wieder in seinen Sessel setzt, den Fernseher lauter stellt; Mutter und ich, wir essen noch ein paar Bissen, bevor wir damit aufhören und auf unseren Stühlen sitzen bleiben, als würden uns der Tisch und die Stühle brauchen, wir sitzen, und es fällt uns keine Unterhaltung ein, weil wir einzig da sind, um zu registrieren, was Vater tut, eine Zigarette nach der anderen rauchen, aufstehen, die Hausbar öffnen, das Glas auffüllen, in der Küche FJs holen, das Eisfach zuknallen, sich wieder hinsetzen, und Vaters Stille wird unüberhörbar, es gibt Menschen, die sind so laut, wenn sie still sind, denke ich, möchte aufstehen, um die Teller abzuräumen, den Käse einzupacken, den Schinken, aber ich, die sich nicht rühren kann, denke an Nomi, dass sie eigentlich die ältere ist von uns beiden, dass sie Dinge tut, die ich nie wagen würde (Nomi, die nicht aus einem Konzept heraus, sondern aus einer Laune heraus unangepasst ist, auf eine frische Art gedankenlos, schon damals, in der Primarschule, als sie sich getraute, einen violetten Overall anzuziehen, obwohl eine Clique von vier steinreichen Mädchen in ihrer Schule den Ton angab, vorgab, wann was in war, weder violett noch Overall waren angesagt, als Nomi ihn trug, bei den tonangebenden Mädchen war sie deshalb unbeliebt, aber genau deswegen auch beliebt, sogar umschwärmt, weil sie mit ihrem eigenen Kopf, ihrer unverkrampften Art, ihn durchzusetzen, "etwas" hatte, etwas, dem sich niemand entziehen konnte, Nomi, die bis weit in ihre Augen lachte, wenn die Clique von ihr behauptete, sie sei eine Bubenschmöckerin, eine, die den Jungs nachhängt).

Es ist nach zehn, als Vater zu reden anfängt, er flucht über die beiden Hühner, dass man sich ja fragen müsse, wenn zwei Hühner sich in die grosse Politik einmischten, als hätten sie eine Ahnung, eine Ahnung wie ein Süsswasserfisch vom Meer, nämlich keine! und ich begreife erst jetzt, dass Vater von Dragana und Glorija spricht, sich nochmals darüber ereifert, dass sie es wagen konnten, so laut zu streiten, es gibt nichts Schlimmeres als zwei Hühner, die aufeinander loshacken, flucht Vater, und Mutter atmet durch, weil sie glaubt, Vater sei wenigstens einen Moment lang abgelenkt vom Warten auf Nomi, und natürlich werden die Gäste darauf aufmerksam, wenn sich zwei Hühner auf Serbisch alles Schändliche sagen, Vater, der dem Fernsehsprecher zuprostet, der Meili von der Gemeinde hat mich heute Nachmittag gefragt, ob wir denn alle Jugos seien, und ich musste dem Meili erklären, dass wir Ungarn sind, warum weiss der Meili das nicht? könnt ihr da vorne eigentlich den Gästen nicht erklären, was der Unterschied ist zwischen Slawen und Ungarn? dass Ungarisch und Serbisch so viel miteinander zu tun haben wie ein Huhn mit einem Hühnerauge, das müsste doch allen klar sein! Mutter, die nochmals durchatmet, sich einen Ruck gibt, auf steht, die Butter, den Käse, den Schinken in die Küche trägt, so, wie es eine professionelle Serviertochter tut, und wahrscheinlich denke ich, dass es nicht der ideale Abend ist, um von Dalibor zu erzählen, Mutter, die mit raschen Schritten wieder ins Wohnzimmer kommt, die Teller geräuschvoll übereinander stellt; du musst mich jetzt noch stören, ruft Vater, kannst du diese blöden Teller nicht da lassen, wo sie sind? was willst du damit sagen, dass du jetzt anfängst aufzuräumen? Vater steht wieder auf, füllt das Glas, trinkt jetzt ohne Eis, und ich, die immer noch sitzt, glaube, dass Nomi nicht mehr kommt, dass sie klammheimlich ausgezogen ist, und ich würde gern in ihr Zimmer gehen, um nachzuschauen, ob sie ihre Kleider mitgenommen hat, ihre Lieblingsbücher, aber ich sitze fest, auf meinem Stuhl, unter der Wohnzimmerlampe, mein Gesicht, festgefroren, im Fenster der Veranda, irgendetwas haben wir falsch gemacht, irgendetwas müssen wir falsch gemacht haben, sagt Vater, spricht in derselben Lautstärke wie der Fernseher, würde ich sonst hier sitzen und auf meine Tochter warten? (ich, die geahnt hat, dass die Hühner nur ein Einstieg sind, ich höre, wie Mutter abwäscht, lauter als sonst, der scharfe Strahl des Wasserhahns, das klirrende Geschirr), worauf wartest du denn, Miklós? sagt Vater, dass eine so ist, wie du es dir erhofft hast? einen Dreck ist sie wert, die Hoffnung, und Vater lässt sein Glas gegen den Wohnzimmertisch knallen, ein falscher Stern! und Vaters Stimme saust nach oben, ohhhhh jaaa, als nächstes bringen sie ihre Männer unter mein Dach, und dann soll ich der Kollege sein von den Männern meiner Töchter, mit ihnen Duzis machen, per du, froit mil, sagt Vater und schüttelt eine Hand in der Luft (und mir fällt ein, dass mir bei einem Klassenausflug, ich war noch nicht lange in der Schweiz, meine erste Wurst, die ich in meinem Leben grillierte, ins Feuer fiel, dein Stecken war zu dünn, sagte die Lehrerin, als ich zu weinen anfing), und das Leben, wissen sie denn, was das Leben wert ist, wenn es aus einem einzigen Zwang besteht, wenn man nicht einmal seinen gottverdammten Beruf wählen kann? Irgendein dahergelaufener Kommunist, der dir vorschreibt, was du für eine Lehre machst, wie dein Name geschrieben wird, wie du furzen sollst, dass dein Furz gegen das System gerichtet ist (und ich, ich sehe mich draussen sitzen, auf meinem Stuhl im Gras, neben mir die aufgebundenen Rosenstöcke, die Stiefmütterchen im Beet, violette und gelbe, die ich nie gemocht habe), und deine Töchter mit ihren konfusen Köpfen, die eine interessiert sich nicht für die Schule, hat was im Kopf, aber braucht ihn für alles andere, und die zweite, was tut sie? sie studiert Geschichte, antworte ich, Vater, der mich nicht hört, aufsteht, die Bar öffnet, die Flasche herausnimmt, zum Einschenken ansetzt, das Glas in die Bar zurückstellt, aus der Flasche einen Schluck nimmt, sich mit ihr wieder in den Sessel setzt, sie kann sich nicht entscheiden, weil sie alle Möglichkeiten hat, Miklós, das ist doch zum Verrücktwerden oder zum Lachen — Mutter, die hinter ihr die Küchentür schliesst, mich an der Schulter fasst, geh ins Bett, sagt sie, und ich weiss nicht, ob Mutter mich oder Vater meint, was würden sie denn tun, wenn Krieg wäre, wenn es nichts nichts nichts nichts mehr gäbe, Vaters Stimme, die mit jedem "nichts" lauter wird, den Fernseher übertönt, Mutter, die hinter mir stehen bleibt, ihre Hand, die meine Schulter wärmt, geh ins Bett, sagt sie nochmals, und jetzt ist es offensichtlich, dass sie mich meint; ich, die, ohne zu antworten, sitzen bleibt, und Mutter, die sich wieder hinsetzt, mir gegenüber, mir dadurch die Sicht auf mich nimmt. Na, Rózsa, wir wollten doch, dass es die Kinder besser haben, wollten wir das oder nicht? ja, sie haben es besser, so gut wie die vollgefressenen Tiere im Zoo, genau, wie die Affen turnen sie auf unseren Köpfen herum, halten uns für blöd (ich habe euch nie für blöd gehalten, will ich sagen), na, Rózsa, würden wir das tun, was wir tun, wenn wir die Möglichkeiten gehabt hätten wie unsere Töchter? Hör auf, sagt Mutter, du bist betrunken. Ich bin betrunken, ich bin versoffen, ich bin ein Trinker, ich bleibe ein Trinker, und ich will nichts anderes sein als ein versoffener, stinkender Trinker, hörst du? (Vielleicht hätten wir früher schon offener sein sollen zu unseren Eltern, was unsere Männerfreundschaften anbelangt; Nomi und ich, wir glaubten lange Zeit, dass wir Mutter und Vater diesbezüglich schonen müssten; damit wir das tun konnten, was hier alle anderen auch taten, übersetzten wir "das heisse Thema" so auf Ungarisch, dass es uns in den Kram passte, ein Fest? das ist eine Geburtstagsfeier, wo wir alle gemeinsam Kerzen ausblasen, ein paar Spiele spielen… wir wussten, dass unsere Eltern uns nicht ganz glaubten, und sie wiederum wollten uns nicht sagen, dass sie es selber kannten, die Hitze im eigenen, im fremden Körper, obwohl sie in einer anderen Kultur aufgewachsen sind; ich, die aufstehen will, gehen, in die Nacht hinaus, die Sterne sind so schön, weil sie uns sagen, wir verstehen euch nicht, ihr seid zu weit weg, deswegen sind die Sterne so unfassbar schön, weil sie uns in Ruhe lassen, hat Dalibor gesagt.)

Als Nomi nach Hause kommt, ist die Whisky-Flasche leer, der Fernseher schweigt, Mutter und ich sitzen immer noch am Tisch, und Nomi, die um die Ecke schaut, strahlt, wirft uns eine Kusshand zu, Vater, der auf dem Sofa schläft, schnarcht, was ist mit euch los, sagt Nomi mit einem Lachen, setzt sich neben uns an den Esstisch, wo warst du, fragt Mutter. Ich habe ein umwerfendes Konzert gehört, ich habe bei meinem Freund geschlafen, ich war betrunken, ich habe den ganzen Tag verpennt und am Nachmittag mit Dave gefrühstückt, und jetzt bin ich hier und freue mich, euch wiederzusehen, und Nomi ist schön, denke ich, ihr Gesicht sieht aus wie frischer Teig, der klare Schwung ihrer dunklen Augenbrauen; du hättest wenigstens anrufen können, antwortet Mutter matt, ja, das summt, antwortet Nomi, das habe ich völlig vergessen, aber ich will nicht immer anrufen müssen, sagt Nomi, ihr wisst doch, dass ich wiederkomme, oder? Vater, der sich aufsetzt, nach einer Zigarette langt, seinen Husten hustet, mit der rauchenden Zigarette aufsteht, zu uns kommt, an den Tisch, der die Hand ausstreckt nach Nomi, sie in die Arme nimmt, ich, die Vater die Zigarette aus den Fingern zieht, Vater, der sein Gesicht verbirgt in Nomis Schulter.

Niemand von uns hat erwartet, dass das Telefon frühmorgens klingelt. Es ist halb sechs, Vater ist bereits weg, als es zwei Mal klingelt und danach wieder still ist. Nomi, Mutter und ich treffen uns im Korridor, warten neben dem Telefontisch, vielleicht ist Dragana krank oder Glorija, sagt Mutter, und wir wissen alle, dass es um etwas anderes geht. Ein paar Minuten später klingelt es wieder, hallo, hallo? Du bist es, sagt Mutter in unserer Sprache und hält den Hörer mit beiden Händen, und schon bald sagt sie, dass es ihr leid tue, ach, meine Liebe, sagt sie, ich hoffe, dass alles gut geht, was? die Verbindung ist so schlecht, ich kann dich fast nicht hören, ja, ich bin auch froh, dass wir uns wenigstens gehört haben, Mutter, in deren Händen der Hörer liegt, uns anschaut mit ihren fliehenden Augen, sagt, dass sie Bela eingezogen haben, in die jugoslawische Volksarmee, nicht jetzt, sondern schon vor zwei Monaten, dass er jetzt in Bosnien kämpfe, in Banja Luka.

Und ich weiss, dass ich nichts fragen darf, dass ich jetzt still sein muss, dass wir uns anziehen müssen, dass wir nichts tun können, Mutter dreht sich um, verschwindet im Schlafzimmer, zieht die Tür hinter sich zu, und sie, die ich bin, steht da, im Korridor, und mein Blick bleibt am Puzzle-Bild hängen, das Nomi und ich vor Jahren zusammengesetzt und aufgeklebt haben, ein 750-teiliges Landschaftsbild aus Bergen, Wiesen und Blumen und — das Schwierigste — einem glasklaren Himmel. Nomi, die mich kurz anschaut, dann das Bügelbrett aufklappt, das Bügeleisen mit Wasser füttert, um eine dieser zeitlos hässlichen Blusen zu plätten, und ich verziehe mich ins Badezimmer, um an diesem Morgen das zu tun, was ich täglich tue: Gesicht, Hals und Achselhöhlen waschen, Zähne putzen, Wimpern tuschen, einen unauffälligen Mund malen, um schon bald angenehm in Erscheinung treten zu können. Und wir werden einzeln die schlechte Nachricht in uns hineinfressen, hoffen, dass die nächsten Tage sich nicht um uns kümmern, dass sie gesichtslos und normal an uns vorbeiziehen, und ich habe keine Ahnung, was man tun müsste, ja was denn? Man müsste man müsste man müsste… und anstatt dass sich in meinem Hirn ein überzeugender Aktionsplan entfaltet, fällt mir nur ein, dass Onkel Piri im Gemeindesaal einen Vortrag über die kusok halten könnte, wie er die Politiker immer nannte, eine, wie mir scheint, passende Verballhornung des ungarischen Wortes für Politiker, politikusok, das auf Deutsch nach Kuscher klingt, weil das ungarische "s" wie "sch" ausgesprochen wird — und Tante Icu würde ihn mit ihrer reglosen, stolzen Miene anfeuern —, diese Luftbanditen, Luftzerkauer sehen so aus, als hätte ihnen ein Kalb das Gesicht geleckt, aber es war nicht die rosige Zunge eines unschuldigen Tieres, oh nein, viel eher hat der Teufel mit seiner gespaltenen Zunge jedes einzelne kusok geleckt! Schau sie dir an, sagte er, als wir einer politischen Debatte zuhörten, die im Fernsehen übertragen wurde, ein kusok ist wie der andere: Wenn er mal da ist, wo er hinwollte, hat er das gleiche geschleckte Gesicht wie all die anderen, und es sieht einem geölten Arsch nicht unähnlich, na, wie ist das möglich? Und Tante Icu, die beim Stichwort "Tier" wieder einmal die Gelegenheit benutzte, um über Belas Tauben zu fluchen, diese Viecher treiben mich noch in den Wahnsinn, tun den ganzen Tag nichts anderes als rumgurren und rumscheissen (die Taubenzucht von Bela, die den ganzen Dachboden in ein gespenstisches Meer von grau-weiss-grünlich ruckenden Köpfen verwandelte, Vater, der, als er die Tauben zum ersten Mal sah, gesagt haben soll: Schau einer an, so viele hübsche Kommunisten auf einem Haufen habe ich schon lange nicht mehr gesehen), Bela, der die Tauben nicht mitnahm, als er heiratete, in ein filzgrünes Haus auf der gegenüberliegenden Strassenseite zog, weil er befürchtete, dass seine gottverdammten Viecher empfindlich sind, diese lächerliche, winzige Umstellung nicht überleben, so fluchte Tante Icu, diese Viecher, deren Augen so hässlich sind wie Nacktschnecken, fliegen überallhin, meinst du, die kümmert's, ob sie nun hier oder einen Steinwurf weiter weg von Bela verhätschelt werden? Tante Icu, die sich zwar immer über die Tauben ärgerte, sonst aber nichts auf ihren Sohn kommen liess, Tante Icus goldene Ohrringe, die in glücklicher Erregung zitterten, wenn ihr Sohn anya zu ihr sagte, Mutter, in einem Tonfall, der genau wusste, was er bewirkte, nämlich all das, was er sich in den Kopf gesetzt hatte.

Am Samstag muss ich um sieben im Mondial sein, muss mein Gesicht bereit sein, guten Morgen! und bei der Arbeit werde ich das Radio heute sicher nicht anstellen, auch wenn alle fragen: Fräulein, warum ist es so merkwürdig still? (nach langen Wochen, da wir endlich wieder ein Lebenszeichen von unserer Familie bekommen haben, ein Zeichen, dass das eintritt, was wir hier täglich einsam befürchten, dass die Familie, die drüben ist, im Osten, nicht verschont bleibt, dass der Krieg tatsächlich ein Gesicht hat, das befiehlt: Pack deine Sachen, los, mach schon! Arme, Beine und eine fatale Geschwindigkeit, die sofort tötet, wenn jemand sich widersetzt), heute werde ich mich taub stellen, denke ich, ich, die eigentlich schon lange nichts mehr hören will, sehen schon gar nicht, kein Radio, kein TV (was läuft eigentlich so in der Welt?), Zeitungen? so oft habe ich mir vorgenommen, nichts mehr an mich ranzulassen, tagelang habe ich kein Radio gehört, keine Zeitungen gelesen, habe mich in mein Zimmer verzogen, mir sogar die Ohren verstopft, wenn Vater stundenlang die Nachrichten geschaut hat; ich habe mich tagelang enthalten, wenn ich fassungslos war über Titel wie "Gibt es noch einen Weg aus der Balkan-Horrorshow?", um plötzlich wieder alle Tageszeitungen fiebrig nach Artikeln über den Balkankrieg abzusuchen (Balkankrieg, das klingt wie eine Spezialität, so wie es Waaddänder Saucisson oder Wiener Schnitzel gibt, witzelte Nomi, ja genau, Balkankrieg ist die Spezialität eines Volkes, ein hausgemachtes Produkt, das einem kriegerischen Charakter entspringt; es gelingt uns manchmal, uns über solche Begriffe wie "Balkan-Horrorshow" lustig zu machen, weil wir dem Schmerz Flügel verleihen wollen, und ich weiss, dass sich das ab heute ändern wird, ich weiss, dass ich keine Zeile mehr über den Balkankrieg werde lesen können, ohne dass ich an Bela denke).

Ich öffne meine Schranktür mit Schwung, damit ich den Schrankwind in meinem Gesicht spüre, ich, die ratlos vor ihren Mondial-Kleidern steht (hübsch soll es sein, aber nicht auffällig, farbig, aber nicht grell, ich kombiniere, wähle so aus, dass ich dem allgemeinen Geschmack entspreche, das heisst oben nie zu dunkel, keinesfalls eine schwarze Bluse, im Allgemeinen oben immer heller als unten, ein schwarzer Jupe, das geht, eine schwarze Bluse niemals), und seit längerem habe ich angefangen, den Mondial-Kleidern Namen zu geben. Die Daisy-Duck-Bluse habe ich bereits erwähnt, aber da gibt es noch andere, das armeegrüne Kleid zum Beispiel, von dessen einer Schulter sich ein etwa handbreites, sinnloses Stück Stoff bis zur Hüfte zieht, und die Blusen der Marke Zeitlos-Hässlich (hellgrau oder hellbeige, aus dickerem Stoff und unverfänglich geschnitten) und die sogenannten Deux-Pieces, die ich meine Pfister-Kleidchen nenne, weil mir Herr Pfister jedes Mal, wenn ich eines von ihnen trage, ein Kompliment macht, und weil ich mich für nichts entscheiden kann, ziehe ich die Schublade auf, reisse eine Packung "Femme luxe" auf, verkürze die Strumpfhosenbeine Stück für Stück in meinen Händen, lege meine Zehen in die verstärkten Enden, ziehe die Strumpfhose über die Knie, zu rasch, und ich ärgere mich über die Lauf- oder Fallmasche, ich ziehe die Strumpfhose wieder aus, Nomi, die an meine Zimmertür klopft, wir müssen bald los, sagt sie, ja! und ich, die wieder vor dem Schrank steht, mir vorstelle, wie ich mich in eine Bluse packe, wie ich mich zuknöpfe mit den Knöpfen, die mit demselbem Stoff überzogen sind wie die Bluse, als ich mir vorstelle, wie ich bald mit hochgeschlossener Bluse und Jupe im Mondial stehe, sehe ich Bela, wie er in meinem Schrank kauert. Mit dem Gesicht eines bleichen Mannes, eines zu Tode erschrockenen Jungen macht er unmissverständliche Handzeichen, ich soll den Schrank wieder schliessen, er hat sogar die Lippen bewegt, sage ich zu Mutter, die in meinem Zimmer steht, neben Nomi, ich, die den Schrank geschlossen hat, weil Bela mich darum gebeten hat, sage ich; Mutter, die meint, die Nachricht sei ein Schock, klar, und sie öffnet den Schrank, um mir zu zeigen, dass es eine Einbildung war, meine Phantasie, die mir einen Streich gespielt hat, Nomi, die mir ein Kleid aus dem Schrank nimmt, damit ich nicht auswählen muss, und ich, die sagt, dass das doch etwas zu bedeuten habe, dass ich Bela in meinem Schrank gesehen habe, wahrscheinlich schon, antwortet Nomi und hilft mir ins Kleid, wir müssen uns beeilen, sagt sie, Mutter, die neben uns steht, aus dem Fenster schaut, es kann doch sein, dass morgen alles vorbei ist, sagt sie. Wie meinst du, alles vorbei, frage ich. Der Krieg, antwortet Mutter. Es gibt immer einen Tag, an dem der Krieg vorbei ist, warum sollte dieser Tag nicht morgen sein?

Tito hat Jugoslawien mit eiserner Faust zusammengehalten, so Herr Berger, der von der renommierten Tageszeitung aufschaut, sich ein bisschen zurücklehnt, weil heute Samstag ist, er war doch, das muss man sagen, eine charismatische Führerpersönlichkeit, Herr Berger bespricht sich mit Herrn Tognoni (einem Einwanderer, der es geschafft hat, mehrere Bauunternehmen besitzt), und vor allem der Samstag ist der Tag, den ich überstehen muss, ohne das Geschäft wäre der Samstag ein silberner Tag, an dem es immer, zu jeder Stunde, eine kleine Überraschung geben könnte, an diesem Tag müsste man um die Kastanienbäume stehen, direkt vor dem Mondial, am Samstag, da die aufgesparten Wünsche sich zu einem grossen Wollen zusammentun, jeder Fehler wiegt samstags doppelt so schwer, das wissen Nomi und ich, die heute servieren, die Wünsche, die uns mit liebenswürdigem Blick erreichen, liebenswürdig und unerbittlich, denke ich (die Ausnahmen wie Herr Schlosser, der in seiner stillen Ecke sitzt, wunschlos glücklich mit seinem Kaffee Creme und seiner Neuen Revue oder die beiden Schwestern, Frau Köchli und Frau Freuler, die uns die Hände drücken, bevor sie sich setzen, und dieser Händedruck ist so verschwenderisch in seiner Wärme und Direktheit, dass ich jedes Mal überrascht bin, obwohl sie uns immer so begrüssen), all die Samstagskönige und Samstagsköniginnen, deren Fingerzeige wir befolgen, und ich habe es nie jemandem gesagt, dass ich samstags allen anderen begegne, nur mir nicht.

Tito hatte Jugoslawien im Griff, muss man sagen, wiederholt Herr Berger, wussten Sie, dass er mit bürgerlichem Namen Josip Broz hiess? und Herrn Bergers Pfeife raucht, während ich am Tisch stehe, darauf warte, was Herr Berger und Herr Tognoni bestellen wollen (einen Gast darf man nie hetzen, am Samstag schon gar nicht). Der Balkan ist eine einzige Krise, Herr Tognoni bestellt ein grosses Frühstück ohne Konfitüre, dafür mit Drei-Minuten-Ei, der Balkan ist aber keine Einheit, Herr Berger, dessen Rauchzeichen in meine Nase steigen, meine breiten Nasenflügel kitzeln (Sie haben fast eine Afro-Nase, sagte einmal jemand, ein Gast, Ihre Nase würde gut zu einem schwarzen Gesicht passen. Ja, finden Sie, finden Sie wirklich?), ah ja, sagt Herr Berger zu meiner Bluse, einen Kaffee Creme für mich und einen ganz hellen Milchkaffee mit Assugrin für meine Frau, meine Frau ist noch nicht hier, aber Sie können ihn bereits bringen, weil meine Frau bald kommt. Gern, sage ich. Und der Balkan ist ein Vielvölkerstaat mit einer interessanten Geschichte, und Josip Broz war ein intelligenter Mann, er hat Nikita Chruschtschow brüskiert, er, Tito, hat den dritten Weg versucht, der natürlich von vornherein zum Scheitern verurteilt war, und: Waren Sie schon einmal in Jugoslawien? Ja wirklich? Und Herr Tognoni war schon einmal in Jugoslawien, in Ljubljana, gar nicht so weit von Italien entfernt, erzählt er, während ich aufdecke, Tischset, Serviette, Messer und Löffel, Ljubljana sei nicht zu verachten, habe was zu bieten, Slowenien sei ja mit dem Rest des Balkans gar nicht vergleichbar, Österreich-Ungarn habe da einen entscheidenden Einfluss gehabt, das dürfe man nicht vergessen. Und ich stelle das Körbchen auf den Tisch mit einem Croissant, einer Semmel und einer Scheibe Brot.

Ja, Slowenien hat mit dem Balkan eigentlich nichts zu tun, davon bin ich auch überzeugt, sagt Herrn Bergers Pfeife, Fräulein, meine Frau scheint doch noch nicht zu kommen, und ich nehme den hellen Milchkaffee mit Assugrin selbstverständlich wieder mit, und Herr Tognoni möchte statt der Semmel ein Milchbrötchen, ein helles oder ein dunkles? und Herr Tognoni ist ein Einwanderer, der es nicht nur beruflich geschafft hat, sondern auch im Gemeinderat politisiert, für die Schweizerische Volkspartei, und ausserdem hat er, wie er erzählt, letzte Woche mit seiner Frau eine japanische Algenkur gemacht, ein dunkles, sagt Herr Tognoni akzentfrei. Der Balkan macht auch vor uns nicht halt, sagt er (der bestimmt in den 70er Jahren gekommen ist, als die Schweizer über die vielen Tschinggen geflucht haben, die Italiener, die damals noch zum Feindbild Nummer eins gehört haben), bald haben wir auch einen Kebab-Stand mitten in unserer Gemeinde! und ich serviere Herrn Tognoni sein Drei-Minuten-Ei, und es ist ja nicht so, dass die Slowenen kommen (die Bauarbeiter, deren Einsilbigkeit ich samstags vermisse), und Herrn Tognonis Aftershave ist dezent, denke ich, als ich ihm den Orangensaft serviere, der zum grossen Frühstück gehört, ich hätte gern ein paar Slowenen in meinem Betrieb, und Herr Tognoni bedankt sich bei mir.

Woher kommen Sie eigentlich? Meine Eltern stammen aus Norditalien, aus dem Piemont, berichtet Herr Tognoni, und ich stelle ihm den doppelten Espresso auf den Tisch, den er zum grossen Frühstück bestellt hat, und Herr Berger deutet mit seiner Pfeife darauf hin, dass ich den hellen Milchkaffee mit Assugrin für seine Frau bringen könne, gern, sage ich, und: Fräulein, bringen Sie mir noch ein Croissant. Hell oder dunkel, frage ich. Spielt keine Rolle, antwortet Herr Berger, Fräulein, darf ich Sie noch was fragen, Sie sind doch Schwestern, und Herr Bergers Pfeife deutet auf Nomi (Nomi, die seine Frage wahrscheinlich mit einem kecken Spruch beantworten würde: ich finde es schön, dass Sie und Ihre Frau und Herr Tognoni am Samstag auf Bildungsreise sind), ja, wir sind Schwestern, antworte ich. Meine Frau und ich haben uns nämlich schon oft gefragt, ob sie Schwestern sind, schau dir den Mund an, habe ich zu meiner Frau gesagt, aber die Haare, sagte meine Frau! Dabei weiss doch jedes Kind, dass gerade die Haare von den Gemeinsamkeiten ablenken, eine Frisur macht viel aus, nicht?

(Und ich würde gern einen Kamm aus der Brusttasche meiner Bluse ziehen, um die Herren Berger und Tognoni zu frisieren, um ihre Härchen durchzulüften, nicht aus Bosheit, ich würde ihre Frisuren gern auf eine Berg-und-Tal-Fahrt schicken, ihre Gesichter sehen, wie die Freude über die Geschwindigkeit sekundenschnell das Helle, Jungenhafte in ihre Gesichter zurückzaubert, gern würde ich ihre aufgeregten Finger sehen, die an einer Zuckerwatte zupfen), die Gebrüder Schärer, die sich jetzt setzen, an Tisch sieben, neben den Berger und den Tognoni, Händeschütteln, wie geht's? sie kämen gerade vom Radfahren, sagt der schmale Schärer, hundertzwanzig Kilometer, jeden Samstag! der Berger, der Tognoni, die anerkennend nicken, Fräulein, so der dünne Schärer, zwei Kaffee nature! (der schmale und der dünne Schärer, weil man die beiden fast nicht voneinander unterscheiden kann).

Erzählen Sie uns doch etwas über die Verhältnisse in Ihrem Land, sagt Herr Berger, als ich die beiden Kaffees für die Schärers hinstelle, Herr Berger, der nach seiner Pfeife langt, die gestopft werden will. Sie müssen wissen, dass das Fräulein aus dem ungarischen Teil des Balkans stammt, wissen Sie, da, wo es sicher auch bald chlöpfi, knallt, Vojvodina, so heisst die Region, und sie war bis vor kurzem eine autonome Provinz, nicht wahr? (die Bergers, die sich letzte Woche höflich erkundigt haben, von welchem Teil des Balkans wir herkämen. Aus dem Norden von Jugoslawien, südlich von Ungarn, antwortete ich, und Ungarn ist immer die Rettung, jeder kennt einen ungarischen Zahnarzt, und den Aufstand von 1956 hat man noch gut in Erinnerung, da man in der Folge die Sympathie mit den Aufständischen bekundete, indem man Tonnen von abgetragenen Kleidern endlich sinnvoll entsorgen konnte; man kennt die Puszta, Bela Bartök, ach, die feurige Musik, die uns doch allen so viel gibt! Ihre Muttersprache ist also Ungarisch und nicht Serbokroatisch, kombinierte Frau Berger, ja, antwortete ich. Dann sind Sie gar nicht vom Balkan? Nicht eigentlich, antwortete ich, aber doch irgendwie, dachte ich. Herr Berger, der seine Stirn abrupt in Falten legte, seine Frau Annelis belehrte, siehst du, ich hab's doch gesagt, die vom Balkan haben andere Hinterköpfe), und ich stelle jetzt den hellen Milchkaffee mit Assugrin wieder auf den Tisch, Frau Berger, die sich inzwischen gesetzt hat. Ja wirklich? und Herr Tognoni (den man noch viel länger auf die Berg-und-Tal-Fahrt schicken müsste als Herrn Berger) hat plötzlich ein Interesse an ihr, die ich bin, das wusste ich gar nicht, sagt Herr Tognoni mit einer kleinen Glut in den Augen, ich dachte, Sie seien aus Russland, wer hat mir das nur erzählt? Deine Phantasie, Mauro, die hat dich an der Nase herumgeführt, sagt Herr Berger lachend (und wahrscheinlich würde Herrn Tognoni, Herrn und Frau Berger und die Schärers das, was ich von meinem Land erzählen wollte, nicht interessieren, es wäre gut möglich, dass sie mich etwas verlegen und mitleidig anschauen würden: Fräulein, wir dachten da an etwas Anderes, wir wollten etwas über die Kultur, die Geschichte, die Sprache, die Probleme erfahren — und nicht über die Luft zwischen den majestätischen Pappeln und Akazien, die winzigen Blumen, die zwischen den Pflastersteinen wachsen, den Staub, den Dreck, über Bela…). Leider habe ich keine Zeit, um von meinem… schon gut, Fräulein, wir sehen ja, dass Sie beschäftigt sind, aber bringen Sie uns doch allen noch einen frisch gepressten Orangensaft, und ich lächle, drehe mich weg (vielleicht stelle ich Ihnen nächstes Mal eine Frage, denke ich, über die Glaubenskriege, die Schlacht bei Sempach, die Reisläufer oder die Teufelssage würde sie, die ich bin, Tisch sechs und sieben befragen, und Frau Berger würde vor Schreck vergessen, das Milchschäumchen unauffällig vom Mundwinkel abzulecken, da sie nicht erwartet hat, dass das Fräulein eine Frage zur Schweizer Geschichte, zur Schweizer Kultur stellen kann; ich komme vom Balkan und studiere Geschichte, werde ich sagen, Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte; wie billig von mir, dass ich mich beweisen will, bei Menschen, die mir eigentlich vollkommen gleichgültig wären, wären sie nicht Stammkunden des Mondial); und ich, deren Aufmerksamkeit sich plötzlich verschiebt, zu den Schärers hin, merke erst jetzt, dass die beiden Brüder gar nichts erzählen, sich nicht einmal am Gespräch beteiligen, nur hin und wieder ah ja, sagen, ah so.

Das wurmt mich jetzt aber, sagt Herr Tognoni, als ich die Säfte auf den Tisch stelle, ich hätte schwören können, dass mir jemand erzählt hat, Sie seien aus Russland, und Herr Tognoni macht sich Sorgen, weil sein Gedächtnis möglicherweise nicht mehr so funktioniert wie früher, ich war's bestimmt nicht, sagt Herr Pfister und setzt sich neben die Schärers, wenn ihr etwas über das Fräulein wissen wollt, müsst ihr nur mich fragen, ich weiss alles über sie, Herr Pfister, der mir charmant zuzwinkert; und als ich ihm seinen hellen Milchkaffee und seinen Orangensaft auf den Tisch stelle, diskutieren Herr Pfister, Herr Tognoni und die Bergers schon über die Vorteile von Tai Ginseng und Ginkgo-Tabletten.


Um halb zwölf sitzen Nomi und ich am Personaltisch, essen Rindsvoressen mit Kartoffelstock und Vichy-Karotten, ich halte dieses Gerede nicht mehr aus, sage ich, Nomi, die mich anschaut, die Sauce mit dem Kartoffelstock vermischt, dieses Geplapper über Jugoslawien — Nomi, die mich immer noch anschaut, während sie den Mund öffnet, einen Bissen nimmt, kaut, schluckt, was erwartest du denn, sagt Nomi, und ich, die aufhört zu essen, zünde mir eine Zigarette an, ich würde sie gern provozieren, sage ich, wen sie, fragt Nomi und spiesst sich ein Stückchen Fleisch auf die Gabel, du weisst schon, wen ich meine. Dann tu es doch, und Nomis Gabel bleibt in der Luft, mit den Spitzen gegen mich gerichtet, so wie die Menschen etwas kauen wollen, wollen sie etwas plappern, und das ist an und für sich nichts Schlechtes, und es ist auch nicht für dich bestimmt, Nomi, die die Gabel auf den Tellerrand legt. Für wen denn sonst? und ich schaue an Nomi vorbei, blicke ins Mondial, das jetzt, wie immer um diese Zeit, fast leer ist. Für den Tag, den langweiligen Morgen, für die Luft, stell dir vor, wie es wäre, wenn der Luft ständig übel würde. Vielleicht sehen wir es nicht, dass es so ist, antworte ich.

Ildi, sagt Nomi, niemand kann etwas dafür, dass unsere Familie in Jugoslawien lebt.

Nicht einmal wir, antworte ich, drücke meine Zigarette aus, stehe verärgert auf, bringe unsere Teller in die Küche, und als ich Marlis sehe, wie sie mit ihrem hellen Blick vor sich hinmurmelt, weiss ich plötzlich, wie harmlos sie ist, die plaudernde Geschwätzigkeit, gegenüber dem Lauern der Gebrüder Schärer, die ausdauernd und präzise auf den richtigen Moment warten, um uns, in ihrem Neid, einen bleibenden Denkzettel zu verpassen.

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