Mein Cousin ist eingezogen worden, sage ich zu Dalibor, und wir liegen auf den Steinen, nah nebeneinander, schauen in die Blätter der Kastanienbäume und Linden; sehen so aus wie grosse Hände, die Blätter der Kastanien, sagt Dalibor, mächtige Bäume mit grossen Händen. Ja, antworte ich, hast du nicht gehört? Dalibor, der sich aufsetzt, seine Knie zum Brustkorb zieht, the lake is very quiet today, ein Tag oder besser ein Moment, der einem vorgaukelt, es gäbe nichts Schreckliches auf dieser Welt, und als ich mich auf meine Ellbogen stütze, mich räuspere, steht Dalibor auf, krempelt seine Hose hoch, macht ein paar Schritte Richtung Seeufer, er zieht sein Hemd aus, obwohl es ziemlich kühl ist, er wirft es weg, streckt sich, beugt seinen Rücken dann leicht nach hinten, bevor er seinen schmalen Körper zusammensacken lässt, einen Moment lang innehält, bevor er ganz plötzlich und in geduckter Stellung über die Steine rast, mit vorschnellenden Armen nach ihnen schnappt, und ich, die sich ruckartig aufsetzt, lache, musst du Energie loswerden oder was, rufe ich ihm zu, Dalibor, der nicht reagiert, weiter über das Ufer rennt, das weiche, helle Geräusch der Steine, die gegeneinander gedrückt werden, von Dalibors Füssen, seine Hände, die jetzt voll sind, die jetzt mit Steinen gegen die Steine schlagen, ein unangenehmes Geräusch, das gegen meine Ohren knallt, hörst du mich, rufe ich ihm zu, Dalibor, der seinen Körper erst aufrichtet, als der Schweiss auf seinen Schulterblättern glänzt, und ich höre seinen Atem, fast ein Hecheln, als er mit dem Rücken zu mir stehenbleibt, ein paar Minuten wartet, bis er die Steine fliegen lässt.
Dieses Spiel sei kein Spiel mehr für ihn, ruft Dalibor, überhaupt frage er sich, ob es für ihn jemals wieder ein Spiel, ein game, gäbe, und er kommentiert seine Bewegungen mit einem knatternden Geräusch, trrrrr, t-t-t-t, trrrrrrr, und er lässt die Steine immer rascher, heftiger übers Wasser fliegen, bückt sich wieder nach Nachschub, sucht nicht mehr nach geeigneten, flachen Steinen, sondern nach Geschossen, die weh tun, der See, der plötzlich da ist, um Zeuge einer unerwarteten Szene zu werden, und die Schwäne, die Dalibor soeben noch our elegant guests genannt hat, flattern aufgeregt mit den Flügeln, die Enten, die es jetzt eilig haben, wild zu schnattern anfangen. Hör auf, rufe ich Dalibor zu, was soll das? leave those creatures in peacel, und ich springe auf, renne auf ihn zu, und als ich wenige Schritte hinter ihm bin, dreht er sich um, fixiert mich, mit einem anderen Blick, mit einem mir unbekannten Blick, bleib da, wo du bist, schnauzt er mich an, sonst bist du an der Reihe — weisst du, wie es ist, wenn sogar die Natur eine Fratze bekommt? weisst du, wie es ist, wenn du schiessen musst, und wenn du es nicht tust, wirst du erschossen? Nein, ich habe keine Ahnung, antworte ich. Weisst du, wie es ist, wenn du deinem besten Freund eine Kugel in den Kopf schiesst, und dann siehst du dir sein Gesicht in aller Ruhe an, ohne dass du nur das Geringste empfindest? Und dann erschlägst du sein Gesicht, das Gesicht deines besten Freundes im Traum, weil es dich verfolgt mit seiner Ruhe, seiner Stille, weil er dir sogar verzeiht, du musst ihn nochmals töten, weil er dich verrückt macht mit seinem erlösten Gesicht, beruhige dich, sagt sie, die ich bin, und ich strecke meine rechte Hand aus — es ist die Geste eines hilflosen, bittenden Menschen —, wir lieben doch beide das Wasser, sage ich, irgendwann wirst du mir dein Meer zeigen, sage ich, versuche, ruhig zu atmen, und ich möchte dir meinen Fluss zeigen, sein sandiges Ufer, das man sonst nur am Meer findet, ich möchte so vieles mit dir, sage ich, es wird eine Zeit kommen, wo wir wieder hinfahren können…
Dalibor, der mich jetzt anschaut, sein Blick, der irgendetwas preisgibt, entschuldige, sagt er, ich habe mich einen Moment lang vergessen, und ich höre mein Herz, wie es in meinen Fingern schlägt, hattest du Angst vor mir, fragt er. Nein, antworte ich. Bist du sicher? und Dalibor wischt sich den Schweiss von der Stirn, das Wasser aus den Augen, das muss ich wissen, sagt er. Ich bin mir sicher, antworte ich, ohne zu zögern, und Dalibor, der seine Hand ausstreckt, mich mit den Fingerspitzen berührt, es tut mir leid wegen deinem Cousin, sagt er, wo ist er? In Banja Luka. Familie, fragt Dalibor. Ja, zwei Kinder und eine Frau. Erzähl mehr, sagt Dalibor. Bist du sicher? Ja.
Sein Vater, mein Onkel Piri, der machtlos zusehen musste, wie die Uniformierten seinen Sohn mitnehmen (und nicht Csaba), Onkel Piri, der seine mici, seine Mütze, nach hinten, nach vorne, nach hinten schiebt und dann mehrmals gegen den Stamm des Ölbaumes spuckt, als er Belas Rücken sieht, eingeklemmt im strengen Gleichschritt zweier Soldaten.
Tante Icu, die sich im Garten auf ihren Schemel setzt, die verblühten Maiglöckchen anstarrt und unter dem Einfluss der Aprikosenrosen in ein inniges Gemurmel verfällt, im Glauben, dass man den Liebes-, Frühlings-, Blumenmonat darum bitten könne, den einzigen Sohn gesund, wohlbehalten, lebensfähig wiederzubringen, und nach mehrmaligem, vergeblichem Rufen steht Onkel Piri im Garten, hört, wie seine Frau ein altes, fast schon vergessenes Lied vor sich hinsummt, das er noch aus seiner Soldatenzeit kennt: Ich heisse Fabian Pista, Soldat soll ich werden. Sie wollen mir meine Locken abschneiden, so muss man dem Kaiser dienen. Ich heisse Fabian Pista, Soldat soll ich werden. Sie wollen mir meine Locken abschneiden, ich werde dem Kaiser nicht dienen.
Bela, der sich monatelang bei Freunden versteckt hatte, sich nur noch nachts nach draussen traute, sich an einem abgelegenen Ort am Fluss mit seiner Frau und seinen Kindern traf, Belas Magen, der anfing, sich selbst zu verdauen, das ist kein Leben mehr, sagte seine Frau, du stirbst an deiner Magensäure und an deinen schwarzen Gedanken, und ein paar Tage später kam Bela nach Hause, am helllichten Tag; er entlauste die Hunde, flickte die Dachrinne, rupfte das Unkraut im Garten und verzog sich auf den Dachboden seines Elternhauses, um seine Tauben zu pflegen und zu füttern. Am nächsten Tag, in der Morgendämmerung, holten sie ihn ab, zu zweit und bewaffnet — meistens holen sie die Männer nachts, hat Tante Icu erzählt, sie kommen zu Fuss oder mit dem Fahrrad, die stillen Schritte, die nichts Gutes bedeuten, der allzu behutsame Tritt in die Pedale — dann nehmt mich doch mit, ihr Hunde, ihr Schweine, soll Bela geflucht haben, auf Serbokroatisch, aber sagt mir vorher noch, für welche Nation ich sterben soll. Für Serbien! Grossserbien! rief einer der Soldaten, für wen denn sonst, du weltfremder Taubenzüchter!
Dalibor nimmt meine Hand, lass uns zum Bootshaus gehen, und wir stehen auf, schauen uns in die Augen, als wir stehen, weisst du, dass du eine undefinierbare Augenfarbe hast, sagt er, ich sehe mir selten in die Augen, antworte ich, das ist seltsam, dass dir das noch nie aufgefallen ist, so Dalibor, ich möchte in deinen Augen versinken, in diesem vielfarbigen Meer, und ich, die aufhorcht, frage, warum willst du das, denk dir nichts dabei, antwortet Dalibor, streichelt mit dem Daumen meine Handfläche, und wir gehen los, die Kieselsteine, die unter unseren Schritten knirschen, und ich, die im Vorbeigehen ein paar bekannte Gesichter grüsst, wir gehen am Brunnen vorbei, zwei Kinder, die mit dem Wasserstrahl spielen, uns mit verschmitzten Augen anspritzen, Dalibor, der sich fallen lässt, so tut, als hätte ihn der Wasserstrahl verletzt, die beiden Kinder, die kichern, weiterspritzen, bis Dalibor wieder aufsteht, ihnen mit den Fingern zuwinkt, und wir gehen an der grossen Wiese vorbei, die im Sommer mit Badetüchern übersät ist, jetzt ganz still und unberührt daliegt, was könnte man tun, frage ich, als wir uns ins Bootshaus setzen, wo wir ungestört sind, die Sicht auf den See schön ist, du meinst für deinen Cousin, fragt Dalibor, für meinen Cousin, meine Familie. Ich glaube nicht, dass ich dich verstehe, sagt Dalibor, weil ich fatalistisch bin (und es dauert eine Weile, bis ich ihn verstehe, da ich das englische Wort für "fatalistisch" nicht kenne), du kannst die Ärzte ohne Grenzen unterstützen, Amnesty International, Organisationen, die sich für unabhängige Medien einsetzen, tu das, sagt Dalibor, und du tust es für dich, was völlig in Ordnung ist, it's okay, du kannst niemandem direkt helfen, das ist dein Los, und Dalibor, der uns eine Zigarette anzündet, ja, du bist fatalistisch, antworte ich, lege meine linke Hand auf seinen Rücken; habe ich das Gegenteil behauptet? fragt Dalibor nach einer Pause, was erwartest du von mir? Wieso glaubst du, dass ich etwas von dir erwarte? und ich ziehe meine Schuhe aus, weil ich frieren möchte, ich will spüren, wie meine Zehen kalt werden auf dem Holzboden, um dann meine Füsse zu wärmen, an Dalibors Füssen, ich will, dass er spürt, dass er mich wärmt. Ich glaube schon, dass du etwas von mir erwartest, und Dalibor schaut mich nicht an, sondern den morschen Boden des Bootshauses, der See, der in den Ritzen der Holzbretter schaukelt, dunkelgrün, fast schwarz, du glaubst zumindest, ich wüsste Bescheid, über den Krieg, aber ich weiss nur, dass dieser Krieg, wie jeder andere auch, so schnell wie möglich beendet werden müsste, statt dass wir dauernd darüber debattieren, was für eine Art Krieg der Krieg auf dem Balkan ist. Wenn nicht andauernd alle Politiker darüber reden würden, wie kompliziert die Situation auf dem Balkan ist, dann könnte jetzt das Schlimmste noch vermieden werden — Ildi, warum hast du deine Schuhe ausgezogen? und Dalibor schaut mich jetzt an, mit diesen Augen, die in meinen Augen versinken wollen, und ich, ich lasse meine Zehen unter seinem Hosenbein verschwinden, sie wollen ganz nah bei dir sein, meine Füsse, und dir zuhören. Vielleicht sollte man wirklich mit den Füssen hören und nicht mit den Ohren, sagt Dalibor lachend, nimmt meine Hände, küsst sie, Handflächen und Fingerkuppen, und er atmet ein paar Mal in meine Hände hinein, bevor er sagt, womöglich würde man mit hörenden Füssen andere Entscheidungen treffen, man würde ziemlich sicher anders hören, und ich wäre heute ein fliegender Mensch, ein Akrobat, der ich eigentlich werden wollte, das wäre mein Traumberuf gewesen, ein Artist der Lüfte, Ildi, das wäre ich und kein Ylikbter, der sich in seiner endlosen Zeit dauernd vergeblich vorbetet, dass er zum Töten gezwungen worden ist.
Wir haben uns ziemlich genau ein halbes Jahr getroffen, Dalibor und ich, meistens am See, im Bootshaus, das nicht mehr benutzt wird, haben wir uns ausgezogen, manchmal hastig, um der Scham nicht genügend Zeit zu lassen, wir haben uns selten geküsst, weil es die intimste aller Berührungen ist, so sagte er, so sagte ich; und ich blickte verstohlen auf seinen Körper, auf seine Hüften, die verboten schlank waren, auf Arme, die in ihrer muskulösen Ausgezehrtheit eine andere Geschichte erzählten als: Wir werden dich über die Schwelle tragen. Und ich, die seinen hastigen Atem spürte, dessen Rhythmus irgendwo in der jüngsten Vergangenheit ins Stocken geraten war; es geht nicht, sagte er, es wird nicht gehen! und die Verzweiflung hatte sein Gesicht, ich habe dich kennengelernt, um zu merken, dass es nicht geht. Was geht nicht, fragte ich, und ich wusste, dass die Frage sinnlos war, es braucht Zeit, sagte ich, es geht vielleicht nicht von heute auf morgen, aber irgendwann wird alles leichter, glaub mir.
Und er, der Flüchter, zog mich zu sich hin, verbarg seine Augen hinter den Lidern, verschwand mit seinem Mund an meiner Schulter, schluchzte, sein nackter Körper, der die unbändige Sehnsucht hatte, ganz nah bei mir zu sein, eine Sehnsucht, die plötzlich in etwas Feindliches kippte, und Dalibor sah mich an, mit verbrauchten Augen, als hätten wir uns nichts mehr zu sagen, als hätte er nie meinen Hals in einer Art gestreichelt, die mich an die schönste, mildeste Frühlingsluft erinnerte, eine Luft, die die feinsten Härchen auf der Haut spürbar macht; hast du nicht gesagt, du hättest dich in mich… und Dalibor schaute mich an, mit diesen Augen, rezitierte ein Gedicht in seiner Sprache, das ein Freund von ihm geschrieben hatte, er übersetzte es auf Englisch und sagte dann, ja, ich habe mich in dich verliebt, gerade deswegen.
Und ich, die in den nächsten Tagen nach der Arbeit am Bahnhof stand, in der Telefonzelle, versuchte, Dalibor anzurufen, wählte die Zahlen, die Nummer, ich hängte auf, wenn sich eine fremde Stimme meldete, Dalibors Cousin, die Stimme, die irgendwann einmal, ohne dass ich gefragt hätte, sagte, Dalibor ist nach Dubrovnik gefahren, er lässt Sie grüssen, und er kommt zurück, ganz bestimmt.
Mit dem Zug sind wir durch die Nacht gefahren, wir sind sicher immer wieder eingenickt, Sie haben uns manchmal zugedeckt, mit einer Strickjacke, haben uns gestreichelt, mit Ihrer weichen Hand, und ich glaube, dass Sie kaum geschlafen haben, ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass ich wach gewesen bin und Sie geschlafen haben; wir haben gedöst, geschlafen, gegessen und sassen ganz still, als die Grenzpolizisten uns musterten, uns und unsere Papiere, und wenn sie irgendwas gesagt haben, in einer uns unbekannten Sprache, haben Sie Ihre Hände gezeigt, die Schultern hochgezogen, und ich vermute, dass wir sehr glaubwürdig aussahen in unserer angstvollen Unsicherheit, die Grenzpolizisten gaben uns ernst, manchmal aber auch lächelnd unsere Papiere zurück, gaben uns also die Erlaubnis, unsere Reise fortzusetzen, und als der Zug weiterfuhr, hielt ich Ausschau nach dem festlichen roten Band, das ich mir in meinem Kinderkopf als Grenze vorgestellt hatte, aber ich sah nur einen grell beleuchteten Bahnsteig, ein paar Uniformierte, die hin und her gingen, an eine grosse Bahnhofsuhr kann ich mich erinnern, eine geschlossene Imbissbude, wir fuhren weiter in die Nacht hinein, in einem neuen Land, jetzt sind wir schon bei den Österreichern, haben Sie gesagt, die Nacht, die uns mit ihrer Dunkelheit fraglos aufnahm (später werde ich mich immer wieder daran erinnern, an meine erste, naive Vorstellung von einer Grenze; jedes Mal, wenn wir mit dem Auto in die Vojvodina oder zurück in die Schweiz fahren, suche ich etwas, das zu diesem festlichen roten Band passt, aber da gibt es nie etwas, ausser Wachtürmen, patrouillierenden Soldaten, die ihre Waffen so selbstverständlich tragen wie ein Paar Schuhe, Wachhunde, die an ihren Leinen ziehen, und meistens wehen an den Grenzen Fahnen oder hängen schlaff an Stangen nebeneinander, die Steine, die Büsche, das Gras, die wenigen Bäume kommen mir farblos vor, unnatürlich, und die Frage bleibt, warum eine Grenze nur eine vielschichtige, nüchterne Drohung ist).
Ein Mann hat die Schiebetür aufgestossen, hat seinen Rucksack verstaut und sich in unser Abteil gesetzt, und Nomi und ich, wir haben ihn gemustert, wir waren so neugierig auf diesen Mann, der ja ein Österreicher sein musste, wir Hessen ihn nicht aus den Augen, als er ein belegtes Brot, eine Thermosflasche aus seinem Rucksack packte, könnt ihr eure Augen wieder einmal woanders hinpflanzen, haben Sie gesagt und an unseren Ärmeln gezupft, als wir den Mann trotzdem weiter beobachteten, er sieht ein bisschen aus wie Nándor, hat Nomi mir zugeflüstert, findest du? aber es kann ja nicht Nándor sein, wenn er ein Österreicher ist, habe ich lachend geantwortet, und der Mann hat uns Süssigkeiten angeboten, uns und Ihnen, wir haben Sie angeschaut, ob wir dürfen, dann haben wir schüchtern unsere Hände nach den Keksen ausgestreckt, der Mann hat irgendetwas gesagt, wir haben genickt, uns in unserer Sprache bedankt, und er hat geantwortet, auf Ungarisch, natürlich sind wir erschrocken, bis wir gemerkt haben, dass der Mann nur ein paar Brocken Ungarisch spricht. Sie haben ihm, nach den Keksen, von unseren Hühnerbeinen angeboten, und unsere Münder glänzten ölig im schummrigen, gelben Licht des Abteils, und für ein Mal durften wir alles durcheinanderessen, Hauptsache, die Zeit geht ein bisschen schneller vorbei, haben Sie gesagt, und plötzlich hat der Mann seine Sachen in seinen Rucksack gestopft, hat die Schiebetür aufgerissen, und im nächsten Moment klopfte er gegen das Fenster, hat sich lachend und winkend von uns verabschiedet.
Es war auf jeden Fall hell, als wir angekommen sind, ob es Morgen war oder bereits Mittag oder sogar später, weiss ich nicht. Mutter und Vater haben am Bahnhof auf uns gewartet, auf dem Bahnsteig. Mutter hat gewinkt, als sie mich aussteigen sah. Ich habe Ihnen beim Aussteigen geholfen, Nomi, Sie und ich, wir standen schon da mit unserem Gepäck, als Mutter und Vater ihre Arme öffneten, lange nichts sagten oder vielleicht nur: Endlich seid ihr da! und ich weiss, dass sich die Arme um mich schlangen, dass ich die Freude spürte, die Erleichterung meiner Eltern, aber ich weiss, dass ich Ihre Hand nicht loslassen wollte, ich weiss nicht, ob ich noch etwas anderes wollte, als in Ihrer Nähe bleiben, Mutter, die Tränen in den Augen hatte, Vater, der Nomi hoch in die Luft warf; ich weiss nicht, ob ich es mir einbilde oder ob es so war, dass ich damals schon, als wir angekommen sind, geahnt habe, dass es zwischen mir und meinen Eltern eine unaufholbare Zeit geben würde, und für Nomi würde das nicht im gleichen Ausmass so sein, vermutlich weil sie zwei Jahre jünger ist.
Vater hat sich das Gepäck aufgeladen, Mutter hat ihre Arme um unsere Schultern gelegt, ihr müsst müde sein, hat sie bestimmt gesagt, zu Hause essen wir etwas Schönes, und dann müsst ihr euch ausruhen.
Mamika, ich versuche mich zu erinnern, wie es war, dieses Ankommen im neuen Zuhause, die neue Wohnung, das neue Bett, die neuen Spielsachen, eine Toilette zu haben in der Wohnung, einen Fernseher, ein Telefon; wie war es denn, die Tür zu öffnen und in eine völlig fremde Welt einzutreten, in eine Mietwohnung, die mehr kostete als Mutter in einem Monat verdiente? was ist in mir vorgegangen, in Nomi, als wir den asphaltierten Vorplatz sahen, die Zierpflanzen in den Fenstern, auf den Balkonen, den Spielplatz hinter dem Haus? Sooft ich mich an den ersten Tag, die ersten Tage in der Schweiz zu erinnern versuche, es gelingt mir nicht, die Erinnerung bricht da ab, am Bahnhof, als wir am Bahnsteig standen, von Mutter und Vater abgeholt wurden.
Ich erinnere mich aber sehr genau, dass wir uns in dieser Zeit, nach ein paar Tagen, oder Wochen? verirrt haben, Sie und ich, wir gingen am See spazieren, wir haben die Schwäne bewundert mit ihren langen Hälsen, wir haben erstaunt zugeschaut, wie die Schwäne und Enten mit Brot gefüttert wurden, wir sind bei jedem Abfalleimer stehen geblieben, haben sogar in sie hineingeschaut, so schön und gepflegt kamen sie uns vor, und weil es an dem Tag oder einen Tag zuvor geschneit hatte, habe ich bei jeder Bank, an der wir vorbeikamen, Schneezeichnungen gemacht, und Sie müssten erraten, was ich gezeichnet hatte, wir waren so vertieft darin und in alles, was wir sahen, dass wir plötzlich nicht mehr wussten, wo wir waren, und es war bereits dunkel, wir müssen jemanden fragen, haben Sie gesagt, aber was? was sollen wir fragen und wie? wir wussten nur, in welcher Strasse wir wohnen, und Sie haben "Entschuldigen Sie" gesagt, auf Ungarisch, haben die Hand ausgestreckt, als eine Frau mit zwei Einkaufstaschen auf uns zukam, Todistrass, haben Sie gesagt und die Schultern hochgezogen, die Frau hat den Kopf geschüttelt, hat irgendwas gesagt und ist weitergegangen. So ging das eine ganze Weile, niemand schien die Todistrass zu kennen. Unsere Finger waren steif, und ich erinnere mich, dass Ihre schmale Nase ganz rot war, Ihre Augen vor Aufregung glänzten, als Sie einen älteren Herrn ansprachen, wieder nach der Todistrass fragten; der Herr, der eine merkwürdig flache Kappe trug, lächelte, er zeigte mit dem Finger in die Nacht hinein, sagte Tödistrasse, und als er merkte, dass wir mit seinem ausgetreckten Finger nicht viel anfangen konnten, führte er uns durch die Strassen, an Ampeln vorbei, einen Hang hoch, bis wir vor unserem Haus standen, Vater, der schon rauchend vor der Garage wartete, auf uns einschimpfte, nachdem er sich beim Herrn für seine Hilfe bedankt hatte.
Sie und ich, wir haben nachher jeden Tag darüber geredet, über diesen winzigen Unterschied, o oder ö, dass das niemandem aufgefallen war ausser diesem einen Herrn, das hat uns erstaunt, erschreckt, und wir haben geübt: Tödistrasse, Tödistrasse, wie wenig es doch braucht, und man ist ganz verloren in der Welt, haben Sie gesagt.
Mutter und Vater haben tagsüber gearbeitet, Nomi und ich, wir haben mit Ihnen gekocht, die Wäsche gemacht, wir sind zum Spielplatz gegangen, hinter dem Haus, eine Rutschbahn, zwei Schaukeln, ein abgedeckter Sandkasten, wir Hessen den Schnee schaukeln, wir haben Eier geformt, aus Schnee, legten sie auf die Stufen der Rutschbahn, wo sind die Hühner, hat Nomi gefragt, warum kräht kein Hahn? warum sieht man niemanden? Das Erstaunen darüber, dass es so still war, so still und so schön, als gäbe es eine geheime Übereinkunft darüber, dass die Dinge, die uns umgaben, nur dazu da sind, um von uns bestaunt zu werden, in ihrer Schönheit. Und wir haben weitergespielt, auf dem Spielplatz, aber wir wagten nicht, auf den Zaun zu steigen, der an den Spielplatz grenzte, sicher auch deshalb, weil wir neu waren und nichts Falsches machen wollten, weil wir nicht wussten, ob dieser Zaun auch uns gehörte oder nicht, wir benehmen uns am Besten so, als wären wir Gäste, haben Sie gesagt, und mit der Schneeschaufel, die tagelang am Hinterausgang an der Wand lehnte, spielten wir erst, als wir begriffen, dass sie dem Hauswart gehörte, und der Hauswart, das waren Mutter und Vater, die die Hauswartstelle übernommen hatten, um noch etwas dazuzuverdienen, zu ihren minimalen Löhnen.
An den Abenden sassen wir zusammen am Küchentisch, assen das, was Nomi, Sie und ich gekocht haben, Gerichte, die wir sowieso schon immer zusammen gekocht hatten; das ist schön, am Abend nach Hause zu kommen, in eine warme Küche, hat Mutter gesagt und wollte mich umarmen, ich hängte mich an Ihren Rockzipfel, drehte mein Gesicht weg, in den warmen, dunklen Stoff Ihres Rockes, weg von Mutters Wunsch, mir nah zu sein, denke ich heute, meine grausame Direktheit, Mutter zu zeigen, dass nicht sie meine Mutter war, sondern Sie, Mamika, und wenn Vater sagte, du bist gross genug, um Mamikas Rockzipfel loszulassen, habe ich ihm in die Augen geschaut, es war mir vollkommen gleichgültig, was Mutter und Vater sagten, und Sie, Sie haben nur gesagt, lasst das Mädchen in Ruhe, sie braucht Zeit.
Ich fahre nach Hause, ich muss, meine Tiere, der Garten, haben Sie gesagt, und der Herr Pfarrer vermisst mich bestimmt schon in seiner Kirche, und ich habe Sie angeschaut, als verstünde ich Sie nicht, und Sie haben Ihre Tasche gepackt, Sie haben Ihre schwarzen Kleider in die Tasche gelegt, die Strickjacken, ich glaube, Sie haben mich darum gebeten, etwas für Sie zu zeichnen, aber ich habe nichts gezeichnet, und wenn, haben Sie mich nur ein Mal darum gebeten und dann nicht wieder, Sie haben mich in die Arme genommen, am Abend vor Ihrer Abreise — ich weiss nicht, ob Nomi auch dabei war —, haben ein Lied gesungen, ich habe Ihre Stimme in meinem Körper gespürt, und alles in mir hat sich geweigert, Sie gehen zu lassen, und erst als der Zug wegfuhr, habe ich begriffen, dass das der wirkliche Abschied war und nicht der in der Vojvodina, als all unsere Verwandten uns besucht haben oder wir sie, als uns alle irgendwas zusteckten, uns mit Händen und feuchten Augen küssten, sogar am Tag unserer Abreise blitzte der Abschied nur auf, als Nomi wegen dem Reisigbesen weinte, den sie nicht mitnehmen durfte und ich wegen meiner Lieblingskatze Cicu; jetzt, wo Sie im Zug wegfuhren, war es so, wie wenn meine ganze bisherige Welt von mir wegfahren würde, Ihr Haus, Ihr Garten, die geliebten Tiere, der Staub und Dreck, der bleiche Herr Pfarrer in seiner dunklen Kirche, das Stimmengewirr auf dem Markt, der schwere, süsse Duft nach frischen Pfannkuchen, Palatschinken, Onkel Piris Augen, die schönsten Augen der Welt, so fanden Nomi und ich, Tante Icu, die uns mit Süssigkeiten verwöhnte, an den Wochenenden, die wir bei ihr und Onkel Piri verbrachten, damit Sie die frühe und späte Messe besuchen konnten; ich habe mit einem Mal alles vermisst, die lauten Stimmen der Menschen, die ihre Zähne zeigten, die staubigen Strassen und die Pappeln, die Pappelblätter, die so zärtlich waren mit der Luft — ich habe alles, was ich geliebt habe, mit Ihrer Abreise verloren, aber als Nomi mich am Abend fragte, vermisst du sie? bist du traurig? blieb ich stumm.
Später, in den wenigen Momenten, wo es möglich gewesen wäre, über diesen plötzlichen Abbruch unseres bisherigen Lebens zu reden, war immer sofort klar, dass Mutter und Vater, im Zusammenhang mit unserer Heimat, die tieferen, schmerzhafteren Gefühle für sich beanspruchen durften; das, was in Nomi und mir damals vorging, hatte wenig oder kein Gewicht.