Ein grosser, unauffällig gekleideter Mann bleibt vor dem Buffet stehen, räuspert sich, Fräulein, sagt er, mit einer Stimme, die wieder in den Hals zurückmöchte, Fräulein, darf ich Ihnen etwas sagen? Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, dass der Mann mich angesprochen hat, aber statt auf ihn schaue ich auf seinen Hemdkragen, auf seinen dunkelroten V-Ausschnitt-Pullover, vielleicht ein Musiklehrer, ein schüchterner, denke ich, ja bitte? und ich schaue ihm jetzt ins Gesicht, der Mann, der sich nochmals räuspert, nach hinten blickt, als müsste er prüfen, was sich hinter seinem Rücken abspielt, und er beugt sich jetzt vor über die Theke, in meine Richtung, winkt mich zu sich heran, spricht so leise, dass ich nochmals nachfragen muss, wie bitte? und er lächelt, als er sagt, Fräulein, schauen Sie sich doch mal Ihre Toilette an, er lächelt so eigenwillig charmant, dass ich mich, was ungewöhnlich ist, mit dem schüchternen Lehrer unterhalten möchte, es ist doch nicht meine Toilette, antworte ich, das Personal hat eine eigene, im Keller, sage ich genauso charmant und mit einer Stimme, als würde ich ihm ein Geheimnis verraten. Fräulein, ich, sagt der Mann, wie soll ich sagen… seine komische Schüchternheit, die mich von meiner trüben Stimmung ablenkt, sagen Sie es einfach, unterbreche ich ihn, ich kann nicht, sagt er, ich, die lachen muss, entschuldigen Sie, aber Ihre Art bringt mich zum Lachen, der Mann, der sich im nächsten Moment mit einem hochroten Kopf verabschiedet, sich wieder an seinen Platz setzt, ganz vorne, neben dem Eingang, und ich merke erst jetzt, dass Toiletten sich nicht unbedingt dazu eignen für ein scherzhaftes Gespräch.
Was wollte der, fragt mich Nomi, irgendwas scheint mit der Toilette nicht in Ordnung zu sein, antworte ich, Nomi, die meint, sie werde nachschauen, mach ich selber, sage ich, ob sie einen Moment lang klar komme ohne mich oder ob ich Mutter rufen solle, nein, geht schon, antwortet Nomi, und ich lege meine Buffetschürze auf den Stuhl, gehe in die Küche (und im ersten Moment, wenn ich in die Küche komme, sehe ich immer noch, wie Dragana am Spülbecken steht, in die Salatblätter hineinweint, leise, fast unhörbar, ihr Rücken, der von ihrem Schmerz erzählt, von der Angst um das Leben ihres Kindes, ihrer Familie, ich kann nicht hier bleiben und warten, bis die meinen Sohn erschiessen, sagte Dragana, obwohl — es gäbe auch eine Hoffnung, denn wenn ihr Sohn verletzt würde, könnte er vielleicht aus Sarajewo geschleust werden, verletzten Kindern werde am ehesten geholfen, und ich, sprachlos darüber, was zur Hoffnung werden kann, Dragana, die seit einer Woche nicht mehr zur Arbeit erschienen, unauffindbar ist), darf ich dir rasch eine Geschichte erzählen, fragt mich Marlis, als ich eine dreckige Küchenschürze anziehe, später, sage ich, versprochen? versprochen! und ich nehme den Schrubber, den Eimer, die Lappen aus dem Putzschrank, die Plastikhandschuhe, die gelben, und ich warte auf einen günstigen Moment, wo ich unbemerkt mit Schrubber, FJmer, Lappen und Plastikhandschuhen in der Herrentoilette verschwinden kann (es brauchen ja nicht alle zu sehen, wenn wir die Toilette reinigen), ich, die die schwere Tür mit den Schultern aufstösst und als erstes ihr Gesicht im Spiegel sieht, ich bleibe stehen, höre, wie sich die schwere Tür lautlos hinter mir schliesst, sehe den Schrubberstiel neben meinem Kopf, ich, mit hochgestecktem Haar, schaue mir in die Augen, und es fällt mir ein Wort ein, Einfaltspinsel, wahrscheinlich wegen dem Schrubberstiel, und ich sehe im Spiegel nicht nur mich, sondern das, was das Fräulein erwartet.
Eine verschissene Klobrille, eine Männerunterhose, die neben der Kloschüssel liegt, die gemaserte Wand, die nicht mehr weiss, sondern mit Scheisse verschmiert ist (der Spiegel fügt alles zusammen) — ich schaue, ich warte, gleich wird etwas passieren, mein Herz wird rasen, so schnell, dass ich seinen pochenden Rhythmus an den Schläfen spüren werde, zwischen meinen Schulterblättern wird ein ganz bestimmter Punkt wüten, ein stechender Schmerz, der mir den Atem verschlagen wird, ich warte, und Rumpelstilzchens irrer Tanz fällt mir ein, wie plötzlich die Marmeladenfüllung herausquillt, wenn man in einen Pfannkuchen beisst, aber sonst passiert — nichts. Ich, die sich nach dem Eimer bückt, ihn ins Becken hebt, am Hahn dreht, und während das Wasser einläuft, ziehe ich die Handschuhe an, die Hände, die das einlaufende Wasser nur noch dumpf spüren, und als der Eimer halbvoll ist, drehen die gelb eingepackten Finger in die falsche Richtung, das Wasser, das mit einem scharfen Strahl in den Eimer schiesst, auf die Haut, in die Augen spritzt, und ich, die wieder einen langen Moment wartet, drehe den Hahn zu, schaue ihr zu, wie ihr die Wassertropfen über das Gesicht laufen, und jetzt der unausweichliche Gedanke: Wir sind ein Herz und eine Seele geworden, ich und das Fräulein; und ich, die den Eimer packt, den Schrubber, gehe zum Fenster, öffne es, nicht weil mir vom Geruch nach Scheisse übel wird, sondern weil ich mir von der frischen Luft, vom Blick nach draussen erhoffe, dass sich irgendwas in mir regt, irgendein Gefühl; ich, die den Eimer abstellt, den Fenstergriff nach oben drückt, und es sind meine Finger, die im gelben Plastik schwitzen, ein Tag mit einem nicht ernst gemeinten Nebel, das heisst die Sonne wird sich in Kürze durch die Nebeldecke drücken, und ich, deren Blick auf einen friedlich eingezäunten Obstgarten fällt, sehe meine Mutter, wie sie sich nach Eimer und Lappen bückt, wie sie den Schrubber aus dem Putzschrank holt, sich die Handschuhe überzieht, als gäbe es nichts Normaleres, das gehört dazu, sagt Mutter, in den allermeisten Fällen macht niemand absichtlich daneben, schlimm genug, wenn jemand sein Wasser nicht mehr halten kann; stimmt sicher, denke ich, schliesse das Fenster, drehe mich um, mit einem Ruck, mache die paar Schritte zur Kloschüssel, schaue mir alles ganz genau an — und wenn ich nichts fühle, werde ich wenigstens meinen Kopf einschalten, die Szene hier zu Ende denken —, ja, es ist vorstellbar, dass jemandem ein Missgeschick passiert ist, dass es nicht mehr gereicht hat, die Kacke in der Schüssel zu platzieren, weswegen die Klobrille angeschissen ist, und weil eben ein Teil schon in die Unterhose ging, musste dieser Jemand sie auch ausziehen; und eine verschissene Unterhose kann man nicht gut mitnehmen, deshalb liegt sie jetzt da, neben der Kloschüssel — vielleicht müsste es auch in Männerklos Hygienebeutel haben? Aber wie lässt sich eine verschmierte Wand, die eigentlich gar nicht so schlimm aussieht, entschuldigend erklären? ich, die sich die Wand anschaut, die braunen Spuren, Buchstaben? nein, eine Botschaft ist nicht zu entziffern (ich müsste mich beim schüchternen Lehrer bedanken, ihm sagen, dass ich seine Verklemmtheit nachvollziehen kann); es fällt mir nichts ein, was die verschmierte Wand zu einem Missgeschick werden lassen könnte, und weil mir nichts Beschwichtigendes einfällt, ziehe ich die Handschuhe aus, werfe sie auf den Boden; es ist also offensichtlich, dass jemand die Wand absichtlich verschmiert hat, deshalb will ich auch kein Plastik zwischen mir und der Scheisse haben; ich nehme mit blossen Händen den Lappen, nässe ihn, fahre mit der Handfläche über die Wand, und das Wasser erweckt die fast schon eingetrocknete Scheisse zu neuem Leben, wie gesagt hat sich meine Nase durch Fäkaliengeruch nie irritieren lassen, und die Scheisse verwandelt sich in braune Schmiere, ein Dorf, eigentlich eine Kleinstadt, mit circa 10.000 Einwohnern, mit einer goldenen Blume im Wappen, mit Villen am Ufer, die fast in den See kippen, mit Arztpraxen da und dort, mit Anwaltskanzleien da und dort, mit einem Naturschutzgebiet, das Flusskrebse, rote, überfallen, selbstverständlich mit Genossenschaftshäusern, deren Baujahr ich vergessen habe, mit Geschäften für jedes kleine Bedürfnis, mit Schwimmbad, Sportplatz und Kunsteisbahn — dem Kredit zu deren Überdachung wird stattgegeben —, mit Schiessplatz, Burgruine und einem Findling namens Alexanderstein, eine Kleinstadt, die sich von hunderten andern nur dadurch unterscheidet, dass sie noch reicher und steuergünstiger ist als andere, wir, die nie tätlich angegriffen worden sind, verbal beleidigt, das schon, Schissusländer! Scheissausländer! die am häufigsten gehörte verbale Attacke — und ich zwinge mich, die Szene zu Ende zu denken — im Mondial hat uns noch nie jemand "Schissusländer" genannt, unsere Gäste sind im Allgemeinen gepflegt gekleidet, tragen gute, saubere Schuhe und Accessoires, Schmuck, Taschen, Hunde, die zu ihrer Kleidung passen; und ich habe noch nie genauer darüber nachgedacht, was an dieser Anständigkeit, die mit aufrechter Haltung und gedämpfter Stimme einen Kaffee bestellt (samstags vielleicht noch einen zweiten), wirklich bedrohlich ist, aber jetzt, wo ich nichts fühle, aber putzend denke, verstehe ich mich, dass das Nette, Wohlanständige, Kontrollierte, Höfliche eine Maske ist, und zwar eine undurchdringliche: sie hat den nicht einzuholenden Vorteil, dass man jemandem die Maskenhaftigkeit nicht vorwerfen kann (würde ich das tun und ausfällig werden, fluchen, ich nehme Ihnen Ihre nette Art verdammt noch mal nicht ab! würde man mich gelassen auflaufen lassen: Fräulein, ich verstehe Sie nicht… ist Ihnen etwas über die Leber gelaufen?), kein Durchgedrehter, Abnormaler, unberechenbarer Freak hat seine eigene Scheisse in die Hand genommen und sie an unsere Klowand geschmiert, sondern ein kultivierter Mensch (ich, die "Scheisse" schreibt, kann mir nicht vorstellen, wie die hiesigen Bürgerinnen und Bürger das Wort in den Mund nehmen, aber vielleicht tun sie es, flüstern sich "Scheisse" zu, Jugo und Scheisse, das passt zusammen, die Bürgerinnen und Bürger, die in ihrem kultivierten Leben Wasser lassen, Stuhlgang haben, die Tatsache, dass die Scheisse an der Wand klebt, beweist doch, dass wir, sie, schmutzig sind), wer vermisst eine verschissene Unterhose? die Dorfpost, die mein Kleininserat vermutlich nicht abdrucken würde, die Dorfpost, die unsere Familie vor sechs Jahren porträtierte, die Gemeinde, die demokratisch für uns oder gegen uns abstimmen durfte, saubere Finger, die ihr Stimmrecht wahrnehmen, ich, die vor versammelter Gemeinde meine Hand erhebe, in die Gemeindegesichter blicke, frage, wer hat unser Klo mit Scheisse verschmiert? der Dorfbach, der in die plötzlich entstandene Stille hineinplätschert —.
Aus heiterem Himmel beginnt es zu regnen, so dass etliche Bürgerinnen und Bürger, die sich schon auf den Weg gemacht haben ins Gemeindehaus, nochmals umkehren, um zu Hause den Schirm zu holen oder sich einen Regenschutz anzuziehen, nicht wenige treffen also verspätet ein, stellen die Schirme in die Schirmständer, kleine und grössere Wasserlachen, die sich bilden, wachsen, sich zu Wasserlandschaften ausweiten. Ich sehe, wie die Frauen und Männer ihre Jacken und Mäntel aufhängen, an nüchtern silbern glänzenden Kleiderhaken, die auf Ämtern üblich sind, bringen sie sie zum Hängen, ein paar Hände, die sich über die verregneten Gesichter wischen, es riecht nass und schwer, Seufzer sind zu hören, ach, dieser Regen! und ein paar Männer ziehen sich die Pullover über die Bäuche, so wie sie es immer tun, wenn sie ihre Jacken ausgezogen haben, ein paar Frauen richten ihren Männern rasch noch die Hemdkragen, sie schimpfen verständnisvoll mit Hemdkragenspitzen, die sich tagsüber, während der Arbeit, in Pulloverinnenseiten versteckt haben. Man begrüsst sich, plaudert ein wenig, es kommt allmählich Stimmung auf, und die Plätze im Saal füllen sich.
Ein bisschen später als geplant werden die langen, faltenlos fallenden Kunststoffvorhänge vom Hauswart zugezogen, und die Stimmen werden sofort leiser, weil man mit dem Zuziehen der Vorhänge ein unmissverständliches Zeichen dafür gibt, dass der Gemeindepräsident die Bühne sogleich betreten wird, ich höre die Stimmen, die gedämpfter werden, auch deshalb, weil die Vorhänge die Resonanzen erstaunlich gut schlucken.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ich heisse Sie recht herzlich willkommen im Namen der Gemeinde! der Gemeindepräsident, ein freundlich aussehender Mann Mitte sechzig (dem ich an der Jungbürgerfeier die Hand geschüttelt habe), der einen einfachen Anzug trägt, schildert kurz, worum es geht, und der Hauswart löscht die Lichter, schaltet den Diaprojektor an, nun zeigen wir ein paar Bilder, sagt der Gemeindepräsident, damit sich jene, die die Kocsis nicht kennen, ein Bild machen können, damit jene, die sie schon kennengelernt haben, sich an sie erinnern, hier, die beiden Kinder, Ildikö Kocsis, die in ein paar Monaten achtzehn wird, ihre um knapp zwei Jahre jüngere Schwester Nomi, die Kinder sind nie negativ aufgefallen, sagt der Gemeindepräsident, sie sprechen tadellos Deutsch, die Ältere ist sogar mit ausserordentlich guten schulischen Leistungen hervorgetreten, und der Gemeindepräsident räuspert sich vermutlich an dieser Stelle, die Eltern, Rózsa und Miklós Kocsis, haben einen ausgezeichneten Leumund, ausser ein paar kleineren Übertretungen im Bereich des Strassenverkehrs haben sie sich nichts zu Schulden kommen lassen; die Gemeinde, die aufmerksam zuhört, das rhythmische Schnappen des Projektors, hier die Familie im Freibad (Nomi und ich, mit Zahnlücken und einem FJs in der Hand), und hier sieht man sie vor ihrer Wäscherei (wir, die an diesem Abend, als über uns abgestimmt wird, vor einem heissen Fetttopf sitzen, bei Iren, Sändor, Aranka und Attila, die nicht glauben konnten, dass wir noch nie Fondue bourguignon gegessen haben, die uns erklären müssen, wie lange man das Fleisch im Fett lässt, dass man das Fleisch in die verschiedenen Saucen dipt, nicht schlecht, finden wir alle, schmeckt sogar ziemlich gut, Vater, der uns alle zum Lachen bringt, weil es ihn eigentlich langweilt, stundenlang vor einem Töpfchen zu sitzen, endlos lange zu essen), wir kommen jetzt zur eigentlichen Abstimmung, sagt der Gemeindepräsident, nachdem es im Saal wieder hell ist, der Diaprojektor ausgeschaltet ist und eine junge Frau, als Helvetia verkleidet, sich neben das Rednerpult des Präsidenten stellt, um dem Gemeindepräsidenten zu assistieren, die Stimmen zu zählen. Wer für die Einbürgerung der Familie Kocsis ist, erhebe die Hand! Ein Meer von Händen, das sich erhebt. Ich danke Ihnen, und wer gegen das Einbürgerungsbegehren der Familie Kocsis ist, erhebe die Hand! Ein paar Hände, die sich in die Luft strecken, ein verhaltenes Raunen, das durch den Saal geht; Frau Köchli, die, wie es ihre Gewohnheit ist, ihren Schirm nicht in den Schirmständer gestellt hat, sondern ihn auf der Toilette abgetrocknet hat und ihn, bevor sie sich setzte, unter ihrem Stuhl verstaut hat, Frau Köchli, die sich bückt, nach ihrem Schirm langt, mit ihm in die Luft und dann auf Gesichter zielt, als sie mit einer ungewöhnlich forschen Stimme zu fluchen anfängt. Herr Rampazzi, der im Gemeindehaus als Hauswart arbeitet (der uns in der Wäscherei manchmal beim Ausliefern geholfen hat und dessen Sohn mit Nomi zur Schule ging), hat erzählt, dass er sich bereits auf den Feierabend gefreut hat, als die Frau Köchli, die er ehrlich gesagt schon immer komisch gefunden habe, aufgeschossen sei wie ein Kaket, sie habe geschimpft, ob denn die, die jetzt gegen die Familie Kocsis gestimmt hätten, sie überhaupt kennen würden, sie habe sogar mit ihrem Schirm herumgefuchtelt, geflucht, was, das wisse er nicht mehr so genau, sie habe aber sicher einen roten Kopf gehabt und über die Schwarzenbach-Initiative gewettert, daran erinnere er sich genau, weil er die ja auch miterlebt habe, seit damals habe sich ein Mückenfurz verändert, habe Frau Köchli gerufen, in die verdutzten Gesichter hinein, und er, Herr Rampazzi, habe bei sich gedacht, dass es für die Ausländer, also für uns, nichts bringe, wenn eine wild gewordene Frau sich so aufführe, die ausserdem noch eine Schwester habe, vor der man, rein vom Körper her, Angst haben müsse. Frau Köchli und Frau Freuler, die dann ihre Sitzreihe zum Aufstehen nötigen, den Saal verlassen und die Tür hinter sich nicht schliessen, so dass man noch ein letztes Mal Frau Köchli rufen hört, wir gehören auch zu dieser verunglückten Gemeinde! die Schritte der Schwestern, die man in der plötzlich entstandenen Stille des Gemeindesaals noch eine ganze Weile hört.
Ich, die sich die beiden Schwestern in Erinnerung ruft, sehne mich danach zu verschwinden, ein für allemal.
Es gibt Tage, die ziehen die schlechten Gedanken an, ich, die vergisst, dass es noch andere gibt als den, der unser Klo beschmutzt hat, ich will vergessen, dass es noch andere gibt, weil ich einen eindeutigen Hass empfinden will gegen jemanden, der uns gestern so unmissverständlich seinen Hass gezeigt hat, das war doch eine Kriegserklärung, will ich sagen, am Sonntag, als wir im Mondial sitzen, im Herbst, als wir darüber reden, dass wir eine spezielle Herbstkarte kreieren müssen, Wildspezialitäten, Reh-, Hirschfleisch, Rotkraut, Spätzli, ich, die Mutter ins Wort fallen will, die von den Zahlen spricht, die gar nicht so schlecht seien, der Sommer sei zwar flau gewesen, aber das sei bei den Tanners nicht anders gewesen, ich, die explodieren will, ich will gegen uns sein, gegen unseren Fleiss, unser andauerndes Bemühen, noch besser zu werden, ich, die meinen Lehrer nicht hören will, der sagt, dass er nichts gegen Ausländer habe, bei ihm zähle einzig und allein die Leistung, ich will meinen Lehrer nicht hören, wenn er die Stimme meiner Eltern hat, der Glaube, dass man mit der eigenen Leistung, mit einer permanenten Leistungssteigerung alles erreichen, die Realität wegschieben kann, die verschissene Unterhose, im Plastikkübel, im Abfalleimer, und niemand muss sich fragen, was das war, was das wohl zu bedeuten hat; hört mal zu, will ich sagen, können wir darüber reden, ob wir vielleicht eine Anzeige erstatten, gegen unbekannt, wie formuliert man so eine Anzeige, darüber sollten wir doch diskutieren, stattdessen: Wildschweinbraten, Birnen mit Preiselbeeren, glasierte Kastanien; Mutter, die die Toilettentür aufgemacht hat, mich gesehen hat, was ist das, hat sie gefragt, eine volle Unterhose, habe ich geantwortet, was? meine Mutter, käsebleich, mit fliehenden Augen, hat wahrscheinlich zufällig jemand verloren, so ich, Mutter, die die Gummihandschuhe vom Boden aufliest, sie sich überziehen will, ich, die es nicht zulässt, das mache ich, hat es gesagt, das Fräulein, ich habe die Unterhose mit Toilettenpapier umwickelt, hundertprozentige Baumwolle, habe ich gesagt, wollte Mutter zum Lachen bringen, das bleibt unter uns, hat Mutter gesagt, was? ja, bringt nichts, das an die grosse Glocke zu hängen. Gibt es noch etwas anderes als die grosse Glocke und verschweigen, habe ich gefragt, ein Einzelfall, hat Mutter gesagt, das wird nicht wieder vorkommen, und wieder der Satz: Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, wir müssen es uns zuerst noch erarbeiten, genau, und heute, an diesem Sonntag, wo wir im Mondial sitzen, rauchen, Kaffee trinken, Vater die Eingangstür mit einem Holzkeil blockiert und Mutter die Toilettentüren fixiert hat, damit das Mondial frische Luft schnappen kann, bevor es wieder Montag wird, heute will ich über diesen Einzelfall reden und nicht über die Zahlen, die gar nicht so schlecht sind, die Mutter mit einem Bleistift unterstrichen hat, sich so in die Zahlen vertieft, wie man sich an einem Sonntag gar nicht in Zahlen vertiefen kann, ich will über diesen Einzelfall reden, der offenbar zu unserem Schicksal gehört; Vater, der seine Stirn in Falten legt, mich mustert, was ist mit dir los, Ildi — ich brauche Nomi, aber Nomi ist nicht da, hat sich entschuldigen lassen, gesagt, sie komme später, später ist zu spät, denke ich, trinke Kaffee ohne Satz, ich wünsche mir meine Mamika, die mir meine Zukunft aus dem Kaffeesatz liest, und die Zukunft, sie ist nicht gross und schwer und bedeutsam, sondern leicht, morgen bekommst du unerwarteten Besuch, ein Unbekannter wird dir ein Geschenk bringen oder: Hier, siehst du, diese Linie hier sagt, dass wir den Hühnern heute Abend mehr Futter geben müssen; was ist mit dir los, Ildi, ich, die auf den Boden ihrer Tasse schaut, ich spreche mit den Toten, sage ich und hebe meinen Kopf, schaue Mutter an, Vater, Mutter, die ihre Hand auf die Liste legt mit den Zahlen, ich verbringe ab jetzt meine Zeit mit den Toten, sage ich, weil Vater und Mutter schweigen, bist du müde, hast du nicht gut geschlafen, fragt Mutter, mit ihren schönen Augen, die besorgt aussehen; ich weiss schon, dass man mit den Toten nicht sprechen kann, aber sie hören zu, sie hören gern zu, und sie lieben schöne Stimmen, überhaupt lieben die Toten das Schöne. Vater, der anfängt zu husten, Mutter, die ihm auf den Rücken klopft, mit der flachen Hand, auf die Stelle zwischen den Schulterblättern. Wo bin ich denn hier, sagt Vater nach seiner Hustenattacke, kann mir jemand erklären, was hier los ist, Ildi, was redest du da, und ich, die aufsteht, mit der Tasse, verschwinde hinter der Theke, um einen Kaffee einzuspannen, und ich bleibe da stehen, hinter der grünen Theke, Mutter und Vater, die mich mit fragenden Blicken anschauen, ich will nicht mehr hier arbeiten, sage ich — Vater, der Mutters Hand nimmt, den Kopf schüttelt, kannst du mir meine Tochter erklären?
Alles wegen mir, sagt Mutter nach einer kurzen Pause, sie ist wütend auf mich, und ich, die einen Schluck schwarzen Kaffee nimmt, bin überrascht, dass Mutter genau weiss, worum es geht; los, Ildi, erzähl schon, darauf willst du doch hinaus, oder? Erzähl du, antworte ich, und mir fällt auf, wie still es heute ist im Mondial, die Vitrine, die nicht surrt, die Lüftung, die nicht in Betrieb ist, und ich sehe meine Zukunft vor mir, in einem imaginären Kaffeesatz, eine winzige Wohnung in der Stadt, in einem schiefen, grünen Haus, das Namensschild, das ich nicht überklebe mit meinem Namen, und wenn, dann erst viel später, I. Kocsis, Ildikö Kocsis oder nur Kocsis auf ein Stückchen Papier schreiben möchte, und ich werde mich wochenlang nicht aus meiner Wohnung bewegen, in der Küche sitzen, die Küche mit Speisekammer, Schützstein, mit einem schönen Fenster, ich werde da sitzen und zuschauen, wie das Licht durch das schöne Fenster fällt.
Gestern hat jemand, wie soll ich sagen, im Klo eine Schweinerei hinterlassen, und Mutter deutet mit ihrer Hand Richtung Toilette, Ildi, willst du dich nicht wieder zu uns setzen? Nein, und Vater dreht an seinem Schnauzhaar, was für eine Schweinerei? Irgendjemand hat daneben gemacht, sagt Mutter — irgendjemand hat nicht nur daneben gemacht, sondern seine verkackte Unterhose ausgezogen und fein säuberlich neben die Toilette gelegt, vor allem hat dieser Jemand die Wände mit Scheisse verschmiert, sage ich und platziere ein Wort neben das andere; das habe ich allerdings nicht gesehen, sagt Mutter, hast du nicht, antworte ich gereizt, weil ich die Wand schon geputzt hatte, als du reingekommen bist. Ach, so Mutter und ich: Morgen werde ich nicht die Tafel schreiben, sondern eine Anzeige erstatten, gegen unbekannt.
Ich erwarte alles andere, nur nicht das, was jetzt passiert. Vater, der weiter an seinem Schnauzhaar dreht, nicht flucht, sich keine Zigarette anzündet, er sitzt auf seinem Stuhl am Personaltisch und schaut mich an, mich oder die Theke oder die Gläser hinter mir, ich weiss es nicht, und er steht auf, langsam, stützt sich an der Stuhllehne ab, fährt sich mit den Fingern durch das dichte Haar, und er macht ein paar Schritte Richtung Theke, bleibt dann stehen, und einen winzigen Moment lang sieht es so aus, als würde er taumeln, vornüber fallen, aber Vater fällt nicht, sondern geht weiter, schaut mich kurz an, bevor er in die Küche geht, keine Flüche, keine Verwünschungen, keine Fragen, wahrscheinlich auch keine Erinnerung an früher, wo Vater als Feind des Systems galt, mein konterrevolutionärer Vater, so habe ich ihn insgeheim manchmal genannt, nicht ohne Stolz, denke ich, und jetzt? Vater, der im Tiefkühler wühlt, nach dem geeigneten Fleisch für den Montag sucht, Vater, der sogar das Küchenradio anstellt, während er anfängt, den Heissluftdämpfer zu putzen, ich, die fassungslos in der Küchentür steht, schaue meinem Vater zu, wie sein Kopf im Dämpfer verschwindet.
Setz dich, sagt Mutter, ich muss dir etwas sagen, Mutter, immer noch am Personaltisch sitzend, und ich, die stehen bleibt, in der Küchentür, klebe am Türrahmen, mit allem aufhören, mit dem Studium, meinem Russischkurs, den Samstagabenden im Wohlgroth, vor allem aber aufhören mit der Arbeit hier, im Mondial, verschwinden aus dieser Gemeinde, das nette Fräulein endlich abschütteln (vielen Dank und auf Wiedersehen!), nicht immer ähnlicher werden der Tapete, dem Teppich, der Wanduhr, der Vitrine, und das Essen, es schmeckt nicht mehr nach uns, nein, ich, die sich nicht setzt, will keine Wildkarte schreiben — Ildi, die so schön und korrekt schreibt —, will verschwinden aus diesem halbierten Leben, diesem Alltag, in dem der Dienstleistungsbetrieb zum Schicksal wird, "mundtot" geht mir durch den Kopf, ich werde mundtot gemacht mit Sätzen wie: Ihr sollt es einmal besser haben als wir, wir arbeiten nur für euch; setz dich, sagt Mutter, mit einem versöhnlichen Ton, sie, die mich anschaut mit diesem Blick, den ich so gut kenne, Augen, hinter denen sich etwas auftut, ein endloser Gang, in dem Schritte hallen, alptraumhafte Gestalten, deren fordernde Körper vorwärts drängen, immer näher kommen, knallende Schritte, die die Schläfen verletzen, Mutter, die krampfhaft verhindern will, dass die gold-grün-braune Tapete Risse bekommt, meine Gedanken, die sich nicht mehr in den gewohnten Laufbahnen bewegen — und wenn ich es gar nicht besser haben will? wenn ich in einem alten, schiefen Haus leben möchte mit Gasherd, Boiler, Schützstein? Einbauschränke? nein, die habe ich nicht, weil sie so praktisch und hässlich sind; Mutter und Vater, die in meiner kargen Wohnung stehen werden, so haben wir gelebt vor fünfundzwanzig Jahren, als wir in die Schweiz gekommen sind, wie kannst du nur? seht mal, das Fenster, ist es nicht schön, wie das Licht durch dieses Fenster fällt? (das Einzige, was ich will, ein schönes Fenster), Mutter, die mir zuwinkt, Ildi, hast du nicht gehört? und Vater, der die beiden Küchenfenster öffnet, damit die giftigen Dämpfe des Reinigungsmittels entweichen können, wenn wir uns jetzt nicht wehren, wenigstens versuchen, irgendwas zu tun, dann sind wir niemand mehr, sage ich, zu Vater, zu Mutter, der Türrahmen, der meinen Rücken stärkt (man darf sich nicht umdrehen, wenn man weggeht, seine Heimat verlässt, entschlossen vorwärtsgehen, bereit sein, alles, was kommt, auf sich zu nehmen; wer hat das gesagt?), Vater, der den Spritzschlauch in die Hand nimmt, in den Dämpfer hineinzielt, sein Hinterkopf, der mir vielleicht etwas erzählt, aber was? ich bitte um eine Antwort, sage ich, könnt ihr mir bitte in die Augen schauen? Mutter, die aufsteht, die paar Schritte tut, zu mir hin, du willst eine Antwort, gut, du kannst sie haben! Vater, der den Spritz schlauch abstellt, mit einem Spezialschwamm anfängt, das Spülbecken zu scheuern, eine leichte Melodie, die das Radio dazu spielt, und die kalte Herbstluft macht mich frösteln, Mutter, die sich auf den Hocker setzt, der neben der Abwaschmaschine steht, was kommt jetzt? und ich, die stehen bleibt, beim Türrahmen.
Und dann gehe ich in den Gastraum, bleibe kurz an der Theke stehen, als wollte ich etwas bestellen, ich gehe weiter, an den Tischen vorbei, verabschiede mich von den Tischen, zwei, fünf, zehn, elf, fünfzehn, drücke Frau Köchli und Frau Freuler die Hand, und Frau Hungerbühler, meine liebsten Gäste, und den Bauarbeitern, deren Namen ich nicht kenne, ihnen nicke ich zu, im Vorbeigehen, meine Schritte, die lautlos sind auf dem Teppich, die grün lackierte Eingangstür, die offen steht, die mich einlädt zum Weggehen, ich nehme die drei Stufen, bleibe auf dem Bürgersteig stehen, einen kurzen Moment, gehe dann zum Kastanienbaum, ein paar Blätter, die bereits auf dem Asphalt liegen, vom Kastanienbaum aus schaue ich ins Mondial, ich kann fast nichts erkennen, weil die Fenster spiegeln, und ich, die ein Lied singen möchte, aber es fällt mir keines ein, bücke mich nach einem Blatt, wäre es anders, wenn dieses Blatt nicht hier wäre? und ich gehe mit raschen Schritten zur Unterführung, das trockene Geräusch meiner Turnschuhe, ob ich mir denn schon einmal vorgestellt hätte, wie es wäre, wenn wir jetzt in der Vojvodina leben würden, mitten im Krieg, wie denn unser Alltag aussehen würde, fragt mich Mutter, ihre Summe, die in der Unterführung hallt, feierlich und gross klingt, mein Kopf, der sich automatisch nach links und rechts dreht, zu Schaufenstern hin, ein paar Wollknäuel, Stricknadeln, ein mit "Handarbeit" angeschriebener Pullover, ein paar Spots, die diese kleine Szenerie ausleuchten, wir würden uns bestimmt nicht mit Kleinkram herumschlagen, es ginge täglich um Leben und Tod! Mutter, die sich bekreuzigt, ist das eine Kleinigkeit, wenn jemand seine eigene Scheisse in die Hand nimmt, um sie dann in einer öffentlichen Toilette an die Wand zu schmieren, frage ich das Schaufenster links von mir, in dem Schulhefte ausgestellt sind, Farbstifte, Zirkel in unterschiedlichen Grössen, die Frage, wie man Papier sinnvoll oder wirkungsvoll ausstellen kann, ein Tornister, der an einem Nagel hängt, zwei Katzenaugen, die hinter dem Glas orange leuchten, Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen können, weil die Eltern kein Geld haben, fürs Busticket, und du, Ildi, du könntest deine Ausbildung ziemlich sicher nicht machen, sondern müsstest mithelfen im Schweinestall, Kühe melken, wahrscheinlich müsstest du sogar Männerarbeit machen, du weisst ja, was mit den Männern passiert; und ich, die weitergeht, lasse die Frage hinter mir, ob eine Unterführung ein geeigneter Ort ist für Schaufenster, Mutters Augen, die mich bitten, sie nicht falsch zu verstehen, wenn sie mich jetzt an den Krieg erinnere, aber sie tue das, weil ich den grösseren Zusammenhang zu verlieren drohe, sie müsse mir doch sagen, dass wir hier in Sicherheit lebten, immerhin ein Geschäft führten, und da sei es notwendig, nicht alles an sich herankommen zu lassen, sonst wären wir ja schon lange nicht mehr hier, sagt Mutter. Wie meinst du das? und ich steige die Stufen hoch, zwei Stufen auf ein Mal, überquere den Parkplatz, auf dem nur ein paar vereinzelte Autos stehen, Sonntag in einem Dorf, ein ausgestorbener Sonntagvormittag in einem Dorf, und ich, die eine Münze in eine Parkuhr wirft, um dieses angenehme Geräusch zu hören, wenn die Münze den roten Zeiger wieder auf Null stellt; was meinst du, wie oft haben wir doppelt so viel gearbeitet wie unsere Arbeitskollegen, für weniger Lohn, und das ginge ja noch, die lauwarme Kotze von Hündchen wegzuwischen, das gehörte zum Alltag deines Vaters, als er als Kellner gearbeitet hat, in einem noblen Restaurant, Miklós, das solltest du Ildi erzählen! Die einzige Chance ist, sich hochzuarbeiten, und das, glaub mir, gelingt dir nicht, wenn du dich nicht taub oder dumm stellst. Ich dürfe sie nicht falsch verstehen, wenn sie sage, dass ich es nicht gewohnt sei, Opfer zu bringen, Opfer? Ja, schweigen können, Sachen wegstecken, und wenn hinhören, dann eben nur mit halbem Ohr; hätten dein Vater und ich eine richtige Ausbildung, könnten wir vielleicht — dann hätten wir die Möglichkeit, den Mund aufzumachen, aber so? Weisst du eigentlich, wo wir angefangen haben? die gesichtslosen Tage, fast vier Jahre lang, als die Tage nur dazu da waren, um wie Automaten zu funktionieren, zu arbeiten, Vater als Metzger bei Herrn Fluri und als Metzger auf dem Schlachthof, ich als Kassiererin, Kindermädchen, und sonntags haben wir gemeinsam Banken geputzt. In dieser Zeit, Ildi, habe ich nie geträumt, nie, sonst wäre ich verloren gewesen, und ich gehe weiter, an der Apotheke vorbei, überquere eine Strasse, zu meiner Rechten das Einkaufszentrum, zu meiner Linken ein Kleidergeschäft, dann ein Kiosk, ein Strumpfgeschäft, ein Hotel, gibt es ein Opfer, das zu gross ist? und jemand winkt mir zu, von der anderen Strassenseite her, ich gehe weiter, ohne zurückzuwinken, am Schuhgeschäft vorbei, an einem Schaufenster, in dem Brillengestelle an durchsichtigen Fäden hängen. Als ihr, Nomi und du, so lange Zeit nicht bei uns wart, das war ein grosses Opfer — zu gross? und ich hebe meinen Kopf, schaue zur protestantischen Kirchturmuhr, die Zeiger, die goldgelb leuchten; Vater, der sich mit dem Schwamm in der Hand zu mir dreht, Wasser, das auf den Linoleumboden tropft, ihr wart in guten Händen, sagt Vater, ohne die Lippen zu bewegen, das Restaurant Löwen, das sonntags geschlossen ist, und ich, die vor dem kleinen Schaukasten stehen bleibt, studiere die Speisekarte, die Preise, die Auswahl, wie sieht wohl ein "Ross-Filet-Zauber" aus? und ich gehe weiter, schlage den Kragen meiner Jacke hoch, vor mir das Gemeindehaus, das Polizeirevier, die protestantische Kirche, stimmt, sage ich, wir waren in guten Händen! die beiden Tannen neben der Kirche, die den Turm überragen, immergrüne Pflanzen, denke ich, der Dorfplatz, auf dem früher wahrscheinlich die Bauern der umliegenden Region ihre Waren angeboten haben, auf dem sicher einmal ein Lindenbaum stand, der, wenn er im Juni blühte, allen strengen Ordnungshütern den Kopf verdrehte, und ich, die allein auf dem Dorfplatz steht, höre das gleichmässige Plätschern des Dorfbrunnens, vielleicht hätte das Opfer grösser sein müssen, vielleicht wäre es besser gewesen, ihr hättet noch ein paar Jahre länger auf uns gewartet, Vater, der mich mit sehenden Augen anschaut, Mutter, die von ihrem Hocker aufsteht, was willst du uns damit sagen? Nomi und ich haben uns nie entschieden, hierher zu kommen, nur das; und Mutter, die die Klammer aus ihrem Haar löst, sie an die Brusttasche ihrer Bluse klemmt, Vater, der den Schwamm hinter sich ins Spülbecken wirft, da haben wir es, sagt Vater, deine Mutter hat ganz Recht, wenn sie dich an den Krieg erinnert, stell dir mit deinem Dickschädel nur kurz vor, was das bedeuten würde, und ich, die sagt, dass es nicht darum gehe, ich will unsere Verschiedenheit verstehen, und mir fällt das ungarische Wort für "Verschiedenheit" nicht ein, aber die plötzliche Klarheit darüber, warum man, wenn jemand gestorben ist, sagt, er sei "verschieden", der schwere Stand der Verschiedenheit, denke ich, gehe auf den Polizeiposten zu, vergitterte Türen und Fenster, hallo, ist jemand da, rufe ich, unsinnigerweise, ich klopfe gegen das Schaufenster, wo ein paar Steckbriefe an Magnetknöpfen hängen und amtliche Hinweise der Gemeinde- und der Kantonspolizei, und ich, die sich vorstellt, dass sich Herr Bieri und Herr Brunner, die beiden Dorfpolizisten, die gleichzeitig für die Gesundheitsbehörde arbeiten, hinter den eisernen Vorhängen verschanzt haben, auf ihren gefederten Stühlen herumturnen, sich mit geröteten Wangen die schönsten Fahndungsbilder zeigen, in der sonntäglichen Ruhe ein paar Informationen über gewisse Personen ablegen, warum sagt man eigentlich "Anzeige erstatten"? Herr Bieri und Herr Brunner, die mir diese Frage sicher beantworten könnten, hallo! meine Stimme, die über den menschenleeren Platz hallt, meine Wut, die vor dem Polizeiposten wieder ein Gesicht bekommt, die Schärers oder der Tognoni oder jemand anders, höre ich Mutter sagen, bringt nichts, sich zu fragen, wer es gewesen sein könnte, ausserdem: Wir sind ein Familienbetrieb, wenn jemand einen Fehler macht, müssen alle den Kopf hinhalten, und: Du solltest die Gäste nicht vergessen, die uns mögen, uns unterstützen — ich habe niemanden vergessen! sage ich laut, und wir verkeilen uns ineinander, unser gegenseitiges Unverständnis, wir müssen uns anpassen, sagt Mutter mit diesem Blick, den ich nicht mehr sehen will, an die Scheisse? schreie ich, und wo fängt der Widerstand an? Dein Verstand hockt manchmal am falschen Ort, Ildi, schreit Vater zurück und macht plötzlich einen Schritt auf mich zu, packt meine Hand, zieht mich durch die Küche, am Buffet vorbei, seine ungarischen Flüche, die er in den Gastraum schleudert, nur damit du wieder klar siehst, ruft er, als er im Büro die Schranktür aufreisst, nach seiner Jacke langt, hier, lies! Vater, der mir einen Brief hinstreckt, ein schmales Kuvert, und seine Hände, die zittern, ein Brief von deiner Schwester! Ich schaue auf die Briefmarken, auf Vaters breite Finger, für die der Umschlag zu schwer zu sein scheint, was ist mit Janka, wie geht es ihr, frage ich Vater mit einer Stimme ohne Klang, und ich schaue ihn nicht an, nehme den Brief nicht entgegen. Wie es ihr geht? gut, es geht ihr ausgezeichnet, wie soll es einem Menschen gehen, der sein ganzes bisheriges Leben von einem Tag auf den anderen aufgeben muss? Sie ist mit ihrem Mann und ihrem Kind nach Ungarn geflüchtet, weil ihr Mann auch als Soldat vorgesehen war, bei der jugoslawischen Volksarmee! und weil ihre Arbeit beim Radio ständig zensuriert wurde! Vater, der den Brief wieder einsteckt, nein, ich müsse ihn gar nicht lesen, das Wichtigste sei ja jetzt gesagt und das Zweitwichtigste, Ildi: Nichts ist mehr so, wie es war, in Jugoslawien, die Männer werden eingezogen, wer sein Hirn noch beieinander und die Möglichkeit hat, der flüchtet, und was meinst du, wie es in der Stadt aussieht, wenn so viele Menschen nicht mehr da leben, wo sie hingehören? Jedes dritte Haus steht leer, weisst du, was das bedeutet, wenn nur noch der Friedhof wächst? — Und ich, die zum Brunnen geht, einen Schluck Wasser trinkt, sich das Gesicht wäscht, muss trotzdem etwas tun, ich mache ein paar Schritte, damit ich das Gefühl habe, mitten im Dorf zu stehen, ich schaue nochmals zu den Tannen, zum Kirchturm, greife in die Tasche, meine Hand auf der kalten Aluminiumflasche, ich zeichne mit dem Rahmbläser Grossbuchstaben auf den Dorfplatz, schöne, weisse, schmackhafte, fehlerfreie Buchstaben aus Vollrahm, mein harmloser Kinderscherz für uns, die Familie Kocsis, bevor ich endgültig verschwinde aus diesem Dorf.