Wir

Im Juli feiern wir Mutters fünfzigsten Geburtstag, wir sitzen im Auto, fahren den See entlang, an Häusern, Villen, Schiffs-Anlegestellen, Badeanstalten vorbei, die einen freien Blick auf den See erschweren, und Vater schiebt eine Kassette in den Recorder, echte, ungarische Zigeunermusik, sagt Vater, steuert einhändig, schnippt mit der anderen zur Musik, streichelt zwischendurch Mutters Knie, Nomi, die auf eine Baracke zeigt, an der wir gerade vorbeifahren, weisst du noch? aber sicher, die Diskothek des Nachbardorfes, in der wir uns an Samstagabenden den Kopf verdrehen Hessen, von der Spiegelkugel und von Jungs, die schon ein Mofa fuhren, Vater, der uns immer um die gleiche Zeit abholte, um elf (wir, die ihm klarzumachen versuchten, dass er wenigstens auf der anderen Strassenseite warten und nicht aus dem Auto steigen soll), schaut mal her, sagt Mutter zu uns und zu Vater, fahr bitte ein bisschen langsamer! hier haben wir gewohnt, als wir in die Schweiz gekommen sind, und Mutter zeigt auf ein baufälliges Häuschen auf der Seeseite mit drei niedrigen Stockwerken, wirklich, sagt Nomi, warum habt ihr uns das noch nie erzählt? hier sind wir ja schon so oft vorbeigefahren. Bei euch ist man nie sicher, ob euch das interessiert, sagt Vater lachend, und wisst ihr, wir haben mit Sändor und Iren zusammen gewohnt, auf einem Stockwerk, wir haben uns Küche und Bad geteilt, und Vater dreht den Kopf zu uns, nach hinten, wir waren damals, vor mehr als zwanzig Jahren, richtig modern; Mutter, die Vater darauf aufmerksam machen muss, dass wir auf der Strasse sind (Vater, der sich zu Hause einen Aperitif eingeschenkt hat, weil heute Mutters Geburtstag ist, obwohl das nicht ganz stimmt, eigentlich wäre Mutters Geburtstag am Freitag gewesen, aber am Freitag, da konnten wir nicht feiern, deshalb haben wir die Feier auf den Sonntag verschoben, und am Sonntag, da trinkt Vater eigentlich immer einen Aperitif).

Wie lange habt ihr so gewohnt, in eurer WG, frage ich (und WG, Wohngemeinschaft, das war auch so ein Wort, das wir irgendwann einmal unseren Eltern erklären müssten; was? freiwillig mit Fremden zusammen wohnen? sich womöglich noch dasselbe Badetuch teilen?), nix Wegge, sagt Vater (weil es das Wort auf Ungarisch gar nicht gibt!), sondern eine Notlösung. Du hast gesagt, ihr seid modern gewesen, damals, antworte ich; war ein Scherz, Ildi, hast du das nicht gemerkt? ich glaube, wir haben etwa zwei Jahre so gewohnt, mit Sandor und Iren, oder? Vater, der Mutter seine Hand mit dem Ehering hinhält, zwei Jahre und vier Monate, sagt Mutter und nimmt Vaters Hand; Nomi, die mich anschaut, wahrscheinlich aus demselben Grund, aus dem ich sie anschaue (die Erinnerung an einen Silvester, als unsere Eltern sich schön gemacht haben, Vater, der Mutter am Nachmittag das Haar gefärbt hat, ihr die einzelnen Strähnen sorgfältig bepinselte, Mutter, die Vater mit ihrer Nagelschere die Schnauzhaare stutzte, und Nomi und ich, wir sassen auf dem Sofa, nebeneinander, wir fühlten, dass uns warm wurde, bis in den kleinsten Finger, weil unsere Eltern dann so schön vor uns standen, abends, im Korridor, Mutter in ihrem langen, schwarz-silbernen Kleid, Vater in seinem Smoking, wir waren aufgeregt, weil Vater seine Hand unwirklich leicht um Mutters Hüfte legte und Mutters Hand zärtlich auf Vaters Schenkel ruhte; wir gehen jetzt, sagten sie, und wenn jemand von einer glücklichen Kindheit erzählte, dann dachte ich an meine gemeinsame Zeit mit Mamika und an Momente, wo ich mit meiner Schwester erlebte, wie unsere Eltern glücklich sein konnten).

Mutter hat sich zu ihrem runden Geburtstag Fisch gewünscht, dass wir in einem Fischrestaurant essen, und Vater hat zur Überraschung die Ehepaare eingeladen, mit denen sie schon lange befreundet sind, Zoltán und Birgit, Sändor und Iren mit ihren Kindern und natürlich die beiden Schwestern, Frau Köchli und Frau Freuler; als Vater das Auto vor einem Seerestaurant parkiert, in dem sie nur Fischgerichte servieren, sagt er zu uns, wir müssten Mutter jetzt die Augen verbinden. Was, die Augen verbinden? ja, los, los, macht schon! und Vater hält uns ein Seidentuch hin, eine echte Überraschung funktioniert nur, wenn man plötzlich alles auf einmal sieht, und obwohl wir Vaters Idee kindisch finden, machen wir mit, Mutter, die sich offenbar freut, dass Vater sich etwas Besonderes zu ihrem Geburtstag hat einfallen lassen; und wir führen Mutter mit verbundenen Augen ins Restaurant, Nomi führt sie an der einen, ich an der anderen Hand, und Vater winkt uns zu, macht Handzeichen, als wären unsere Augen auch verbunden.

Zur Überraschung gehören ein langer, weiss gedeckter Tisch, eine grosse Vase mit roten Rosen, die Mutter so gern mag, ein paar Geschenke, die schön verteilt auf dem Tisch auf Mutters Hände warten, die eingeladenen Gäste, die ganz still auf ihren Stühlen sitzen, der Geiger und der Kontrabassist der vierköpfigen Band, die jetzt, bei unserem Eintreten, lang gezogene Töne spielen, und erst beim zweiten Hinsehen bemerke ich, dass noch etwas zur Überraschung gehört, nämlich ein Platz am Fussende des Tisches, der leer bleiben wird, der aber gedeckt ist und an dem ein gerahmtes Foto von Tante Icu steht. Findest du das eine gute Idee, flüstere ich in Vaters Ohr, als Mutters Augen noch verbunden sind und Nomi mich mit einem fragenden Blick anschaut, warum denn nicht, sagt Vater, ich habe das Bild extra vergrössern lassen, und ihre Lieblingsschwester soll doch an ihrem fünfzigsten Geburtstag auch dabei sein!

Kann man dagegen etwas einwenden? Mutter, die sich jetzt die Augenbinde abnehmen darf, in die Hände klatscht, als sie alles sieht, die vertrauten Gesichter, die Blumen, die Musik, die für sie aufspielt, eine schwebende Melodie zum Auftakt, und Mutter fallt Iren und Sändor in die Arme, deren Kindern, Zoltán und seiner Frau Birgit, begrüsst die Schwestern mit einer Umarmung, Mutter, die den leeren Platz mit Tante Icus Foto gar nicht zur Kenntnis zu nehmen scheint, und nachdem sie ihr Jäckchen ausgezogen hat, fängt sie sofort an, mit Vater zu tanzen, in meinem Lieblingskleid, ein bronzefarbenes Kleid, in dem ihr Hals so schön aus den Schultern wächst, was beim Tanzen unvorstellbar elegant aussieht, und die anderen Paare stehen auch auf, schnippen mit den Fingern, die beiden Schwestern, die noch einen Moment lang sitzen bleiben, sich dann aber beim Aufstehen helfen, schüchtern und doch fröhlich mit allen anderen mittanzen.

Nomi und ich, wir setzen uns zu Attila und Aranka, den Kindern von Iren und Sändor, die wenig älter sind als wir, und es ist eine eigene, schwer zu beschreibende Vertrautheit, die uns verbindet, wir brauchen keine Aufwärmzeit, sondern knüpfen direkt da an, wo wir das letzte Mal aufgehört haben, auch wenn Monate zwischen unserem jetzigen und unserem letzten Treffen liegen, und wir sprechen Deutsch, wechseln immer wieder ins Ungarische, in einem raschen Rhythmus erzählen wir uns, wie es geht, im Leben, bei der Arbeit, die Probleme mit unseren Eltern, und oft denke ich, dass wir uns häufiger sehen sollten, unsere Treffen nicht abhängig sein sollten von denjenigen unserer Eltern, aber wahrscheinlich wissen wir alle, dass es ausserhalb dieses Kosmos nicht funktionieren würde.

Hast du dich verliebt, fragt mich Attila ohne Umschweife, du siehst so verliebt aus, Dalibor heisst er, antworte ich, szerelmes, ja, bis über beide Ohren, sagt Nomi, skerelmet, füstöt, köhögest nem lebet eltitkolni, Liebe, Rauch und Husten könne man nicht verheimlichen, sagt Aranka, und wir lachen über dieses ungarische Sprichwort, und ich muss von meiner neuen Liebe erzählen, auch deswegen, weil Dalibor aus Jugoslawien kommt, ich erzähle, wie wir uns kennengelernt haben, dass ich eigentlich nicht so viel weiss, von ihm, die ersten paar Wochen war er in Chiasso, dann in Kreuzungen, ein Flüchtling, fragt Aranka, ja, anerkannter Flüchtling, aber immer noch arbeitslos, und ich erzähle, wie schwierig es für Dalibor ist, Arbeit zu finden — unsere Eltern, die uns zuwinken, uns auffordern, auch zu tanzen, vielleicht später, sagen wir, wir seien noch nicht in Tanzstimmung — und deine Eltern? hast du ihn schon vorgestellt? ist noch zu früh, antworte ich schnell, wir kennen uns erst seit ein paar Wochen. Serbe, fragt Aranka. Ja, Serbe, der in Kroatien gelebt hat, in Dubrovnik. Also schwierig für deinen Vater, schwierig oder unmöglich, antworte ich (und wir haben schon oft scherzhaft spekuliert, wie wir die Stecknadel im Heuhaufen finden könnten, den idealen Mann, den sich unsere Väter für ihre Töchter wünschen, zuallerletzt einen Serben, sicher keinen Russen, aber auch keinen Schweizer, der ideale Mann ist ein Ungar, am allerbesten ein vajdasägi magyar, ein Vojvodiner Ungar, dem man Geschichte nicht erst erklären muss, der weiss, was es heisst, einer Minderheit anzugehören, und weil er das weiss, ist er auch ausgewandert, in die Schweiz, ein Vojvodiner Ungar, der erfolgreich ist in der Schweiz, einen richtigen Beruf hat, also nichts mit Reden oder Malen oder Musik; er hat ausserdem Haare oberhalb der Lippen und kurzes Haupthaar, zückt immer als Erster, unauffällig, das Portemonnaie, er lässt sich nie von einer Frau einladen und isst gern schweres, männliches Essen, das Gegenteil also von jenen bleichen Männern, die so viel Gemüse und Salat essen wie die Kühe Gras, seine Kleidung ist korrekt, vor allem seine Schuhe, er war im Militär und geht sicher nie demonstrieren in einem demokratischen Land, womöglich noch am 1. Mai!), vielleicht trauen wir unseren Vätern zu wenig zu, meint Nomi, wir glauben ja ständig zu wissen, wie sie reagieren, sicher nicht grundlos, meint Attila und bittet mich zum Tanz, dagegen kann ja dein Vater nichts haben, wenn ich mit dir tanze, sagt er, und wir stehen auf, der Geiger macht ein paar Schritte auf uns zu, fragt uns während des Spielens, ob wir wüssten, was dem Geburtstagskind besonders gefallen würde, und ich sage sofort, Wenn ich einmal viel Geld habe, setze ich mich ins Flugzeug, Mutter, die, als die Musiker die ersten paar Takte spielen, stehen bleibt, Vater an der Hand hält und nach der ersten Strophe in Tränen ausbricht, und Mutters Weinen ist ansteckend, wir alle haben Tränen in den Augen (und es sollte ein eigenes Wort geben für ein ansteckendes Weinen, denke ich), auch Frau Köchli und Frau Freuler langen nach ihren Taschentüchern, obwohl sie ja den Text nicht verstehen und das Lied einen beschwingten Rhythmus hat, Vater, der Mutter wieder um die Hüfte fasst und im Takt der Musik durch den kleinen Saal ruft: Auf meine Rózsa, auf ihren runden Geburtstag! auf meine schöne, geliebte Rose, dass wir noch viele Jahre zusammen feiern können! Attila und ich, wir tanzen neben den Schwestern, ich übersetze, was Vater ruft, und die Musiker spielen jetzt einen Tusch, Vater, der dem Kellner schnippt, er solle den Champagner bringen, und Vater schüttelt die Flasche, es muss schäumen, sagt er, das bringt Glück, wenn der Boden ein paar Spritzer abbekommt! und wir stossen an, wir überbringen Mutter gute Wünsche, wollen sie zum Tisch führen, damit sie die Geschenke aufmacht, aber Mutter winkt ab, es sei noch zu früh für die Geschenke, sie wolle noch ein paar Worte sagen, und wir bleiben stehen, bilden einen Halbkreis um Mutter, die ihre rechte Hand auf ihren Brustkorb legt, und Mutter sagt zweisprachig, dass sie sich sehr freue, dass wir alle gekommen seien, um mit ihr zu feiern, und Mutter lässt sich Zeit, überlegt, fährt sich mit der Hand über die Stirn (Nomi, die neben mir steht, sich bei mir einhängt), ich bin jetzt fünfzig Jahre alt, sagt Mutter, und mit meinen fünfzig Jahren kann ich mich ganz genau erinnern, wie mir meine Mutter zum ersten Mal ein Kleid geschenkt hat, das sie selber genäht hat, zu meiner Kommunion, und ich will euch jetzt nicht langweilen und euch beschreiben, wie das Kleid ausgesehen hat, aber dieses Kleid habe ich getragen, bis ich fünfzehn war, meine Mutter hat es so genäht, dass jedes Mal, wenn sie den Saum um ein Stückchen gelöst hat, ein neues Muster zum Vorschein gekommen ist, und als kein Saum mehr da war, hat sie ein bisschen Spitze ans Kleid genäht (Mutter, die mit den Händen ihre Worte illustriert, mich bittet, Spitze und Saum ins Deutsche zu übersetzen), und als ich wirklich nicht mehr ins Kleid passte, hat sie aus dem Stoff Kissenbezüge gemacht, und heute habe ich, ich kann euch nicht sagen warum, die Kissen aus ihren Bezügen genommen, ich bin mit meiner Hand über den Stoff gefahren, und erst heute ist mir aufgefallen, dass meine Mutter etwas in den Stoff gestickt hat, so fein, dass man es nur sieht, wenn man den Stoff schräg gegen das Licht hält, für meine geliebte Tochter, das habe ich heute gelesen, an meinem fünfzigsten Geburtstag — und Mutter sagt, ihr Herz sei davon immer noch so in Berührung, dass sie es uns habe erzählen müssen (und ich, die in Nomis Arm spürt, dass sie berührt ist, von Mutters Worten, und ich weiss, dass Nomi an die Kissen denkt, die immer im Schlafzimmer unserer Eltern aufgestellt sind, von denen wir bis anhin nur gewusst haben, dass sie für Mutter eine besondere Bedeutung haben); Mutters Mutter, die jetzt mitten unter uns steht, mit einem hellen Faltenrock im Stil der 20er Jahre, einer bestickten Bluse, einem Blumenkranz und einem kleinen Schleier, die ihre Haare schmücken; und mein Blick verschiebt sich, bleibt am rechten Fuss, an der rechten Ferse hängen, die eingebunden ist, eine Ecke des Verbandes, die vom schwarzen Schuh nicht überdeckt wird; der Blick von Mutters Mutter, schön, gross, wissend, Augen, die nach hinten und nach vorne schauen, in eine Zukunft mit einem acht Jahre älteren Mann, weder glücklich noch unglücklich, sondern unausweichlich, der Bund mit einem um fast zwei Köpfe grösseren Mann, mit hochrasiertem Haar, eine Hose, die in Stiefeln steckt, eine Hand, die die hellen Handschuhe hält.

Sie haben Ihre Mutter sehr geliebt, nicht wahr, sagt Frau Köchli leise zu Mutter, als wir am Tisch sitzen, Mutter die Geschenke geöffnet und sich bei allen bedankt hat, die Kellner die Vorspeisen auftragen; Mutter, die Frau Köchlis Hand nimmt, ja, sagt sie, ich liebe sie immer noch, und hier, schauen Sie, das ist meine Schwester Icu, mein Mann hat dieses Foto von ihr vergrössert, damit sie heute bei uns ist, sie fehlt mir genauso wie meine Mutter; Mutter, die Frau Köchli erzählt, von Tante Icu, dass ihre Schwester siebzehn Jahre älter sei als sie, deswegen sei sie allein aufgewachsen, ohne die Schwestern, ja, sie habe noch eine Schwester, die ein Jahr jünger sei als Icu, aber mit ihr habe sie nichts mehr zu tun, ein böser Streit, sagt Mutter, und alle unterhalten sich angeregt um mich herum, löffeln Suppe, nippen an Weingläsern, prosten zwischendurch Mutter zu, Vater, der mit Zoltán am Politisieren ist; ich aber höre nur Mutters Stimme, weil sie Frau Köchli erzählt, was sie eigentlich mir erzählen müsste, ich höre ihr zu und überlege gleichzeitig, was der Grund sein könnte, dass es ihr offenbar leicht fällt, Frau Köchli Dinge zu erzählen, von denen ich nichts weiss, und ich überlege mir, ob Mutter hofft, dass ich ihr zuhöre, während sie erzählt, ich jedenfalls tue so, wie wenn ich ganz mit dem Essen beschäftigt wäre. (Und zwischendurch schaue ich zu Nomi, die rechts von mir sitzt, die sich mit Aranka unterhält, ihr irgendwas über die Häuserbesetzerszene erzählt, über Punks, Konzerte, dass sie es witzig finde, da reinzusehen, und ich nicke manchmal, sage vielleicht sogar etwas, aber ich bin ganz woanders, folge nur Mutters Stimme.)

Die Geschichte einer Frau, die über dreissig ist, als sie ihr drittes Kind bekommt, und weil die anderen beiden schon ausser Haus sind, verheiratet, als die spätgeborene Tochter noch klein ist, wächst sie wie ein Einzelkind auf, verwöhnt bis in den kleinsten Zeh, so der Vater, der als Kutscher arbeitet, viel unterwegs ist, und als das Kind heranwächst, schaut sein Vater es manchmal lange an, mit einem reglosen Blick, wie das Mädchen ihn nur von den Soldaten kennt, ein Blick, der etwas bedeutet, was, erfährt sie, als sie sieben Jahre alt ist und ihre Eltern sich eines Nachts streiten, ihr Vater ihre Mutter schlägt, ob ihr denn schon aufgefallen sei, dass das Kind nichts von ihm habe, so schreit der Vater, ihre Mutter, die ihren Mann schreien und reden lässt, nicht antwortet, das Mädchen sei nicht von ihm, er habe schon gehört, wo sie sich rumgetrieben habe, immer wieder, in all den Nächten, in denen er nicht da gewesen sei, sie habe sich einen fremden Samen geben lassen, er sehe das dem Mädchen an, der Nachbar stehe dem Mädchen im Gesicht geschrieben, sie mache ihn zum Gespött, er werde sie verstossen, vertreiben aus seinem guten Haus, und die Mutter des Mädchens wehrt sich immer noch nicht, der Vater schlägt weiter zu, und er habe es genau ausgerechnet, in der Zeit, wo das Kind hätte gezeugt werden müssen, hätten sie das Bett gar nicht miteinander geteilt, und sie habe immer etwas Flackerndes in den Augen gehabt, wenn der Jözsi da gewesen sei. Und der Vater schlägt so heftig zu, dass das Kind weinend die Tür öffnet und seine Mutter es in die Arme nimmt, es streichelt und jetzt endlich etwas sagt. Du behauptest, das Mädchen sei dem Jözsi wie aus dem Gesicht geschnitten, ach ja? Ich sage dir, unsere Tochter hat gar nichts vom Jözsi, deine Fifersucht macht dich nicht nur blind, sondern auch vergesslich: Weisst du nicht mehr, wie früh unser Kind auf die Welt gekommen ist, hast du daran gedacht, bei deinen merkwürdigen Berechnungen? Wenn du also wirklich von dem überzeugt bist, was du sagst, dann pack du meine Sachen und stell uns auf die Strasse, jetzt, sofort! Grossmutter, die offenbar in ihrem Leben noch nie so geredet hat, so bestimmt, fast kämpferisch, ihr Mann, der daraufhin ein paar Tage verschwindet, und als er wiederkommt, öffnet er die Tür, setzt sich an den Tisch, und während Grossmutter niederkniet, um ihm die Stiefel von den Beinen zu ziehen, sagt er, mach mir etwas zu essen, ich habe Hunger.

Die Hauptspeise wurde aufgetragen, verschiedene Süsswasserfische, auf dem Rost gebraten, Petersilienkartoffeln und Spinat, und dazu haben wir einen leichten, trockenen Weisswein getrunken, wie ihn Mutter mag; ich habe das Saallicht gelöscht, und Nomi hat den mehrstöckigen Geburtstagskuchen hereingetragen, Mutter hat unter Beifall die Kerzen ausgeblasen, die schmalen Kerzchen aus dem Guss gezogen, den Kuchen angeschnitten, die Stücke verteilt, und nach dem Dessert haben sich Frau Köchli und Frau Freuler verabschiedet, die Band hat nochmals aufgespielt, alle haben wieder getanzt, wie wenn wir in unserer Heimat wären! rief Vater übermütig, und die Männer fingen an, Bier mit Zusatz zu trinken, und die Frauen beschlossen, hart zu bleiben, heute fahren wir nach Hause, sagte Iren, sagte Birgit, sagte Mutter, und nachdem die Band ihre Instrumente in die Koffer gepackt hatte, rauchten die Köpfe der Männer, weil die Politik noch besprochen werden musste, die Mütter, die sich am anderen Ende des Tisches zusammensetzten, unhörbar miteinander sprachen; Nomi, Aranka und ich, wir standen am Fenster, schauten zum See hinaus, in die Lichter, die am gegenüberliegenden Ufer glänzten, und als ich mich wieder dem Saal zudrehte, war Zoltáns Kopf angeschwollen, erinnerte mich an eine pralle Pfingstrose, und es hörte sich so an, als würden er und Vater sich wie verrückt streiten, dabei versuchten sie nur, einander in ihrer Lautstärke zu übertrumpfen, diese Scheisskommunisten müssen endlich überall entmachtet werden (der Kellner, der die Schnäpse um die gestikulierenden Hände der Männer jonglieren musste), die sind für den Krieg verantwortlich! ja genau, die Roten hatten schon immer mit Blut zu tun… ich hörte die Sätze, die die Männer in die Luft schleuderten, vor allem Vater und Zoltán, und es waren lauter Behauptungen, die dann bloss da hingen in der Luft, eigenartig fremd und verloren, und es erstaunte mich weniger als sonst, dass die Männer auf dem rechten Auge blind waren, keiner von den Nationalisten sprach, schon gar nicht von diesen umheimlichen Legierungen zwischen Kommunisten und Nationalisten, die im ehemaligen Jugoslawien jetzt den Hass schürten; und als Nomi zu mir sagte, ich wirke so abwesend, antwortete ich, es komme mir so vor, wie wenn wir alle Stellung bezogen hätten: die Männer betrunken, politisierend am Tisch, die Mütter flüsternd geheimnisvoll am Tischrand, und wir, die Töchter, stünden hier, am Fenster, könnten das Ganze beobachten, seien beteiligt und unbeteiligt. Ja, wir sind weder Fisch noch Vogel, sagte Aranka, oder eben beides, meinte Nomi; und wir winkten unseren Eltern zu, gingen nach draussen, um frische Luft zu schnappen, am See, das dunkle Wasser erzählte mir nochmals Mutters Geschichte, die Geschichte meiner Grossmutter, die ich nie kennengelernt habe, und die ruhigen Wellen stellten mir eine Frage: warum sind Mutter und Vater in die Schweiz gekommen, was war der eigentliche Grund?

Vielleicht hat uns gar nicht Onkel Móric gefahren, sondern Nándor, wahrscheinlich war das so, weil Nándor, im Gegensatz zu Onkel Móric, sehr gern redete und beim Reden immer rote Ohren bekam, seine Ohren, die gleich gross waren wie die Ohren seines Vaters, ziemlich sicher hat uns Nándor gefahren, weil mir kein plausibler Grund einfällt, warum Onkel Móric ausgerechnet an diesem Tag so viel hätte reden sollen, Onkel Móric konnte ganz plötzlich schnell und laut und bestimmt reden, so dass man meinte, er werde lange nicht damit aufhören, aber so plötzlich, wie er anfing, hörte er auch wieder auf damit, und wenn ich genauer darüber nachdenke, hat meistens Nándor den Moskwitsch gefahren und nicht Onkel Móric, dem das Auto zwar gehörte, der aber immer wieder betonte, dass er lieber und am liebsten Traktor fahre, Onkel Móric, der Nomi und mich manchmal mitgenommen hatte auf seinem Traktor, mit uns auf die Felder hinausgefahren war, und ich höre, wie Onkel Móric sagt, hier, dieses Land, das hat uns früher einmal gehört, und die Frage, warum einem Land gehören kann und dann nicht mehr, war eine jener ungestellten Fragen, denke ich heute, Onkel Móric, der, wie gesagt, nie viel geredet hat, oft dieselben Sätze sagte, vielleicht werde ich es noch erleben, dass wir unser Land zurückbekommen, und die kleinen blauen Rinnsale auf der Nase von Onkel Móric, die irgendeine unbekannte Geschichte erzählten.

Nomi und ich, wir sahen die Felder, die schwarze Erde der Ebene, wir haben gelernt, was Unkraut ist, wir haben Hasen gesehen, die Haken schlugen, wir hielten Ausschau nach den Hügeln, die die Maulwürfe aufgeworfen hatten, und die Vogelscheuchen grinsten uns an, in ihren glitzernden Kleidern, wir haben gelernt, die verschiedenen Feldblumen voneinander zu unterscheiden, und wenn Onkel Móric seinen Kopf zum Himmel drehte, um zu sagen, dass der heutige Tag zu einem Regen hinführt, esöre all az idö, taten wir dasselbe, um zu verstehen, was unser Onkel damit meinte, und als es zu regnen anfing, haben wir die Art des Regens benannt, ein sprühender, nieselnder Regen, es schüttet oder giesst, Hagelkörner, so gross wie Taubeneier, haben wir gesagt; aber warum ein grosses, weites Stück Land in dieser E,bene einmal uns gehört hatte und jetzt nicht mehr, das haben wir erst viel später begriffen, als Sie uns davon erzählt haben.

Ziemlich sicher hat Nándor uns mit dem roten Moskwitsch an der Hajduk Stankova abgeholt und uns zum Busbahnhof gefahren, aber vorher musste er noch, weil es so kalt war wie am Arsch von Sibirien, unters Auto kriechen, um fluchend zu untersuchen, was los ist, warum die Karre nicht anspringt, und wir haben deshalb den Bus, den wir eigentlich nehmen wollten, verpasst, aber weil Sie lieber viel zu früh als zu spät in Belgrad sein wollten, war das noch kein Grund zur Aufregung, und Nomi und ich, wir hatten noch ein bisschen Zeit, wir sind die Treppe hochgestiegen, zum Dachstock, haben den Tauben Futter gegeben, wir haben durch die Ritzen des Daches geschaut, in den kalten, grauen Novemberhimmel hinein, wir sind die Leiter wieder hinuntergestiegen, haben unsere Tiere besucht, den Miststock, und wir haben dem Plumpsklo eine Geschichte erzählt, weil Ihr Plumpsklo ein weisses Häuschen war mit einer herzförmigen Öffnung, Nomi hat ihre Lieblingsgans von weitem angeschaut und gesagt: Ich werde dir eine Zeichnung schicken, und wir haben eine ganze Weile Cicu gesucht, wir haben für unsere Cicu Geräusche gemacht, auf die Cicu normalerweise immer reagiert hat, und ich weiss gar nicht, ob meine dünne Lieblingskatze gekommen ist oder nicht, auf jeden Fall wollte Nomi noch den kleinen Reisigbesen mitnehmen, den Sie ihr einmal geschenkt hatten, aber Sie haben gemeint, Sie würden ihn mitbringen, das nächste Mal, wenn Sie uns in der Schweiz besuchten; und weil Nándor immer noch mit dem Auto beschäftigt war, Sie im Haus verschwunden waren, um noch einen Kaffee aufzusetzen, haben Nomi und ich die Türklinke hinuntergedrückt, unsere Köpfe hinausgestreckt, haben dem Nachbarn von gegenüber zugewunken, der an warmen Abenden seine Schweinchen vor seiner Haustür grasen liess, und ich habe mir schon oft den Kopf darüber zerbrochen, wie dieser Mann geheissen hat, der für mich immer etwas Gütiges hatte, wenn ich ihn so von weitem sah, wie er seine Tiere weiden liess, aber mir fallt immer nur der Herr Szalma ein, dessen Häuschen rechts neben dem Ihren stand, und als Nomi und ich ein paar Schritte in Richtung "Julis Ecke" gegangen sind, Juli aber nicht zu sehen war, kehrten wir wieder um, gingen an Ihrem, also an unserem Haus vorbei, und wir riefen nicht Juli, Puli, Julipuli, Juuulipuuuü, wie wir es oft getan hatten, wenn wir eine spöttische Laune hatten, Juli uns gerade gelegen kam, um einer schwer zu beschreibenden Unruhe Befriedigung zu verschaffen, wir gingen stracks auf Julis Haus zu, da, wo sie mit ihrer Mutter wohnte, Julis Mutter, von der wir nicht einmal wussten, wie sie hiess. Guten Tag, ist Juli da, fragten wir, und ich erinnere mich, dass Julis Mutter ein erfreutes Gesicht machte, als wir nach ihrer Tochter fragten, Juli ist nicht da, sie macht Besorgungen, aber kommt doch rein! Um nichts in der Welt wollten wir in dieses Haus, wo Juli lebte, nein, nein, wir fahren gleich los, haben wir zu Julis Mutter gesagt, wir haben gar keine Zeit. Ah ja, ihr Mädchen, ihr fahrt in die Schaiz sagte Julis Mutter leise, das ist eine weite Reise, ihr Mädchen, und wir konnten sie nicht davon abhalten, uns noch ein paar Äpfel zu holen und eine Schachtel Kekse, danke! und wir waren froh, als wir uns wegdrehen konnten, wieder in der Nähe unseres Hauses waren, wir drückten die Klinke nach unten und sahen in Ihr aufgeregtes Gesicht, wo seid ihr denn? ich habe schon jeden Winkel nach euch abgesucht.

Wir haben uns ins Auto gesetzt, Sie sassen in unserer Mitte, haben Ihre Hände in den Schoss gelegt, und Nándor drehte den Kopf nach hinten, so, jetzt geht's aber los, und wir fuhren rückwärts durch das Tor hinaus, und Nándor liess den Motor laufen, als er aus dem Auto stieg, um das Tor hinter uns zu schliessen, und als wir über die Hajduk Stankova holperten, sagte Nomi zu mir, da vorne, da steht sie, und weil Sie wussten, dass wir uns von Juli verabschieden wollten, haben Sie Nándor gebeten, stehen zu bleiben, nur rasch, haben Sie gesagt, weil Nándor den Kopf geschüttelt hat, was wollen die Mädchen denn noch von dieser Irren? und wir sind ausgestiegen, haben uns vor Juli hingestellt, und sie hat uns bloss angeschaut, sie hat nicht einmal um eine Süssigkeit gebeten, wir fahren jetzt los, habe ich gesagt oder Nomi, und wir haben Juli flüchtig die Arme gestreichelt, sind dann wieder ins Auto gestiegen, und wir haben Juli nachgeschaut, bis der Moskwitsch um die Ecke bog, Nándor auf der asphaltierten Hauptstrasse Gas gab.

Am Busbahnhof hat Nándor uns die Fahrscheine gekauft, er hat dem Busfahrer beim Verladen unserer Gepäckstücke geholfen und Ihnen beim Einsteigen in den Bus, Nándor, der uns schmatzende Küsse gegeben hat, uns mit seiner lauten Stimme gesagt hat, wir sollten bald wieder kommen, und als der Bus losfuhr, haben wir ihm gewinkt, und dann haben Sie eine Packung aus Ihrer Handtasche gezogen, und wir haben an den Salzstangen geknabbert, wie junge Mäuse, haben Sie gesagt, und Sie haben nochmals nachgeschaut, ob Sie die Papiere dabei haben, meine geliebten Mädchen, haben Sie gesagt, Nomi, die vor mir sass, am Fenster, und ich erinnere mich, dass es ein Tag ohne Sonne war, dass es nach Braunkohle roch und nach Hackfleisch, Würsten, Knoblauch, Äpfeln, nach Brot, weil immer irgendjemand irgendetwas ass, und Sie haben uns frischen Speck eingepackt, gebratenes Huhn, Letschogemüse und Palatschinken, die Nomi und ich sogar kalt gern assen, und wir haben ziemlich sicher, nachdem keine Salzstangen mehr da waren, die Quark-Palatschinken gegessen, und Nomi hielt, jedes Mal, wenn sie wieder einen Bissen genommen hatte, die Palatschinke hoch und fragte, was ist das? ein fauler Hund, Tante Manci am Schnarchen, eine Kuh am Pinkeln, der Mond von gestern Abend; wir haben uns die Zeit mit allem Möglichen vertrieben, haben durch die dreckigen Fenster Fahrräder gezählt, streunende Hunde, rauchende Schornsteine, diese Busfahrt, die sich von allen anderen Busfahrten nur dadurch unterschied, dass sie viel länger dauerte, der Chauffeur, der den Bus mehrmals parkierte, den Motor laufen liess und lachend Pause-zum-Pinkeln-zum-Luft-schnappen-zum-Turnen-und-Beten rief.

Während dieser ganzen Fahrt haben wir, soweit ich mich erinnern kann, nur wenige Worte miteinander gesprochen, Sie haben immer wieder ein Lied gesummt, und weil der Motor des Busses so laut war, der Buschauffeur das Radio angedreht hatte, zu den Liedern pfiff oder sang, lehnte ich mich an Ihre Schulter, um Sie zu hören, Nomi, die durch den Sitzspalt zu uns blinzelte und dann einnickte, und als wir spät abends in ein Lichtermeer eintauchten, im Bus alle Köpfe an den Fenstern klebten, weil wir endlich da waren, in Belgrad, da sagten Sie zu mir: Schau mal, die Stadt hat auf uns gewartet, auf unseren verdreckten, verstaubten Bus aus der Provinz.

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