Er steht vor der Theke, fragt, hast du Arbeit? Ich antworte mit ja, das siehst du doch. Er bleibt stehen, hat meinen unbeholfenen Scherz offenbar nicht verstanden, und ich sage, dass er sich an den Personaltisch setzen solle, deute auf Tisch Nummer eins, direkt neben dem Buffet, und er, er dreht sich von mir weg, schaut einen Moment lang auf den ihm zugewiesenen Platz und setzt sich dann so hin, dass er mich sehen kann. Willst du etwas trinken, frage ich ihn über die Theke hinweg, und er zuckt mit den Schultern, scheint nicht viel zu verstehen, denke ich und bringe ihm einen Kaffee. Thanks, sagt er, lächelt nicht, und ich versuche ihm mit Handzeichen klarzumachen, dass ich die Chefin holen werde. Do you speak English, fragt er, yes! (und mein Kopf schämt sich, weil Englisch nicht die Sprache ist, die ich ihm zugetraut hätte), wait a moment, sage ich, why not, gibt er zur Antwort (und mein Kopf schämt sich weiter, weil er nicht weiss, wohin er schauen soll, aber die Beine, die setzen sich in Bewegung, automatisch).
Ich klopfe an die Bürotür, sage meiner Mutter, dass jemand da sei, der Arbeit suche, meine Mutter, die gerade die senfgelben Tischtücher bügelt, ihre ganze Aufmerksamkeit dem Leinen schenkt (und wahrscheinlich werde ich nie vergessen, wie diese Mischung aus Dampf, Leinen und menschlicher Anstrengung riecht), Mutter, es ist jemand da, der sich bei dir vorstellen möchte, sage ich; die Chefin, die jetzt ihren Kopf langsam hebt, von einer langen Reise zurückzukehren scheint, wir brauchen niemanden, das weisst du doch, ja, das weiss ich, denke ich. Sag ihr, sie soll ihre Telefonnummer dalassen, wir würden uns melden, falls sich die Situation ändert. Ihm, sage ich, es ist ein er. Die Chefin, die einen Moment über mich staunen muss, der Dampf, der vor sich hinschnaubt, dann kannst du dir die Arbeit sparen, wo willst du denn hin mit einem Mann? und die Chefin zwinkert mir zu, wir wollen unseren Hahn im Korb nicht aufscheuchen, oder? Aber ein Rausschmeisser wäre doch praktisch, findest du nicht? und die Chefin ist so überrascht, dass sie lachen muss, und ich, ich will die Gelegenheit beim Schopf packen, wen würdest du denn rausschmeissen lassen, frage ich rasch, den Pfister? oder den Tognoni? die Schärers sicher, was meinst du? aber schon ist das Lachen wieder verstummt, das Gesicht der Chefin, das wieder müde wirkt, Ildi, wir können froh sein, wenn wir nicht rausgeschmissen werden, froh? froh! und die Chefin nimmt das Eisen in die Hand, füllt Wasser nach, die vielen Flüchtlinge, die kommen und noch kommen werden, helfen uns nicht dabei, beliebter zu werden. Du gibst es also zu, dass sie uns nicht mögen, dass sie uns weghaben wollen? (Meine Stimme, die triumphieren will.) Zugeben? du hast mich falsch verstanden, es kommen jetzt so viele Jugos, da sind die Schweizer abweisend, wir wären auch abweisend in ihrer Lage, verstehst du? (was für eine Lage, Schieflage? Schräglage? Ablage? Zulage? mein Kopf turnt), wenn eine Masse kommt, dann kannst du keine Anteilnahme erwarten an einem Einzelschicksal, und ich, die sprachlos ist, überlege mir, warum diese senfgelben Tischtücher, die wir von den Tanners übernommen haben, so gut ins Mondial passen — aber es will mir nicht einfallen. Weisst du, wie viele gekommen sind bis jetzt, frage ich. Viele, ein paar tausend sicher, auf jeden Fall so viele, dass die Schweizer darüber reden und Angst haben, die Chefin, die das Tischtuch drittelt, zusammenlegt. Und damals? als ihr gekommen seid? hattest du auch so viel Verständnis für die Angst der Schweizer? Nein, damals habe ich das noch nicht begriffen, sagt Mutter und legt das frisch gebügelte, zusammengelegte Tischtuch auf den Stapel, wir müssen uns unter Kontrolle haben, nichts weiter, damit müssen wir uns abfinden. Kann man so leben, frage ich Mutter. Ja natürlich. Und ich, die sich an der Türklinke festhält, Mutter in die Augen schaut, ich glaube dir nicht, sage ich leise, wahrscheinlich unhörbar für Mutter, die sich bereits wieder über das Bügelbrett beugt, nach einem neuen Tischtuch langt.
Schreib mir deine Telefonnummer auf, sage ich, im Moment brauchen wir niemanden, aber das könnte sich bald ändern, your phone number and jour name please! und bevor er schreibt, fragt er, ob es stimme, dass hier nur Jugoslawen arbeiteten, sein Cousin, der schon länger im Dorf wohne, habe ihm das erzählt, sein Cousin, der gern Geschichten erfinde, was ja unterhaltsam sei, aber zu unangenehmen Situationen führen könne. Und ich frage ihn, ob es irgendwas ändern würde, wenn er wüsste, dass es stimmt, dass wir alle Yugoslavians sind. Schon möglich, antwortet er, lächelt, nimmt dann den Schreiber, Dalibor Bastic, gefällt dir mein Name? Und ich möchte nicht, dass er meinen Kopf sieht, der sich schon wieder nicht beherrschen kann, unangenehm heiss ist, und ich drehe mich um, ziehe an meinem Kleid und habe das Bedürfnis, mich hinter der Theke zu verschanzen, aber ich bleibe stehen — Glorija, die sich nervös an mir vorbeidrückt, um die bestellten Kaffees selber einzuspannen, hörst du nichts mehr? murmelt sie im Vorbeigehen — ich, die nach hinten schaut, zu ihm, der sich sichtlich amüsiert, sage, dass ich mich noch nicht vorgestellt hätte, und ich, die doch beweisen muss, dass sie die Situation im Griff hat, dein Name ist etwas merkwürdig, strange, sage ich, aber er hat was, muss ich sagen. Dein Kleid hingegen passt nicht zu dir, antwortet er, man könnte meinen, du arbeitest in einer Zahnarztpraxis, ja, das tue ich auch, aber das erkennen nur ganz geschulte Augen, professional eyes; Glorija, die mich höflich darum bittet, meine Arbeit wieder aufzunehmen, sorry, sagt er, ich wollte dich nicht aufhalten!
Und als ich wieder hinter der Cimbali stehe, bläst er sich weiter auf, steckt sich eine Zigarette an, blickt, indem er den Rauch in meine Richtung wirbelt, unverhohlen zu mir, und natürlich muss ich mich ärgern, dass jede meiner Handbewegungen auf ihn bezogen ist, es nervt mich, dass die Cimbali, die doch nur meine Nasenspitze und meine Augen preisgibt, mich vor diesem Dalibor nicht ausreichend schützt. Dass er so dreist schaut wie es eigentlich nur Kinder tun, das beeindruckt mich und irritiert mich, und weil es mich irritiert, ärgere ich mich schon wieder; ich klopfe den Kaffeesatz in den Behälter, klopfe nochmals, um mich abzulenken, drehe dann am Schalter der Mahlmaschine, um dieses hektische, mahlende Geräusch zu hören, und als ich das nächste Mal den Kopf hebe, steht er vor mir, zwischen uns die Cimbali, streckt seinen Arm über die vorgeheizten Tassen, hält mir den Zettel hin, und da ich mich nicht beeile, ihn entgegenzunehmen, wartet er, und mein Kopf sucht, mit gesenktem Blick, den richtigen Satz, und die Situation ist nicht gerade romantisch, wenn man bedenkt, dass ein Zettelchen mit Namen und Telefonnummer über die beheizte Tassenabstellfläche einer Cimbali gereicht wird, Tassen, die zusätzlich, um die Wärme optimal zu speichern (damit der Kaffee wirklich schön heiss bleibt), mit zwei Küchentüchern abgedeckt sind. Dass eine junge Frau nichts anderes zu tun weiss, als unnötigen Lärm zu produzieren, das tut, was sie normalerweise vermeidet, ihn, der immer noch seelenruhig blickt, offenbar vertreiben möchte, indem sie alle Kolben ausspannt, die Sätze ausklopft, wieder einen Kaffee einspannt, obwohl Glorija nichts mehr bestellt hat, sich sogar bückt, um das Radio anzudrehen; thanks for your help, thanks for your time, sagt er, sie, die sich weiterhin betont beschäftigt gibt, die Edelstahlfront der Cimbali zu polieren beginnt, und als er schliesslich das eine Küchentuch zurückschlägt, den beschriebenen Zettel zwischen zwei umgedrehte Tassen schiebt, muss sie doch endlich seinen Blick erwidern, was ihn zu einem kurzen, betörenden Lächeln verleitet, und sie, die an seinen Lippen hängen bleibt, nicht wegen seinem Lächeln, sondern weil er fehlerhafte Zähne hat (so wie sie), und dann, dann ist er plötzlich weg.
Dein Freund, fragt Glorija und flattert mit den blauen Augendeckeln. Darauf muss ich dir doch nicht antworten, oder? ich, die den Zettel einsteckt, kann es kaum erwarten, ihn anzurufen, male mir aus, wie er sich am anderen Ende meldet, ich, die sich den ganzen Tag zu erinnern versucht, wie er aussieht, was für eine Augenfarbe er hat, dunkel? oder hell? ob er eine hohe Stirn hat, eine schmale oder breite Nase, aber ich kann mich an nichts mehr erinnern.
Bastic? sagt er, einmal, mehrere Male, weil ich nicht antworte, hallo, hallo, und ich überlege mir, wie viele Tage es dauern wird, bis ich antworten werde, aber es dauert keinen einzigen Tag, ich bin's, antworte ich nach ein paar Minuten, die von der Cafeteria, und meine Stimme klingt erstaunlich unbeteiligt, vielleicht weil mich der schlechte Geruch in der Telefonkabine ernüchtert. Möchtest du mich sehen, fragt er sofort.
Mein Land ist im Sterbebett, sagt er, und ich bin ein Flüchter, du bist ein Flüchtling, sage ich, und wenn ich ihn korrigiere, lacht er, zeigt seine schiefen Zähne.
Die Bänke hier sind nicht zerschossen, ausserdem haben sie Lehnen. Wollen wir uns setzen?
Wir sitzen also auf einer der Bänke am See, ein zerfleddertes Wörterbuch zwischen uns, das uns verbindet, und wir denken uns weg vom gegenüberliegenden Ufer, malen uns den Horizont aus, the sea, das Meer, das Dalibor so vermisst, dass er nachts aufwacht und die salzige Luft auf seiner Zunge schmeckt (das schöne Wort für Meer in seiner Sprache: more), er erzählt mir von seinem Meer bei Dubrovnik, und ich erzähle ihm von meinem Fluss, ich habe hier noch nie jemandem von meinem Fluss erzählt, sage ich, und er fährt mir mit seinen ausgesprochen schönen Fingern über die Stirn, und die kleinen Furchen auf deiner Stirn sind wie die winzigen Rinnsale eines Flusses, sagt er, seine Finger, die Zeit haben, so weiss sind, und trotzdem kann ich deine Adern nicht sehen, sage ich, und doch sollten wir baden, sagt er, auch wenn my fantastic body sich gegen Süsswasser sträubt (und ich werde Nomi von Dalibor erzählen, ich werde ihr haarklein alles beschreiben, dass er von my fantastic body spricht, dabei so kindlich lächelt, dass sich seine stolze Überheblichkeit sofort an eine einnehmende Naivität verliert, Dalibor, der so dichtes Haar hat wie Onkel Piri, dessen Augen so sehend sind, dass ich sie immer anschauen möchte, ein Blick, dem ich schon lange nicht mehr begegnet bin), er kann unmöglich Haare an den Beinen haben und am Rücken schon gar nicht, wenn er so weiss ist! und ich, ich erwarte, dass er sich auszieht, sich beiläufig sein Hemd aufknöpft, während er an seiner filterlosen Zigarette zieht, ich erwarte, dass er zu mir sagt, komm schon, nicht so schüchtern, zieh dich aus, ich glaube sogar, dass er mit seinem Blick fähig ist, die Schwäne zu beschwören, sie sollen an Ort und Stelle schwimmen, um uns beim gemeinsamen Bad zuzugucken, ich halte es auch für möglich, dass er den Himmel bittet, sich mit der Dämmerung zu beeilen, damit unsere Körper sich im schönsten Abendrot baden; und Dalibor steht auf, krempelt seine Hose hoch, macht ein paar Schritte Richtung Seeufer, und ich schaue ihm zu, dem Flüchter, wie er seinen Körper fallen lässt, in gebückter Stellung und mit hängendem Kopf nach flachen Steinen sucht, sich wieder aufrichtet, einen Moment lang wie ein Sportler vor dem Startschuss wartet, um dann die Steine fliegen zu lassen, im flachen Winkel, damit sie die Wasser-Oberfläche für einen Sekundenbruchteil berühren, die Kraft dieser Berührung so umsetzen, dass sie sofort wieder in die Luft schnellen, und ich überlege mir, wie man dieses Geräusch von übers Wasser hüpfenden Steinen beschreiben könnte (man hört die Luft, die Geschwindigkeit in der Luft, das spitze, feine Geräusch des Steins, der auf Wasser trifft, ein federndes Geräusch, könnte man sagen, die Energie zwischen den Elementen Wasser, Luft und Materie? aber ich hatte noch nie eine Ahnung von Physik), Dalibor, der sich wieder zu mir dreht, mit seiner hochgekrempelten Hose und einem Stein in der Hand, schau dir diesen Stein an, ist er wertvoll, precious? würde sich irgendwas ändern, wenn es diesen Stein nicht gäbe? was fragst du mich da, antworte ich. Vergiss es, sagt er und wirft den Stein hoch in die Luft, erzähl mir etwas von dir, von deiner Familie in der Vojvodina, weisst du, ich habe einmal einen Freund in Novi Sad besucht, ich habe mich sofort verliebt in diese Stadt, der Stein, der mit einem hellen Geräusch auf die anderen Steine zurück fällt. Ich kenne Novi Sad nicht, antworte ich, meine Familie lebt in einer Kleinstadt, etwa eine Stunde von Novi Sad entfernt, aber meine Schwester lebt da, sie arbeitet beim Radio, mehr weiss ich nicht, ich kenne sie kaum, sie ist meine Halbschwester, sage ich, half-sister. Half? und Dalibor setzt sich neben mich, ganz nah, ich, die riechen kann, dass er schwitzt, sage, ja, sie ist die Tochter meines Vaters aus erster Ehe. Na und, sagt Dalibor, entweder sie ist deine Schwester oder sie ist es nicht, das entscheidest du. Ich komme mir naiv vor neben dir, sage ich. Das ist nicht mein Problem, antwortet Dalibor, und wir drehen uns gleichzeitig zueinander, er fährt mit seiner Hand über meine Wange, murmelt etwas in seiner Sprache.
Ich weiss nicht viel, sage ich, von meiner Familie, und ich zeige mit meinen Fingern, wie wenig ich weiss. Who knows much, sagt Dalibor, erzähl mir das, was du weisst.
Vor drei Wochen hat die Schwester meiner Mutter, meine Tante Icu, uns einen Brief geschrieben — und er ist offenbar angekommen, sagt Dalibor. Sie schreibt, sie müsse sich stundenlang anstellen, wenn sie ihre Rente abholt, und im Februar, als sie endlich an die Reihe gekommen sei, war ihre Rente noch einen Apfel wert. Äpfel habe sie zum Glück noch selber, in ihrer Vorratskammer, sie schreibe uns das nur, damit wir verstünden, wie viel das Geld noch wert sei, nämlich gar nichts, nicht einmal zum Arsch wischen könne man es gebrauchen, dafür sei das Papier zu hart. Und die Nullen hätten gar keinen Platz mehr auf den Scheinen. Es gäbe Leute, die würden sich mit Schlangestehen Geld oder besser das Essen verdienen. Sie würden sich anstellen und dann, wenn sie an die Reihe kämen, dem Meistbietenden den Platz übergeben, für drei Eier, ein Brot, was auch immer, und die, die ihr Geld auf die Art ein paar Stunden vorher abholen könnten, beeilten sich, es schnell wieder los zu werden, sie kauften irgendwas, auch das, was sie gar nicht brauchten, 10 Kilo Bouillon, Knöpfe, Wäscheklammern, ein bisschen Stoff, egal, Hauptsache, das Geld sei wieder weg. Geld sei also keins da, man müsse sich praktisch alles ohne organisieren, sie hätten noch genügend zu essen, aber kein Benzin, die Äcker würden wieder mit Pferden bestellt, kein Öl, keine Kohle, um zu heizen, und ausgerechnet jetzt sei es so kalt, sie müssten im Wald am Flussufer Holz sammeln, was verboten sei, aber wer kümmere sich in dieser Zeit um solche Verbote. Am Schlimmsten sei die Angst, dass die Männer eingezogen würden, Bela habe den Einmarschbefehl schon bekommen, Csaba auch (mein Cousin und der Mann meiner Cousine Csilla, sage ich), Bela sei bei einem Freund untergetaucht, gehe nicht mehr zur Arbeit, und Csaba, der sei über die Grenze geflüchtet, nach Ungarn, und Csilla erleide das Schicksal vieler Frauen, müsse jetzt, in dieser unglückseligen Zeit, mit Nichts für ihre Zwillinge sorgen, und sie selbst könne wenig helfen, der Piri sei scharf wie ein Wachhund und unversöhnlich wie ein schlechter Vater (und ich erzähle Dalibor Csillas Geschichte). Ansonsten, was solle man noch schreiben? es hiesse, die Milch werde teurer, dabei werde das Brot teurer, ja, die schönen Ablenkungsmanöver, sagt Dalibor, es gäbe viele Eltern, die könnten ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken, weil sie das Busücket nicht mehr bezahlen könnten, die Schulen seien halbleer, wir werden dumm, hat Tante Icu geschrieben, wenn wir es nicht schon sind.
Es trifft immer die Falschen, sagt Dalibor, fährt mit seinem Zeigefinger über mein Grübchen beim Hals, in zehn Jahren wird man mehr wissen, und dann ist es zu spät. Erkenntnisse, die nichts mehr bringen.
Wie meinst du das, frage ich.
Für all die Toten, für sie kommt jede Erkenntnis zu spät… aber du kannst froh sein, dass eure Stadt noch nicht geteilt ist wie viele andere Städte, It is evident, sagt Dalibor, dass man Städte, ein ganzes Land nicht nach Ethnien aufteilen kann, und wenn man dies tut, hat man den nackten Wahnsinn des Krieges. Und die demokratischen, westeuropäischen Politiker, die diese Aufteilungen zulassen, sich mit den kriegstreiberischen Nationalisten an einen Tisch setzen. Sag mir, warum nicht mit den Oppositionellen, die die demokratischen Werte suchen, tell me?
Wir nehmen Dalibor mit, Mitte Mai, ins Wohlgroth, weil wir hoffen, dass wir in unserem Lieblingscafe Arbeit für ihn finden, wo er zwar wenig oder fast nichts verdienen wird, aber wenigstens eine Arbeit hat, und wir versuchen ihm zu erklären, worum es geht, dass das Haus besetzt ist, mehrere Häuser, eine ehemalige Fabrik, dass etwa hundert Menschen da leben, von den Konzerten erzählen wir ihm, der Volxküche, es sei ein Versuch, sagen wir, die Dinge selber in die Hand zu nehmen, wir sprechen mit Händen und Füssen und Englisch und dem serbokroatischen Wörterbuch, Nomi und ich, wir spüren, dass wir eine Aufgabe haben, nämlich ein politisches Programm zu erklären, wir legen uns fürs Wohlgroth ins Zeug, ich vor allem, als müsste ich einen hiesigen, konservativen Politiker von dessen Wichtigkeit überzeugen, dabei tue ich das, was die meisten Politiker tun, die Dinge beschönigen (aber das fällt mir erst jetzt auf, im Nachhinein, dass ich mich im Grunde jedes Mal, wenn ich im Wohlgroth war, schutzlos fühlte, am ganzen Körper angreifbar, Angst hatte, dass jeden Moment etwas passieren könnte, ein Hund mich anfällt, zwei Hunde mich in die Enge treiben, ein Mensch mich mit hungrigem Blick fixiert, du siehst nicht so aus wie wir, was hast du hier zu suchen? aber da war der drängende Wunsch, einen Ort zu haben, der mich definiert), und als wir im Hauptbahnhof aus dem Zug steigen, bleibt Dalibor auf dem Perron stehen, er schaut durch uns hindurch, schaut in die Richtung, aus der wir eingefahren sind, dreht sich dann in die andere Richtung, ich mag diese Bahnhöfe nicht, die einen gefangen nehmen, sagt er, zu den Tauben, zum Perron, auf jeden Fall nicht zu uns, und Dalibor schaut sich die Überdachung des Bahnhofs an, die Bänke, die Gepäckwagen, die man mit Münzen füttern muss, er dreht seinen Kopf zu den kleinen, grauen Lautsprechern, die in bestimmten Abständen den Perron säumen und mir noch nie aufgefallen sind, it's better than sightseeing, sagt Dalibor lachend, hakt sich dann bei uns ein, and now, let's try to get a job!
Ein paar Stunden später schreien wir uns an im Keller, es ist unmöglich, brüllt Dalibor, und ich erinnere mich, dass ein grünes Licht über sein Gesicht zuckte, ich kann an so einem Ort nicht arbeiten. Warum hast du mir das nicht oben gesagt, im Cafe, schreie ich zurück, halte mein rechtes Ohr zu Dalibor, schaue zur Bühne, auf der ein Typ mit mehrfarbigem Haar tanzt, mit seinem Mikrofonständer, er presst seine Stimme, bis sich dicke Adern zeigen, an seinem Hals, weil ich es nicht glauben konnte, dass ihr davon überzeugt seid, ich könnte hier arbeiten, so Dalibor. Du würdest also lieber im Mondial arbeiten, schreie ich. Hundert Mal lieber, und Dalibor schreit fast so laut wie der Sänger, und ich, die Dalibor an der Hand fasst, ihn Richtung Ausgang zieht, das Konzert ist noch nicht fertig, sagt er, doch, antworte ich, für uns schon, und ich ziehe ihn die Treppe hoch, ich muss mit dir reden.
Hör mal, warum sitzt du am Tisch, lässt dir alles erklären, sagst, du hättest schon im Service und im Buffet gearbeitet, fragst sogar, an welchen Tagen du arbeiten könntest, du fragst und lächelst, schaust dich um, und ich nehme an, dass es dir gefällt, du stellst dich dem Barkeeper vor, schaust auf die Gleise, man hätte einen schönen Ausblick von hier oben, sagst du, du machst mit dem Barkeeper ab, dass du nächste Woche probeweise ein paar Tage arbeiten würdest, und jetzt? (und ich fluche auf Ungarisch), ich versteh dich überhaupt nicht mehr, sage ich, werfe meine Hände in die Luft, und wir sitzen auf einem Sofa, im Innenhof, heute brennt kein Feuer, denke ich und sehe Mark, mit den Händen in den Hosentaschen, bei einer Gruppe stehend, mich beobachtend, Dalibor, der sich eine Zigarette anzündet, wer ist der Typ da drüben, fragt Dalibor, zieht an seiner Zigarette, is he your hero? und er zeigt mit der Zigarette Richtung Gruppe, zu Mark, ich habe keinen Helden, antworte ich und ärgere mich, dass ich ihm eine Antwort gegeben habe, aber du lenkst ab, sage ich (und es war der erste warme Maiabend, und einen Moment lang dachte ich daran, Dalibor zu erzählen, dass ich die Akazien liebe, den süssen, schweren Duft dieser winzigen Blüten, dass Akazienhonig mein Lieblingshonig ist, die helle Farbe, seine flüssige Konsistenz, aber ich habe es ihm nicht gesagt, dass der erste süsse Geschmack, an den ich mich erinnern kann, Akazienhonig ist, auf einer dicken Brotscheibe, die Mamika mir geschnitten hat), Dalibor, der sich auf dem Sofa zurücklehnt, dem Himmel Rauchzeichen schickt, dieser Ort ist schlecht für mich, sagt er, ich kann die Leute hier nicht ernst nehmen, das ist nicht gut, weder für sie noch für mich, und ich weiss auch nicht, wie ich dir das verständlich machen soll, danke für eure Hilfe. Dalibor, der mich jetzt anschaut, wo ist deine Schwester? mit ihrem Freund verschwunden, antworte ich. Und ihr kommt also oft her? fragt Dalibor, hält mir seine Zigarette hin, ziemlich oft, oft genug, um zu wissen, dass es hier ein paar nette Leute gibt, die etwas verändern wollen in der Gesellschaft.
Ich weiss nicht genau, worüber du dich ärgerst, sagt Dalibor. Wahrscheinlich nur darüber, dass du sagst, im Mondial wäre es besser, so meine Antwort.
Besser, weil ich arbeiten will, nur das. Ich will mir keine Gedanken machen über mögliche Gesellschaftsformen und dabei zusehen, wie die Hunde überall hinscheissen; ich will nicht wissen, ob es eine bessere Gesellschaft geben könnte, weil ich nicht daran glaube, but look, your hero is coming! Mark, der tatsächlich in unsere Richtung kommt, na, Ildi, wie geht's, sagt er, willst du mir deine Begleitung nicht vorstellen? den hab ich noch nie hier gesehen. Du wirst ihn auch nicht wieder sehen, antworte ich, er ist zum ersten und zum letzten Mal hier. Squat? aus dem Ausland? fragt Mark. Ja, und ich stelle die beiden einander vor. Wir sind grad am Aufbrechen, sage ich, will ihm sonst noch was zeigen von der Stadt. Was denn, die netten Gässchen in der Altstadt? oder die schönen Fenster des Grossmünsters? Nein, das Sihlwiesli, antworte ich, da, wo den Verbrechern früher der Kopf abgeschlagen wurde. Und Mark lacht, gegen seinen Willen, und ich schaue zu, wie Dalibor aufsteht, sich mit abwesendem Blick wegdreht, losgeht, Richtung Ausgang, und erst, als Mark: Dein Begleiter macht sich selbständig, sagt, realisiere ich, dass Dalibor weg ist.
Du kannst mir nicht erzählen, dass da nichts läuft, sagt Mark, schaut mich an, direkt, vergisst, seine Maske aufzusetzen, streckt seine Hand aus, du bist für mich… sagt Marks Mund, Mark, sage ich und berühre seine ausgestreckte Hand mit meinen Fingerspitzen, es geht nicht, ich fühle — nichts, willst du sagen, unterbricht mich Mark, nicht genug, so ich. Und ich, die aufsteht, sage, dass wir uns vielleicht einmal wiedersehen, dass es mir leid tue, und ich hätte es ihm schon früher sagen müssen, denke ich, ich hätte es dir früher sagen müssen, so ich, das Konzert ist zu Ende, und Mark nickt zu den Leuten, die aus dem Keller strömen, mit verschwitzten Gesichtern, Mark, der sich aufs Sofa fallen lässt, ich, immer noch vor ihm stehend, Mark, der seine Augen schliesst, sein Gesicht, das im nächsten Moment nass ist, du hättest gar nicht mit mir anfangen sollen, sagt er leise, du hast es damals schon gewusst, schon nach unserem ersten Mal (bei Mark zu Hause, in seiner Zweizimmerwohnung, an der befahrensten Strasse der Stadt, wo die Lastwagen und Autos von sechs Uhr früh bis Mitternacht mitten durch die Wohnung donnern), du bist aufgestanden, hast dich in die Küche gesetzt und hast geweint, ich hab dich beobachtet, sagt Mark, mit geschlossenen Augen, der Innenhof, der sich immer mehr füllt, ein Paar, das sich schmusend aufs Sofa wirft, ich gehe jetzt, vielleicht sehen wir uns mal, an der Uni, sage ich, und Mark, der jetzt seine Augen öffnet, ja, sagt er, geh endlich, ich weiss gar nicht, warum du immer noch hier stehst!
Und dann, dann bin ich mehrere Stunden gegangen, ich habe mich leicht gefühlt, warm, wärmer als die Luft, wahrscheinlich weil meine Schritte schnell waren, und die Uhren am Bahnhof zeigten mir, dass es spät war, nach zwei, und mir fielen die gefleckten Gehsteige auf, all die zertretenen Kaugummis, ein Taxifahrer, der über seinem Steuerrad eingenickt war, ist nicht viel los heute, sagte ein anderer, der an seiner Wagentür lehnte, rauchte, ist zu warm heute, und ich nickte, und ich war überzeugt, dass ich Dalibor einholen könnte, ich ging, ging immer schneller, vielleicht bin ich zwischendurch sogar gerannt, ich habe mich gefragt, was ich an dieser Stadt liebe, ein paar Orte, die in keinem Reiseführer vorkommen, ein Tramdepot, eine Allee mit riesigen Platanen, eine nackte Frauenstatue, die mitten auf einer kleinen Wiese steht, ein paar Ramschgeschäfte, die ich regelmässig mit Nomi aufsuche, die öffentlichen Verkehrsmittel, mit denen man überall und pünktlich hinkommt, und erst kürzlich ist mir aufgefallen, dass Städte für mich als Ganzes nie existieren, sondern dass sie zerfallen, in winzige Orte, die ich mag, und ich schaue auf meine Schuhspitzen, ausgelatschte, rote Converse, die mich durch die Nacht tragen, und ich will blindlings durch die Stadt gehen, so lange, bis ich bei Dalibor bin, und ich werde ihm in die Arme laufen, davon bin ich überzeugt, und wenn wir uns heute nicht wiedersehen, dann sehen wir uns nie wieder, denke ich, und dieser Gedanke muss schnell wieder weg, ich muss mich auf ihn konzentrieren, auf seine weisse Haut, auf die Art, wie er seine Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger hält, seine Lippen, die immer leicht zittern, wenn sie erzählen, es ist unmöglich, jemanden aus den Augen zu verlieren, wenn man ständig an ihn denkt, Dalibors Ohren, die so aussehen wie weiche, verletzliche Wesen, Schmuckstücke, habe ich zu ihm gesagt, ihm das Wort auf Englisch zu erklären versucht, meine Ohren sind wertvoller als Diamanten, hat er geantwortet, gelacht, die dunklen Spuren auf seinen Zähnen, der schiefe Rhythmus seiner Zähne, ein Klavier im Mund haben, so sagt man, das Bild stimmt nicht, denke ich, warum fängt meine Liebe zu ihm bei den Zähnen an, frage ich mich, die Augen, ja, logisch, aber die Zähne? und meine Schritte werden immer schneller, meine Converse treiben mich an, seit Matteo hast du dich nie mehr verliebt, sagen sie, und es klingt wie Spott oder eine spöttische Wahrheit, Matteo, das ist sehr, sehr lange her, Matteo und Dalibor, und wenn ich mir die beiden nebeneinander vorstelle, sehen sie sich zum Verwechseln ähnlich, es gefällt mir, dass sie sich in meiner Vorstellung ähneln, Matteo, von dem ich nichts weiss, nur, dass er seit Jahren wieder in Italien lebt, und ich gehe am Fluss entlang, strecke meine rechte Hand zum Geländer, lasse sie da, während ich weitergehe, das Eisen, das kalt ist, kälter als das Wasser? Matteo, der ganz plötzlich weg war, es hiess, die Familie de Rosa habe sich nicht eingelebt, Matteo, den ich am Waldrand getroffen hatte, am See, in der Unterführung, und wir küssten uns auf Ungarisch oder Italienisch, das heisst, wir brachten uns die wichtigsten Wörter bei, und Nomi und ich, wir spielten Pingpong im Freibad, als Matteos Schulfreund uns erzählte, dass sie abgereist seien, Matteo und seine Familie, und ich, die den Pingpongschläger in der einen Hand hielt, den kleinen weissen Ball in der anderen, Matteo, der mir nicht gesagt hatte, dass sie weggehen würden, kein Wort, und Nomi nahm mir den Schläger aus der Hand, hängte sich mit ihrem Zeigefinger an meinen Daumen, er kommt bestimmt wieder, sagte sie, und ich war ganz sicher, dass im nächsten Moment irgendetwas Wesentliches mit mir geschehen würde, das unübersehbar wäre, das kleine Wesen, das gegen meinen Brustkorb hämmerte, würde aus mir herausspringen, und ich hätte eine Wunde, auf die ich zeigen könnte, aber ich weinte nicht einmal; ich hörte dem vergnügten Kreischen der Kinder zu, die schaukelten oder an der Kletterstange turnten, ich sah ihre kleinen, farbigen Werkzeuge, mit denen sie Burgen bauten, Löcher schaufelten, komm, wir holen uns ein Eis, sagte Nomi, zog an meinem Finger, und ich fühlte, dass meine erste Liebe endgültig vorbei war, damals war ich dreizehn Jahre alt.
Ich ziehe meine Hand zurück, gehe schneller, will nicht mehr an Matteo denken, sondern an Dalibor, ich drehe mich um, strecke meinen Daumen in die Luft, drehe mich wieder um, als ein Auto an mir vorbeifährt, und ich gehe noch eine ganze Weile, bis mich ein Paar mitnimmt, in seinem weissen Käfer.
Dalibor sitzt, wie ich gehofft habe, am See, da, wo wir uns bis jetzt meistens getroffen haben, auf den Steinen sitzt er mit angezogenen Beinen, raucht, singt eine kleine Melodie vor sich hin. Ich bleibe hinter ihm stehen, und alle zurechtgelegten Sätze sind weg, Dalibor, den ich noch nie singen gehört habe, sein Sprechgesang, der der Frühlingsluft, dem dunklen See etwas in seiner Sprache erzählt (alle Lieder aller Sprachen müsste man doch verstehen, denke ich, Gott, der seine babylonische Sprachverwirrung auf die gesprochene Sprache hätte beschränken müssen; Dalibors Lied ist so schön und absichtslos gesungen, berührt mich so sehr, dass ich es unerträglich finde, seine Worte nicht zu verstehen). Als es eine ganze Weile wieder still ist, am gegenüberliegenden Seeufer nur noch wenige Lichter brennen, frage ich Dalibor, worüber hast du gesungen? Dalibor, der sich umdreht — und ich bin mir sicher, dass es die weich gesungenen Töne sind, die seine Gesichtszüge verändert haben —, mein Lieblingslied, sagt Dalibor, es erzählt vom Meer, dass es tief ist, weit und grausam, und er streckt seine Hände nach mir aus, wir umarmen uns, flüstern uns einzelne Worte ins Ohr, wir küssen uns, zum ersten Mal, es ist schön, dass du hier bist, wir küssen uns mehrsprachig, ich habe mich in dich verliebt, auf Ungarisch, Deutsch, Serbokroatisch, Englisch.