Juli

Mit unserem silbergrauen Mercedes fahren wir los, im April 1989, Vater und ich, das heisst Vater fährt, und ich sitze neben ihm, bin bereit, die Strassenkarte zu zücken, zu verhindern, dass wir uns verfahren, ich, die Autofahren schon immer verabscheut hat, versuche, mich zu konzentrieren, den Fahrer, meinen Vater, nicht mit unnötigem Geschwafel abzulenken. Wir fahren über München, sagt er kraftlos und: Schalt das Radio an, damit wir hören, was sie über den Verkehr sagen.

Sie sagen nichts Spezielles über den Verkehr, aber über das Wetter, dass es stürmen werde, schneien möglicherweise. Hast du Töne, sagt mein Vater, schneien! das hat uns gerade noch gefehlt. Und im geeigneten Moment strecke ich ihm die Wasserflasche hin, typisches Aprilwetter, sage ich. Kr nippt an der Flasche, antwortet, dass der April uns mit seinem Scheisswetter verschonen könnte, ja, da hat er Recht, denke ich (wir hätten auch nach Beograd fliegen und dann mit dem Bus weiterfahren können, aber Vater flucht, wenn es um's Fliegen geht, sind wir mit Beinen oder Flügeln zur Welt gekommen? und es bringt gar nichts, wenn man ihm sagt, dass Räder auch nicht unbedingt zu unserer Natur gehören).

Wir fahren, fahren sprachlos. Wenige Kilometer nach München machen wir einen kurzen Halt in einem kleinen Kaff, trinken Kaffee, rauchen. Ich suche nach einem Wort, das der Anfang eines Gesprächs sein könnte, ich, die diese Kaffkneipenatmosphäre schon immer verabscheut hat, blättere in der Speise- und Getränkekarte, lese ein paar Gerichte vor, die ich nicht kenne, und Vater fragt mich, ob ich etwas essen wolle, nein, antworte ich, ich hätte keinen Hunger. Und eigentlich will ich mit Vater über die Speisekarte reden, über das, was uns beiden vertraut ist, aber er zieht an seiner Zigarette, schaut an mir vorbei, und seit gestern hat sich hinter seinen Brillengläsern etwas Neues aufgetan, etwas völlig Unbekanntes, woran er mich, da bin ich mir sicher, nicht beteiligen möchte. Vergiss nicht, aufs Klo zu gehen, sagt er und nimmt die Brille von der Nase, reibt sich die Augen, ich möchte bis Salzburg durchfahren. Gut, antworte ich, drücke meine Zigarette aus, so, dass sie nicht mehr weiterqualmt, und einen Moment lang schaue ich meinem Vater in die schutzlosen Augen, und ich würde gern einen Trost finden, mein Herz würde ihn gern geben, diesen Trost, jetzt, da mein Vater ein hilfloses Kind ist, aber ich, ich bin auch ein hilfloses Kind, seines, wenigstens das würde ich ihm gern sagen, ich stehe auf, verschwinde rasch Richtung Toilette.

Es fängt tatsächlich an zu schneien, die Flocken wirbeln gegen die Frontscheibe, bevor der Scheibenwischer im raschen Takt und für kurze Momente wieder freie Sicht verschafft. Wenn diese Hunde wenigstens lügen würden, sagt mein Vater, Ildi, schalt das Radio wieder an, damit wir wissen, ob wir hier noch eingeschneit werden (und ich überlege mir, ob das passen würde, dass wir beide, mein Vater und ich, stecken bleiben, nicht mehr weiter kommen würden, ja, denke ich, es würde passen zu unserem Leben, es wäre sehr gut möglich, dass wir nicht mehr weiter kommen, dass uns das Schicksal zwingt, still im Auto zu sitzen, im Wissen, dass unsere Familie vergeblich auf uns wartet), und wir hören den Sprecher, der die Witterungsverhältnisse als schwierig bezeichnet, man solle vorsichtig fahren, sagt er; ich fresse gleich deinen Schnabel, flucht mein Vater, welcher Idiot fährt jetzt nicht vorsichtig? Sag uns lieber, wann uns der Himmel wieder in Ruhe lässt, und ich halte meinem Vater die Wasserflasche hin, er winkt ab, hab ich Durst, wenn es so schneit? Und ich, ich sehe Mamika vor mir, die in ihrem festlichsten Kleid aufgebahrt liegt, die Schneeflocken bedecken ihr Gesicht, tun ihm nichts an; ich frage mich, ob sie sie morgen aufbahren, wenn das Wetter so bleibt, ich frage mich, ob Osterglocken auf dem Markt bereits erhältlich sind, wahrscheinlich nicht, Traubenhyazinthen, die Mamika so geliebt hat, würde ich vermutlich bekommen. Mein Vater fährt immer langsamer, da der Schnee immer dichter fällt, so kommen wir nie an, und er schnappt sich eine Zigarette, presst sie zwischen die Zähne, und seine Geste zeigt, dass es jetzt nichts Dringenderes zu tun gibt, als eine Marlboro zu rauchen, um die Nerven nicht zu verlieren, der bläuliche Qualm, der hilflos gegen die Frontscheibe wirbelt, was soll ich tun, fragt Vater unvermittelt, und ich, die vor lauter Überraschung fast nicht antworten kann, sage: Warten.

Warten? auf wen? worauf? flucht Vater nach einer kurzen Pause, er muss seinen Flüchen freien Lauf lassen, die Wörter, die wüsten, derben, fliegen wie flinke Fische aus seinem Mund, und ich habe ihm nie gesagt, dass ich nichts lieber höre als seine Verwünschungen und Flüche; in diesen Momenten nämlich, wenn Vaters Zunge vor Aufregung federnde Geräusche produziert, den Kommunisten oder sonstigen Verbrechern der Menschheitsgeschichte Beine macht, aber hoppla! dann weiss ich, dass es etwas an ihm gibt, das ich verstehe, und ich wünschte mir, ich könnte Vaters Flüche hörbar machen, so in die andere Sprache übersetzen, dass sie wirklich glänzen — Stalin, schickst du uns einen sibirischen Gruss aus deinem unterkühlten Arsch, willst du uns jetzt schon die Laune verderben, noch bevor wir angekommen sind, Adam und Eva, die immer noch unschuldig und besitzlos sind, nackt in deinem sozialistischen Paradies herumlaufen? — , aber sollte mir das nie gelingen, so bin ich mir immerhin sicher, dass Vater losballert, um zu verhindern, dass seine Muttersprache auskühlt, solange das Fluchen noch fliesst, können die geliebten Wörter doch unmöglich absterben, oder? (Und wenn es möglich wäre, Vaters Wendungen in die andere Sprache, ins Deutsche zu überführen, dann könnte ich ihm zeigen, dass ich seine Art, sich fluchend oder schweigend mitzuteilen, verstehe. Wenn nämlich bereits ein Wort keine Entsprechung findet, wie soll dann ein halbes Leben in der neuen Sprache erzählt werden? dann kann nur das Schweigen oder die verkürzte, dramatische Form des Fluches davon erzählen, wie es gewesen ist, wie es gewesen sein könnte; das würde ich Vater sagen, und wahrscheinlich wäre er erstaunt darüber, dass ich mir über ihn, über seine Sprache Gedanken mache.)

Der Rastplatz, auf dem Vater unseren Wagen schliesslich zum Stillstand bringt, ist fast voll, wir werden also warten, bis Gott wieder lächelt, sagt er und stellt den Motor ab, seine Hände, die reglos auf dem Steuerrad bleiben, seine Finger, die auffällig kurz und kräftig sind, ob er ein Eingeklemmtes wolle, frage ich ihn, wir hätten Schinken oder Salami, und Vater antwortet, dass das hier eine merkwürdige Versammlung sei, und deutet mit seinem Blick auf die Autos, die zu Dutzenden stillstehen, deren Kühlerhauben schon zentimeterdick mit Schnee bedeckt sind, Schinken sei ihm jetzt lieber, und als Vater sein Eingeklemmtes auspackt, bricht er in Tränen aus.


Die Frühlingsnacht war sternenlos, und ich erinnere mich, dass mir, als ich meine Zimmertür öffnete, die kugelförmige, funktionale Hässlichkeit der Laterne, die den schmalen, von Hainbuchen gesäumten Fussweg beleuchtete, erstmals auffiel, da der Rollladen des Korridorfensters ungewöhnlicherweise nicht heruntergelassen war; meine Annahme, die mich, als ich lesend auf dem Bett lag, augenblicklich fassungslos machte, dass es Vater sein könnte, den ich weinen hörte — ich, die meinen Vater bis anhin nur fluchen, schimpfen, schnarchen, lachen, summen gehört hat, blieb in der Zimmertür stehen, dachte, dass die Laterne in ihrer Hässlichkeit verloren wirkte, weil niemand da war, dem sie den Weg erhellen konnte.

Mutter sass Vater gegenüber, am kleinen runden Tisch im Korridor, versuchte, ihn zum Sprechen zu bringen, versuchte, ihm den Hörer aus der Hand zu nehmen. Vater aber schien sich direkt an den Hörer zu klammern, während sein Schluchzen in die Sprechmuschel fiel.

Es dauerte lange, bis Vater etwas sagen konnte, und in dieser Ewigkeit, in der sein Kopf in einer grotesken, hilflosen Bewegung zitterte, sich sein Körper vom Schluchzen verkrampfte, hätte ich mich gern wieder ins Zimmer verzogen, wäre gern, wie es Kinder tun, unters Bett gekrochen, um mit allem etwas zu tun zu haben, nur nicht mit der Wirklichkeit. Aber ich, ich blieb reglos stehen, liess es zu, dass mein Kopf aus der Strassenlaterne einen Mond formte, der uns mit einem grässlichen Mund angrinste, ich verhinderte es nicht, dass meine geliebten Bäume zu Schatten erstarrten. Und ich hielt es sogar für möglich, dass der Mond sprechen konnte. Oder war es nur Vaters Mund, der endlich den Satz hervorbrachte: Mamika ist gestorben.


Ein guter Pfarrer ist einer, der die richtigen Worte findet und dann schweigt, hat Mamika einmal gesagt, als ich sie als Kind gefragt habe, warum sie immer von "unserem guten Herrn Pfarrer" spricht. Daran denke ich, als ich mit gefalteten Händen zusehe, wie zwei Männer Mamikas Sarg an robusten Seilen in die ausgehobene Erde hinunterlassen und die Umstehenden, die Überlebenden, je mehr sich der Sarg in die Tiefe bewegt, von einer immer heftigeren Gemütsregung erfasst werden (und 1989 wird in meine persönliche Geschichte eingehen, sicher werde ich später, wenn ich mich an 1989 erinnere, an den Mauerfall denken, an meine Verwunderung, dass Schweizer Studenten in ihrer Euphorie, ihrem Hunger nach Berlin reisen, um den Fall der Mauer mitzuerleben, um zu jubeln, dass sie jetzt bei einem historischen Moment dabei sein können; sicher werde ich an vieles denken, das 1989 geschah, aber in meiner Geschichte wird in diesem Jahr Mamika gestorben sein, ich werde für mehr als ein Jahrzehnt das letzte Mal in meiner Heimat gewesen sein, und meinen Vater werde ich so gesehen haben wie noch nie zuvor), aber ich will mich weigern, traurig zu sein, als ich die Aufschriften lese, die die Schleifen der Blumenkränze schmücken, Deine Dich liebenden Söhne, ruhe in Frieden; unsere liebe Frau Anna, die von uns gegangen ist, schluchzt eine von Mamikas Freundinnen. Deine Dich liebenden Enkelinnen, denke ich und drücke mich in meine Schuhe, warte auf den geeigneten Moment, um die winzigen, blauen Blümchen auf den Sarg zu werfen, der unerwartet dumpfe Aufprall des Sträusschens, an den ich mich heute noch erinnere, und in Gedanken singe ich eines von Mamikas Lieblingsliedern: Wenn ich ein Fluss wäre, wäre Schmerz mir fremd, zwischen Bergen und Tälern würde ich leise /Hessen, die Ufer umspülen, die Gräser zum Leben erwecken, den durstigen Vögeln Wasser schenken…

Und nachdem alle eine Handvoll Erde auf Mamika geworfen haben, die einen noch mit gedämpften Stimmen etwas zu Mamikas beschwerlichem Leben zu sagen gewusst haben und andere, so auch mein Vater, immer wieder von den Tränen überwältigt worden sind, setzen wir uns, an diesem bitterkalten Apriltag 1989, endlich wieder in Bewegung; die Kastanienbäume, deren schüchterner Frühling durch den gestrigen Wintereinbruch gestört worden ist, die aber durch ihr leuchtendes Weiss die Schwere unserer Trauergesellschaft glücklicherweise nicht ernst nehmen.

Mein kleines Mädchen, sagte Mamika, Wasser ist Gold.

Ich, die gelernt hat, Wasser vom Ziehbrunnen zu holen, nicht zu trödeln, sich nicht ablenken zu lassen von den Rosen, den Nachtviolen, die neben dem Ziehbrunnen wachsen, von der Katze, die spindeldürr mit gestrecktem Schwanz um meine Beine streicht, die Mamika bei jeder Gelegenheit als Schmarotzerin und Taugenichts beschimpft, ich trage die emaillierte, bis zum Rand gefüllte Kanne mit beiden Händen, Füsse, die langsam, aber stetig vorwärts trippeln, um ja nichts zu verschütten, keinen einzigen Tropfen, flüssiges Gold, sagt Mamika, als sie sich nach mir mit dem trüben, seifigen Wasser wäscht, im Badezimmer, das gleichzeitig die Küche ist, meine Augen, die nicht hinsehen wollen, nur neugierig und schamvoll blinzeln, um ein kleines bisschen Gold von Mamikas Haut zu stehlen. Warum ziehen Sie Ihr Unterkleid nicht aus? frage ich, meine Grossmutter, die ihren Zopf gelöst hat, deren graues Haar bis zu den Hüften reicht, sagt, Liebes, geh in den Garten, spiel etwas Schönes, geh schon! Und ich schiebe meinen senfgelben Schemel zur Hauswand, besteige ihn, halte mich zuerst gebückt, strecke mich dann langsam, ziehe den geblümten Vorhang des geöffneten Küchenfensters zur Seite, Mamika, die sich über die Emailleschüssel beugt, und ich kann ihren nackten Rücken sehen und ihre überdimensionierte Unterhose, rosafarben, eine Art Kosakenhose, die wegen dem sich unterhalb der Knie befindlichen Gummizug hässlich pludert. Und ich wünsche mir augenblicklich, diese Unterhose nie gesehen zu haben, weil sie in ihrer Grösse und Unförmigkeit beschämend ist, meine zierliche Mamika, die völlig unverständlicherweise in diesem Sack steckt, in dem man leicht zwei mal zwei Hühner verschwinden lassen könnte. In dieser Unterhose dürfte sie in der Schweiz nicht einmal schlafen, dachte ich damals, und dieser Gedanke kam mir gemein vor, gemein, aber logisch.

Warum fällt mir gerade das ein? und ich hebe den Kopf, um den Himmel zu sehen in seiner Ratlosigkeit, mein Vater, der sich bei mir einhakt, es nicht vermeidet, mich mit verweinten Augen anzuschauen, und wir entfernen uns langsam von Mamikas Grab, Cousins, Cousinen, nahe und entfernte Verwandte, Grossonkel Pista, der letzte noch lebende Bruder von Mamika, Onkel Móric, der seinem Bruder — meinem Vater — die Hand auf die Schulter legt, und ich weiss später nicht mehr, ob dieses monotone, fast lautlose Gehen unserer Familie, der Gang eines Kollektivs, das durch den Verlust eines geliebten Menschen nur noch den beschwerlichen Lauf der Dinge spürt, dafür verantwortlich ist, dass die Tränen plötzlich aus mir herausbrechen, als hätte ich noch nie in meinem Leben geweint; oder ob es womöglich Juli ist, die kindliche Idiotin! die sich beim Friedhofsausgang am rostigen Metallzaun festklammert und mit einer unheimlichen Stimme nach meiner Grossmutter ruft: kedves Panni neni, Panni neni, kedves Panni neni (geliebte Frau Anna — Mamika, die uns oft ermahnt hat, Juli nicht zu verspotten, Gott sucht sich manchmal ganz besondere Geschöpfe aus, um mit uns zu sprechen, sagte sie), Julis Rufen, das von einem glasklaren Wimmern unterbrochen wird, als würde das Leben nur noch die Sprache des Schmerzes kennen, ich, die nicht mehr aufhören kann zu weinen, vielleicht, weil Julis Füsse der Kälte schutzlos ausgesetzt sind, ihre Zehen sich über ihre offenen, ausgelatschten Schuhe krümmen, und ich würde etwas darum geben, wenn Juli mich mit ihren von der Zeit unbeeindruckten Augen anschauen, mich um ein Zückerchen bitten würde, aber ihr Jammern zerrt am Gesetz des Masshaltens, das in solchen Momenten das eigene Überleben sichert — denn es darf nicht unerträglich sein, einen geliebten Menschen zu verlieren —, und ich kann nicht mehr aufhören zu weinen, weil Juli mich unerbittlich daran erinnert, dass jetzt ein Leben, mein Leben ohne Mamika beginnen muss.

Kann man von einem Tag auf den anderen, von einer Nacht auf die nächste in ein neues Leben hineinfahren? Das frage ich mich, damals war es eine unbestimmte Aufregung. Wir fahren in die Schweiz, sväjcba, haben Sie zu uns gesagt, nachdem sich Onkel Móric an einem Nachmittag in Ihre Küche gesetzt hat, die Papiere, a papirokat, auf den Tisch gelegt hat, die er auf der Botschaft in Belgrad abgeholt hat. Ist alles gut gegangen, haben Sie ihn gefragt, ja, hat er geantwortet, und ich sehe heute noch, wie der schmutzig weisse Umschlag auf Ihrem Küchentisch liegt, neben der Flasche, dem Schnapsgläschen, das Onkel Móric in einem Zug geleert hat. A papirok, die Papiere, das war immer etwas anderes gewesen als alles andere, der wacklige Küchentisch, die weiss-blaue Emailleschüssel, die Tassen aus Blech, der Haussegen mit seinen farbig glänzenden Buchstaben, die Kredenz, in der Sie alles Kostbare aufbewahrt haben, und jetzt lagen sie also auf dem Tisch, die Papiere, so leicht und ohne Anzeichen, dass sie etwas Besonderes bedeuteten. Und auch an diesem Abend, als der Umschlag auf dem Tisch liegen blieb, haben wir Brot gegessen, Käse, wir haben die Nachtvorhänge zugezogen, Nomi und ich haben uns nebeneinander ins Bett gelegt, und Gott hat uns zugezwinkert, während dem Beten, Sie haben uns mit Ihrer warmen Hand die Wangen gestreichelt, vielleicht lagen wir wach, alle drei, vielleicht haben wir geschlafen.

Sväjcba, hatten Sie manchmal gesagt, Vater und Mutter seien in der Schweiz, in einer besseren Welt. Und wissen Sie, wie ich mir diese bessere Welt vorgestellt habe? "Besser" bedeutete für mich einfach "mehr". Mehr von allen guten Dingen, die ich kannte. Vater und Mutter lebten in einem Land, in dem es mehr Schweine gab, mehr Hühner, mehr Gänse, da musste es Unmengen von Weizen geben, Mais, Sonnenblumen, der Klatschmohn wuchs überall. In den Speisekammern hingen unzählige Würste, grosse, wohlriechende Schinken, die Einmachgläser türmten sich auf den Regalen, in der Schweiz gab es sicher nicht nur freitags Palatschinken, sondern jeden Tag; trotzdem bedeutete es mir nichts, wenn Sie sagten, dass Mutter und Vater Nomi und mich bald abholen würden. Ich ging raus, in den Garten, um den Satz rasch zu vergessen.


Mutter und Vater haben uns nicht abgeholt, sondern Onkel Móric hat uns nach Belgrad gefahren, uns und unsere Taschen, und er hat viel geredet, während dieser Fahrt im November, und die Pappeln und die Linden, die Akazien, die graue Luft dazwischen, die leeren Felder, die rauchenden Häuser und ich, die Cicu mitnehmen wollte, die spindeldürre Katze, ich habe geweint, weil ich Cicu nicht mitnehmen durfte, was willst du mit so einer struppigen Katze in der Schweiz, hat Onkel Móric vermutlich gesagt und gelacht, und wir haben uns, bevor wir uns in den roten Moskwitsch unseres Onkels gesetzt haben, von allem verabschiedet. Nicht so, wie man sich das vorstellt, wir müssten dringend nochmals aufs Klo, obwohl wir erst gerade auf dem Klo gewesen waren, und auf dem Weg zum Klo lag der Schweinestall, unsere Zehen, die täglich mehrmals den Schweinchen in die Augen geschaut hatten, weil sie zwischen zwei Brettern des Holzverschlags steckten, die grunzenden, ständig sich bewegenden Nasen, die an unseren Zehen rochen, uns kitzelten, und weil die Schweinchen uns kannten, haben wir ihnen Namen gegeben, Schwarzfleckschweinchen, das Schweinchen mit den zerknitterten Ohren, das Hinkeschweinchen, und weil kein Schwein so war wie das andere, verzogen wir uns in die Küche, wenn Onkel Móric oder ein Metzger aus der Gegend kam, um sie aus dem Stall zu treiben, auf einen kleinen Laster, im Innenhof von Onkel Móric oder des Metzgers wurden sie geschlachtet, und Sie, Mamika, hatten an diesen Tagen immer viel zu tun, auch Sie waren aufgeregt, weil Sie die Schweinchen quietschen hörten, so hoch und schneidend und langgezogen, wie eben nur die Schweine quietschen können, die wissen schon, was jetzt kommt, haben Sie zu uns gesagt — und es war sicher eines jener grundsätzlichen Dinge, die wir bei Ihnen gelernt haben, dass man mit den Tieren mideiden kann, dass es unverstellte Gefühle gab zu den Tieren, dies, obwohl Sie in Ihrem Leben so viel menschliches Leid gesehen und erfahren haben.

Die Gänse, die Nomi ganz besonders liebte, weil sie so einen schönen Hals und funkelnde Augen haben, weil sie in ihrem Hintern so gemütlich sind, was? warum? Sie sind wütend geworden, weil Nomi sich geweigert hat, Gänsefleisch zu essen, und Nomi hat nicht geantwortet, warum sie ausgerechnet das Gänsefleisch nicht essen wolle, und als es das nächste Mal an einem Sonntag Gänsebraten gab, haben Sie Nomi angeschaut, und? und als Nomi ganz bestimmt den Kopf geschüttelt hat, obwohl sie noch nicht einmal vier Jahre alt war, haben Sie gesagt, es sei wahrscheinlich, dass Nomi sich zu den Gänsen so hingezogen fühle wie Sie sich zu den Pferden und dass Sie deswegen ja auch nie Pferdefleisch essen würden, und obwohl es uns beeindruckt hat, dass Sie nicht wieder wütend geworden sind, fanden wir es merkwürdig, fast beunruhigend, dass Sie von bestimmten Seelenverwandtschaften sprachen, zwischen Mensch und Tier, erst viel später, als Sie uns von unserem Grossvater erzählt haben, haben wir Sie verstanden.

Als wir alle im Auto sassen, Sie in unserer Mitte, eine Tasche neben Onkel Móric auf dem Beifahrersitz, als wir uns aneinanderschmiegten, weil es so kalt war, da versuchte Onkel Móric vergeblich, den Moskwitsch anzulassen, und ich erinnere mich, dass sich seine grossen, abstehenden Ohren verfärbten, Onkel Móric, der nie fluchte, aber immer rote Ohren hatte, wenn er wütend war, aussteigen! rief er, nein, nein, den Zug werden wir nicht verpassen, als Sie auf seine Uhr schauten, das habe ich schon eingerechnet, und Onkel Móric steuerte das Auto mit offener Tür an eine Stelle im Innenhof, wo er besser unter das Auto kriechen konnte, und Sie, Mamika, setzten in der Küche noch einen Kaffee auf, damit der Móric sich nachher nochmals stärken kann, und wir sagten, wir würden nochmals aufs Klo gehen, schon wieder? und während Onkel Móric unter dem Moskwitsch lag, haben Nomi und ich uns auch auf den Boden gelegt, um unter das Drahtgitter-Silo zu sehen, wir haben uns auf den kalten Novemberboden hingelegt, weil wir irgendwann einmal da, unter dem Maislager, angefangen hatten, eine eigene Welt aufzubauen, leere Dosen, kaputte Spielsachen, Papierfetzchen, Federn, Maiskörner, die wir nach bestimmten Mustern gruppierten, und jedes Mal, wenn wir uns wieder hinlegten, waren wir aufgeregt, ob alles noch so sein würde, wie wir es hingestellt hatten, und wenn nicht, malten wir uns aus, was in der Zwischenzeit geschehen war, eine Maus, eine Katze, irgendein Wesen, das sich in die Ordnung unserer Dinge eingemischt hatte.

Ich weiss nicht mehr, wie lange es gedauert hat, bis wir wieder im Auto sassen und Onkel Móric mit schmutzigen Händen das Steuerrad umfasste, Mamika, beten Sie, dass die Karre uns unterwegs nicht im Stich lässt, und Onkel Móric musste gleich wieder aussteigen, um das Tor hinter uns zu schliessen, und Nomi und ich, wir wollten jetzt schon eine Salzstange, obwohl wir ja noch nicht einmal losgefahren waren, und mit einem Anflug von Ärger langten Sie in Ihre Handtasche, steckten sich dann auch eine Salzstange in den Mund, und der Moskwitsch wippte, als Onkel Móric sich hinsetzte und sagte, drei Mäuse knabbern an meinem Ohr, und er lachte, weil Nomi ihn am Ohrläppchen zupfte, wir fuhren los, sicher mit einer einstündigen Verspätung oder mehr, und als der Moskwitsch über die Hajduk Stankova holperte, streckten sich unsere Köpfe wie von selbst zur Ecke, die "Julis Ecke" hiess, weil Juli fast jeden Tag da stand, an der Ecke Hajduk Stankova — Beogradska, wahrscheinlich ist sie noch auf dem Markt, sagten Sie, als Nomi und ich Sie mit fragenden Blicken angeschaut haben, als wäre unsere Abfahrt von Juli abhängig gewesen, davon, dass wir uns von ihr verabschieden konnten, oder anders gesagt, wir konnten nicht losfahren, ohne uns von ihr verabschiedet zu haben, und Onkel Móric wurde immer ungeduldiger, weil Mamika ihm gesagt hatte, er solle zur Seite fahren, er könne ja den Motor laufen lassen, haben Sie zu ihm gesagt, weil er meinte, er könne ihn wahrscheinlich nicht wieder anstellen, wenn er ihn jetzt abstelle. Wir sassen also da, warteten auf Juli, was uns allen ganz logisch erschien, ausser Onkel Móric natürlich, und Juli kam auch, nach einer Weile, in der Onkel Móric fast zu fluchen angefangen hätte, nicht nur seine Ohren pulsierten rot, sondern auch seine Nase, als Juli von der hucia utca her um die Ecke bog, Nomi und ich, wir stiegen sofort aus, mein Mund hat auch gern Salzstangen, sagte sie, und wir steckten ihr ein paar Süssigkeiten und Salzstangen zu, der November rupft allen die Haare aus, und Juli trug ein kariertes Kopftuch, einen knielangen Mantel mit Flicken, wir fahren in die Schweiz, sagte Nomi, die Scheuß antwortete Juli, das ist doch hinter dem Fluss, und noch viel weiter, habe ich gesagt, ja, ihr habt mir erzählt, dass ihr in die Schaiz fahrt, kommt ihr morgen wieder? und Juli steckte sich drei, vier Salzstangen in den Mund, ich, die Nomi in den Arm stiess, komm, wir müssen los, und Sie haben das Fenster runtergekurbelt und auf Wiedersehen meine Julika gerufen, Panni neni, Ihre Mädchen haben mir nicht gesagt, wann sie wiederkommen, bald! und wir haben Juli die Arme gestreichelt, sind wieder ins Auto gestiegen, und Onkel Móric hat so abrupt Gas gegeben, dass es uns in den Sitz gedrückt hat, wenn der Zug jetzt ohne euch fährt, dann seid ihr schuld!

Keine Ahnung, was Onkel Móric alles geredet hat, ich jedenfalls habe ihn noch nie so viel reden gehört, und im Auto hat es nach Braunkohle gerochen, nach Benzin, jetzt mach mal eine Pause, haben Sie zu Onkel Móric gesagt, aber er hat Sie falsch verstanden und einfach weitergeredet, gesagt, er könne doch keine Pause machen, jede Minute sei kostbar. Ich versuche mich zu erinnern, was Onkel Móric alles gesagt hat, aber es gelingt mir nicht. Vielleicht habe ich mich auch verloren an dieses Fenster, wo die nackten Bäume an uns vorbeizogen, die farbigen Häuser, die im Winter so aussahen, als wollten sie in der Erde versinken, weil sie sich ihrer Farbigkeit schämten in diesem grauen November, wo es nur natürlich ist, dass man Lichter anzündet für die Toten, Blumen auf die kalte, möglicherweise schon gefrorene Erde legt.

Ich habe mich sicher an dieses Fenster verloren, an Tafeln, die durchgestrichene Ortstafel Zenta, Cehta, Senta, es hatte für mich damals keine Bedeutung, dass der Name unserer Kleinstadt drei Mal geschrieben stand, auf Serbokroatisch, in kyrillischen Buchstaben, auf Ungarisch.

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