Wir müssen besser werden, sagt Mutter an einem Tag Ende Februar, schneller vor allem, und jetzt wird auch alles besser in der neuen Besetzung, sagt sie, wir fangen nochmals neu an, ja? und wir besprechen, wer wem hilft während den heiklen Zeiten, und die heiklen Zeiten sind zwischen neun und halb zehn, während der Mittagszeit von zwölf bis eins und nachmittags so gegen halb vier bis etwa halb fünf; wir sitzen zu Hause am Wohnzimmertisch, essen saure Gurken, scharfe Salami, Brot, Joghurt, Mutter, die während dem Essen eine Liste schreibt mit den wichtigsten Punkten, die wir beachten müssen, im Service, im Buffet, in der Küche, Nomi, die meint, wir sollten es nicht übertreiben, auch wenn nicht alles perfekt geklappt habe, sei unser Start doch ganz gut gewesen. Genau, Nomi hat Recht, sagt Vater und schneidet mit dem grossen Fleischmesser hauchdünne Scheiben von der Salami (und ich würde Vater am liebsten sagen, wie gern ich ihm zusehe, wenn seine Hände so ruhig und sorgfältig arbeiten), Mutter, die nach einer Scheibe langt, uns dann alle der Reihe nach anschaut und einen Satz sagt, den sie in nächster Zeit noch ein paar Mal sagen wird, von dem ich nicht weiss, wie ich ihn verstehen soll: Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten.
Und weil Mutter die Einzige ist, die eine Ahnung vom Ganzen hat, vom ganzen Betrieb, muss sie überall aushelfen, vor allem in der Küche, Vater, der in den ersten Wochen überfordert ist, weil Koch gar nicht sein Beruf ist, er aber alles perfekt machen möchte, nicht nur zuviel, sondern auch alles frisch kocht, und zwischendurch nippt er am Kochwein, weil es so heiss ist, eine unerträgliche Hitze in dieser Spielzeugküche! Das ist der Anfang vom Ende, wenn du trinkst, sagt Mutter auf Ungarisch, das weisst du, am Abend meinetwegen, aber nicht in der Küche, niemals, das hast du mir versprochen, ja, ich hab's dir versprochen, sagt Vater kleinlaut, ich muss mich doch erst mal ein bisschen einleben hier; Dragana, die schon morgens um sieben anfängt, ihren Walfischbauch gegen den Abwaschtrog drückt, Salate rüstet, Gemüse zerkleinert (immer nach Knoblauch riecht, was ich unangenehm finde), Dragana, die dauernd irgendetwas tut, die in den ersten Wochen fast kein Wort gesprochen hat, ausser ja, isch gut, als Antwort, wenn Vater ihr sagt, was sie als nächstes zu tun hat, ihre Einsilbigkeit, die sich schlagartig ändert, als Glorija anfängt, bei uns zu arbeiten, Dragana und Glorija, die sich in rasender Geschwindigkeit auf Serbokroatisch unterhalten; und Marlis? sie ist die Einzige der ehemaligen Angestellten, die bei uns bleibt, sie wäscht ab, putzt, das rhythmische Klacken ihrer schweren, weissen Holzschuhe, das genauso zu den Geräuschen der Küche gehört wie das Surren der Mikrowelle und das gierige Saugen des Dampfabzugs. Und Mutter, meistens ist sie es, die mit Schrubber, Eimer, Lappen, Plastikhandschuhen in die Toilette huscht, um die Lache, die sich mindestens ein Mal wöchentlich neben dem Pissoir bildet, aufzuwischen — Toilette kontrollieren, steht zuoberst auf Mutters Liste, so oft es geht!
An einem ungewöhnlich kalten Märztag, so kalt, dass man meinen könnte, es sei noch Winter, schäume ich Milch. Ich sehe meine Hände, wie sie die Kanne halten und eine gleichmässige, nicht allzu schnelle Bewegung in der Vertikalen vollführen, der Dampfhahn fährt also langsam durch die blubbernde Milch, ich achte darauf, dass der Dampfhahn den Kontakt zur Milch nicht verliert, weil sie sonst sofort überall hinspritzt, die Kaffeemaschine sprenkelt, die Theke, die Hände, die Bluse. Und das geschieht immer schneller, als man meint.
Weil ich viel Milchschaum brauche, heisse Milch sich nicht mehr schäumen lässt, muss ich ständig umleeren, der heissen Milch kalte zufügen, und ich denke daran, dass es sicher eine plausible chemische Begründung gibt, warum sich heisse Milch nicht mehr schäumen lässt, die kenne ich aber nicht. Dafür kenne ich den Trick mit dem Mineralwasser, ein kleines bisschen Mineralwasser in die Milch, schon lässt sie sich leichter schäumen; Mamika, die mir beigebracht hat, dem Palatschinkenteig nicht nur Milch, sondern auch Mineralwasser beizugeben, dann wird der Teig luftiger und brennt in der Pfanne nicht so leicht an.
Wenn ich mich zu sehr aufs Schäumen konzentriere, gelingt es garantiert nicht. Deshalb stelle ich die Milchkanne am Anfang unter den Dampfhahn, spanne in der Zwischenzeit den Kaffee ein, bereite das Tablett vor mit Untertassen und Löffeln, ich verlasse mich auf mein Ohr, das genau hört, in welchem Stadium sich die Milch befindet. Es ist ein charakteristisches Geräusch, das immer höher wird, je heisser die Milch ist, und mir, wenn es eine bestimmte Frequenz erreicht, anzeigt, dass ich die Kanne jetzt in die Hände nehmen muss, will ich die Milch noch zum Schäumen bringen — und ich schaue kurz aus dem Fenster, das sich vor mir, im Rücken der Gäste befindet, wo der nackte Kastanienbaum seine Fäuste zeigt.
Obwohl ich im Inserat "Schweizerinnen bevorzugt" geschrieben habe, haben sich ausschliesslich Ausländerinnen gemeldet (ich, die es geschrieben hat, denke an uns, an die Familie Kocsis, was es bedeutet, wenn wir Schweizerinnen bevorzugen. Nichts. Es bedeutet nichts, es ist einfach so, sage ich mir), Glorija, die von allen Bewerberinnen noch am ehesten als Schweizerin durchgeht, fast fliessend Deutsch spricht, also Dialekt, Vertrauen erweckende Augen und gute Arbeitszeugnisse hat, so Mutter, fängt Anfang März an, bei uns zu arbeiten, als Serviertochter, und Nomi und ich, wir teilen uns die zweite Serviceschicht auf, arbeiten ansonsten im Buffet. Und dein Studium, hat mich Mutter gefragt. Kann warten, eine Zeit lang.
Der Samstag ist normalerweise der hübsche Tag mit der rosaroten Schleife und dem toll aufgeschäumten Milchkaffee, so Nomi — aber heute ist nicht Samstag, sondern ein ganz normaler Mittwoch, an dem der Turnverein bei uns Jubiläum feiert, ich also Milchschaumberge fabriziere, hinter dem Buffet hantiere, ich, die übrigens eine schwarz-weiss gestreifte Bluse trägt und einen Jupe, der mich zum Trippeln zwingt. Ich sehe mir zu, ich, die in einer notwendigen Verkleidung bereitsteht, zeige, dass ich eine geeignete Buffettochter bin, ich, der Kuckuck hinter der Theke, glücklicherweise, denn im Service fühle ich mich vogelfrei, freie Sicht auf sie, die ich bin, aber heute nicht, heute schützt die armeegrüne Theke wenigstens den unteren Teil des Körpers, ja, ich bin jedes Mal froh, wenn ich mit Nomi den Dienst tauschen kann, sie für mich im Service arbeitet.
Great, darling, sagt Glorija, um mich für meine Arbeit auszuzeichnen, und wenn man wirklich great ist, kann man aus einem halben Liter Milch, Luft und Dampf drei cremige Cappuccini-Schäume mixen. Zum Abschluss bestäube ich die Milchschaumspitzen mit Schokoladepulver, und die Bewegung meiner Hand, mit der ich die Bestäubungsaktion vornehme, muss leicht und ruhig sein, sonst fallen die fragilen Berge in sich zusammen; ich frage mich wieder, welcher chemische Prozess diesen Zerfall hervorruft. Ich weiss nur, dass das Bestäuben ein feines, leicht zischendes Geräusch verursacht, wenn ich das Schokoladepulver in der richtigen Dosis, nämlich massvoll, brauche, und wenn ich von einer ruhigen Handbewegung, die für diese Tätigkeit erforderlich ist, gesprochen habe, dann meine ich ein behutsames Tippen des Zeigefingers an die gekippte Dose. Mutter und ihre Schwester, meine Tante Icu, die über Handarbeit gesagt haben, dass sich die Hände schön, in einem ruhigen Fluss bewegen sollen, egal, ob man einen Teig knetet, Konfitüre kocht, stickt, flickt, die Hände müssen angenehm warm werden, dann wird alles gelingen, auch der schwierige Strudelteig.
Und das ist es, was mich an dieser Arbeit interessiert, nämlich die erforderliche Handbewegung möglichst leicht, in einem immer schöneren, das heisst ruhigeren Schwung auszuführen, und ich möchte jeden Tag merken, dass meine Hände die Tätigkeiten des Ausspannens, Ausklopfens, Einspannens besser verstehen und somit der Kaffee mehr als eine solide Qualität erreicht, ich möchte das Zusammenspiel zwischen meinen Händen und der Cimbali, einer Drei-Kolben-Maschine mit Siebträgern, beheizter Tassenabstellfläche und Edelstahlfront — so steht es in der Bedienungsanleitung —, perfektionieren, obwohl ich weiss, dass es negative Einflüsse gibt wie feuchtes, windiges Wetter und Vollmond, gegen die ich nichts ausrichten kann. All dies bedingt, dass ich beim Arbeiten nicht abschweife, mich mit nichts anderem befasse als mit den eben beschriebenen Tätigkeiten.
Von unseren Verwandten könnte niemand hier arbeiten, im Mondial, denke ich an diesem kalten Märztag, ich, stundenlang Milch schäumend (so kommt es mir vor), weder im Service noch im Buffet könnten Tante Manci und Tante Icu arbeiten, egal wie gekonnt ihre Arbeit mit den Händen ist, und dieser Gedanke hat einen unangenehmen Ton, bin ich davon ausgegangen, dass sie irgendwann hier bei uns arbeiten? meine Onkel, die mit ihrem je speziell schadhaften Gebiss jeden Gast misstrauisch machen würden, denen wir unmöglich beibringen könnten, ihr Zahn-Zahnlücke-Lachen zu verstecken; Csilla, Tante Icus und Onkel Piris Tochter, die jetzt Mitte dreissig ist, an einer Hautkrankheit leidet, keinen einzigen Zahn mehr im Mund hat und auch kein Geld für ein Gebiss, wie uns Tante Icu irgendwann geschrieben hat (Csillas Zähne, die ein Dauerthema sind, da sie damals, als sie einen Sommer lang bei uns gearbeitet hat, in unserer ersten Cafeteria in der Schweiz, Mutter hoch und heilig versprochen hat, einen Teil des verdienten Geldes auf die Seite zu legen für schöne, neue Zähne, dann kannst du auch wieder richtig essen, du bist ja so dürr wie Herbstlaub, sagte Vater! Csilla, die damals in der Küche gearbeitet hat, im ersten Stock, unsichtbar für die Gäste, und mach ja deinen Mund nicht auf, auf der Strasse! haben wir zu ihr gesagt, Nomi und ich, sonst rennen alle vor dir davon, die Schweizer sind so was nicht gewohnt), und wohin mit Bela, frage ich mich, es wäre fast am Schwierigsten, meinen Cousin unterzubringen, Tante Icus und Onkel Piris Sohn, Belas Zähne, die zwar einigermassen in Ordnung sind, aber er wäre imstande, mit allen einen Streit anfangen, auch ohne ein einziges deutsches Wort zu sprechen, würde er alle provozieren, Bela, der minutenlang undurchdringlich schauen kann, es gar nicht merkt, wahrscheinlich deshalb, weil er normalerweise stundenlang in den Himmel schaut.
Glorija, die übrigens aus Kroatien stammt und perfekte Zähne hat (das haben wir sofort gesehen beim Bewerbungsgespräch), bestellt immer noch Cappuccini, und das an einem ganz normalen Mittwoch! und ich fabriziere weiterhin Milchschaumberge, bestäube die fragilen Spitzen, zeichne zwischendurch mit dem Rahmbläser ein spiralartiges Gebilde für einen Kaffee Melange, und Tante Icu könnte phantastische, schwindelerregende Torten backen, ich meine, Tante Icu würde mit ihren überdimensionierten, grossräumigen Torten alle in eine traumhafte Erregung versetzen, Schichten über Schichten aus Biskuit und Creme, und ja, es dauert eine Weile, bis man von der mit karamelisierten Zuckerzärtlichkeiten geschmückten Tortenoberfläche die unterste Schicht aus Biskuit erreicht, ich würde es ihnen gern erzählen, dem Verein oder sonst wem, dass Tante Icu Zuckerbäckerin und Gärtnerin ist und in einer Hanffabrik arbeitet, dass man sie eigentlich mit einer Concorde 787 einfliegen müsste, damit sie mit ihren beseelten Händen, wie Onkel Piri sagt, eine Creme aus natürlichen Sünden rühren könnte.
My darling, ruft Glorija, ich brauche noch einen frisch gepressten Orangensaft, und ich, mit meiner schwarz-weiss gestreiften Bluse, beeile mich, drei Orangen zu halbieren, die wunde Fläche auf den unteren Teil der Presse zu legen, den schwarzen Hebel rasch nach unten zu ziehen, zu drücken, bis schliesslich aus den Orangen der erwünschte Saft schiesst, und meine Mutter taucht hinter der Theke auf, fragt, ob sie mir helfen könne, ja, ich brauche noch zwei kalte Schokoladen, drei Rivella, einen gespritzten Apfelsaft, und eine Frage, die musst du mir auch noch beantworten, sage ich. Das hat aber noch ein bisschen Zeit, oder? und Mutter klemmt die kalte Milch mit dem Schokoladenpulver in den Mixer, Glorija, immer noch Bestellungen aufgebend, und die ziemlich laut surrende, blubbernde, pfeifende Komposition für Dampfhahn, Kaffeemaschine, Mixer verhindert im Moment sowieso jede Unterhaltung hinter dem Buffet, wir können bald eine kurze Pause machen, sagt Mutter.
Und als wir eine halbe Stunde später am Personaltisch sitzen, Nomi sich zu uns setzt, frage ich, Mutter, hast du noch nie daran gedacht, dass Tante Icu bei uns in der Küche arbeiten könnte? Ich meine, wir könnten doch wenigstens Tante Icu zu uns holen, und ich spreche ganz leise, fast flüstere ich, weil es plötzlich so still ist in der Cafeteria, sogar das dezente Ticken der Wanduhr ist zu hören, weil jetzt fast keine Gäste mehr da sind, Mutter, die mich anschaut, sie schaut mich lange mit ihren grossen Augen an, und ich weiss nicht, ob es stimmt, dass die Augen das Spiegelbild der Seele sind, vielleicht spiegeln sie wirklich etwas, das im tiefsten Inneren eines Menschen vor sich geht, aber was nützt einem das, wenn man es nicht zu lesen versteht? Ich, die gelernt hat, in Mutters Augen zu lesen, bin fassungslos, weil ich sie so nicht kenne, das Grün ihrer Augen, das fast schwarz wird, der flächige, weiche Glanz, der sich zu einem Punkt zusammenzieht, was ist los, denke ich, Mutter, sage ich (und schaue zu Nomi), ich habe mir gerade vorgestellt —
Meinst du, ich habe noch nie daran gedacht, was ich tun könnte für Tante Icu? Doch, schon, sage ich, aber Mutter lässt mich nicht weiterreden, ihre Augen, die mich ohrfeigen, weisst du, was ich nachts tue? weisst du, ob ich schlafe? du, du bist doch so empfindlich, Ildi, und jetzt? (Mutters Blick, der mich nicht am Ohr, sondern an der Wange trifft), und was meinst du würden Onkel Piri und Csilla tun ohne sie? wie soll sie denn ausreisen, wie sollen wir ein Visum für sie bekommen? meinst du, ich zerbreche mir nicht den Kopf darüber, was wir tun könnten, weisst du, wie oft ich schon vergeblich mit der serbischen Botschaft telefoniert habe, seit 1991 der Krieg ausgebrochen ist? Glaubst du, das lässt mich kalt, was unsere Familie jetzt ertragen muss? Nomi, die Mutters Hände nimmt, nein, das hat sie nicht gesagt, du bist nicht fair, sagt sie.
Fair? was ist das wieder für ein Wort von euch, von mir, sagt Nomi, fair heisst gerecht, gut, dann hab' ich wieder einmal etwas gelernt, und jetzt könnt ihr etwas lernen. Neulich habe ich Icu einen Brief geschickt und Geld, Deutsche Mark, mindestens ein halbes Jahr hätten sie und Onkel Piri davon leben können. Meint ihr, der Briefträger fährt dort wie in der Schweiz mit einem gelben Motorrad von Haus zu Haus und bringt mit einem freundlichen "Hallo" die Briefe vorbei? Meint ihr, die Post kommt noch da an, wo sie ankommen sollte? Meint ihr, es gibt da noch irgendeinen ehrlichen Menschen in den öffentlichen Ämtern? Wie soll ich es anstellen, dass auf meinem Brief keine Briefmarke aus der Schweiz drauf ist, sagt mal, habt ihr eigentlich schon mal irgendwas überlegt, das über eure Nasenspitze hinausgeht? (normalerweise sagt das Vater), Mutter, die schon längstens ins Ungarische gewechselt hat, offenbar vergessen hat, dass wir nicht zu Hause sind, ich will nicht über den Krieg — häborü — reden, hört ihr, wir können hoffen, dass es bald vorbei ist, das ist das Einzige, was wir tun können, Ildi, ich kann nicht verstehen, dass du so was fragst, ich kann nicht verstehen, dass du mitten in der Arbeit mit so was anfängst, so leichtfertig, Glorija, die den Kopf zu uns dreht, fragt, ob alles gut sei, ob sie uns noch einen Kaffee machen solle. Die Pause ist fertig, sagt Mutter, steht auf, schaut mich nicht mehr an, weder mich noch Nomi, und wahrscheinlich ist es ihr Kleid, die Art, wie ihr Kleid seitlich und energisch ausschwingt, die mir verrät, dass es eine fast unmenschliche Energie braucht, um die Normalität, den Alltag hier aufrechtzuerhalten — eine Energie, die ich nicht werde aufbringen können.
Nomi und ich, wir schauen uns kurz an, stehen dann gleichzeitig auf, um weiterzuarbeiten.
Ja, wahrscheinlich war es leichtfertig von mir, ich habe mir tatsächlich nicht viel überlegt, und dann war ich völlig erschlagen von Mutters heftiger Reaktion, wir, die eigentlich nie über den Krieg reden zu Hause, und als der Krieg in Jugoslawien ausbrach, sagte Vater nur: das ist ein Krieg, der wird schnell zu Ende sein. Schnell? wie schnell, habe ich gefragt. Ein paar Monate, höchstens. Ein Verbrecher wie Milosevic hat heute keine Zukunft mehr in Europa, und es klang so überzeugend wie die Stimme eines geübten Fernsehsprechers, Vater, der sich seit Ausbruch des Krieges die frühen Nachrichten anschaut, die regulären, zur besten Sendezeit und die Spätnachrichten, er zappt vom deutschen zum österreichischen zum ungarischen Sender und wieder zurück (unsere Sprache, die seit ein paar Monaten per Satellit in unser Wohnzimmer gekommen ist), wir sitzen auf dem Sofa, Nomi, Mutter und ich, schauen manchmal mit, hören zu, worüber sie berichten, auf Ard oder im Orf oder mtv (Magyar Tekviziö), und wir warten, was Vater von seinem Sessel aus dazu sagt: Dazu braucht's Mut, ist aber das einzig Richtige, meint er, als Deutschland und Österreich die Unabhängigkeitserklärung von Kroatien und Slowenien anerkennen. Und wir sitzen am Esstisch, als im Mai 1992 der UN-Sicherheitsrat ein umfassendes Embargo gegen Serbien und Montenegro verhängt, endlich tun sie etwas, sagt Vater, es ist doch klar, dass einschneidende Massnahmen ergriffen werden müssen, um diese verdammten Kommunisten endlich zu vertreiben, die Kommunisten und die Serben, was ja ein und dasselbe ist! Und wir essen kalt, Brot, Schinken, Käse, hart gekochte Eier, eingelegte Peperoni, so wie wir es an allen anderen Abenden auch tun.
Vielleicht haben wir vergessen, dass die Vojvodina zu Serbien gehört, dass die einschneidenden Massnahmen, wie der Nachrichtensprecher sagte, wie Vater sagte (und auf Ungarisch klingen die einschneidenden Massnahmen noch einschneidender), auch unsere Familie treffen wird, dass das Handels-, Öl-, Luftembargo möglicherweise drastische Auswirkungen haben wird auf das Leben von Tante Icu, Tante Manci, Onkel Móric, Onkel Piri, Bela, Csilla, Grossonkel Pista, aber vielleicht haben wir gar nichts vergessen, denkt jemand von uns eine Sekunde lang sogar an Juli, an Julis Mutter oder an Herrn Szalma, Mamikas Nachbarn, möglicherweise fällt jemandem von uns das winzige Geschäft ein, an der Beogradska, wo Mutter ihre kaufmännische Lehre gemacht hat, dass dieses winzige Geschäft, in dem Nomi und ich jedes Jahr Salzstangen, Süssigkeiten, Tonic und Traubisoda gekauft haben, jetzt ganz leer ist, geschlossen, wie uns Onkel Móric und Tante Manci in ihrem letzten Brief geschrieben haben.
Wir essen, essen weiter, reden über den nächsten Tag.
Weisst du, was mit Mutter los war, frage ich Nomi, als wir zusammen Mittag essen.
Nicht so schwierig zu verstehen, antwortet Nomi, sie hat Angst.
Vater und ich, wir gehen zusammen den Hang hinunter, und ich wundere mich jedes Mal darüber, dass wir fast gleich schnell gehen, mein Vater hat kleine Füsse, denke ich, nicht viel grösser als ich, wahrscheinlich deshalb, und Vater zündet sich eine Zigarette an, meistens an derselben Stelle, wo man auf den See hinunter sieht, der jetzt noch schwarz daliegt, eingerahmt von Lichtern, von gelb bis orange, oder ist der Himmel der See? Zu dieser Tageszeit sind die Dinge noch nicht klar voneinander unterscheidbar, denke ich, Vater und ich, wir reden selten, wir gehen, und Vaters Rauch kitzelt meine Nase, ich weiss nicht, ob Vater unserem Gehen zuhört, den Geräuschen, unseren pendelnden Armen, unseren Schritten.
Du hast mit dem Studium aufgehört, hat Mutter erzählt, sagt Vater, in einen unserer Schritte hinein, nein, nicht aufgehört, nur reduziert, antworte ich, vorübergehend. Wird man dich nicht vermissen da, beim Studium, fragt Vater und zeigt mit der brennenden Zigarette auf einen Igel, der soeben unter einem geparkten Auto verschwindet. Kann mir ja alles selber einteilen, sage ich und möchte Vater bitten, still zu sein, weil ich diese Viertelstunde, in der wir schweigend zusammen gehen, mag, weil ich mich während der Zeit, in der wir uns in diesen dunklen Tönen bewegen, frei fühle, und ich könnte ein bisschen später ins Dorf hinunter fahren, mit dem Bus, dann könnte ich sogar länger schlafen, aber das will ich nicht, mich in diese Dorfbus-Atmosphäre setzen, frühmorgens in ausgeleuchtete Gesichter sehen, das ertrage ich nicht.
Die Schule ist das Wichtigste, sagt Vater, wir sind froh, wenn du uns hilfst, aber die Schule muss weitergehen, und ich sage nichts, sage nicht, Vater, hör auf, "Schule" zu sagen, das ist keine Schule, sondern die Universität, ich bin eine von zwanzigtausend Studierenden, die unklare Vorstellungen haben, sich in irgendwas vertiefen, sich in riesigen Bibliotheken verirren, und bis jetzt finde ich nur einen Professor überzeugend, der eigentlich gar kein Professor ist, sondern ein Privatdozent, an der Universität, meine Damen und Herren, werden Sie lebendig begraben, sagt er, ohne die Miene zu verziehen, Sie müssen sich darauf einstellen, dass Sie nichts weiter sind als Angestellte in einem musealen Betrieb, und wenn Sie das akzeptiert haben, können Sie anfangen, eigenständig zu denken, gegen den Strom zu schwimmen (Vater, dem ich gern erzählen würde, dass ich seit einem Jahr nicht mehr Rechtswissenschaften studiere, dass ich mir ein Semester lang Vorlesungen in Philosophie, Religionswissenschaften, Literatur, Pädagogik angehört habe, aber das Einzige, was mich interessiere, ist Geschichte, die Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte; Vater, der mit Wissen schwer zu überzeugen ist, vor allem mit Geschichte, weil er ja Geschichte selber erlebt habe, deswegen reagiert er jetzt schon allergisch, wenn ich ihm etwas über den Zweiten Weltkrieg erzähle, hast du das in einem Buch gelesen, fragt er dann gereizt, der Zweite Weltkrieg passt in kein Buch, meint Vater, und da gebe ich ihm sogar Recht, und aus diesem Grund habe ich Vater noch nicht erzählt, dass ich Geschichte studiere, weil es für ihn am weitesten von dem entfernt ist, was ein sinnvolles Studium ist, gut, dass du nicht Zahnärztin werden willst, das kann ich ja verstehen, es gibt Schöneres als allen in die Innenausstattung zu schauen, aber warum nicht Ärztin? am besten aber Rechtsanwältin! Ein Beruf schwarz-auf-weiss, nennt das Vater, das brauchen die Menschen immer, weil sie immer streiten, und dann verdienst du viel Geld und kutschierst mich in einer Limousine durch die Welt — Vater, nachdem er ein paar Schnäpschen getrunken hat), und Vater bleibt plötzlich stehen, vor der Treppe, die zum Bahnhof führt, warum gibst du mir keine Antwort, und ich, ich habe schon die ersten zwei Stufen der Treppe genommen, bleibe dann stehen, drehe mich zu Vater, ich mache weiter, das hab ich dir ja schon gesagt, und ich merke, dass meine Stimme wenig überzeugend klingt, such dir einen anderen Grund, wenn du aufhören willst, sagt Vater und kommt auf mich zu mit seiner dunkelgrünen Wildlederjacke, Vaters Locken, die in diesem Dämmerlicht wild aussehen (ich, die Vater nicht sagen kann, dass sie immer noch am Suchen ist, weil das für Vater ein Reizwort ist, suchen, ihr sucht immer etwas, alles ist da, hängt vor eurer Nase, und was tut ihr? ihr seht Sternchen überall um euch herum, dreht euch im Kreis wie dumme Tiere), und als Vater auf der gleichen Stufe steht wie ich, schauen wir uns einen Moment lang an, ein Schnellzug fährt an uns vorbei, vielleicht hat Vater etwas gesagt, als es laut dröhnte, die kalte Luft uns ins Gesicht schlug, unsere Haare auffliegen lässt; wir nehmen im gleichen Schritt die Stufen, gehen durch die Unterführung und die paar Schritte, die es noch sind bis zum Mondial.
Drei Sonnen mit Strahlen und Gesichtern, die uns anlachen, als wir vor unserer Eingangstür stehen, was ist denn das? drei Flugblätter, A4, die fein säuberlich, mit durchsichtigen Klebstreifen fixiert, auf der Glasscheibe unserer Eingangstür kleben. Eine Einladung zum Puure Zmorge, sage ich, Bauernfrühstück, gratis! Was soll das? warum klebt das Zeug da an unserer Tür, und Vater fängt an, die Klebstreifen vom Glas zu kratzen. Die legen Wert auf unseren Besuch, sage ich, die Schweizerische Volkspartei, man darf umsonst Chd's und Wurscht essen, dafür wollen sie als Gegenleistung eine Unterschrift, in der man eine Initiative unterstützt, meist eine menschenfeindliche. Die ist hier gut vertreten, in der Gemeinde, die Svp, und ich schaue mich um, vielleicht ist er ja noch zu sehen, der Botschafter. Ist mir völlig egal, wer hier wie vertreten ist, sagt Vater, hilf mir lieber, wir haben nicht mehr viel Zeit. Lass sie doch kleben, sage ich, wir können ja noch einen Zettel dazuhängen, ein Dankeschön an die unbekannte Person, die uns zum Puure Zmorge eingeladen hat.
Hülye csiny, sagt Vater. Was? frage ich. Und Vater übersetzt, weil er glaubt, ich hätte die ungarische Wendung nicht verstanden, ein Streik, ein dummer Kinderstreik, sagt er, Streich, antworte ich (aber professionell geklebt, denke ich), und Vater und ich, wir kratzen, rubbeln an verschiedenen Stellen, und weil das Klebband hartnäckig ist, holt Vater eine Kuchenspachtel und Alkohol, so eine blöd gemalte Sonne kann man doch nicht ernst nehmen, sagt Vater (der sich nicht für die Schweizer Politik interessiert, die Politiker hier sind Schlafsäcke, die Schweizer Politik ist etwas für Rentner, sagt er und schaut sich die Debatten an, die vom deutschen Bundestag übertragen werden), Schweizerische Volkspartei, was soll denn das sein, fragt Vater mich in allem Ernst, das klingt für mich wie tiefster Kommunismus, Volk! Partei! Vater, der ganz offensichtlich alles wieder vergessen hat, was er für die Einbürgerungsprüfung hat lernen müssen, und ich frage mich, ob die Experten der Einbürgerungskommission meine Eltern auch über die Schwarzenbach-Initiative abgefragt haben, die so genannte Überfremdungsinitiative, die eine zahlenmässige Begrenzung des ausländischen Bevölkerungsanteils in der Schweiz erreichen wollte; Mutter und Vater, die nicht oft, aber ab und zu darüber erzählt haben, über die Wochen vor dieser Abstimmung, wie sie überhaupt von der Abstimmung erfahren haben, mit ihrem spärlichen Deutsch erst mit der Zeit begriffen, dass es um sie ging, um ihr Leben, dass etwa die Hälfte der Ausländerinnen und Ausländer die Schweiz hätte verlassen müssen, wäre die Initiative angenommen worden. Sie hätten Angst gehabt, in die Vojvodina zurückzukehren mit fast nichts, wieder von neuem anzufangen, zurück in diese jugoslawische Wüste, sagte Vater, zu diesen idiotischen Titoisten! aber ein gewisser Respekt sei geblieben seit diesem Schwarzback. Respekt? Ja, dass man immer damit rechnen müsse, ausgewiesen zu werden. Vater, der sich am 7. Juni 1970 ins Wohnzimmer von Herrn Fluri setzen und mit ihm Radio hören durfte, sein Chef habe eine Flasche Bier aufgemacht, mitten am Nachmittag, als der Radiosprecher das Resultat bekanntgab — ziemlich knapp, aber abgelehnt! habe sein Chef gerufen, und: Proscht, uf ois, auf uns, Miklós! Und sie hätten sogar eine zusammen geraucht, und er habe die Asche seiner Zigarette ganz vorsichtig in den Aschenbecher aus Kristall getippt. 75 %! habe sein Chef immer wieder gesagt, das sei eine grosse Sache! Miklós, du musst dir vorstellen, drei Viertel eines Kuchens ist an die Urne gegangen, um abzustimmen! Und Vater musste innerlich lachen, weil er sich vorstellte, wie ein angeschnittener Kuchen ins Gemeindehaus spaziert, um einen Zettel in den Schlitz zu werfen. Hin grosse Dank an Schmiß, sagte mein Vater, als sie das nächste Mal die Gläser gegeneinander stiessen, und sein Chef sei ganz gerührt gewesen über seinen Trinkspruch, ja, Miklós, Prost! es grosses Dankeschön ad Schwüler Männer!
Als wir die Fensterscheibe nochmals prüfen, ob sie wirklich sauber ist, ich Vater noch etwas über die Schweizerische Volkspartei erzählen möchte, grüsst uns schon der erste Gast, guten Morgen, ich bin etwas zu früh, sagt er, ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus. Nein, nein, antworte ich schnell, als müsste ich etwas verbergen, die drei Flugblätter, die ich noch in der Hand halte, wir sind ja auch schon da, sage ich, und der Gast lacht, ja, tatsächlich! und wir lachen alle zusammen, über meinen Witz, der nicht beabsichtigt war.
Heute arbeite ich im Service.
Und auch mein Rücken ist aufgeregt, ich habe ständig das Gefühl, dass ich jemanden übersehe, der bestellen oder zahlen will (den Überblick darf man beim Servieren nie verlieren!), und ich bestelle fünf Kaffees, drei Espressi, zwei dunkle Milchkaffees, Nomi, die mittlerweile hinter der Theke steht, heute hinter dem Buffet arbeitet, die Glückliche, denke ich (in einem Kleinbetrieb, in einem Familienbetrieb muss man jeden Arbeitsschritt von Grund auf beherrschen), Nomi, die schnell arbeitet, genau, die mir hilft, weil ich den Überblick zu verlieren drohe, jetzt, um neun Uhr, und die Tür geht ständig auf und zu, die Beamten und Bauarbeiter, die alle um dieselbe Zeit Pause haben, möglichst rasch bedient werden wollen, Nomi, die mich mit einem Blick beruhigen kann, mit einer kleinen Geste, die mir ein Glas kaltes Wasser hinstellt, und es ist eine Kunst, im Service auch beim schlimmsten Ansturm allen das Gefühl zu geben, dass sie, das Fräulein, nur dazu da ist, die unterschiedlichsten Wünsche schnell und ohne Hektik zu erfüllen, und wenn man wirklich professionell ist, kann man da und dort noch etwas Passendes sagen, ein unaufdringliches Kompliment platzieren (Sie haben aber eine schöne Brosche), und wenn man so professionell ist, dass einem niemand die Professionalität anmerkt, dann läuft wirklich alles spielend, rund, und jeder Gast fühlt sich individuell bedient, nicht abgefertigt, merkt nicht, dass jeder Platz in der Cafeteria besetzt ist.
Nomi stellt meine Bestellung aufs Tablett, was eigentlich meine Aufgabe wäre, Nomi, die ausserdem das Radio nie anstellt, wenn ich im Service arbeite, weil sie weiss, dass mich das nervös macht, der Pfister hat sein Ei schon bekommen, sagt sie leise und zwinkert mir zu (und Mutter hat uns verboten, uns in unserer Geheimsprache zu unterhalten, weil das die Gäste provoziert, dann glauben sie, dass wir über sie tratschen), ich setze mich mit vollem Tablett in Bewegung, um die Menschen zu besänftigen, denke ich, und ich mag die Bauarbeiter, ihre ausgehungerten Augen, die ungeduldig warten, ihre müden Gesichter, die sich keine Mühe geben, nett auszusehen, sechs, sieben Männer, die am Tisch sitzen, rauchen, kauen oder Kaffee trinken, die aber vor allem eines nicht wollen, nämlich zuviel reden, guten Morgen! und ich stelle die Kaffees auf die zusammengerückten Tische, alle trinken Kaffee, stark, mit viel Zucker, und auch deswegen mag ich die Bauarbeiter, weil sie klare Wünsche haben.
Um neun Uhr ist der Lärmpegel hoch, es fällt deshalb niemandem auf, dass das Radio ausgeschaltet ist, und das ist der einzige Vorteil am Neun-Uhr-Ansturm: Im Stimmengewirr beschwert sich niemand darüber, dass Friedhof ist (Glorija, die sagt, dass Friedhof sei, wenn keine Musik läuft, Musik gehöre dazu, um sich wohl zu fühlen, beim Kaffee trinken, im Zeitschriften blättern, eine schöne Melodie mache den Tag positiv), unterschiedliche Tonlagen, Dialekte, gepresste Nackenstimmen, die sich immer durchsetzen wollen, und nuschelnde, undeutliche Stimmchen, zu denen ich mich dezent hinbücke, und gerade in diesem Stimmenchaos fällt mir auf, welche Stimmen wie auf mich wirken, dass es manchmal nur ein Wort in einem schrillen Frequenzbereich braucht, Froilein zallel, dass ich mich in mein Innenleben zurückziehe (es gibt keinen schlimmeren Fehler im Service als die Nerven zu verlieren, in der Küche geht das, im Service nie, nicht einmal im grössten Stress!), ja, Mutter hat schon recht, ich arbeite nicht gern im Service, und das Einzige, was mich herausfordert, ist, ob ich es schaffe, von sechs bis zwei ein Fräulein zu sein (es geht also gar nicht um die Nerven, denke ich).
Laufen, das ist ein weiterer Grundsatz, ist absolut verboten, egal, was passiert, egal, wie rasch sich die Cafeteria füllt, man darf höchstens schnell gehen (zackig, aber nicht überhastet, flink, aber niemals übereilt), eine Kellnerin, die rennt, hat bereits etwas verpasst, ist schon zu spät (wir müssen den Gästen das Gefühl geben, dass uns unsere Arbeit leicht fällt, versteht ihr?), und ich, die versteht, versuche, um neun Uhr den Überblick nicht zu verlieren, elegant beiläufig den Kaffee zu servieren, einzukassieren, die Gäste nicht zu drängen (auch wenn wir nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht), und Nomi übernimmt die Tische bei der Theke, die Strumpfhose übt einen unangenehmen Druck auf meine Schenkel aus, Nomi, die mir zu verstehen gibt, dass wir alles im Griff haben, um halb zehn wird der Spuk vorbei sein, mein Blick zur Wanduhr, und es ist nicht wahr, dass die Zeit schnell vergeht, wenn man viel zu tun hat, Nomi und ich, die genau wissen, dass die Zeit zwischen neun und halb zehn in einzelne, endlos lange Minuten zerfällt und wie viele Blicke, Hände, Krawatten, Blusen, Eheringe, Turmfrisuren, Glatzen, Zigarettenmarken, Duftnoten, Titelseiten, Schlagzeilen man in einer halben Stunde aufnehmen kann oder zumindest mit dem Blick streifen kann.
Du, wie sich die auf dem Balkan die Köpfe einschlagen, und die Serben, das ist eine ganz schön kriegerische Meute, die sind wie die Hyänen (Herr Pfister, der Umzüge organisiert, weltweit, auch nach Übersee, der sich mit seinem Freund unterhält), Sie haben eine helle Schale bestellt, oder? Ja, danke schön, und wie heisst der Serbenführer in Bosnien? Ah ja, Mladic, genau, danke, Fräulein, der und Milosevic, die sind noch schlimmer als echte Nazis, glaub mir.
Frau Müller, Frau Zwicky, Herr Pfister, Herr Walter, Frau Hungerbühler, Herr und Frau Schilling, der Lehrer, die Kassiererin, der Gärtner vom Nachbarsdorf, die Coiffeuse, die bis anhin den Kaffee bei der Konkurrenz getrunken hat, die Postbeamten, die Bauarbeiter, sie alle wollen einen Kaffee und möglicherweise etwas dazu, möchten Sie etwas dazu, etwas Süsses oder etwas Salziges?
Und stimmt es eigentlich, dass Milosevic' Vater Schuhmacher war?
Es ist nicht wahr, dass die Zeit schnell vergeht, je schneller man arbeitet, desto langsamer vergeht die Zeit, ja, Frau Wittelsbacher, ich komme gleich, und es ist eine Kunst, alles reibungslos hinzukriegen, so zu arbeiten, dass alles läuft wie geschmiert, Tisch zwei und drei wollen zahlen, sagt Nomi (ja sofort, ich komme gleich), ein Spezialwunsch, der einen auch zwischen neun und zehn nicht aus dem Konzept bringen darf (ja, selbstverständlich!), der Schnabelkragen meiner umständlichen Bluse, der sich bei jedem Schritt bemerkbar macht (finden Sie? danke! ja stimmt, das ist eine Farbe, die ich sonst nicht trage), Nomi, die mir wieder ein Glas Wasser hinstellt, Frau Hungerbühler, die ihren zweiten Schuh sucht, sie hüpft mit einem Schuh zur Theke, sagt, die Kinder hätten ihren zweiten Schuh gestohlen, die Rotzgören, wo sind sie? ich, die unter die gepolsterte Sitzbank kriecht, um Frau Hungerbühlers zweiten Schuh zu finden (und das alles zwischen neun und halb zehn), den dunkelblauen Halbschuh, der geduldig im hintersten Eck auf Frau Hungerbühlers Fuss wartet, auf meine Hand, die Frau Hungerbühler ihren Schuh überreicht, vielen Dank, herzlichen Dank, und was kann ich Ihnen dafür geben? (eine weitere Regel, die man nicht vergessen darf: Nie mit leeren Händen gehen, man kann immer, vor allem zwischen neun und halb zehn, etwas mitnehmen, Teller, leere Tassen und Fläschchen, zerknüllte Servietten, die Aschenbecher nicht vergessen, wer setzt sich schon gern an einen Tisch mit Kippen), wie kam der Schuh bloss dahin? Das ist mir völlig unerklärlich! Nomi fragt, ob sie mich ablösen solle, und Frau Hungerbühler, die mir bestimmt einen Fünfliber in die Hand drücken wird, ein Fünffrankenstück (fürs Hinknien, fürs Suchen, fürs Finden, fürs Schwitzen), nein, ich schaff das schon, sage ich, und Frau Hungerbühler nimmt meine Hände, ich wohne nicht weit von hier, am Hornweg, besuchen Sie mich doch, wenn Sie mal Zeit haben, das würde mich sehr freuen! und ich, die darüber so überrascht ist, dass Frau Hungerbühlers Augen die Einladung wirklich ernst meinen, bin unfähig, die passenden Worte zu finden, sage nur, ist schon gut; statt mich über Frau Hungerbühlers unerwartete Herzlichkeit zu freuen, ärgere ich mich über Herrn Pfister, der sich gern amüsiert, der herzhaft und ausgiebig lacht, wenn ich auf meinen Knien umherrutsche, um Frau Hungerbühlers Schuh zu finden, und Fräulein, sagen Sie mir doch, warum arbeitet Anita nicht mehr hier? die war doch gut, die war doch ausgezeichnet? und ich, die also zwischen neun und halb zehn plötzlich die Augen von Herrn Pfisters Hund vor sich sieht, dunkelbraune, schreckhafte Augen, ein schwarzes Fellknäuel, das sich unter die Sitzbank verzogen hat, ich, mit Bluse und Jupe auf Knien, habe eine nasse Hundeschnauze vor mir, und ich werde Herrn Pfister irgendwann, so wie sein Hund es tun würde, ins Bein beissen, warum? Wahrscheinlich, weil Herr Pfister sich ein bisschen bückt, unter die Sitzbank schaut, zu mir und zu seinem Hund sagt, ich bin ja selbst Arbeitgeber, ich weiss ja, dass der Schweizer heute andere Ansprüche hat, und dann, wenn die Schweizer erst mal weg sind, muss man sich mit Albanern oder sonstigen Balkanesen zufrieden geben; Herr Pfister, der jetzt irgendwas merkt, bei Ihnen, das ist ja etwas anderes, Sie sind ja schon eingebürgert und kennen die Sitten und Gepflogenheiten unseres Landes, aber die, die seit den 90ern kommen, das ist ja rohes Material, sagt Herr Pfister und sitzt wieder aufrecht, spricht nicht mehr zu mir und seinem Hund, sondern wieder zu seinem Freund, der sicher auch Arbeitgeber ist, wissen Sie, der homo balcanicus hat die Aufklärung einfach noch nicht durchgemacht, sagt Herr Pfister, übrigens, mein Hund beisst nicht, ruft er mir zu, und sein Lachen erschüttert die Sitzbank, die gepolsterte, gemütliche, senfgelbe, und ich finde, dass die Aussicht unter einer Sitzbank überraschend ist (vor allem zwischen neun und halb zehn), und während ich mich strecke, um Frau Hungerbühlers Schuh aus der Ecke zu fingern, beobachtet mich dieser aufmerksame Hundekopf, und einen Augenblick lang denke ich daran, dass man Hunde retten müsste, unbedingt die Hunde, man müsste sie retten vor schamponierten Teppichen, Hundeparcours, Flanellhosenbeinen und lustigen Witzen (wissen Sie eigentlich, wie mein Hund heisst, fragt Herr Pfister vergnügt), die Aussicht also ist überraschend, etwas ganz anderes, unter den Bänken die Beine, Socken, Strümpfe, Croissantkrümel zu sehen, Herrn Pfisters Waden, die erstaunlich dünn sind, der wuschlige Hundekopf, der mit all dem nichts zu tun hat, haben Sie ihn, zittert Frau Hungerbühlers Stimme, ja! und nächstes Mal werde ich länger bleiben, werde mich womöglich zu Herrn Pfisters Hund legen (vielen Dank!) mit meiner umständlichen Bluse und meiner Stützstrumpfhose, ich werde das tun, um das Mondial aus einer anderen Perspektive zu sehen, ein amüsanter Gedanke, ein erschreckender Gedanke, dass ich da liegen bleiben möchte, bei den unter den Sitzbänken unsichtbar gemachten Heizkörpern, ich, die schwitzt, bin ganz nass, weil ich mehr als schwitze, der Schweis s bricht aus mir heraus, Tisch sieben, der mich fixiert, die Gebrüder Schärer mit ihren doppelt hintergründigen Augen. Entschuldigen Sie, sagt Herr Pfister, als er aufsteht, sich sein Jackett zuknöpft, ich finde, Sie machen Ihre Sache sehr gut (danke schön, ja, ich wünsche Ihnen auch einen schönen Tag, Herr Pfister, bis morgen!), ich, die sich trotz allem geschmeichelt fühlt, ärgere mich, über sie, die ich bin.
Was ist mit dir los, fragt mich Nomi, als das Mondial wieder halbleer ist, Nomi, die mir eine Zigarette anzündet, mir sagt, dass ich mich hinsetzen soll. Ich habe die falsche Strumpfhose angezogen, die falsche Bluse, ich habe nicht geschlafen, ich habe noch nichts gegessen, heute ist Freitag, und Freitag ist der Tag, den ich grundsätzlich nicht mag, warum, weiss ich nicht, vielleicht, weil es ein Tag ist, der sich auflädt vor dem Wochenende…
Hör auf, sagt Nomi, komm schon, was ist los, Nomi, die mich aufmerksam anschaut, mir die Schulter streichelt; aber wir können, wie so oft, nicht weiterreden, die Tür geht wieder auf und zu, wir drücken unsere Zigaretten aus, trinken rasch noch einen Schluck Kaffee, wir reden später weiter, morgen Abend gehen wir zusammen aus, ja?