Wir setzen uns ins Abteil, wo wir rauchen können, wir setzen uns hin und sind beide erschöpft, vom Samstag, an dem immer viel los ist, im Mondial (nicht mehr so viel wie früher, bei den Tanners, aber doch), und unser Zug fährt los, Richtung Stadt, ich bin gar nicht in Stimmung, sage ich, wollen wir nicht beim nächsten Halt aussteigen und zum See runter? Komm schon, sagt Nomi, du kennst das doch, wie das ist, wenn man sich erst mal hinsetzt, merkt man erst, wie müde man ist, aber das geht schnell vorbei, nach einer halben Stunde, höchstens. Ausserdem ist heute ein grosses Konzert, die ganze Nacht spielen Bands, Ildi, das sollten wir nicht verpassen, und Mark, der wird auch da sein, meinst du nicht? Schon möglich, und ich nehme mir eine Dose aus der Tasche, willst du auch?
Nomi und ich, wir trinken Bier, wir schauen uns an, wie wir uns spiegeln im Zugfenster, wir sind es doch, obwohl wir ganz anders aussehen als sonst, im Mondial, wir sehen aus wie Männer, wie schmuddelige Männer, findet Vater und ereifert sich, endlos lang seine Ausführungen über seine Töchter, die die falschen Freunde hätten, falsche Freunde mit falschen Ideen! und ich sag's euch, wenn ihr euch so im Mondial blicken lässt… und Mutter sagt gar nichts, wenn sie uns so sieht, höchstens schüttelt sie den Kopf, da, wo wir hingehen, spielen die Kleider keine Rolle, sagen wir, und manchmal glauben wir uns, und manchmal wissen wir, dass wir lügen, wenn wir vor dem Spiegel stehen, schauen, ob die Handwerkerhose, die dunkelblaue, so sitzt, dass man meinen könnte, man hätte ihr noch gar nie Beachtung geschenkt — wo geht ihr denn hin, fragt Vater. An einen Ort, wo es keine Gesetze gibt, da ist alles erlaubt, alles, was einem anderen nicht weh tut, sagt Nomi oder sage ich, unsere verwaschenen, überdimensionierten Sweat-Shirts, die uns geschlechtslos machen. Auf jeden Fall habt ihr da nichts verloren, das sagen wir nicht, aber fast, wenn Vater meint, er komme uns abholen mit dem Auto, er wolle sich das mal anschauen, er wolle wissen, was das für ein Ort sei, ohne Gesetze? da lach ich ja im Schlaf noch, so was gibt's nicht, gesetzlos ist nur der Krieg, und vom Krieg habt ihr keine Ahnung, nicht die geringste, und: Warum soll ich euch nicht abholen, schämt ihr euch denn für mich?
Vater hat heute gar nichts gefragt, sagt Nomi, Mutter hat ihn wahrscheinlich bearbeitet, ich habe gehört, wie sie gestern zu ihm gesagt hat, dass wir, wenn er sich weiter so benehmen würde, bestimmt bald ausziehen, davor hat er, glaub ich, wirklich Angst, sagt Nomi. Meinst du? Ja, ganz sicher.
Was war denn gestern los, fragt Nomi und klopft gegen meinen Kopf im Fenster, du hast plötzlich so anders ausgesehen, ich weiss gar nicht, Ildi, manchmal mache ich mir Sorgen um meine grosse Schwester, und ich, die mit dem Zeigefinger Nomis Nasenspitze im Fenster antippt, Sorgen, warum denn? Ich komme mir manchmal so unwirklich vor, im Service vor allem, vielleicht sogar unecht, dann fange ich an zu schwitzen, alles dreht sich… Unecht, fragt Nomi, das verstehe ich nicht, in einem normalen Betrieb ist man doch weder echt noch unecht, und Nomi nimmt einen Schluck aus der Dose, die Gäste wollen was von uns, wir wollen was von ihnen, und das Reizvolle daran ist, dass in diesem Umfeld alles ein bisschen ist wie Katzengold. Das gefällt mir, Katzengold, antworte ich, ich glaube trotzdem, dass es einen echten Kern geben muss, in der eigenen Arbeit… Mein Kern geht niemanden im Mondial was an, unterbricht mich Nomi, und mein echter Kern schon gar nicht, Ildi, verbeiss dich nicht in Dinge, die sich nicht ändern lassen; Nomi, die mich in die Arme nimmt, lass uns von was anderem reden, von unserer Zukunft beispielsweise, von unserer Zukunft? Ja, weisst du, was wir tun, wenn wir alt sind? und Nomi berührt mit ihrer Nasenspitze meine Stirn, wir ziehen zusammen wie Frau Köchli und Frau Freuler, und wir zotteln gemeinsam durch den Nachmittag, essen grandiose Süssigkeiten, wir lesen uns vor, also du liest vor, und ich höre zu. Ich kann mir eigentlich nichts Schöneres vorstellen, antworte ich.
Wohlgroth, so heisst unser Ort, eine ehemalige Fabrik, die jetzt besetzt ist, wir gehen auf den Häuserkomplex zu, vor dem sich Müllsäcke türmen, besprayte Container, die überquellen, Fahrräder, die kreuz und quer rumstehen, schon viel los, sagt Nomi, die Aussenwände sind bemalt, verschmiert, sagen die einen, Farbkleckse, Striche und Figuren, Zeichen, Botschaften, und Nomi und ich, wir halten uns an den Händen, als seien wir ein Paar, man kennt uns, hallo, ihr beiden, ruft Suhansky, seine Augen stehen schon schief, na, wie steht's, wie geht's? und selber? und im Innenhof brennt ein Feuer, Hunde, die ums Feuer rennen, andauernd die Richtung wechseln, heulen, was ist denn hier los? ach so, ah ja, ein heidnisches Frühlingsfeuer, und Nomi und ich, wir bleiben einen Moment lang stehen, sehen den Hunden zu, wie sie immer wilder werden, als jemand noch einen halben Stuhl ins Feuer wirft, kaputtes Kinderspielzeug, irgendwelchen Müll, Zeitungen, Zeitungen, einen ganzen Stoss voll, verdammte Lügner, diese Journis! schreit Suhansky, halt die Klappe, ruft ein anderer, der seinen Hund zu beruhigen versucht; komm, wir gehen nach oben, sagt Nomi, ja, die Treppe hoch zu unserem Lieblingscafe, wo man die Stadt sieht, die Gleise, wo ich gern sitze, um die ein- und ausfahrenden Züge zu beobachten, wo ich das erste Mal in meinem Leben einen Tschai getrunken habe, was nichts Verrücktes ist, sondern ein Gewürztee mit Milch und Honig, aber ich kam mir verwegen vor, wichtig; man kennt uns, weiss, dass wir aus Jugoslawien kommen, das ist fast so, als käme man aus Moskau — und Nomi und ich, wir rauchen, zeigen uns gegenseitig, was sich seit unserem letzten Besuch verändert hat, eine Madonnafigur aus Plastik, die über der Bar flimmert, in Rosa, Gelb, Hellblau und Grün, das gesprayte Wandbild, das weiterwuchert, unzählige Figuren, die ineinander verschlungen sind, Menschen, die zu Tieren mutieren, schau mal das Monster da, sagt Nomi, zeigt auf ein menschenähnliches Ungetüm, das mit aufgeblähtem Kopf, aber perfekt gezogenem Mittelscheitel Münzen und Geldscheine in seinen Hals wirft, ein gut durchbluteter Hals, sage ich, und wir lachen, weil die roten Bahnen so gut gesprayt sind, dass man das Blut wirklich pulsieren sieht, weil wir uns vorstellen, wie es wäre, wenn unsere Gäste die Tür aufmachten, und sie sähen als erstes dieses Bild, und es würde die ganze hintere Wandfläche des Mondial abdecken und sich markant abheben von den senfgelben Tischtüchern aus Leinen, der Wanduhr, den Vasen, den hellen Schlaufengardinen, Fräulein, darf ich Sie fragen, haben Sie das gemalt? ist dieses Bild ein Symbol für irgendetwas?
Mark und Dave, die sich zu uns setzen, wir möchten uns auch amüsieren, ja dann, antwortet Nomi lachend, erzählt uns doch einen Witz! Wo habt ihr zwei gesteckt, die ganze Woche, fragt Mark und begrüsst zuerst mich, dann Nomi. Fängt der Witz so an, frage ich, und Dave küsst Nomi, ziemlich lange, finde ich, willst du auch geküsst werden, fragt Mark, nein, aber kannst du mir verraten, wie die Band heisst, die da aus den Boxen kommt? Guts Pie Earshot, sagt Mark, was für ein Name, was für eine Stimme, sage ich, die spielen heute auch, und Mark zieht mit seiner Zungenspitze eine Linie auf seiner Zigarette, löst das Papier, reibt den Tabak zwischen Daumen und Zeigefinger, kommen aus Deutschland, Mark, der den Tabak mit Gras vermischt, ist eine richtige Politband, sagt Mark, ohne aufzuschauen, spielen nur in besetzten Häusern, für politische Aktionen, konsequent, sage ich, Nomi und Dave, die sich immer noch küssen, Mark, der mir den Joint hinhält, ich, die eigentlich nicht will, ziehe, ziehe lange, bestellst du mir noch einen Tschai, sage ich, der verpennte Typ hinter dem Buffet macht mich krank, Mark, dessen tief sitzende Jeans ich mir anschaue, seinen Kapuzenpullover, der einen Streifen Haut frei lässt, einen Tschai mit Rum, rufe ich Mark nach, versteht sich! (Und einen Moment lang bin ich für mich allein, sehe die Schienen, wie sie sich kreuzen, ich, die es liebt, nachts Reisende ein paar Sekunden lang zu beobachten, manchmal dem Glück eines gelösten Gesichtes zu folgen, das einer Hoffnung entgegenfährt, ich könnte stundenlang hier sitzen, um überallhin zu fahren, wo ich noch nie war, nach Barcelona, mit dem Talgo und weiter nach Madrid, Lissabon, ich bin keine Reisende, sondern eine, die weggeht und nicht weiss, ob sie jemals zurückkommt, und jedes Mal, wenn ich weggefahren bin, habe ich mein Zimmer peinlich genau aufgeräumt, habe meine Kleider, die ich nicht mitgenommen habe, frisch gewaschen, ordentlich zusammengelegt oder im Schrank aufgehängt; meinen Spiegel habe ich abgedeckt, damit er das Zimmer ohne mich nicht sieht, mein leeres Schreibpult, das alphabetisch geordnete Bücherregal, das frisch bezogene Bett, ich habe mich immer auf eine Abreise ohne Rückkehr vorbereitet, wenn wir in die Vojvodina gereist sind, und das war lange Zeit die einzige Richtung, in die ich gefahren bin.)
Ich hab dich in keiner Vorlesung mehr gesehen, sagt Mark, als er den Tschai auf den Tisch stellt, wir sind im Moment ziemlich beschäftigt, sagt Nomi für mich, womit denn, will Dave wissen, wir helfen unseren Eltern, antworte ich, Mark, der seinen Joint wieder weiterreicht, euren Eltern, helfen? Ja, stell dir vor, wir arbeiten an der Goldküste, in einer Cafeteria, sieht da ein bisschen anders aus als hier, und Nomi und ich, wir lachen, und Mark sagt, wir sind mit zwei Goldküstenbarbies unterwegs, das hätt' ich nicht gedacht, und er lacht auch, warum lachst du, frage ich, Nomi, die mehrmals am Joint zieht, sagt, wir sollten uns alle lieben, und Dave fragt, wir könnten doch mal bei euch vorbeikommen, ich möchte euch zu gern sehen, wie ihr zwei da in diesem Goldküstencafe rumdüst, und ich, die einen Schluck Tschai nimmt, der nur nach Rum schmeckt, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist; warum nicht? die sollen uns ruhig besuchen, meint Nomi, und das Cafe gehört euren Alten? Wie heisst die Band nochmals, was für ein Earshot, frage ich, ziehe am Joint; Themenwechsel meinst du, sagt Mark, und ich schaue ihn an, sein weisses, schmales Gesicht, die langen Zähne, sein zerknautschtes, dichtes Haar, ich mag das nicht, diesen Ausdruck, "meine Alten", sage ich und frage zurück, was machen deine Eltern? So what? hab ich was mit meinen Alten zu tun, antwortet Mark, ich nicht, im Gegensatz zu dir, zu euch, ihr bekommt den cash von den Eltern. Und du, woher hast du dein outfit, frage ich (und gleich wird alles gut sein, gleich wird das Gras einfahren, denke ich, gleich werde ich Tierköpfe sehen und keine Menschengesichter mehr, gleich wird sich Mark in eine Katze verwandeln und ich in eine Maus oder umgekehrt), Post, Nachtschicht, sagt Mark, der gut aussieht, als er es sagt; seit drei oder vier Monaten, frage ich, Ildi, komm schon, sagt Mark, küss mich, du bist ein Biest, wenn du anfängst zu denken, und alle lachen, ich lache mit und sehe Benno vor mir, Benno, den man auch leicht übersehen könnte, in seiner ewigen Jeansjacke, mit den hochgezogenen Schultern, schon lange nicht mehr gesehen! Benno, der sich zu uns setzt, nie jemanden grüsst, sondern: Ihr, was denkt ihr über die Belagerung von Sarajevo? wisst ihr schon, dass ein Tunnel gebaut wird? seit ein paar Wochen wird Tag und Nacht gebuddelt, die Stadt braucht diesen Tunnel, sonst geht da nix mehr, sagt Benno, der immer mittendrin ist, im Kriegsgeschehen, und tatsächlich Dinge weiss, von denen wir keine Ahnung haben; dürfen wir dazwischen einen Schluck trinken, sagt Dave, sonst trocknen wir noch aus! Konsum macht blöd, das wisst ihr ja selbst, ja, Benno, das wissen wir schon, von dir, aber erzähl mal von diesem Tunnel. Ist noch nicht in den Medien, sagt Benno, ohne die Miene zu verziehen, der Tunnel soll unter dem Flughafen von Sarajevo durchführen, der Flugverkehr ist ja lahmgelegt, da geht nichts mehr rein und raus, ein Überqueren der Start- und Landebahn ist wegen den serbischen Heckenschützen unmöglich, versteht ihr? Und wir lassen den Joint weiter kreisen, Benno, der abwinkt, wir müssen uns doch mal grundsätzlich überlegen, was das heisst, wenn eine ganze Stadt belagert wird, hey, wir hier spielen so ein bisschen Freiraum, in Sarajevo kämpfen die ums nackte Überleben, komm schon, sagt Dave, ist Samstagabend, oder willst du dich als Freiwilliger melden? Genau, sagt Benno, entweder man ist Höhlenmensch oder kultiviert, so blöd sind wir inzwischen, dass wir das glauben, mach die Ohren zu, wenn's dich nicht interessiert, ich rede sowieso in erster Linie zu den Schwestern, ihr beiden, wir suchen noch Leute, die bei unserer Mediengruppe mitarbeiten, wir sammeln unzensierte Informationen, auch Geld, damit wir die einzige noch unabhängige Zeitung in Sarajevo unterstützen können, und euch könnten wir gut brauchen, ihr könnt doch Serbokroatisch, das würde uns helfen, sagt Benno, schaut uns fragend an. Kein Wort können wir, sage ich. Ich dachte, ihr kommt aus Serbien. Ja, schon, aber aus einer Stadt, in der hauptsächlich Ungarisch gesprochen wird, und wir sind beide schon hier zur Schule, sonst hätten wir Serbisch gelernt, sagt Nomi. Verstehe, ihr kommt aus der Vojvodina, schade, ihr könnt ja trotzdem mal vorbeischauen, wir treffen uns immer dienstags, am Abend. Wo? Hier oben! Benno, der seine Schultern hochzieht, schon wieder verschwunden ist.
Der kompensiert doch irgendwas mit seinem ernsten Übereifer, sagt Mark (warum widerspreche ich ihm nicht? Ich komme nur, wenn ihr Hundeverbot habt in eurer Mediengruppe, denke ich, stelle mir vor, wie eine Handvoll Freaks mit ihren Hunden im Kreis sitzen, über den Krieg diskutieren, die Hunde, die ihre Schwänze schwingen wie Fahnen), ciao, Benno, rufe ich, schaue wieder aus dem Fenster, und es sind nicht mehr die Züge, die fahren, sondern wir fahren, ziemlich schnell, jemand hat uns auf einen grossen Hubstapler geladen und fährt mit uns, immer schneller, Richtung Müllabfuhr, wer fährt, frage ich und sage: Mark, pass auf, deine Zähne fallen dir aus deinem Mund, oh, und Mark lacht, Nomi lacht, Dave lacht, ich lache, du wirst einen Mund haben, aber keine Zähne, und ich sehe, wie das Herz der Madonna blinkt, ihr Herz wächst uns entgegen, wir fahren, damit wir zum Herz kommen, sage ich, Mark prustet, Ildi, du machst mich krank, du bist so komisch, he, ihr alle, sagt Dave, lacht nicht grundlos und wischt sich die Tränen ab, ich bin, ich bin, ich bin, ich — du, komm schon, wir tauschen, du küsst Nomi und ich Ildi, der Hubstapler hat einen Propeller, er wirft uns kalte Luft ins Gesicht, Dave? Sein grosses Gesicht vor mir gleicht dem Gesicht eines traurigen Clowns, verschwinde, Dave, der Müllberg wächst, ich muss mich darauf vorbereiten, auf das, was kommt, Nomi, Nomi, wo bist du? und ich, die vermutlich in Tränen ausbricht, he, Ildi, alles klar, ich bin hier — bei dir, und ich, die sagt, warum habe ich so kalte Hände? weisst du, warum wir hier sind? was wir hier suchen? Wir amüsieren uns, das sagt nicht Nomi, wahrscheinlich Dave, Dave, warum stehst du immer noch vor mir, halt dich fest, Dave, die Geschwindigkeit, spürst du sie nicht, Dave sagt, Mark behauptet, du küsst göttlich, ich will das jetzt haben, mach die Augen zu — geh weg —, Nomi, wo bist du? los, ab in den Keller, das Konzert hat begonnen, Mark, der mich stützt, weil ich keine Beine mehr habe, keine Beine? du spinnst, sagt Mark, ja, ich bin beinlos; los, komm schon, vergiss deine Beine, ruft Mark — aber was machen die Polizisten da? Mark, warum sind wir umzingelt, hat das mit meinen Beinen zu tun? Ildi, da sind keine Bullen, Leute wie du und ich um uns, Ildi, pass auf, die Stufen! Nomi, wo ist sie? Unten, im Keller, antwortet Mark, los, mach schon! der Hubstapler, sage ich, und warum sagst du mir, da sind keine Polizisten, die Hunde sind überall, siehst du sie nicht? Mark, der mich packt, die Treppe runterträgt, habt ihr geheiratet? Augen, Münder, in denen Blut schwimmt, warum sind alle verletzt? und Benno fliegt über uns, Sarajevo, ruft er, versteht ihr? Sarajevo! Und ich drehe meinen Kopf in Marks Arm, ich will keine Hunde mehr sehen, keine blutenden Münder, und da, wo früher die Beine waren, schlägt das Herz, kann ein Herz da schlagen, wo sonst Beine sind? Mark, der mich in ein Loch hineinwerfen will, ich, die sich mit Händen und Füssen wehren muss, schreie ihn an, damit er es nicht tut; ein Sofa, sagt Mark, verdammt, Ildi, das ist ein Sofa, ich kann dich nicht mehr tragen! Und wenn du mich ins Loch wirfst, lande ich auf dem Müllberg, Mark, ich hab's gewusst, deine Augen haben mir's verraten! und ich befreie mich, werfe mich auf den Boden, Mark, warum trampelst du mich tot mit deinen Schreien? Ich bin's nicht, sagt Mark, die Band schreit — was? welche Band? warum kann ich nicht auf dem Boden liegen, warum rast der Boden in mich hinein? Du spürst die Vibration, sagt Mark, hör mal zu, ich hol dir eine Flasche Wasser, du musst trinken, du bist auf einem ziemlich schlechten Trip, der muss wieder raus aus dir.
Irgendwann waren wir dann auf dem Klo, Nomi, die mir den Kopf duscht, Nomi, die auf mich einredet, mir die Wangen streichelt, den Kopf, hallo, siehst du wieder klar? klar, Nomi, die sagt, Rum und Gras vertragen sich nicht, blutige Anfängerin, sage ich und hebe meinen Kopf, sehe mich im Spiegel, Nomi, die ihr Gesicht an meine Wange drückt, wir sehen uns ähnlich, sagt sie, die Lippen, die Augen, unsere Gesichtsfarbe, nur die Haare nicht; erinnerst du dich an Grossmutter, wie sie sagte, dass jeder Mensch mehr als zwei Gesichter hat? Wie könnte ich das vergessen, antwortet Nomi.
Ich möchte nur ein Gesicht haben, sage ich.
Nomi, die lange wartet, mich anschaut und dann sagt, jeder Mensch hat verschiedene Gesichter, es ist überlebensnotwendig, verschiedene Gesichter zu haben.
Ich kann nicht mehr arbeiten im Mondial, und ich kann nicht mehr hierher kommen, es ist —
Ildi, du bist heute schlecht drauf, komm schon, nichts Grundsätzliches jetzt, wir machen uns ein bisschen frisch, ein bisschen Schminke, und dann gehen wir tanzen, meine geliebte Schwester, mach dich nicht so schwer.
Und Nomi und ich, wir haben getanzt, mit Dave und Mark, wir haben uns verwickelt, uns am Hals geküsst, und ich habe mich fallen lassen, habe meinen Mund an Marks Schulter sich festsaugen lassen, meine Augen, die zufielen vor Müdigkeit und Erleichterung, deine Haut ist so weich wie Schnee, flüsterte Mark mir ins Ohr (und so kalt?), vielleicht kann man an einem Tag etwas beschliessen, dachte ich, man kann beschliessen, anders zu werden, und dann kommt der nächste Tag, und man merkt, wie spielend leicht es geht, und Mark hat meine Schulter nass geküsst, seine Finger haben meine Brüste im Takt berührt, Mark und ich, wir tanzten durch die Stuhlreihen des Mondial, die Bilder, aus denen Farbe tropfte, es sieht schön aus, sagte ich flüsternd in Marks Ohr, das Gelb, das Rot, das Blau, die Farbtropfen an den Wänden, auf den gepolsterten Stühlen, und das Tapetenmuster zitterte, durch alles ging ein leichtes Beben, die beiden Vasen, die im Zeitlupentempo umfielen, es sieht wirklich schön aus, die Scherben, sagte ich zu Mark, die verschmierten Landschaftsbilder, und wir drehten uns mit verschlungenen Armen und Beinen weiter, bis Nomi uns aus unserem Wachtraum weckte, der Keller, der schon fast leer war, die Musik, die nur noch ganz leise aus den Boxen spielte.
Mark und Dave, die uns zum Bahnhof begleiteten, mit uns auf den ersten Zug warteten, und wir umarmten uns, Nomi Dave, ich Mark, wann sehen wir uns? Bald, und ich erinnere mich, dass mir der Morgen kalt vorkam, und ich sah mich am Gleis stehen, zerwühltes Haar, eine schlotternde Hose, verschwitztes T-Shirt, ich sah meine Schuhspitzen, die Marks Schuhspitzen berührten, kommst du nächste Woche an die Uni? Nein, antwortete ich, ich habe keine Zeit, und ich hörte meine Stimme, sah zum Kioskverkäufer, der mit offenem Mund zu uns schaute, ich sah ihn, mich, uns, die Tauben, die auf dem Bahnsteig mit ihren Köpfen ruckten, mit raschen Bewegungen auf den Asphalt pickten, der Tag, der schon heller wurde, am Himmel rote Verfärbungen zeichnete; und ich sah uns vom Kiosk aus, ich hinter Zeitungen, Zeitschriften, Kaugummis, Schokoriegeln stehend — ich sah uns, übergross, ich, eine aufgeregt flatternde Taube, von menschlichen Schritten aufgescheucht.
Im Sommer 1987 sassen unsere Eltern im Wohnzimmer, nach der Arbeit, sie beugten sich über das Buch, das ihnen irgendein Beamter mitgegeben hatte, Staatskunde, und Nomi und ich, wir haben unsere Eltern abgefragt, die Bundesräte, das Parlament, die direkte Demokratie, die Staatsgründung, Fragen zur Schweizer Geschichte, unsere mit Beinschinken belegten Brote haben Fettflecken hinterlassen im Buch, und es war ein fester Ablauf: Brote streichen, belegen, ein Tablett mit belegten Broten und Mineralwasser ins Wohnzimmer tragen, Nomi und ich, die die Einbürgerungsprüfung nicht machen mussten, weil wir noch nicht volljährig waren, Förderalismus, sagte Vater, und wir lachten mit butterverschmierten Mündern, was willst du fördern? Vater, der "Demokratie" so aussprach, als wäre sie eine schöne, elegante Dame, aber keine Staatsform, wenn einem etwas wichtig ist, dann muss es schön klingen, elegant, Fragen, die Nomi und ich nicht beantworten konnten, Halbkantone, was soll denn das sein, entweder gibt es Kantone oder nicht, und wir haben nicht nur gelacht, sondern uns auch die Köpfe zerbrochen, weil uns die Sprache immer wieder in die Quere kam, Namen wie General Guisan, wie soll ich mir das bloss merken? Rätoromanisch, nicht radromanisch! Nomi, die sagte, bin ich froh, dass ich die Prüfung nicht machen muss, und es war ein verregneter Tag, an dem wir unseren Eltern Glück wünschten, und wir waren nicht überrascht, dass sie schweigend nach Hause kamen, nicht geschafft, sagte Mutter, wir müssen noch mal hin, ein paar Fragen hätten sie gar nicht verstanden, wie soll man da antworten, wenn man die Frage nicht versteht? Mutter, die der Prüfungskommission ein besonders ausgefallenes Strudelrezept aufgetischt hatte, weil sie das Wort Sudel nicht gekannt hat, das schweizerische Wort für Fresszettel, die Beamten, die ihr angeboten haben, sie könne sich auf einem Sudel Notizen machen.
Und es ist merkwürdig, dass wir ausgerechnet an diesem Abend Monopoly spielen, ich weiss gar nicht, ob dieses Spiel je irgendjemand von uns gemocht hat, ich glaube nicht, auf jeden Fall steht das Spielbrett auf dem Tisch, wir würfeln, kaufen, Vater wird ein paar Mal hintereinander ins Gefängnis geschickt, wenn wir etwas zusammen gespielt haben, dann Karten, meistens Romee, und Mutter hat beim Spielen sehr oft gewonnen, und Vater hat sich in allen Farben über ihr Spielglück geärgert, aber an diesem Abend geht es nicht ums Gewinnen oder Verlieren beim Spielen, sondern darum, dass in unseren eigenen vier Wänden die überreifen Früchte wieder einmal aufplatzen, Vaters witzig abschätzige Bemerkungen über die Käsigen, die Schweizer, die Herzspezialisten hinter den Alpen, diesen ausgehungerten Quark, den sie hier haben, der schmeckt doch gar nicht, sagt Vater, den schmiert sich höchstens so eine hihihihi Hausfrau ins Gesicht, sagt er, würfelt eine Sechs (und kauft sich ein Häuschen in Freiburg, das ist bestimmt fehlinvestiert, sagt Nomi), und wisst ihr, jetzt spreche ich als Metzger zu euch, warum die Schweizer alles bis zur Unkenntlichkeit verhacken müssen? Für den Schweizer gibt es nichts Schlimmeres als Fettaugen, wenn ihn so ein Fettauge anschaut, dann sieht er schon einen Zeigefinger, denk an dein Kolesteril, ja, und die Hausfrauen, die noch um elf Uhr in Cafes rumsitzen mit ihren frischen Frisuren, wenn sie zusammen höcklet, sitzen, besprechen, was sie als nächstes für einen Kurs besuchen oder wo sie im nächsten Winter in die Skiferien fahren (Mutter, die die Wasserwerke, die Elektrizitätswerke und Bergbahnen kauft und vielleicht auch gern einmal einen Kaffee getrunken hätte am Vormittag, in einer Cafeteria), sollen wir überhaupt noch weiterspielen, frage ich, warum nicht? wir haben ja erst gerade angefangen, und wisst ihr, was im Cervelat alles drin ist, in der Nationalwurst der Schweizer? viel viel Eis und Schwartenmagen, viel viel billiges Gewürz, dann wird das alles schön kleingehackt, vermantscht, weil die Schweizer nicht wissen wollen, dass sie Tiere essen, und am Schluss hat man so ein hellbraunes Wurschtli vor sich und sieht nichts mehr von der Wahrheit (Vater, der sich in Freiburg und in La Chaux de Fonds ein Hotel kauft, das lohnt sich nie, sagt Nomi, mal sehen, antwortet Vater), aber wer will das schon wissen, fragt uns Vater, und warum wird man hier nie eingeladen und wenn, dann zu Wienerli mit Kartoffelsalat? warum haben hier die Hunde Vortritt? (und Nomi und ich, wir lachen, weil Vater einem imaginären Hund einen Fusstritt verpasst), hier kannst du zugrunde gehen, und die organisieren dir noch ein korrektes Begräbnis (Vater, der in der Vojvodina nicht aufhört zu betonen, dass in der Schweiz alles seine richtige Ordnung hat, da weiss man, wo die Strasse anfangt, wo der Bürgersteig, und keine Bäume, die kreuz und quer wachsen), und Vater würfelt über den Tisch hinaus, wischt mit dem Arm über das Spielbrett, Vater, der doch keine Lust mehr hat, weiterzuspielen, weil er jetzt lieber schwärmen will von den Errungenschaften der eigenen Kultur, unser Quark ist doch ein Quark der Superlative, körnig, aromatisch, unsere Paprikawürste, die sind weltberühmt, hört mal! sogar amerikanische Filmstars essen unseren kolbäsz und wir Vojvodiner Ungarn sind ja noch viel gastfreundlicher als die Ungarn, die in Ungarn leben, unsere Sprache, die allen Studierten immer noch ein Rätsel ist; Mutter, die Vater plötzlich unterbricht, mit einer feinen Stimme sagt, es sei unangenehm, ständig zu schwitzen, wenn man Deutsch spricht, und wahrscheinlich schwitze man so, weil man wisse, dass man falsch spreche, auch wenn man sich noch so Mühe gäbe, und Mutter schaut uns alle der Reihe nach an, mit offenen Augen, als habe sie gerade etwas Schockierendes begriffen — und das Spielbrett liegt vor uns, das Papiergeld, die Figuren, die Würfel, Mutters Worte, die mitten ins Herz treffen und zeigen, was Vaters Überhebungen im Grunde sind, nämlich die Hilflosigkeit gegenüber erlittenem Schmerz, Enttäuschungen, die sich hinter diesen Sprüchen verschanzen (und es gäbe so viel zu sagen über den Kurzschluss, dass ein Mensch, der in einer Sprache Fehler macht, als dumm gilt, die Fehler meiner Eltern, die in meinen Ohren eine eigene Schönheit haben; es wäre die Gelegenheit zu sagen, dass Vater und Mutter, wenn sie Ungarisch sprechen, wie verwandelt aussehen), und als könnte Nomi meine Gedanken lesen, sagt sie, wir übersetzen euch simultan, das nächste Mal, wenn ihr zur Prüfung müsst, dann musst du nicht mehr schwitzen, Mami, dann schwitzen die Herren, weil ihnen so viele Wörter um die Ohren fliegen.
Trotzdem haben wir nicht gefeiert, als Vater und Mutter die Einbürgerungsprüfung beim zweiten Mal geschafft haben, so, das ist erledigt, sagte Vater, und Mutter räumte die Unterlagen weg, das Staatskundebuch, er setzte sich in seinen Sessel, sie aufs Sofa, und wir sahen sie erwartungsvoll an, aber Vater knipste den Fernseher an, Mutter langte nach ihrem Strickzeug. Und, fragte Nomi, und was, antwortete Vater, wir sind ja noch keine Schweizer, die Schweizer müssen erst mal noch abstimmen für uns. Die Beamten waren jedenfalls sehr nett, sie haben uns zur bestandenen Prüfung gratuliert, so Mutter.
Hörst du, wie sie rufen, fragt mich Dragana, wenn du genau hörscb, harsch du ihre Stimme, und Draganas Augen irren umher wie kleine, verlorene Kugeln. Unsere Familien rufen uns und was tun wir? und sie packt meine Hände, ich muss etwas tun, harsch mir zu? (Dragana, die unter der Woche von sieben Uhr morgens bis sechs Uhr abends in unserer Küche arbeitet und am Wochenende, mit ihrem Mann, für ein Putzinstitut), ich kann doch nicht zusehen, wie die meinen Sohn totmachen, erschiessen oder aushungern!
Vor einem Jahr hat die Belagerung von Sarajevo begonnen, sagte gestern die Stimme im Fernsehen, am 5. April 1992.
(Vater, der mit einem Ruck aufsteht, das geht doch in keinen Kopf, sagt er, dass es ein Jahr später da unten noch genauso aussieht, das ist doch nicht menschenmöglich, und Vater geht auf die Wohnwand zu, die geduldige, dunkelbraune, zieht den Griff nach unten, langt nach der Flasche, füllt seinen Whisky ins Glas, geht in die Küche, zum Eisfach, und wir hören, wie er die Würfel aus dem Behälter klopft, irgendwer macht da einen Fehler, sagt Vater, als er wieder ins Wohnzimmer kommt, sich mit seinem Glas in den Sessel setzt. Kommt nicht Dragana aus Sarajevo, fragt Nomi, ja, klar, aber ist sie Serbin oder Kroatin? oder sogar Muslimin? weiss ich nicht, antwortet Vater, will ich gar nicht wissen, es ist besser, wenn wir uns da nicht einmischen, und er zappt zum ungarischen Sender; wir können es uns nicht leisten, im Geschäft über Politik zu reden, sagt Mutter, vor allem jetzt nicht, wo die Lage immer angespannter ist — wisst ihr was, wir müssen den Leuten zeigen, wir sind Individien, und irgendwann werden sie uns nicht mehr bemerken, dann sind wir Luft für sie, das ist am besten, und wenn euch irgendjemand nach eurer Meinung fragt, wir haben keine Meinung —)
Ildi, hörst du nicht, wie sie rufen? Und ich, die nicht weiss, was sie sagen soll, überall behaupten sie, wir Serben sind schuld, und Dragana presst meine Wangen zwischen ihre Hände, die im Fernsehen könnd mir verbelle, was wand, die haben doch keine Ahnung, was da los ist, alle sind schuld, Ildi, die Serben schiessen von den Bergen, Izetbegovic opfert seine Menschen, damit er sagen kann, die Muslime sind Opfer und die Serben schuld an allem, und die Kroaten verbünden sich mit den Serben, wenn es ihnen gerade passt (mitten in Europa, denke ich, heute, nicht in der Vergangenheit), ja, ich höre sie rufen, sage ich plötzlich, um Dragana zu trösten, zu beruhigen oder um sie endlich zum Schweigen zu bringen, und Dragana hat einen Moment abgewartet, in dem wir allein sind, in der Küche (Vater, der einen Grosseinkauf macht, Marlis, die unten im Keller das Lager aufräumt), sag schon, wie hörst du sie? was hörst du genau, harsch du sie au am Nacht? Am Schlimmste isch es, wenn der Mond so rund und blöd isch, dann spucken sie mir alle ins Ohr, meine Schwester, mein Sohn, meine Tanten, sie spucken in mein Ohr und rufen nach mir, Dragi, Dragi, hast du uns vergessen? Ildi, weisch du, wie alt mein Sohn isch? nüün Jahr, jagt sie, neun Jahre alt sei er, und kann nüt komme, in Schwiiz (und Dragana streckt ihre Hände in die Höhe, als sei sie gerade verhaftet worden), fast vier Monate müssten sie noch warten, wegen dem Gesetz! das sei doch länger als ein Menschenleben, jetzt, wo jeden Tag Hunderte von Menschen sterben, und ich zucke zusammen, Dragana, die mir ein Foto hinstreckt, ich müsse ihn anschauen, ihren Sohn! Und nur widerwillig schaue ich ihn an, den Jungen mit seinem schüchternen Gesicht und Augen, die so schön sind wie nur Augen sein können; ein Kind in den Armen der Grosseltern und hinter ihnen ein Haus, ein halbes Haus, denke ich.
(Meine Mamika, deren Murmeln ich immer gehört habe, wenn ich schlaflos im Bett lag, das feine Geräusch ihrer Rosenkranzperlchen, die sich berührten, als Mamika sie drehte, weiterdrehte und dann, nach dem Beten, ihre Stimme, die klar und hell sang: Von meiner Mutter habe ich das Herz einer Taube, von meinem Vater habe ich das frohe, musik verliebte Gemüt. Meine Liebste, du mit dem weissen Seelchen, meine Eltern haben mich zu allem Schönen, Guten erlogen, zur Liebe und zu heissen Küssen…
Gestern, nachts, als ich schlaflos im Bett lag, habe ich mich an Mamikas Rosenkränze erinnert, Mamikas Überzeugung, dass Beten und Singen der harten Wirklichkeit wenigstens die äusserste Spitze nehmen können, und in den schlimmsten Zeiten ihres Lebens, da habe das fortwährende, lautlose Beten sie durch den Tag getragen, sie sei diesen Worten blind gefolgt, in die Zukunft, die es ohne diese Worte nicht gegeben hätte.)
Ich wusste, du hörst sie auch, sagt Dragana, küsst das Foto, lässt es wieder in ihrer Bluse verschwinden, und wenn die Schweizer ihren Sohn jetzt reinlassen würden, könnte er doch nicht kommen, weil er eingeschlossen sei in Sarajevo; und ich erschrecke darüber, dass Draganas Blick so fiebrig und hoffnungslos ist, wie sie mich anschaut, mir erzählt, dass sie ihren Sohn pfeifen hört, ganz hoch und durchdringend (die Wahrheit ist schrecklich und für niemanden bestimmt), und plötzlich, in diesem Moment, taucht Janka auf, wahrscheinlich weil Dragana nicht aufhört, von den Summen zu sprechen, die sie hört, ihrem Schuhmacher, den sie seit Jahren nicht mehr gesehen habe, sogar sein altes Fahrrad quietsche in ihrem Ohr, und er habe oft mit ihr geschimpft, sie solle nicht so schief durch die Welt gehen; all unsere Tanten, Onkel, Cousinen, sie waren für mich schon immer da — aber Janka?
Dragana dreht sich von mir weg, packt den Sparschäler, rüstet Kartoffeln und Karotten, die einfachsten Tätigkeiten, die nicht mehr für sich stehen, nur davon zeugen, dass wir hier nichts tun, denke ich, sagt sie, und ich sehe es plötzlich klar vor mir, die beiden Welten, die einander gegenüberstehen und sich nicht vereinbaren lassen, wir hier in der Schweiz und unsere Familien in Jugoslawien, im ehemaligen Jugoslawien, wie man sagt, das sind meine Feinde, und Dragana zeigt auf die Kartoffelschalen, fährt sich mit ihrem Handrücken über die Augen, ja, wir leben hier, wie die Schweizer, im Zuschauerraum, denke ich, das ist zumindest eine Wahrheit.
Draganas ganze Familie — dein Sohn, wie heisst er? Danilo! — , die in Sarajevo lebt, und Dragana schneidet mit der Spitze des Rüstmessers die Augen aus den Kartoffeln. (Die Olympischen Winterspiele 1984, damals, als das Fernsehen noch eine Verheissung war, die Resultate, die ich in die dafür vorgesehenen Listen eingetragen habe, wer hat damals Weltrekorde aufgestellt? Ingemar Stenmark? Oder Bojan Krizaj? Die klare Erinnerung aber an Mutter, die beim Anblick von Jane Torvill und Christopher Dean so gerührt war — dass ein Paar so übers Eis schweben kann —, die Jury, die einhellig die höchste Bewertung für die B-Note gegeben hat, ist das die Möglichkeit, sagte Mutter, mit Tränen in den Augen — wo ist Sarajevo, fragten wir damals Mutter, weil wir wissen wollten, wo dieses Wunder der Liebe möglich geworden ist, und Mutter schlug unseren Schulatlas auf, und wahrscheinlich fanden wir Sarajevo unter der Überschrift "Balkanländer".
Jetzt, 1993, ist das Olympiastadion zerstört, und direkt vor den Ruinen werden die Toten begraben, wer hätte das gedacht, sagt man, wer hätte das für möglich gehalten, schreibt man, und ich stelle mir vor, wie Jens Weissflog sich zum Sprung vorbereitet, wie er noch einmal tief durchatmet, bevor er sich kräftig abstösst, einspurt, tief in die Hocke geht, um dann abzuheben, Jens Weissflog, für immer und ewig über den Dächern von Sarajevo.)
Ich habe einen Brief bekommen, von meiner sestra, sagt Dragana, soll ich dir erzählen, was sie geschrieben hat? Nein, lieber nicht, denke ich, ich möchte nicht wissen, was Draganas Schwester geschrieben hat. Du, Ildi, die haben fast keine Bäume mehr, die brauchen alles zum Heizen, meine sestra sagt, die Stadt sieht aus wie ein gerupftes Huhn, Parke und Strassen ohne Bäume, aber das ist nicht das Schlimmste, die haben kein Wasser mehr zum Trinken, kein Wasser mehr, um ihre Scheisse wegzuspülen, nicht einmal die Spitäler sind geheizt… vielleicht später, unterbreche ich Dragana, erzähl mir später davon! Dragana, die sich mit einem Ruck umdreht, mich mit ihrem wirren Blick fixiert, du hast Angst, sagt sie, ist ja klar, wir alle haben Angst, habt ihr was von eurer Familie gehört? könnt ihr noch telefonieren? Und Dragana richtet das Rüstmesser gegen mich, als wäre ich eine grosse Kartoffel, der man gleich mehrere Augen ausstechen muss. Aber wahrscheinlich bin ich es, die daran denkt, sie aus dem Weg zu räumen, ich jedenfalls überlege mir, ob die Welt ein Problem weniger hätte, wenn wir beide, eine bosnische Serbin und eine Ungarin aus der serbischen Provinz Vojvodina, tot auf dem Küchenboden, auf einem Linoleumboden liegen würden. Nein, die Leitung ist tot, antworte ich (und alle, ausser Janka, haben sich bis anhin an der Beogradska getroffen, bei Onkel Móric und Tante Manci, weil sie bis heute die Einzigen sind, die ein Telefon haben, alle, auch die Ältesten trinken süssen, türkischen Kaffee, es gibt niemanden, der sich nicht die Hände wäscht, bevor er sich zum Telefon setzt, alle reihen sich auf dem Sofa auf, mit gestärkten Hemden, gebügelten Blusen, frisch bespuckten Scheiteln, denn man weiss nie, wozu die heutige Technik fähig ist, mit einem Mal kann das Telefon sehen, und ist es nicht schon heute so, dass man die Verwandten in der Schweiz sieht, den Bruder? Und ach, die Kinder! wenn man ihre Stimmen hört, wie sie durch die Leitung flattern? und es kann Stunden dauern, bis der Erste vom Sofa aufsteht, den Zirkel verlässt, wo jedes Wort der Verwandten nach dem Aufhängen des Hörers noch einmal gedreht und gedeutet wird, es ist ein den Nachmittag füllendes Ereignis, das Telefonieren mit dem Ausland).
Ildi, brauchst du eigentlich sonst noch was, fragt Dragana, ausser deinem Ei, Dragana, die jetzt die Restabfälle in den Kompost wirft, sich mit dem Handrücken die Stirn abwischt. Ja, einen Schinken-Käse-Toast und ein Spargel-Canapee (und ich werde die internationale Auskunft anrufen, um Jankas Telefonnummer herauszufinden, vielleicht hat Janka ein Telefon, vielleicht hat Janka ein Telefon, das noch funktioniert und: internationale Auskunft, das klingt doch schon wie ein Versprechen), seit wann kannst du nicht mehr anrufen, frage ich Dragana. Seit diese gottlosen Krieger, meine Serben! angefangen haben, von den Bergen zu schiessen. Ich schwöre dir, die machen mit uns, was sie wollen, erzählen uns, dass wir uns schon immer gehasst haben, die Serben, Kroaten und Muslime, ja, das würde ich gern glauben, glaubt ja niemand, der Herz hat, wir sind alle Bosnier, glaubsch mir? alle ihre Verwandten, die sich immer als Bosnier gefühlt hätten, so Dragana, werden jetzt als bosnische Serben bezeichnet, ihre Stadt, die sie lieben, die von Serben belagert wird, von Serben und Kroaten und Muslimen beschossen wird (und wenn es einen Irrsinn gibt im Kopf, dann dreht er sich immer schneller, er dreht sich rasend schnell um solche Begriffe), und Dragana fingert nach den Spargeln in der Dose, und dabei möchte ich wissen, warum sie auf dem Mond gelandet sind, Ildikö, die Politiker muesch doch alle in ein Rakete inestopfe und uf Mond ufeschüsse, und wenn sie dann noch genügend Benzin haben, können sie weiterfliegen, damit sie endlich ihren richtigen Gott finden, uns in Ruhe lassen, und Dragana spricht immer schneller, ihr Gemisch aus Schweizerdeutsch und Hochdeutsch, das sich immer mehr im serbokroatischen Singsang verliert, Draganas Konsonanten, die miteinander zu tanzen scheinen, Sarajevo ist bald ganz tot, wirst sehen, und sie bestreicht eine Toastscheibe mit Senf, belegt sie mit Schinken und Käse, das Ei hüpft inzwischen im heissen Wasser, warum glaubt jeder in Welt, wir Serben sind Menschenfresser, Ildi? und Dragana klemmt das belegte, bestrichene Toastbrot in den Toaster, Dragana und ich, zwei Tiere, die sich in die Augen schauen, wir, die Todfeinde sein müssten, weil Dragana bosnische Serbin ist oder serbische Bosnierin? und ich zur ungarischen Minderheit in Serbien gehöre (der Irrsinn, der sich weiter dreht, in meinem Kopf, in allen Köpfen), und es ist absurd und absolut möglich, dass einer meiner Cousins desertiert, weil er als Ungar nicht in der jugoslawischen Volksarmee kämpfen will, es kann sein, dass ihn einer von Draganas Cousins erschiesst, weil er bei der jugoslawischen Volksarmee kämpft und Deserteure erschossen werden; es kann aber auch sein, dass einer von Draganas Cousins desertiert, weil er sich als Bosnier fühlt, als bosnischer Serbe nicht in der jugoslawischen Volksarmee kämpfen will, es kann sein, dass dann mein Cousin Draganas Cousin erschiesst, weil mein Cousin nicht desertiert ist, für die jugoslawische Volksarmee kämpft, um vielleicht sein eigenes Leben zu retten; aber möglicherweise werden beide erschossen, von einem Muslimen, einem Kroaten, einem Blindgänger, von einer Mine zerfetzt, irgendwo, an einem unbekannten Ort, im Niemandsland, während wir hier zusammen Brötchen streichen, in unserer Küche.
(Unsere Gäste, sind sie deutsche Schweizer oder schweizerische Deutsche?)
Dragana, die das Ei in den Becher setzt, mir den weissen Teller mit dem Canapee in die Hand drückt, den Toast musst du dir später holen, sagt sie, und ich, ich setze mich endlich in Bewegung, Richtung Buffet.
An diesem Apriltag lässt mich der Gedanke an Janka nicht mehr los, und ich versuche, die Anzahl der Jahre zu finden, die wir uns nicht mehr gesehen haben, ich klopfe den Satz in den dafür vorgesehenen Behälter, fülle den Kolben mit frischem Kaffeepulver, neun Jahre müssen es sein, denke ich, und ich merke nicht, wie ich das braune Pulver andrücke, ob ich es mit einer leichten Handbewegung tue oder ob der Druck zu stark ist, ich glaube, es sind neun Jahre, und natürlich höre ich Jankas Stimme, obwohl ich sie nur ein Mal gehört habe, das Ohr hat ein erstaunlich gutes Gedächtnis, und ich spanne den Kolben in die Halterung, muss Nomi, die heute serviert, fragen, ob sie einen hellen oder einen dunklen Milchkaffee bestellt hat, ob sie einen frisch gepressten Orangensaft, dies oder jenes bestellt hat, Dragana, die aus der Küche nach mir ruft, der Toast! und logischerweise muss Nomi fragen, auf welchem Planeten ich mich gerade befinde, ja, das frage ich mich auch, müsste ich antworten, ich müsste jetzt weit ausholen, sagen, dass sie und ich, wenigstens wir zusammensitzen müssten, um uns zu besprechen, zu planen, was wir tun könnten, ob wir uns nicht doch einmal mit Benno treffen sollten, mit seiner Mediengruppe, ich würde Nomi gern fragen, ob sie sich schon vorgestellt hat, dass unsere Familie diesen Krieg nicht überlebt, dass Grossonkel Pista nicht operiert werden kann, weil wegen dem Embargo die Medikamente fehlen, dass morgen vielleicht alle schon tot sind, Onkel Piri und Tante Icu, Csilla, weil sie zu den Ärmsten gehören, Janka, die Nomi sein könnte oder ich, von der ich nur weiss, dass sie ihr Wirtschaftsstudium abgebrochen hat, unsere Heimatstadt verlassen hat und in Novi Sad als Radiosprecherin arbeitet, unsere ganze Familie, die jetzt zur Vergangenheit gehört, die nicht mehr erreichbar ist, die Berliner Mauer und der Eiserne Vorhang existieren nicht mehr, und wir sind voneinander abgeschnitten, als hätte es nie einen verbindenden Weg gegeben, einen Zug, den man besteigen kann, der einem Fahrplan folgt, Schienen, die gelegt worden sind, wozu denn? Ich möchte Nomi fragen, wie wir Janka suchen könnten, ob sie glaube, dass man Vater nach Janka fragen könne, wie man das am Besten anstellen könnte (Nomi, die mir ein paar Tage nach meinem zwanzigsten Geburtstag gesagt hat, dass wir unseren Plan beerdigen müssten, es ginge nicht, wir könnten nicht zurück, das sei ein Kindertraum, wir hätten unser Herz hergegeben, und darin habe sich ein hohler Wunsch eingenistet, es sei doch bekannt, das typische Emigrantenschicksal, für die Zukunft sparen und dann in der alten Heimat unglücklich sein? nein! ich, die Nomi gefragt hat, ob sie hier glücklich sei, Nomi, die gelacht hat, wir sind Mischwesen und die seien tendenziell glücklicher, deshalb, weil sie in mehreren Welten zu Hause seien, sich wo auch immer zu Hause fühlten, sich aber nirgendwo zu Hause fühlen müssten), und Nomi, die ein Allrounder ist, in der Küche arbeitet, im Buffet, im Service, mit den Vertretern verhandelt, von allen gemocht wird, sie erinnert mich daran, dass die Zeit nicht optimal sei, wir hätten das Geschäft zu einem ungünstigen Zeitpunkt übernommen, aber wir schaffend trotzdem! wenn es keine Leute gäbe, die uns mögen würden, würden wir ja gar nicht erfahren, was über uns geredet werde! und Nomi klopft die Stummel in den Müll, oder? Und wenn die Schärers immer noch überall herumerzählten, wir hätten die Tanners bestochen, mit fünfzigtausend! was ihr übrigens neulich Frau Freuler anvertraut habe, dann sagen wir, nein! hunderttausend! wer hat behauptet, wir seien so knauserig? (und was ist mit der Herrentoilette, die ständig verpisst ist, will ich Nomi fragen, warum hat uns jemand die Tür mit falsch lachenden Sonnen verklebt?), Nomi, die mich darauf aufmerksam macht, dass es bereits nach elf Uhr ist, und ich spanne die Kolben aus der Cimbali, klopfe den Kaffeesatz der Reihe nach in den Behälter, spanne die Kolben wieder ein, lasse die Maschine ein Mal leer laufen, reinige mit einem dichtborstigen Pinselchen die Rillen der Maschine vom Kaffeesatz — das regelmässige Reinigen der Maschine ist die Voraussetzung für einen guten Kaffee —, fahre mit einem nassen Lappen um die Halterungen, wische so das verbliebene Kaffeepulver von den Sieben, die Cimbali, die ich ziemlich genau kenne, meine Hände, die ich in Verbindung mit der Cimbali immer genauer kennengelernt habe (Nomi und ich, die mit den Händen von Tante Icu arbeiten, davon bin ich überzeugt), hast du dir schon mal überlegt, dass die Situation in der Vojvodina ähnlich eskalieren könnte wie in Bosnien, sage ich leise zu Nomi, über die Cimbali hinweg, und meine Zunge fühlt sich beim Wort "eskalieren" nicht wohl, so unwohl wie bei "Balkankrieg" oder "Embargo". Ja, antwortet Nomi und klopft die Aschenbecher weiter an den Rand des Mülleimers, und wir schauen einander an, und ich sehe meine Schwester, die ich liebe, die jetzt, in diesem Moment, genauso ratlos ist wie ich.