Ich wohne mitten in der Stadt, an einer Autobahn, meine winzige Wohnung liegt an der so genannten West-Tangente, tausend Autos und hundert Lastwagen fahren stündlich an mir vorbei, Richtung Chur, ich, auf meinem Bett sitzend, denke an Wörter wie "Verkehrsstrom" oder "Verkehrsfluss", mein Boiler in der Küche brummelt, der Stromzähler im Korridor ist einen Tick zu laut, warum eigentlich "West-Tangente", wenn die Autos vom Westen kommen und Richtung Osten fahren, beim Autofahren denkt man doch immer in Fahrtrichtung, oder nicht? "Auspuff der Nation" wird die Strasse genannt, die nicht nur an der West-Tangente liegt, sondern auch "Weststrasse" heisst.
Von einem doppelstöckigen Bus aus, der direkt vor meinem Fenster hält, schauen mich ein paar Kindergesichter mit platt gedrückten Nasen an; ich winke, sie lachen und winken zurück, ein Kind, das eine Zeichnung gegen das Busfenster hält, eine Sonne, ein Regenbogen, Wolken und inmitten von allem: ein Hase, an einer Karotte knabbernd, und ich stehe auf, gehe zum Fenster, strecke meinen Kopf in Fahrtrichtung, um zu sehen, ob ich die Nationalität der Kinder richtig erraten habe, nein, und ich bleibe noch ein bisschen stehen, bin eine Attraktion am Fenster, bemitleidende, belustigte, neugierige Augen, und ab und zu sind die Blicke irritiert, vermutlich, weil ich sie störe, weil ich da wohne, wo man bloss eines will: ungehindert weiterfahren, vorbeifahren. Und ich amüsiere mich über filzige Dufttannen oder über irgendwelche Dackel, die Heckablagen zieren, mit spiraligen Hälsen bei jeder Bodenerhebung wackeln. Ich schaue unverfroren in verkniffene Autogesichter, die sich darüber ärgern, dass der Verkehr nicht fliesst, sondern sich staut, jetzt, um acht Uhr morgens; ich, die Kurt bewundert, Hans, Pavel, Rüdiger und wie sie alle heissen (die einzige Ausnahme: Cindy), die Lastwagenfahrer, die einsam und schwer auf ihren Sitzen thronen, an deren Rückspiegeln kleine Glücksbringer baumeln.
Sie sollten sich Vorhänge zutun, meint die Hausmeisterin, Frau Gründler, das ist doch eine Zumutung, wenn da einem alle ins Schlafzimmer gaffen, nein? also mich würde das stören; Frau Gründler, die mich fast täglich besucht, kurz anklopft und dann schon in meinem Korridor steht mit ihrem Hündchen, Surinam York Hamshire, ich kann Ihnen auch welche nähen, wenn Sie wollen, ich meine, wenn Sie kei Stufig haben, kein Geld. Es stört mich wirklich nicht, antworte ich, wenn ich schlafe, schlafe ich, und wenn ich wach bin, gaffe ich selber oder setze mich in die Küche. Na gut, mal sehen, wie lange Sie das so aushalten, spätestens, wenn Sie einen Freund haben… und Frau Gründler schüttelt ihre Locken, schmeisst ihren Hund auf den Boden, Suri, der sie gewohnt ist, die plötzliche Höhendifferenz, die er abfedern muss, steht aufrecht und mit wedelndem Schwanz da, ich lache, wollen Sie einen Kaffee? Ach, Frau Kotschi, wenn ich Sie nicht aufhalte, und Frau Gründler geht mit forschen Schritten in die Küche, jetzt sieht's ja schon richtig gemütlich aus bei Ihnen, und sie setzt sich, schnauft, Milch und Zucker, frage ich. Heute schwarz, antwortet Frau Gründler, und ich, die uns Kaffee einschenkt, nicht in die Alltagstassen, sondern in die beiden schönen Espresso-Tässchen, die einzigen, die ich besitze. Sie sind ein Schatz, und Frau Gründler nippt, nippt nochmals, fängt dann an zu reden, also was die Kerle gestern Nacht wieder angerichtet haben, Frau Kotschi, das geht auf keine Kuhhaut! Frau Gründler, die in ihre Manteltasche greift, hier, die hab' ich mir gebastelt, nicht, dass ich damit sagen will, ich war' genial, ist ja ganz einfach, und die Hausmeisterin hält mir eine Schleuder hin, aber mit dem Ding hab' ich gestern Nacht einen dieser versoffenen Kerle erwischt, am Bein, Tor! habe ich gerufen, Eins-A-Schuss! Sagen Sie mal, Frau Kotschi, haben Sie mich denn nicht gehört?
Natürlich habe ich die Hausmeisterin gehört, ihr Organ, wie sie selbst sagt, ist unüberhörbar, Frau Gründler, die sich ärgert über die Kerle, die nach Mitternacht aus dem Glarnerstübli stolpern, der Kneipe neben unserem Haus, und bevor sie mit ihrer Bimbe die richtige Richtung finden, müssen sie noch an die Linde pissen, und am Morgen, wenn unsereiner frisch aus dem Haus geht, dampft einem diese Kerlenpisse in die Nase, ist das eine Begrüssung? (Surinam York Hamshire, der ganz hoch bellt, nach einem aufgeregten Vogel klingt, wenn seine Mutti zu wettern anfängt und ich Tränen lache); ich habe dem Wirt vom Glarner heute Morgen schon die Kappe gewaschen, ihm gesagt, dass ich den Kerlen die Eier abschiesse, wenn er sie weiter bis zur Besinnungslosigkeit saufen lässt! Und die Hausmeisterin steckt die Schleuder wieder in ihre Tasche, nimmt noch den letzten Schluck Kaffee, sagt, das war jetzt besser als Aspirin, und Frau Gründler steht mit einem unerwarteten Schwung auf, so, gehen wir?
Ich nehme die Einkaufstaschen der Hausmeisterin, und wir steigen die Treppe hoch, Frau Gründler, die nach ein paar Stufen wieder stehen bleibt, keucht, eine Hand in die Hüfte stützt, wissen Sie was, Frau Kotschi, dieser Fredi ist doch ein geborener Egoist, jedes Mal, wenn ich mich nach oben kämpfe, steht er leibhaftig da, immer zwei, drei Stufen über mir, er grinst mich an, und ich sage ihm alle Schande, ich zeige ihm die Tapete, die abblättert, hier, Frau Kotschi, sehen Sie nur! und hier in der Ecke, die Risse! die feuchten Flecken! und Frau Gründler nimmt meine Hand, zeigt mit ihr auf die schlimmsten Stellen, sagen Sie nur, muss man so einem nicht seine Existenz vorwerfen, da besitzt er ein Haus und lässt es verrotten wie eine faule Frucht, aber die Frucht, die war nicht immer faul, das sage ich Ihnen. Wissen Sie, wie lange ich schon hier wohne? Seit 1965, da war die West noch ein Bischou, eine schöne Quartierstrasse mit Luft und Bäumen; was meinen Sie, warum ich die Linde da unten so verbissen verteidige? Und trotz allem bin ich immer noch vernarrt in dieses Quartier, in mein Haus… das können Sie bestimmt verstehen, Frau Kotschi. Ja klar! und Frau Gründler, die mir gerührt die Hand tätschelt.
Bis wir zuoberst ankommen, trippelt Suri noch unzählige Male an uns vorbei, Treppe rauf und wieder runter, hüpft uns zwischen die Beine, du freches Köterchen, schimpft Frau Gründler lachend, als wir vor der Wohnung der Hausmeisterin stehen, habe ich wieder einmal einiges erfahren, nicht nur über den Hausbesitzer, den Fredi-Kapitalisten (der todsicher darauf spekuliert, dass der Verkehr irgendwann umgeleitet wird und er sein altes Haus dann teuer verkaufen kann), sondern auch über den Wirt des Glarnerstübli, der vermutlich bei den beiden Lokalen "weiter oben" mitmischt, wo die Mädels ihren Hintern schwenken; ich weiss jetzt, dass mein Nachbar, der über mir wohnt, ein Welscher ist, ein netter Kerl mit einem leichten Hick im Kopf, der temporär jobbt und sonst mit seinen Fingern nichts anzufangen weiss, als sie über seine Gitarre rasen zu lassen, den haben Sie bestimmt schon gehört, oder? Ganz allgemein gäbe es bald keine Mieter mehr, die wussten, was Hacktätschli und Wurschtwegge heisst, nicht, dass sie etwas gegen Tschewaptschitschi oder Börek habe, sagt Frau Gründler, ich esse alles und am liebsten etwas, das ich noch nicht kenne, aber ich verbringe halbe Tage, um meinen Jugos, Albanern, Türken und Spaniern mit Händen und Füssen zu erklären, wie die Waschmaschine funktioniert! Ich bin ja keine Dolmetscherin, sagt Frau Gründler, als sie die Tür aufschliesst, Suri in die Wohnung flitzt. So, jetzt setzen Sie sich mal hin und erholen sich von dieser Plackerei, lüften Sie Ihre Ohren von meinem Gequatsche, und ich mache uns eine Erfrischung. Ich, die sich, wie immer, umschauen muss im vollgestopften Wohnzimmer der Hausmeisterin, Bilder, gerahmte Fotografien, die in einem wilden Muster an der Wand hängen, Zimmerpflanzen, die in allen Ecken stehen, ein Ficus, eine Begonie, eine Zimmerlinde, Efeu, welches das Büchergestell einrahmt, in dem zwar Bücher stehen, aber auch Geschirr, Figürchen, Portemonnaies in allen Grössen und Materialien, Briefe, die überall zwischen die Bücher geschoben sind; ich setze mich gegenüber von Suri, der auf seinen mit zwei Kissen erhöhten Stuhl gehüpft ist, zwischen uns das Bistro-Tischchen, Suri und ich, wir schauen aus dem Fenster, vier Stockwerke unter uns, wo der Verkehr langsam vorwärts rollt; sieht fast harzig aus von hier oben, sagt Frau Gründler, als sie den Servierwagen durchs Wohnzimmer schiebt, sich dann neben Suri auf einen mit dunkelgrünem Samt bezogenen Ohrensessel setzt. Ich finde es erstaunlich, dass von oben meistens alles ganz anders aussieht, sage ich, und die Hausmeisterin antwortet lachend, Sie können gern das Fenster öffnen, wenn Sie nicht glauben, dass wir immer noch im gleichen Haus sind, und sie gibt mir einen Teller mit belegten, salzigen Häppchen, und Suri springt in die Luft, schnappt nach einem Stückchen Schinken. Frau Kotschi, sagt die Hausmeisterin, nachdem sie ihrem Hund applaudiert, ihn für seine Sprungkraft gelobt hat, darf ich Sie etwas fragen, ich bin ja eine neugierige Natur, ich darf? gut, Sie sind immer da, wenn ich Sie überfalle… aber Sie sind doch ein junger Mensch… gehen Sie denn nie aus? Was machen Sie an so einem Tag mit seinen vierundzwanzig Stunden? Ich richte meine Wohnung ein, also, ich habe gerade frei und bin deshalb oft zu Hause. Und Sie fahren nicht weg, wenn Sie Ferien haben? und Frau Gründler schluckt ihren letzten Bissen runter, zieht dann ihren Lippenstift aus ihrem Handtäschchen, spitzt den Mund, malt ihn grosszügig an, sagt dann, elende Schminkerei, ohne dieses Kirschrot komme ich mir schon ganz fad vor, und Frau Gründler fährt sich mit dem Zeigefinger über die Zähne, weil die auch immer was abbekommen, aber wegen den Kerlen tu ich's nicht, das sag' ich Ihnen direkt ins Gesicht, die meisten haben sowieso keinen Geschmack… die Jungen von heute reisen doch durch die halbe Welt mit diesem… wie heisst das nochmals, ja genau, Interrail. Ich habe mir vorgenommen, meine Wohnung langsam einzurichten, antworte ich, damit sich meine Sachen allmählich an die neue Umgebung gewöhnen, und ich stehe auf, strecke der Hausmeisterin meine Hand hin. Wie Sie das jetzt gesagt haben, Sie müssen sich doch sicher auch — nicht nur Ihre Sachen, und Frau Gründler schiebt den Unterkiefer etwas nach vorn, gibt mir ihre Hand. Ja natürlich… vielen Dank für die Erfrischung, und kommen Sie bald wieder, ich bin meistens für Sie da, sage ich lachend und bin weg.
Vor knapp drei Wochen bin ich ausgezogen, was das auch immer heisst, ich stand stundenlang mit Mutter, Vater und Nomi im Wohnzimmer, im Korridor, dann in der Küche und in meinem Zimmer, Vater hat den Kopf geschüttelt, hat die Kartonschachteln mit ungläubigen Augen angefasst, mich angeschaut, wir haben doch genügend Platz hier bei uns, hat er leise gesagt, und er kam mir so klein vor, Vater, mit seinen geröteten Augen, aber ich habe auch geweint, wir alle; und Vater wollte ständig ein Foto von mir machen, ich, dann ich und Nomi, ich mit meinen Kinderzeichnungen, ich mit meinen Möbeln, die ich, ausser das Bett, nicht mitnehmen wollte. Was sollen denn die Möbel ohne dich, hat Mutter gesagt, und in dem Moment wurde Vater fast wütend, das kannst du uns nicht antun, das ist doch eine schlechte Erinnerung, Möbel, die niemand mehr braucht, und Nomi hat geantwortet, wir könnten sie doch in den Keller runtertragen, jetzt gleich, da sei genügend Platz, und wenn wir irgendwann wieder Besuch bekämen, dann wären wir doch froh um die Möbel. Und komischerweise haben Mutter und Vater sofort eingewilligt, wir haben zusammen den Schrank, das Büchergestell, den Schreibtisch, die Kommode in den Keller transportiert, jedes Möbelstück zu viert und nach langem Hin und Her, wie es wohl am Besten, am Einfachsten ginge. Als dann Vater im Luftschutzbunker die mit hellen Leintüchern abgedeckten Möbel sah, rief er, nein, nein, ich kann nicht hinschauen, wir haben uns Geister ins Haus geholt! Jetzt hör aber auf, hat Mutter geantwortet, das sind Ildis Möbel, die auf Besuch warten!
Hier in der Schweiz ist das normal, das Ausziehen, alle ziehen hier früh aus, mit sechzehn oder siebzehn, selten ist jemand älter als zwanzig, das gehört zum Erwachsenwerden, haben Nomi und ich immer wieder unseren Eltern zu erklären versucht, auf Deutsch und Ungarisch, und wir wussten beide: es würde ausbleiben, das Verständnis von Mutter und Vater, dass man unverheiratet auszieht, es vorzieht, in einem "Loch" zu wohnen, wo man doch die Möglichkeit hat, an einem Ort zu leben, wo alles da ist. Aber erst an dem Tag, als ich meine Sachen in die Kartonschachteln packte, ahnte ich, dass es noch um viel mehr ging: Um eine tiefe Scham, die Mutter und Vater wahrscheinlich für meinen Auszug empfanden, was würden unsere Verwandten dazu sagen? in ihren Augen konnte ich lesen, dass mein persönlicher Aufbruch für sie die Abkehr von der Familie bedeutete, und dafür fühlten sie sich verantwortlich, nicht nur ein bisschen, sondern ganz (Mamika, die mir ins Ohr flüstert, denk eine Sache nicht von dir aus, sondern von allen möglichen Seiten), und ich habe meine Eltern angeschaut, nochmals angesetzt, es hat wirklich nichts mit euch zu tun… habe ich gesagt und bin verstummt, weil ich einsah, dass es keine lindernden Worte geben würde, das Wesentliche blieb unübersetzbar.
Mutter hat dann gekocht, mein Lieblingsessen, gebratenes Huhn mit Paprikakartoffeln, Gurkensalat mit Sauerrahm, und zum Nachtisch gab es Palatschinken, und weil niemand wirklich Appetit hatte, hat Mutter alles eingepackt, damit ich am nächsten und übernächsten Tag nicht zu kochen brauche. Ich habe Vater gebeten, Kaffee zu machen, weil ich den Kaffee, so wie er ihn zubereitet, am liebsten mag; ich habe ihm zugesehen, beim Kaffee-Mahlen, wie er das Papier sorgfältig in die Filterform einpasste, wie er mit seinem Daumen über den Messlöffel gefahren ist, die Geduld, mit welcher Vater das heisse Wasser kreisend über das Pulver goss; wir können dich in nächster Zeit nicht besuchen, sagte Vater, während der Kaffee in die Kanne tropfte, das musst du verstehen.
Um Mitternacht ziehe ich meine Jacke an, öffne die Fenster, lüfte, die Weststrasse, die von Mitternacht bis sechs Uhr in der Früh gesperrt ist, ich schaue links die Strasse hinunter, sehe den Radfahrern zu, die in die Gegenrichtung radeln, manchmal freihändig, manchmal lauthals singend, und ich rauche eine Zigarette in die kalte Novemberluft hinaus, der Wirt des Glarnerstübli, der jetzt seine Stammkunden ins Freie scheucht, meistens fünf Männer, die sich am Treppengeländer abstützen müssen, um die drei Stufen heil zu überstehen; und wenn sie dann die Linde anpeilen, meine Hausmeisterin im nächsten Moment losschimpft, schliesse ich das Fenster und höre meinen Nachbarn, der immer noch am Üben ist, Laurent Rosset, den ich schon in der ersten Woche, nachdem ich eingezogen bin, im Treppenhaus getroffen habe, der mir, kaum haben wir uns vorgestellt, sein Lebensziel verraten hat, nämlich irgendwann einmal so Gitarre spielen zu können wie Jimi. Jimi? du weisst nicht, wer Jimi war, es gab nur einen Jimi auf dieser Welt, und Laurent hat mich noch am gleichen Abend zu sich eingeladen, mir seine Plattensammlung gezeigt, seine Grasplantage auf dem Küchenbalkon, ein paar ausgewählte Bücher über Georges Bataille und natürlich Jimi Hendrix, und: Setz dich, ich spiel dir was vor! Wie bin ich? Laurents Frage, nachdem er mir Jimis Hits vorgespielt hat, Foxy lzady, Wild Thing, Fley Joe, Voodoo Child und alles gleich nochmals, weil Laurent sich erst mal warm spielen musste. Ich glaube, du bist schon besser als Jimi, habe ich geantwortet. Comment? impossible! ob ich ihn verarschen wolle, sagte Laurent, er werde nie besser sein als Jimi, das wisse er; und ich, die einen gedankenlosen Spruch gemacht hatte, bin unangenehm berührt, weil ich Laurent tatsächlich nicht ernst genommen hatte, in seiner Liebe zu Jimi Hendrix.
Ich streiche mir ein Brot mit Butter, bestreue es mit Salz und Paprika, bevor ich ins Bett gehe, esse ich immer etwas, und während dem Kauen überlege ich, ob ich noch eine Schachtel auspacken soll, und zu den Menschen, die ich von meinem Küchenfenster aus täglich sehe, gehört die Frau vom schräg gegenüberliegenden Haus, ich nenne sie meine bleiche Heldin, eine zierliche Frau, die immer etwas tut, putzen, waschen, kochen, Wäsche aufhängen, und jetzt, da es merkwürdig still ist (eine Sülle, die ich der Strasse nicht abnehme, vermutlich, weil mein Ohr das Anfahren, Abbremsen, Hupen, Quietschen immer noch hört), bügelt sie in ihrer Küche, und die zeitlose Müdigkeit in ihrem Gesicht, egal, was sie tut; ich stehe auf, öffne eine Schachtel (höchstens zwei Schachteln pro Woche auszupacken, das habe ich mir vorgenommen), und zuoberst liegt der gelbe Briefumschlag, in dem ich meine Fotos aufbewahre; ich, die Fotos nie einkleben oder einrahmen wollte, suche ein paar heraus, befestige sie mit Stecknadeln über dem Kopfende meines Bettes, ich, die kein bestimmtes Ordnungsprinzip hat, achte nur darauf, dass die Fotos sich berühren, und als ich vierzehn war, habe ich angefangen, Fotos zu sammeln, die meine Eltern weggeworfen hätten, "Ausschuss" steht auf dem gelben Briefumschlag, angeschnittene Köpfe, Fotos ohne erkennbare Sujets, und ein verwackeltes Foto mit starkem Gelbstich, das ich besonders gern mag: Nomi und ich, wie wir uns gerade wegdrehen (ein plötzlicher Windstoss, der uns Sand ins Gesicht wehte), unsere Körperhaltung, die eine abrupte Bewegung erahnen lässt; vor allem aber erinnert mich das Foto daran, wie wir mit Sand in Augen, Nase, Mund gelacht haben, endlos lange.
Ich setze mich aufs Bett, esse noch ein Butterbrot, nicke ein, mit den neu aufgehängten Bildern über meinem Bett, ich wache auf, höre Laurent immer noch spielen, schlafe wieder ein.
Wir haben die Rollen getauscht, du hast früher nie verschlafen, sagte Nomi, nachdem sie an Allerheiligen heftig gegen mein Fenster geklopft hat, ich aufgeschreckt bin, mit verklebten Augen das Fenster geöffnet habe, wieso hast du nicht geklingelt? Habe ich, antwortete Nomi, aber du hast offenbar nichts gehört, ich, die rasch einen Pullover anzieht, eine Hose, öffne die Tür, fahre mir kurz durch die Haare, bevor Nomi und ich uns umarmen, komm rein, und wir setzen uns in die Küche, hier, das ist von Mutter, und Nomi langt in ihre Tasche, saure Gurken, Paprikawürste, Knoblauchspeck, Suppennudeln, Akazienhonig, Mohn- und Quarkstrudel, alles andere habe ich zu Hause gelassen und Mami damit vertröstet, dass ich dich ja bald wieder besuche, wie geht es dir, fragt Nomi. Meine Zunge schläft noch, antworte ich, Kaffee ist keiner mehr da, ich mache mich ein bisschen frisch, und wir gehen ins Cafe hier um die Ecke, in Ordnung?
El Zac, so heisst das Cafe und wird von einem spanischen Ehepaar und ihren drei Kindern geführt; Nomi und ich, wir stehen im Eingang, verständigen uns wortlos darüber, wo noch die besten freien Plätze sind, wir setzen uns hin, bestellen zwei doppelte Espressi, inspizieren den Raum, die Möblierung, unsere Blicke wandern zur Kaffeemaschine, eine Kolbenmaschine, kein Automat! innerhalb kürzester Zeit wissen wir, ob die Lüftung gut ist, was alles auf der Speise- und Getränkekarte steht, hast du gesehen, wie viel der Cappuccino kostet, ja, fünfzig Rappen teurer als bei uns; und natürlich testen wir, ob der Kaffee schmeckt und wenn ja, wer der Lieferant ist — wir tauchen ein in eine Welt, die wir seit langem miteinander teilen — bist du jetzt wach, fragt Nomi, als wir ausgetrunken und bezahlt haben, ja! und wir stehen auf, winken dem Ehepaar noch zu, und vor der Tür bleiben wir kurz stehen, um einen Blick auf die Öffnungszeiten zu werfen, die haben einen langen Tag, sagen wir, die Miete, wahrscheinlich zu hoch! Nomi und ich, wir gehen los, überqueren die Weststrasse, schauen uns das Schaufenster einer Glaserei an, sind verblüfft darüber, wie waghalsig die zerbrechlichen Waren ausgestellt sind, der Besitzer ist wahrscheinlich ein ehemaliger Seiltänzer, sage ich, und wir gehen weiter, und ich zeige Nomi, was ich im Quartier schon entdeckt habe, den schönen Kindergarten, den Antiquitäten-Laden am Idaplatz, der von einem mürrischen, freundlichen Tschechen geführt wird, den Quartier-Bio-Laden, der alles hat, obwohl er so winzig ist, und im Blumenladen an der Bertastrasse kaufen wir einen Strauss Herbstblumen, wir gehen weiter die Bertastrasse hoch, ich zeige rechts zum Schulhaus Ämtler, wo an Wahlsonntagen die Abstimmungsurnen aufgestellt sind, und Nomi bleibt einen Moment lang stehen, schaut in den Novemberhimmel, ein blauer Novembertag, sagt sie, eine schöne Ausnahme, und wir gehen weiter, an japanischen Kirschbäumen vorbei, biegen dann rechts in die Goldbrunnenstrasse, und nach ein paar Schritten sind wir da, wo wir hinwollten.
Ich wäre nie darauf gekommen, Nomi, die mich angerufen hat, um mir zu sagen, dass sie mich an Allerheiligen abhole, ihr Freund habe ihr erzählt, auf dem Friedhof Sihlfeld gebe es ein Gemeinschaftsgrab, und da, quasi bei der WG unter den Gräbern, könnten wir doch zusammen Blumen hinlegen für unsere Toten; statt diesem Tag ständig aus dem Weg zu gehen, könnten wir ihm doch wieder die Bedeutung geben, die er hat, ausserdem wussten wir ja nicht, wie lange es noch dauert, bis wir wieder in die Vojvodina zurückkönnen, und ich, die den Hörer in der Hand hielt, im ersten Moment gar nicht wusste, ob ich Nomi richtig verstanden hatte, hast du gehört?
Wir sind durch den Friedhof Sihlfeld gegangen, der so schön ist, weil er ungewöhnlich gross und weit ist, wir haben Bäume bewundert, die Platz haben zum Wachsen, riesige Eichen und Platanen, alle Arten von Kastanien, die bereits ganz nackt waren, eine zierliche Birkenallee, sogar Ginkgos haben wir entdeckt, deren gelb-goldene Blätter den Kiesweg säumten; bis wir vor dem Gemeinschaftsgrab standen, haben wir die wundersamen, farbigen Wesen gesammelt, die gerade dann von den Bäumen fallen, wenn sie am Schönsten sind, und wir legten sie mit den Blumen auf das Grab; an diesem blauen Novembertag dachten wir an unsere Verstorbenen, Grosstanten und Grossonkel, an unsere Grosseltern, die wir nie kennengelernt haben, Mutters Mutter und Papuci, für Sie, Mamika, haben wir ein Lied gesungen, und in Ihrem Namen haben wir darum gebeten, dass die Lebenden nicht vor ihrer Zeit sterben.