Wenn die Naturwissenschaft unserer Zeit mit der früherer Epochen verglichen wird, so wird oft festgestellt, daß diese Wissenschaft im Laufe ihrer Entwicklung immer abstrakter geworden sei und daß sie in unserer Zeit an vielen Stellen einen geradezu befremdenden Charakter von Abstraktheit erreicht habe, der nur gewissermaßen ausgeglichen werde durch die großen praktischen Erfolge, die die Naturwissenschaft mit ihrer Anwendung in der Technik aufzuweisen hat. Ich möchte hier nicht auf die Wertfrage eingehen, die an dieser Stelle oft aufgeworfen wird. Es soll also nicht gefragt werden, ob die Naturwissenschaft früherer Zeit erfreulicher war, die aus dem liebevollen Eingehen auf die Einzelheiten der Naturerscheinungen Zusammenhänge der Natur lebendig und damit sichtbar gemacht hat, oder ob im Gegenteil die enorme Ausweitung der technischen Möglichkeiten, die auf der modernen Forschung beruhen, die Überlegenheit eben unseres Begriffs von Naturwissenschaft unwiderlegbar bewiesen habe. Diese Wertfrage soll also zunächst völlig beiseite gelassen werden. Statt dessen soll der Versuch gemacht werden, den Vorgang der Abstraktion in der Entwicklung der Wissenschaft selbst unter die Lupe zu nehmen. Es soll – soweit dies im Rahmen einer kurzen historischen Betrachtung möglich ist – nachgesehen werden, was dabei eigentlich geschieht, wenn die Wissenschaft, offenbar einem inneren Zwang gehorchend, von einer Stufe der Abstraktion zur nächsthöheren aufsteigt; um welcher Erkenntniswerte willen dieser mühevolle Weg des Aufstiegs überhaupt beschritten wird. Dabei wird sich herausstellen, daß in den verschiedenen Disziplinen des naturwissenschaftlichen Bereichs jedenfalls sehr ähnliche Vorgänge ablaufen, die gerade durch ihren Vergleich verständlicher werden. Wenn der Biologe Stoffwechsel und Fortpflanzung der lebendigen Organismen auf chemische Reaktionen zurückführt, wenn der Chemiker die anschauliche Beschreibung der Qualitäten seiner Stoffe durch eine mehr oder weniger komplizierte Konstitutionsformel ersetzt, wenn der Physiker die Naturgesetze schließlich in mathematischen Gleichungen ausdrückt, immer vollzieht sich hier eine Entwicklung, deren Grundtypus vielleicht am deutlichsten in der Entwicklung der Mathematik selbst zu erkennen ist und nach deren Zwangsläufigkeit gefragt werden muß. Man kann mit der Frage beginnen:
Als Antwort kann man etwa formulieren: Abstraktion bezeichnet die Möglichkeit, einen Gegenstand oder eine Gruppe von Gegenständen unter einem Gesichtspunkt unter Absehen von allen anderen Gegenstandseigenschaften zu betrachten. Das Herausheben eines Merkmals, das in diesem Zusammenhang als besonders wichtig betrachtet wird gegenüber allen anderen Eigenschaften macht das Wesen der Abstraktion aus. Alle Begriffsbildung beruht, wie man leicht einsieht, auf diesem Prozeß der Abstraktion. Denn Begriffsbildung setzt voraus, daß man Gleichartiges erkennen kann. Da völlige Gleichheit aber in den Erscheinungen praktisch nie vorkommt, entsteht die Gleichartigkeit nur durch den Vorgang der Abstraktion, durch das Herausheben eines Merkmals unter Weglassung aller anderen. Um etwa den Begriff «Baum» bilden zu können, muß man einsehen, daß es bei Birke und Tanne gewisse gemeinsame Züge gibt, die man abstrahierend herausheben und damit ergreifen kann.
Das Aufspüren gemeinsamer Züge kann unter Umständen ein Erkenntnisakt von größter Bedeutung sein. Die Bildung des Zahlbegriffs ist bereits ein entscheidender Schritt aus dem Bereich der uns unmittelbar sinnlich gegebenen Welt heraus und in ein Gewebe rational erfaßbarer gedanklicher Strukturen hinein. Vom Standpunkt der heutigen Mathematik aus ist allerdings die einzelne Zahl weniger wichtig als die Grundoperation des Zählens. Es ist diese Operation, die die nicht abbrechende Reihe der natürlichen Zahlen entstehen läßt und mit ihr schon implizite alle die Sachverhalte hervorbringt, die etwa in der Zahlentheorie studiert werden. Mit dem Zählen ist offenbar ein entscheidender Schritt in die Abstraktion getan, mit ihm kann der Weg in die Mathematik und in die mathematische Naturwissenschaft betreten werden.
An dieser Stelle kann nun schon ein Phänomen studiert werden, das uns später auf den verschiedenen Stufen der Abstraktion in der Mathematik oder der neuzeitlichen Naturwissenschaft immer wieder begegnen wird und das für die Entwicklung des abstrakten Denkens in der Naturwissenschaft beinahe als eine Art «Urphänomen» bezeichnet werden könnte – obwohl GOETHE seinen Ausdruck «Urphänomen» an dieser Stelle sicher nicht gebraucht hätte. Man kann es etwa die «Entfaltung abstrakter Strukturen» nennen. Die Begriffe, die zunächst durch Abstraktion aus einzelnen Sachverhalten oder Erfahrungskomplexen gebildet werden, gewinnen ein eigenes Leben. Sie erweisen sich als viel reichhaltiger und fruchtbarer, als man ihnen zunächst ansehen kann. Sie zeigen in der späteren Entwicklung eine selbständig ordnende Kraft, indem sie zur Bildung neuer Formen und Begriffe Anlaß geben, Erkenntnisse über deren Zusammenhang vermitteln und sich auch bei dem Versuch, die Welt der Erscheinungen zu verstehen, in irgendeinem Sinne bewähren.
Aus dem Begriff des Zählens und den mit ihm verknüpften einfachen Rechenoperationen z.B. ist später teils in der Antike, teils in der Neuzeit eine komplizierte Arithmetik und Zahlentheorie entwickelt worden, die eigentlich nur das aufdeckt, was mit dem Zahlbegriff von Anfang an gesetzt worden war. Ferner gab die Zahl und die aus ihr entwickelte Lehre von den Zahlenverhältnissen die Möglichkeit, Strecken messend zu vergleichen. Von hier aus konnte eine wissenschaftliche Geometrie entwickelt werden, die begrifflich bereits über die Zahlenlehre hinausgeht. Bei dem Versuch, in dieser Weise die Geometrie auf die Zahlenlehre zu begründen, sind schon die Pythagoreer auf die Schwierigkeit mit den irrationalen Streckenverhältnissen gestoßen und so zur Erweiterung ihres Zahlkörpers gedrängt worden; sie mußten gewissermaßen den Begriff der Irrationalzahl erfinden. Von hier weiterschreitend gelangten die Griechen zum Begriff des Kontinuums und zu den bekannten, später vom Philosophen ZENON studierten Paradoxien. Auf die Schwierigkeiten in dieser Entwicklung der Mathematik soll aber hier nicht eingegangen, es sollte nur auf den Reichtum an Formen hingewiesen werden, der im Zahlbegriff implizite steckt und aus ihm entfaltet werden konnte. An diesem Grundphänomen hat sich die Problematik entzündet:
Daß es sich in der Mathematik um echte Erkenntnis handelt, kann ja wohl kaum bezweifelt werden. Aber Erkenntnis wovon? Beschreiben wir in der Mathematik etwas objektiv Wirkliches, also etwas, das auch unabhängig vom Menschen in irgendeinem Sinne existiert, oder ist die Mathematik nur eine Fähigkeit des menschlichen Denkens? Sind die Gesetze, die wir in ihr ableiten, nur Aussagen über die Struktur dieses menschlichen Denkens? Ich will diese Problematik hier nicht wirklich aufrollen, sondern nur eine Bemerkung machen, die den objektiven Charakter der Mathematik unterstreicht.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß es auf anderen Planeten, sagen wir auf dem Mars, jedenfalls aber in anderen Sternsystemen, auch so etwas wie Leben gibt, und es muß durchaus mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß es auf irgendwelchen anderen Weltkörpern auch Lebewesen gibt, in denen die Fähigkeit, abstrakt zu denken, so weit ausgebildet ist, daß sie den Zahlbegriff geprägt haben. Wenn dies so ist, und wenn diese Lebewesen an ihren Zahlbegriff eine wissenschaftliche Mathematik anschließen, so werden sie zu genau denselben zahlentheoretischen Sätzen kommen wie wir Menschen. Arithmetik und Zahlentheorie können grundsätzlich bei ihnen nicht anders aussehen als bei uns, sie müssen in ihren Resultaten mit den unsrigen übereinstimmen. Wenn die Mathematik als Aussage über das menschliche Denken gelten soll, dann also jedenfalls: über das Denken an sich, nicht nur das menschliche Denken. Sofern es überhaupt Denken gibt, muß die Mathematik in ihm die gleiche sein. Man kann diese Feststellung mit einer anderen, naturwissenschaftlichen Feststellung vergleichen. Auf den anderen Planeten oder weiter entfernt liegenden Weltkörpern gelten sicher genau die gleichen Naturgesetze wie bei uns. Das ist nicht nur eine theoretische Vermutung, vielmehr können wir in unseren Fernrohren sehen, daß es dort die gleichen chemischen Elemente gibt wie bei uns, daß sie die gleichen chemischen Verbindungen eingehen und Licht von der gleichen spektralen Zusammensetzung aussenden.
Kehren wir für einen Augenblick wieder zur Mathematik zurück, bevor wir uns die Entwicklung der Naturwissenschaften ansehen. Die Mathematik hat im Laufe ihrer Geschichte immer wieder neue und umfassendere Begriffe gebildet und ist so zu immer höheren Stufen der Abstraktion aufgestiegen. Der Zahlbereich wurde erweitert um die irrationalen Zahlen und um die komplexen Zahlen. Der Begriff der Funktion eröffnete den Zugang zum Reich der höheren Analysis, Differential- und Intergralrechnung. Der Begriff der Gruppe erwies sich als gleich fruchtbar in der Algebra, der Geometrie, der Funktionentheorie und legt den Gedanken nahe, daß es möglich sein sollte, auf einer höheren Stufe der Abstraktion die ganze Mathematik mit ihren vielen verschiedenen Disziplinen unter einheitlichen Gesichtspunkten zu ordnen und zu verstehen. Die Mengenlehre wurde als ein derartiger abstrakter Unterbau der ganzen Mathematik entwickelt. Die Schwierigkeiten der Mengenlehre erzwangen schließlich den Schritt von der Mathematik in die mathematische Logik, der in den zwanziger Jahren besonders von HILBERT und seinen Mitarbeitern in Göttingen vollzogen wurde. Jedesmal mußte der Schritt von der einen Stufe zur nächsten getan werden, weil die Probleme in dem engen Bereich, in den sie zunächst gestellt waren, nicht wirklich gelöst und jedenfalls nicht wirklich verstanden werden konnten.
Erst die Verknüpfung mit anderen Problemen in weiteren Bereichen eröffnete die Möglichkeit zu einer neuen Art des Verständnisses und veranlagte daher das Bilden von weiteren umfassenderen Begriffen. Als man z.B. eingesehen hatte, daß sich das Parallelenaxiom der Euklidischen Geometrie nicht beweisen läßt, wurde die Nicht-Euklidische Geometrie entwickelt. Aber ein wirkliches Verständnis wurde erst erreicht, als man die sehr viel allgemeinere Frage stellte: Läßt sich innerhalb eines Axiomensystems beweisen, daß dieses System keine Widersprüche enthält? Erst als man so fragte, hatte man den Kern des Problems getroffen. Am Ende dieser Entwicklung steht in unserer Zeit eine Mathematik, über deren Grundlagen nur in außerordentlich abstrakten Begriffen gesprochen werden kann, bei denen die Beziehung zu irgendwelchen Dingen der Erfahrung völlig verloren zu sein scheint. Von dem Mathematiker und Philosophen BERTRAND RUSSELL soll der Satz stammen: «Die Mathematik handelt von Dingen, von denen sie nicht weiß, was sie sind, und sie besteht aus Sätzen, von denen man nicht weiß, ob sie wahr oder falsch sind». (Zur Erläuterung des zweiten Teils dieser Äußerung: Man weiß nämlich nur, daß sie formal richtig sind, aber nicht, ob es Objekte in der Wirklichkeit gibt, auf die sie bezogen werden könnten.) Aber die Geschichte der Mathematik sollte hier ja auch nur als Beispiel dienen, an dem man die Zwangsläufigkeit der Entwicklung zur Abstraktion und zur Vereinheitlichung erkennen kann. Es soll nun gefragt werden, ob sich in der Naturwissenschaft etwas Ähnliches vollzogen hat.
Dabei möchte ich mit der Wissenschaft beginnen, die nach ihrem Gegenstand dem Leben am nächsten und insofern vielleicht am wenigsten abstrakt sein sollte, die Biologie.
In ihrer alten Einteilung in Zoologie und Botanik war sie in weitem Umfang eine Beschreibung der vielen Formen, in der das Leben uns auf der Erde entgegentritt. Die Wissenschaft verglich diese Formen mit dem Ziel, Ordnung in die zunächst fast unübersehbare Fülle von Lebenserscheinungen zu bringen und nach Regelmäßigkeiten im Bereich des Lebendigen zu suchen. Dabei entstand von selbst die Frage, nach welchen Gesichtspunkten verschiedene Lebewesen verglichen werden können, was also etwa die gemeinsamen Merkmale seien, die als Grundlage des Vergleichs dienen könnten. Schon z.B. GOETHEs Untersuchungen über die Metamorphose der Pflanzen sind eben auf ein solches Ziel gerichtet. An diese Stelle mußte also der erste Schritt zur Abstraktion erfolgen. Man fragte nicht mehr primär nach den einzelnen Lebewesen, sondern nach den biologischen Funktionen, wie Wachstum, Stoffwechsel, Fortpflanzung, Atmung, Kreislauf usw., die das Leben charakterisieren. Diese Funktionen lieferten die Gesichtspunkte, nach denen man auch sehr verschiedenartige Lebewesen gut vergleichen konnte. Sie erwiesen sich ähnlich wie die abstrakten Begriffe der Mathematik als unerwartet fruchtbar. Sie entwickelten gewissermaßen eine eigene Kraft zum Ordnen sehr weiter Bereiche der Biologie. So entstand aus dem Studium der Vorgänge bei der Vererbung die Darwinsche Lehre von der Evolution, die zum ersten Male die Fülle verschiedener Formen des organischen Lebens auf der Erde unter einem großen einheitlichen Gesichtspunkt zu deuten versprach. Die Untersuchungen über Atmung und Staffwechsel andererseits führten von selbst zu der Frage nach den chemischen Vorgängen im lebendigen Organismus; sie gaben den Anlaß, diese Vorgänge mit chemischen Prozessen in der Retorte zu vergleichen. Damit wurde die Brücke von der Biologie zur Chemie geschlagen und zugleich die Frage aufgeworfen, ob die chemischen Vorgänge im Organismus und in der unbelebten Materie nach den gleichen Naturgesetzen ablaufen. So verschob sich die Frage nach den biologischen Funktionen zu der anderen Frage, wie diese biologischen Funktionen materiell in der Natur verwirklicht werden. Solange das Augenmerk auf die biologischen Funktionen selbst gerichtet war, paßte die Betrachtungsweise noch ganz in die geistige Welt etwa des mit GOETHE befreundeten Arztes und Philosophen CARUS, der auf den engen Zusammenhang des funktionalen Geschehens im Organismus mit unbewußten seelischen Vorgängen hingewiesen hatte. Mit der Frage nach der materiellen Verwirklichung der Funktionen aber wurde der Rahmen der Biologie im eigentlichen Sinn gesprengt. Denn nun wurde offenbar, daß man die biologischen Vorgänge nur dann wirklich verstehen kann, wenn man auch die ihnen entsprechenden Vorgänge chemischer und physikalischer Art wissenschaftlich analysiert und gedeutet hat. In dieser nächsten Stufe der Abstraktion wird also von allen biologischen Sinnzusammenhängen zunächst abgesehen und nur gefragt, welche physikalisch-chemischen Vorgänge als Korrelate zu biologischen Prozessen sich in einem Organismus tatsächlich abspielen. In der Verfolgung dieses Weges ist man in unserer Zeit zur Erkenntnis sehr allgemeiner Zusammenhänge gekommen, die ganz einheitlich alle Lebensvorgänge auf der Erde zu bestimmen scheinen und die man am einfachsten in der Sprache der Atomphysik ausdrücken kann. Als spezielles Beispiel seien die Erbfaktoren genannt, deren Weitergabe von Organismus zu Organismus durch die bekannten Mendelschen Gesetze geregelt wird. Diese Erbfaktoren sind offenbar materiell durch die Anordnung einer größeren Anzahl von vier charakteristischen Molekülbruchstücken auf den zwei Fäden eines Fadenmoleküls gegeben, das Desoxyribonukleinsäure genannt wird und beim Aufbau der Zellkerne eine entscheidende Rolle spielt. Die Erweiterung der Biologie in Chemie und Atomphysik hinein gestattet also die einheitliche Deutung gewisser biologischer Grundphänomene für die ganze Welt des Lebendigen auf der Erde. Ob ein etwa auf anderen Planeten bestehendes Leben dieselben atomphysikalischen und chemischen Strukturen benutzt, läßt sich im Augenblick noch nicht entscheiden, aber möglicherweise wird man die Antwort auf diese Frage auch in nicht allzu ferner Zeit wissen.
In der Chemie hat sich eine ähnliche Entwicklung vollzogen wie in der Biologie, und ich möchte aus der Geschichte der Chemie nur eine Episode herausgreifen, die für das Phänomen «Abstraktion und Vereinheitlichung» charakteristisch ist, nämlich die Entwicklung des Valenzbegriffs. Als man anfing, die Verbindungen der Stoffe quantitativ zu analysieren, also zu fragen, wieviel von den verschiedenen chemischen Elementen in der betreffenden Verbindung vorhanden sei, entdeckte man ganzzahlige Verhältnisse. Nun hatte man schon vorher die Atomvorstellung als ein zweckmäßiges Bild verwendet, unter dem die Verbindung der Elemente gedacht werden kann. Man gestaltete das Bild aus und nahm an, daß sich verschiedene Atome zunächst zu Atomgruppen zusammenordnen, die dann als Moleküle die kleinsten Einheiten der Verbindung abgeben. Die ganzzahligen Verhältnisse der Grundstoffe in verschiedenen Verbindungen konnten durch die Anzahl der Atome im Molekül gedeutet werden.
Die Experimente ließen tatsächlich eine solche anschauliche Interpretation zu und erlaubten darüber hinaus, dem einzelnen Atom eine Anzahl von sogenannten «Valenzen» zuzuordnen, die die Möglichkeit der Bindung an andere Atome symbolisieren. Dabei blieb allerdings – und das ist der Punkt, auf den es uns hier ankommt – zunächst völlig unklar, ob man sich die Valenz als eine gerichtete Kraft oder als geometrische Eigenschaft des Atoms oder sonst irgendwie vorstellen sollte. Lange Zeit mußte es sogar unentschieden bleiben, ob die Atome selbst materiell wirkliche Gebilde oder nur geometrische Hilfsvorstellungen seien, geeignet, das chemische Geschehen mathematisch abzubilden. Unter «mathematischer Abbildung» wird hier verstanden, daß die Symbole und ihre Verknüpfungsregeln, also hier z.B. die Valenzen und die Valenzregeln, den Erscheinungen «isomorph» sind in demselben Sinn, in dem etwa, wenn man es in der mathematischen Sprache der Gruppentheorie ausdrückt, die linearen Transformationen eines «Vektors» den Drehungen im dreidimensionalen Raum isomorph sind. Ins Praktische gewendet und ohne die Sprache der Mathematik bedeutet das: Man kann die Valenzvorstellung dazu benutzen, um vorherzusehen, welche chemischen Verbindungen zwischen den betreffenden Elementen möglich sein werden. Ob aber daneben die Valenz noch etwas Wirkliches ist in demselben Sinn, in dem etwa eine Kraft oder eine geometrische Form als wirklich gelten kann, diese Frage konnte lange Zeit unbeantwortet bleiben, ihre Entscheidung war für die Chemie nicht besonders wichtig. Indem man bei dem komplizierten Vorgang der chemischen Reaktion den Blick vor allem auf die quantitativen Mischungsverhältnisse gerichtet hatte, unter Absehen von allem anderen, d.h. durch den Vorgang der Abstraktion hatte man einen Begriff gewonnen, der es gestattete, die verschiedensten chemischen Reaktionen einheitlich zu interpretieren und teilweise zu verstehen. Erst viel später, nämlich in der modernen Atomphysik, hat man gelernt, welche Art von Wirklichkeit hinter dem Valenzbegriff steht. Wir können zwar auch heute noch nicht recht sagen, ob die Valenz eigentlich eine Kraft oder eine Elektronenbahn oder eine Einbuchtung in der elektrischen Ladungsdichte des Atoms oder auch nur die Möglichkeit zu etwas Derartigem ist, aber die Unsicherheit bezieht sich für die heutige Physik gar nicht mehr auf die Sache selbst, sondern nur noch auf ihren sprachlichen Ausdruck, dessen Unvollkommenheit wir grundsätzlich nicht beseitigen können.
Vom Valenzbegriff ist dann nur noch ein kurzer Weg zur abstrakten Formelsprache der heutigen Chemie, die dem Chemiker in allen Gebieten seiner Wissenschaft die Versändigung über Inhalt und Ergebnis seiner Arbeit ermöglicht.
Die Ströme von Informationen, die der beobachtende und experimentierende Biologe oder Chemiker sammelt, münden also durch das Gefälle der Fragestellung, die das einheitliche Verständnis anstrebt und dabei zu abstrakten Begriffen geführt wird, schließlich von selbst im weiten Bereich der Atomphysik. Es sieht danach so aus, als müsse die Atomphysik schon durch ihre zentrale Lage umfassend genug sein, um für alle Erscheinungen in der Natur eine Grundstruktur anzugeben, auf die man die Erscheinungen beziehen, von der aus man die Phänomene ordnen kann. Aber selbst für die Physik, die hier als gemeinsame Grundlage für Biologie und Chemie erscheint, ist dies keineswegs selbstverständlich, da es sehr viele verschiedenartige physikalische Erscheinungen gibt, deren innerer Zusammenhang zunächst nicht zu erkennen ist. Daher soll nun auch noch auf die Entwicklung der Physik eingegangen werden; und zwar wollen wir zunächst einen Blick auf ihre frühesten Anfänge werfen.
Am Beginn der antiken Naturwissenschaft stand bekanntlich die Erkenntnis der Pythagoreer, daß, wie ARISTOTELES, es überliefert, die «Dinge Zahlen seien». Wenn man die Schilderung der pythagoreischen Lehre durch ARISTOTELES modern interpretiert, so ist damit wohl gemeint, daß man die Dinge, d.h. die Erscheinungen, ordnen und insofern verstehen kann, indem man sie mit mathematischen Formen verknüpft. Aber diese Verknüpfung wird nicht als willkürlicher Akt unseres Erkenntnisvermögens gedacht, sondern als etwas Objektives. Es wird z.B. gesagt, die «Zahlen seien das substantielle Wesen der Dinge» oder «der ganze Himmel sei Harmonie und Zahl». Damit ist zunächst wohl nur die Ordnung der Welt schlechthin gemeint. Die Welt ist für die antike Philosophie Kosmos und nicht Chaos. Das so gewonnene Weltverständnis scheint auch noch nicht allzu abstrakt; so werden z.B. die astronomischen Beobachtungen von dem Begriff der Kreisbahn her gedeutet. Die Gestirne bewegen sich auf Kreisen. Der Kreis ist wegen seiner hohen Symmetrie eine besonders vollkommene Figur; die Kreisbewegung leuchtet als solche ein. Für die kompliziertere Bewegung der Planeten mußte man allerdings schon mehrere Kreisbewegungen, Zyklen und Epizyklen, zusammenfügen, um die Beobachtungen richtig darzustellen. Aber das genügte dann auch völlig für den damals erreichbaren Genauigkeitsgrad. Sonnen- und Mondfinsternisse konnten mit der Astronomie des PTOLEMÄUS sehr genau vorausgesagt werden.
Dieser antiken Auffassung trat nun die beginnende Neuzeit in der Newtonschen Physik mit einer Frage entgegen: Hat nicht die Bewegung des Mondes um die Erde mit der Bewegung des fallenden oder geworfenen Steins etwas gemeinsam? Die Entdeckung, daß hier etwas Gemeinsames vorliegt, auf das man unter Absehen von allen anderen tiefer gehenden Unterschieden den Blick richten konnte, gehört zu den folgeschwersten Ereignissen in der Geschichte der Naturwissenschaft. Das Gemeinsame wurde aufgedeckt durch die Bildung des Begriffs der «Kraft», die die Änderung der «Bewegungsgröße» eines Körpers bewirkt, hier insbesondere der Schwerkraft. Obwohl dieser Begriff der Kraft noch aus der sinnlichen Erfahrung stammt, etwa aus den Empfindungen beim Heben einer schweren Last, so wird er doch in der Newtonschen Axiomatik schon abstrakt, nämlich durch die Änderung der Bewegungsgröße, und ohne Bezugnahme auf diese Empfindungen definiert. Mit einigen wenigen Begriffen, wie Masse, Geschwindigkeit, Bewegungsgröße, Kraft, wird bei NEWTON ein geschlossenes System von Axiomen aufgebaut, das nun unter Absehen von allen anderen Eigenschaften der Körper zur Behandlung aller mechanischen Bewegungsvorgänge ausreichen soll. Bekanntlich hat sich dieses Axiomensystem, ähnlich wie der Zahlbegriff in der Geschichte der Mathematik, in der Folgezeit als außerordentlich fruchtbar erwiesen. Über zwei Jahrhunderte lang haben die Mathematiker und Physiker aus dem Newtonschen Ansatz, den wir in der Schule in der einfachen Form «Masse × Beschleunigung = Kraft» lernen, neue und interessante Folgerungen gezogen. Die Theorie der Planetenbewegungen wurde noch von NEWTON selbst begonnen, von der späteren Astronomie entwickelt und verfeinert. Die Kreiselbewegung wurde studiert und erklärt, die Mechanik der Flüssigkeiten und elastischen Körper entwickelt, die Analogien zwischen Mechanik und Optik mathematisch herausgearbeitet. Dabei müssen zwei Gesichtspunkte besonders hervorgehoben werden. Erstens: Wenn man nur nach der pragmatischen Seite der Wissenschaft fragt, also etwa die Newtonsche Mechanik in ihrer Leistung bei astronomischen Vorhersagen mit der antiken Astronomie vergleicht, so wird sich, jedenfalls in ihrer anfängen, die Newtonsche Physik kaum vor der antiken Astronomie ausgezeichnet haben. Grundsätzlich konnte man durch eine Überlagerung von Zyklen und Epizyklen die Bewegungen der Planeten beliebig genau darstellen. Die Überzeugungskraft der Newtonschen Physik stammte also nicht primär aus ihrer praktischen Anwendbarkeit, sondern beruhte auf dem Zusammenschauen, dem einheitlichen Erklären sehr verschiedenartiger Erscheinungen; auf der Kraft zum Zusammenfassen, die vom Newtonschen Ansatz ausging. Zweitens: Wenn aus diesem Ansatz in den folgenden Jahrhunderten neue Gebiete der Mechanik, der Astronomie, der Physik erschlossen wurden, so waren dazu zwar bedeutende wissenschaftliche Leistungen einer Reihe von Forschern notwendig, aber das Ergebnis steckte, wenn auch zunächst nicht erkennbar, schon im Newtonschen Ansatz; genauso wie der Zahlbegriff implizite bereits die ganze Zahlentheorie enthält. Auch wenn vernunftbegabte Wesen auf anderen Planeten den Newtonschen Ansatz zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Überlegungen machen würden, so könnten sie auf die gleichen Fragen nur die gleichen Antworten erhalten. Insofern handelt es sich auch bei der Entwicklung der Newtonschen Physik um jene «Entfaltung abstrakter Begriffe», von der schon am Anfang dieses Aufsatzes die Rede war.
Erst im 19. Jahrhundert zeigte sich dann allerdings, daß der Newtonsche Ansatz doch nicht reichhaltig genug war, um für alle beobachtbaren Erscheinungen entsprechende mathematische Formen hervorzubringen. Die elektrischen Phänomene z.B., die besonders seit den Entdeckungen von GALVANI, VOLTA und FARADAY im Mittelpunkt des Interesses der Physiker standen, paßten nicht recht in das Begriffssystem der Mechanik. FARADAY prägte den Begriff des Kraftfeldes, dessen zeitliche Veränderungen unabhängig von den Bewegungen der Körper zu untersuchen und zu erklären waren. Aus solchen Ansätzen entwickelte sich später die Maxwellsche Theorie der elektromagnetischen Erscheinungen, aus ihr die Relativitätstheorie EINSTEINs und schließlich die allgemeine Feldphysik, von der EINSTEIN hoffte, daß sie sich zum Fundament der ganzen Physik ausbauen ließe. Auf die Einzelheiten dieser Entwicklung soll hier nicht eingegangen werden. Wichtig für unsere Überlegungen ist hier nur der Umstand, daß die Physik als Folge solcher Entwicklungen noch beim Beginn unseres Jahrhunderts keineswegs einheitlich war. Den materiellen Körpern, deren Bewegungen in der Mechanik studiert wurden, standen die sie bewegenden Kräfte gegenüber, die als Kraftfelder nun eine eigene Wirklichkeit mit eigenen Naturgesetzen darstellten. Die verschiedenen Kraftfelder standen unverbunden nebeneinander. Zu den elektromagnetischen Kräften und der Gravitation, die schon seit langer Zeit bekannt waren, und zu den chemischen Valenzkräften gesellten sich in den letzten Jahrzehnten noch die Kräfte im Atomkern und die Wechselwirkungen, die für den radioaktiven Zerfall maßgebend sind.
Durch dieses Nebeneinander verschiedener anschaulicher Bilder und getrennter Kraftarten war eine Frage gestellt, die die Wissenschaft nicht umgehen konnte. Denn wir sind ja überzeugt, daß die Natur letzten Endes einheitlich geordnet ist, daß alle Erscheinungen schließlich nach einheitlichen Naturgesetzen ablaufen. Also mußte es auch möglich sein, die in den verschiedenen physikalischen Bereichen gemeinsam zugrunde liegende Struktur aufzudecken.
Diesem Ziel hat sich die moderne Atomphysik wieder durch das Mittel der Abstraktion und durch die Bildung umfassenderer Begriffe genähert. Die einander scheinbar widersprechenden Bilder, die sich in der Deutung atomphysikalischer Experimente ergaben, führten zunächst dazu, den Begriff der «Möglichkeit», der nur «potentiellen Wirklichkeit» zum Kern der theoretischen Interpretation zu machen. Damit wurde der Gegensatz zwischen dem materiellen Teilchen der Newtonschen Physik und dem Kraftfeld der Faraday-Maxwellschen Physik aufgelöst; beide sind mögliche Erscheinungsformen der gleichen physikalischen Realität. Der Gegensatz zwischen Kraft und Stoff hat seine prinzipielle Bedeutung verloren. Auch der reichlich abstrakte Begriff der nur potentiellen Wirklichkeit hat sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen; die atomphysikalische Interpretation der biologischen und chemischen Erscheinungen ist erst durch ihn möglich geworden. Die gesuchte Verbindung zwischen den verschiedenen Arten von Kraftfeldern aber ergab sich in den letzten Jahrzehnten einfach aus neuen Experimenten. Jeder Art von Kraftfeld entspricht ja im Sinne jener potentiellen Wirklichkeit eine bestimmte Sorte von Elementarteilchen: dem elektromagnetischen Feld entspricht das Lichtquant oder Photon, den Kräften der Chemie entsprechen in einem gewissen Umfang die Elektronen, den Atomkernkräften entsprechen die Mesonen usw. Beim Experimentieren mit den Elementarteilchen stellte sich heraus, daß beim Zusammenstoß sehr schnell bewegter Elementarteilchen neue derartige Teilchen entstehen, und zwar scheint es, daß, wenn beim Stoß genügend viel Energie zur Bildung neuer Teilchen zur Verfügung steht, Elementarteilchen jeder beliebigen Art erzeugt werden können. Die verschiedenen Elementarteilchen sind also sozusagen alle aus dem gleichen Stoff gemacht – man kann diesen Stoff einfach Energie oder Materie nennen, – sie können ineinander umgewandelt werden. Damit können auch die Kraftfelder ineinander übergeführt werden; ihr innerer Zusammenhang ist im Experiment unmittelbar zu erkennen. Es bleibt dann für den Physiker noch die Aufgabe, die Naturgesetze zu formulieren, nach denen die Umwandlungen der Elementarteilchen sich vollziehen. Diese Gesetze sollen in einer präzisen und damit notwendig abstrakten mathematischen Sprache das darstellen oder abbilden, was im Experiment zu sehen ist. Daher sollte die Lösung dieser Aufgabe mit der wachsenden Menge von Informationen, die uns eine mit den größten technischen Mitteln arbeitende Experimentalphysik liefert, nicht allzu schwierig sein. Neben dem Begriff einer auf Raum und Zeit bezogenen «potentiellen Wirklichkeit» scheint dabei besonders die Forderung eine Rolle zu spielen, daß Wirkungen sich nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit fortpflanzen können. Für die mathematische Formulierung bleibt schließlich eine gruppentheoretische Struktur übrig eine Gesamtheit von Symmetrieforderungen, die schon durch ziemlich einfache mathematische Ansätze abgebildet werden kann; ob diese Struktur zur Darstellung der Erfahrung ausreicht, kann sich wieder erst durch den Prozeß der «Entfaltung» herausstellen, von dem mehrfach gesprochen worden ist. Aber die Einzelheiten sind für die hier beabsichtigten Überlegungen nicht wichtig; grundsätzlich scheint der Zusammenhang der verschiedenen physikalischen Bereiche schon durch die Experimente der letzten zehn Jahre geklärt zu sein; wir glauben, die einheitliche physikalische Struktur der Natur in ihren Umrissen zu erkennen.
An dieser Stelle muß nun allerdings auch auf die im Wesen der Abstraktion begründete Begrenztheit des in dieser Weise erreichbaren Naturverständnisses hingewiesen werden. Wenn zunächst von vielen wichtigen Einzelheiten abgesehen wird zugunsten des einen Merkmals, an dem die Ordnung der Erscheinungen gelingt, so beschränkt man sich von selbst auf das Herausarbeiten einer Grundstruktur, einer Art von Skelett, das erst durch das Hinzufügen einer großen Fülle weiterer Einzelheiten zu einem wirklichen Bild werden könnte. Der Zusammenhang zwischen der Erscheinung und der Grundstruktur ist im allgemeinen so verwickelt, daß er kaum im einzelnen verfolgt werden kann. Nur in der Physik ist wenigstens die Beziehung zwischen den Begriffen, mit denen wir die Erscheinungen unmittelbar beschreiben, und jenen, die in der Formulierung der Naturgesetze vorkommen, weitgehend geklärt. In der Chemie ist dies nur in erheblich geringerem Ausmaß gelungen, und die Biologie fängt erst an einigen wenigen Stellen an zu verstehen, wie die aus unserer unmittelbaren Kenntnis des Lebens stammenden Begriffe, die ja ihren Wert uneingeschränkt behalten, mit jenen Grundstrukturen zusammenpassen können. Immerhin vermittelt die durch die Abstraktion gewonnene Einsicht gewissermaßen ein natürliches Koordinatennetz, auf das die Erscheinungen bezogen, von dem aus sie geordnet werden können. Das in dieser Weise gewonnene Verständnis der Welt verhält sich zu dem ursprünglich erhofften und immer wieder erstrebten Wissen wie der von einem sehr hoch fliegenden Flugzeug aus erkennbare Plan einer Landschaft zu dem Bild, das man durch Wandern und Leben in dieser Landschaft gewinnen kann.
Kehren wir zu der am Anfang gestellten Frage zurück. Der Zug zur Abstraktion in der Naturwissenschaft beruht also letzten Endes auf der Notwendigkeit, weiterzufragen, auf dem Streben nach einem einheitlichen Verständnis. GOETHE beklagte dies einmal im Zusammenhang mit dem von ihm geprägten Begriff des «Urphänomens». Er schreibt in der Farbenlehre: «Wäre denn aber auch ein solches Urphänomen gefunden, so bleibt immer noch das Übel, daß man es nicht als ein solches anerkennen will, daß wir hinter ihm und über ihm noch etwas Weiteres aufsuchen, da wir doch hier die Grenze des Schauens eingestehen sollten».
GOETHE hat deutlich gespürt, daß man dem Schritt in die Abstraktion nicht entgehen kann, wenn man weiterfragt. Was er mit dem Wort «über ihm» andeutet, ist eben die nächsthöhere Stufe der Abstraktion. GOETHE will sie vermeiden; wir sollen die Grenze des Schauens eingestehen, sie nicht überschreiten, weil hinter dieser Grenze das Schauen unmöglich wird und der Raum des von der sinnlichen Erfahrung abgelösten konstruktiven Denkens beginnt. Dieser Raum ist GOETHE immer fremd und unheimlich geblieben, wohl vor allem, weil ihn das Grenzenlose dieses Raumes schreckte. Von der hier sichtbaren grenzenlosen Weite konnten nur Denker ganz anderer Struktur als GOETHE angezogen werden. Von NIETZSCHE stammt der Satz: «Das Abstrakte ist für viele eine Mühsal, – für mich an guten Tagen ein Fest und ein Rausch». Aber die Menschen, die über die Natur nachdenken, fragen weiter, weil sie die Welt als Einheit begreifen, ihren einheitlichen Bau verstehen wollen. Sie bilden zu diesem Zweck immer umfassendere Begriffe, deren Zusammenhang mit dem unmittelbaren sinnlichen Erlebnis nur schwer zu erkennen ist – wobei aber das Bestehen eines solchen Zusammenhangs unabdingbare Voraussetzung dafür ist, daß die Abstraktion überhaupt noch Verständnis der Welt vermittelt.