Robert Silverberg UFOs über der Erde

1.

Vor dem dunklen Hintergrund des mondlosen Nachthimmels war die Explosion schmerzhaft hell. Für jene, die in diesem Moment aufblickten, war es, als strahlte plötzlich eine neue Sonne in bläulichweißer Glut auf.

Die Helligkeit zog von Nordosten nach Südwesten über New Mexico hinweg. Über den Bergen östlich von Taos wurde sie als zuckender Lichtblitz lebendig und nahm stetig an Intensität zu, als sie das Tal des Rio Grande mit seinen staubigen kleinen Pueblos und kurz darauf die geschäftige Stadt Santa Fé überflog. Südlich von Santa Fé wurde sie unerträglich, um dann jäh nachzulassen. Brannte die Glut aus, oder wurde sie nur von den Lichtern des weiträumig ausgebreiteten Albuquerque gedämpft? Welches auch immer der Grund war, sie schoß am Pueblo Isleta vorbei und verlor sich irgendwo über den dünnbesiedelten Landstrichen jenseits der Mesa del Oro.

Wie eine Flutwelle rollte die Dunkelheit wieder über den Himmel von New Mexico.

Auf der weiten Plaza des Dorfes San Miguel, vierzig Meilen südlich von Santa Fé, preßte Charley Estancia seine Fingerknöchel gegen die Augen, bis der Schmerz verging, und grinste dann zur schwarzen Himmelswölbung auf.

»Eine Sternschnuppe!« flüsterte er. »Schön!« Und er lachte. Er war elf Jahre alt, mager und mit schmuddeligem Gesicht, und er hatte die kurz aufleuchtenden Lichtbahnen der Meteore schon oft gesehen. Er wußte, was sie waren, auch wenn die anderen im Pueblo es nicht wußten. Aber so einen hatte Charley noch nie gesehen. Die blendende Lichtspur war wie eingebrannt in die Netzhäute seiner Augen. Wenn er die Lider schloß, war sie immer noch da.

Auch andere im Dorf hatten die Erscheinung gesehen. Die Plaza war an diesem Abend ein belebter Ort; denn in einer Woche sollte der Tanz des Feuerbundes stattfinden, und zu diesem Anlaß würden viele Touristen aus den Städten kommen, um zuzusehen und Aufnahmen zu machen und — vielleicht — Geld auszugeben. Charley Estancia hörte die Schreie, sah die ausgestreckten Arme seiner Onkel, Vettern und Schwestern.

»Maiyanyi!« stieß jemand hervor. »Geister!«

Geflüster von Dämonen und böser Magie, ängstliche Ausrufe des Zweifels und des Aberglaubens flogen kreuz und quer über die Plaza. Charley sah zwei von seinen Onkeln mütterlicherseits zur großen, fensterlosen Kiva, dem Zeremonienhaus, eilen und hastig die Leiter hinabklettern, um im Innern Zuflucht zu suchen. Er sah seine Schwester Rosita das Kruzifix zwischen ihren Brüsten herausziehen und es wie eine Art Amulett gegen ihre Wange drücken. Er sah seines Vaters Bruder Juan das Kreuz schlagen und drei weitere Männer zur Kiva rennen. Alle sprachen jetzt von bösen Geistern. Das Dorf starrte von Fernsehantennen, und schimmernde Automobile standen neben den Häusern aus luftgetrockneten Lehmziegeln, aber eine Sternschnuppe genügte, um die Bewohner mit abergläubischer Furcht zu erfüllen. Charley gab dem staubigen Grund einen Fußtritt. Seine Schwester Lupe raste an ihm vorbei. Er sah ihr entsetztes Gesicht und packte ihr dünnes Handgelenk.

»Wo willst du hin?«

»Ins Haus. Teufel sind im Himmel!«

»Klar. Die Kachinas kommen. Sie werden den Tanz des Feuerbundes machen, weil wir es nicht mehr richtig können«, sagte Charley. Er lachte.

Lupe war für Charleys Sarkasmus nicht in der Stimmung. Sie versuchte sich loszureißen. »Laß mich! Laß mich!« Sie war zwölf, und nur ein Mädchen, aber sie war viel stärker als er. Schließlich pflanzte sie ihre Hand mitten auf seine magere Brust, gab ihm einen kräftigen Stoß und riß zugleich ihren Arm aus seiner Umklammerung. Charley fiel auf den Rücken und blieb eine Weile im Staub liegen, zum Nachthimmel hinaufstarrend, der nun wieder normal war. Lupe war weitergerannt. Charley schüttelte den Kopf. Übergeschnappt, alle miteinander. Verrückt vor Angst. Warum konnten sie nicht denken? Da liefen sie wie Hühner durcheinander, verstreuten Maismehl, babbelten Gebete, deren Worte ihnen nichts als leere Töne waren, verkrochen sich in der Kiva, rannten in die Kirche!

»Eine Sternschnuppe!« rief Charley. »Keine Angst! Nur eine große Sternschnuppe!«

Wie gewöhnlich schenkte ihm niemand Beachtung. Man hielt ihn für ein wenig verdreht, für einen Jungen, der nichts als Träume und die Ideen des weißen Mannes im Kopf hatte. Er kam auf die Beine, fröstelnd im Nachtwind, und klopfte den Staub der Plaza aus seiner Hose. Sie wäre komisch, diese abergläubische Panik, wenn sie nicht so traurig wäre.

Ah! Da war endlich der Padre! Charley grinste.

Der Priester kam aus der weißgetünchten kleinen Kirche und hob beide Arme. Er rief in spanischer Sprache über die Plaza: »Fürchtet euch nicht! Es ist alles in Ordnung! In die Kirche, alle miteinander, und bleibt ruhig!«

Einige der Frauen folgten der Aufforderung. Die meisten Männer waren inzwischen in der Kiva, wo Frauen keinen Zutritt hatten. Charley beobachtete den Priester. Padre Herrera war ein kleiner, kahlköpfiger Mann, der vor ein paar Jahren von El Paso heraufgekommen war, nachdem der alte Pfarrer gestorben war. Er hatte es nicht leicht. In San Miguel waren alle römisch-katholisch, aber alle glaubten auch an die alte Pueblo-Religion. Und so kam es, daß die Leute in Augenblicken wie diesen in alle Richtungen rannten und nur wenige den Weg in die Kirche fanden. Padre Herrera sah nicht erfreut aus.

Charley ging zu ihm. »Was war es, Padre? Eine Sternschnuppe, weiter nichts?«

Der Priester warf ihm einen unfreundlichen Blick zu. »Vielleicht ein Zeichen des Himmels, Charley?«

»Ich sah es mit meinen eigenen Augen! Eine Sternschnuppe!«

Padre Herrera rang sich ein knappes Lächeln ab und wandte sich ab, um seine verängstigten Schäflein ins Gotteshaus zu treiben. Charley begriff, daß er entlassen war. Der Pfarrer hatte Rosita Estancia einmal gesagt, daß ihr jüngerer Bruder Charley eine verdammte Seele sei, und Charley hatte es erfahren. Er hatte sich irgendwie geschmeichelt gefühlt.

Hoffnungsvoll blickte er zum Himmel auf. Aber da waren keine Sternschnuppen mehr. Die Plaza war jetzt leer; die vielen Indianer, die kurz zuvor noch dort herumgelaufen waren, hatten Zuflucht gefunden. Charley drehte sich um, als er die Tür des Andenkenladens gehen hörte. Marty Moquino kam heraus. Er hielt eine kleine Spraydose mit Schnaps, und im Mundwinkel hatte er eine Zigarette hängen.

»Wo sind alle hin?« fragte Marty Moquino.

»Weggelaufen. Sie haben Angst.« Charley zwang sich zum Lachen. »Du hättest sie rennen sehen sollen!«

Er fürchtete sich ein wenig vor Marty Moquino, und zugleich verachtete er ihn. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, zu ihm als einem Mann aufzublicken, der Abenteuer erlebt und ferne Gegenden gesehen hatte. Marty war neunzehn Jahre alt. Vor zwei Jahren hatte er das Pueblo verlassen, um in Albuquerque zu leben, und man sagte im Dorf, er sei auch bis hinaus nach Los Angeles gekommen. Er war ein Spötter, ein Unruhestifter, aber er kannte die Welt des weißen Mannes besser als irgendein anderer im Dorf. Nun war Marty wieder da, weil er seinen Job verloren hatte. Die Leute erzählten sich, daß er mit Rosita Estancia gehe. Charley haßte ihn dafür; trotzdem fühlte er, daß er von Marty Moquino viel lernen konnte. Er hoffte, eines Tages selbst aus San Miguel zu entkommen.

Sie standen zusammen in der Mitte der Plaza, Charley klein und mager, Marty lang und mager. Marty bot ihm eine Zigarette an. Charley nahm sie und brachte sie routiniert in Gang. Sie grinsten einander wie Brüder an.

»Hast du sie gesehen?« fragte Charley. »Die Sternschnuppe?«

Marty nickte. Er hob die Spraydose vor den Mund und spritzte sich einen Schuß Whisky hinein. »Ich war hinten draußen«, sagte er nach einem Moment. »Ich habe sie gesehen. Aber es war keine Sternschnuppe.«

»Es waren die Kachinas, die zu Besuch kommen, heh?«

Marty sagte lachend: »Junge, weißt du wirklich nicht, was das für ein Ding war? Solche Sternschnuppen gibt es nicht. Das war eine fliegende Untertasse, die über Taos explodiert ist!«


* * *

Kathryn Mason sah das Licht am Himmel nur durch einen Zufall. Gewöhnlich blieb sie in diesen dunklen Winternächten nach Anbruch der Dunkelheit in ihren vier Wänden. Im Haus war es warm und hell, die stattliche Reihe der elektrischen Geräte summte und schnurrte leise, und sie fühlte sich behaglich. Draußen mochte alles mögliche lauern, hier drinnen fühlte sie Sicherheit. Aber das Kätzchen ihrer Tochter fehlte nun schon seit drei Tagen, was in der Mason-Familie die größte Krise seit langem ausgelöst hatte. Es schien Kathryn, daß sie draußen ein schwaches Miauen hörte. Das Kätzchen wiederzufinden war ihr wichtiger, als in der Abgeschiedenheit eines automatischen Hauses eingeschlossen zu sein.

So eilte sie denn hinaus und hoffte gegen alle Vernunft, das flauschige kleine schwarzweiße Ding auf der Fußmatte sitzen zu sehen. Aber da war kein Kätzchen; und plötzlich zerteilte ein Lichtstrahl den Himmel.

Sie hatte keine Ahnung, daß die Intensität des Lichts bereits nachgelassen hatte. Es war das hellste Ding, das sie je am Himmel gesehen hatte, so strahlend hell, daß sie instinktiv ihre Hände vor die Augen schlug. Aber einen Augenblick später zog sie ihre Hände wieder weg und sah zu, wie es seine feurige Bahn vollendete.

Was konnte es sein?

Kathryns Verstand lieferte sofort die Antwort: Es war der Feuerschweif eines explodierenden Düsenjägers. Einer der Jungen vom Luftwaffenstützpunkt Kirtland bei Albuquerque fand in diesen Sekunden bei einem Übungsflug den Tod. Natürlich. Und heute abend würde es irgendwo eine neue Witwe geben. Kathryn erschauerte. Zu ihrer Überraschung kamen diesmal keine Tränen.

Ihr Blick folgte der Lichtspur, wie sie sich im Süden dem Horizont näherte und in der dunstigen Helligkeit verschwand, die das Stadtzentrum von Albuquerque markierte. Sofort erstand in Kathryns Vorstellung eine neue Katastrophe, denn in ihrer privaten Welt waren Katastrophen immer zur Hand. Sie sah die flammende Maschine mit Mach drei auf die Central Avenue stürzen, ein Dutzend Straßen aufpflügen, Tausende von Menschen vernichten, vulkanartige Eruptionen aus berstenden Gashauptleitungen hervorrufen. Sirenen heulten, Frauen kreischten, Ambulanzen, Leichenwagen…

Sie unterdrückte die Hysterie und versuchte, etwas ruhiger geworden, sich das Gesehene zu erklären. Das Licht war jetzt fort, die Welt wieder normal — so normal, wie sie in diesen Tagen des noch ungewohnten Witwenstandes sein konnte. Weit in der Ferne glaubte sie ein dumpfes Wummern zu hören, wie von einer Explosion. Aber ihre in der Nähe von Luftwaffeninstallationen gesammelte Erfahrung sagte ihr, daß dieser gewaltige Lichtstrahl im Himmel nicht von einem explodierenden Düsenjäger stammen konnte, allenfalls von einem geheimen Versuchsmodell mit noch unveröffentlichten technischen Daten. Sie hatte Düsenmaschinen explodieren sehen, und dabei hatte es jedesmal einen grellen Lichtausbruch gegeben, aber nichts dergleichen.

Was dann? Eine interkontinentale Rakete vielleicht, die ihre fünfhundert Passagiere in einen feurigen Tod beförderte?

Sie glaubte die Stimme ihres Mannes zu hören, wie sie zu ihr sagte: »Du mußt es durchdenken, Kate. Nur so kommst du weiter.«

Er hatte das oft gesagt, bevor der Tod ihn ereilt hatte. Kathryn versuchte es zu durchdenken. Die Helligkeit war aus dem Norden gekommen, von Santa Fé oder Taos, und hatte sich nach Süden bewegt. Die interkontinentalen Raketen reisten auf Ostwestkurs, und so starke Abweichungen waren so gut wie ausgeschlossen. Vielleicht eine chinesische Rakete? Aber dann hätte sie mehr von der furchtbaren Explosion gemerkt; eine von diesen Fusionsbomben war imstande, ganz New Mexico in Stücke zu reißen. Denk nach… Eine Art Meteor, vielleicht? Oder wie wäre es mit einer Fliegenden Untertasse? Die Leute redeten heutzutage soviel von UFOs. Geschöpfe aus dem Weltraum, so sagten sie, die uns beobachteten, herumschnüffelten. Grüne Männer mit klebrigen Tentakeln und hervorquellenden Augen? Kathryn schüttelte den Kopf. Es könnte sein, daß im Fernsehen eine Meldung darüber käme, dachte sie.

Der Himmel sah jetzt wieder friedlich aus. Wie wenn überhaupt nichts geschehen wäre.

Sie zog ihren Morgenmantel enger um sich. Nachts war der Wind hier am Rand der Wüste so kalt, als ob er direkt vom Pol käme. Kathryn bewohnte das nördlichste Haus der Vorstadtsiedlung; sie konnte aus dem Fenster schauen und nur trockenes Ödland aus Sand und Salbeisträuchern sehen. Als sie und Ted vor zwei Jahren das neue Haus bezogen hatten, hatte der Agent ihnen versichert, daß auch nördlich ihres Hauses Einfamilienhäuser errichtet würden. Daraus war nichts geworden. Finanzielle Probleme, hatte es geheißen, und Kathryn lebte immer noch auf der Grenze zwischen irgendwo und nirgendwo. Südlich von ihr lag Bernalillo, ein Vorort von Albuquerque, aber im Norden war nichts, nur offene Steppe voller Kojoten und Gott weiß was noch. Wahrscheinlich hatten die Kojoten das Kätzchen ihrer Tochter gefressen.

Kathryn drehte rasch um und ging ins Haus zurück. Es war gut, in diesem hellen, warmen Haus zu sein. Solange Ted am Leben gewesen war, hatte ihr das Leben hier draußen gefallen. Nun konnte sie nichts tun als durchhalten und warten, daß die Erstarrung ihrer Witwenschaft sich löse. Sie war erst dreißig. Zu jung, um immer in dieser Isolierung zu leben.

Kathryn ging ins Kinderzimmer. Das kleine Mädchen schlief gut zugedeckt in ihrem Bett. Kathryn schaltete die Nachtbeleuchtung ein. Jill regte sich, aber sie schlief weiter. Sie hatte das dunkle Haar ihres Vaters, und auch Teds feingeschnittene Züge. Eines Tages würde sie schön sein, nicht so unscheinbar wie ihre Mutter, und dafür war Kathryn dankbar. Aber wofür war alles das gut, wenn Ted es nicht mehr erleben konnte? Er war während des Nahostkrieges von 1981 über Syrien abgeschossen worden. Was hatten Syrien und Israel ihm bedeutet? Warum hatte eine Politik des Größenwahns ihr das einzige genommen, was ihrem Leben Inhalt gegeben hatte?

Berichtigung: fast das einzige.

Sie beugte sich über das Bett und gab ihrer kleinen Tochter einen Kuß. Jill lächelte im Schlaf. Kathryn kehrte ins Wohnzimmer zurück und beschloß festzustellen, ob die Acht-Uhr-Nachrichten etwas über das Ding im Himmel zu melden wußten. Sie schaltete das Gerät ein, und auf dem Bildschirm wurde es lebendig. Sie war gerade noch rechtzeitig gekommen.

»…in verschiedenen Teilen des Staates zwischen Taos und Albuquerque gesehen. Meldungen über Beobachtungen liegen auch aus Los Alamos, Grants und Jemez Pueblo vor. Nach Dr. J. F. Kelly von der Sternwarte in Santa Fé handelte es sich um einen der hellsten Meteore, die seit dem Bestehen astronomischer Stationen im Südwesten der Vereinigten Staaten beobachtet werden konnten. Eine Gruppe von Astronomen und Geologen wird in den nächsten Tagen mit der Suche nach Überresten des großen Meteors beginnen. Für diejenigen unserer Zuschauer, denen das interessante Phänomen entgangen ist, bringen wir im Anschluß an diese Nachrichten eine Filmaufzeichnung. Und wir wiederholen, es besteht kein Grund zur Besorgnis über diesen ungewöhnlichen Meteor.«

Gott sei Dank, dachte Kathryn. Ein Meteor. Eine große Sternschnuppe, sonst nichts. Keine nukleare Rakete, kein explodierender Düsenjäger. Keine neuen Witwen. Sie wollte nicht, daß andere erlitten, was sie durchgemacht hatte.

Wenn nur das Kätzchen zurückkommen würde. Sie konnte nicht hoffen, daß die Tür aufginge und Ted hereinspaziert käme, aber das Kätzchen könnte doch noch am Leben sein, vielleicht in irgendeiner Garage. Kathryn schaltete das Fernsehgerät aus. Sie lauschte auf ein Miauen, aber dort draußen war alles still.


* * *

Colonel Tom Falkner sah den Feuerball nicht. Während der über den Himmel schoß, saß er in der Offiziersmesse des Luftwaffenstützpunkts, trank billigen japanischen Scotch und sah uninteressiert einer Fernsehübertragung des Basketball-Turniers zwischen New York und San Diego zu. Neben den nasalen Wortkaskaden aus dem Lautsprecher hörte er zwei Leutnants über Fliegende Untertassen diskutieren. Der eine war ziemlich leidenschaftlich davon überzeugt, daß sie wirklich existierten und daß es Schiffe aus dem Weltraum seien. Der andere nahm den Standpunkt des orthodoxen Skeptikers ein: Zeig mir einen Mann von einer anderen Welt, zeig mir ein Stück von einer fliegenden Untertasse, zeig mir irgend was, das ich anfassen kann, und ich werde es glauben. Vorher nicht. Sie waren beide ein wenig angeheitert, sonst würden sie nicht über Untertassen reden. Nicht mit ihm im gleichen Raum. Im Stützpunkt war man dem armen Colonel Falkner gegenüber sehr taktvoll. Jeder wußte, daß das Schicksal ihm übel mitgespielt hatte, und sie versuchten es ihm so leicht wie möglich zu machen.

Er stand auf und ging steif an die Bar. Der freundliche junge Unteroffizier, der dort seinen Dienst versah, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

»Sir?«

»Noch einen doppelten Scotch.«

War da ein versteckter Vorwurf in den Augen des Barmannes? Eine leise Verachtung für den versoffenen Colonel? Falkners Stirn umwölkte sich. Er sagte sich, daß er zu sensibel sei, daß er zuviel in die Mienen anderer hineinlese. Er war ein Nervenbündel, das war das Problem. Und er trank diesen stinkenden Ersatz-Glenlivet, um seine inneren Spannungen loszuwerden. Leider hinterließ das Zeug nur neue Schuldgefühle und Elendszustände.

Der Junge schob ihm ein Glas hin. Spraydosen galten hier im Offizierskasino als unfein. Solange es nicht an Personal zum Einschenken mangelte, zogen Offiziere, die sich für Gentlemen hielten, das Trinken aus anständig gefüllten Gläsern der fortschrittlichen, aber ordinären Spritztechnik des Jahres 1982 vor. Falkner grunzte eine Anerkennung und umschloß das Glas mit seiner haarigen Hand. Runter damit. Ah. Er schnitt ein Gesicht.

»Entschuldigen Sie meine Neugierde, Sir, aber wie ist dieser japanische Whisky?«

»Sie haben ihn nie probiert?«

»O nein, Sir.« Der Barmann schaute Falkner an, als habe der Colonel ihm eben eine besonders ekelhafte Form der Selbsterniedrigung empfohlen. »Niemals. Ich trinke überhaupt keinen Alkohol. Das wird wohl der Grund sein, warum der Computer mich für den Dienst an der Bar ausgewählt hat. He, he.«

»He, he«, sagte Falkner säuerlich. Er beäugte die Flasche mit dem Ersatz-Scotch. »Einigermaßen. Der nötige Sprit ist drin, und er schmeckt fast wie das echte Zeug — furchtbar. Bis wir wieder mit Schottland Handel treiben können, werde ich ihn eben trinken müssen. Dieses verdammte, blödsinnige Embargo. Man sollte dem Präsidenten die…« Falkner beherrschte sich. Der junge Mann grinste scheu. Auch Falkner grinste trotz seiner elenden Stimmung, dann ging er zurück zu seinem Stuhl.

Die beiden Leutnants diskutierten immer noch. Falkner starrte auf den Bildschirm. Er wollte und konnte in seiner Freizeit keine Gedanken über Fliegende Untertassen zulassen. Schon der bloße Name war ihm verhaßt. Das war alles nur ein schlechter und dummer Witz, diese Untertassengeschichten, und der Witz ging auf seine Kosten.

Er war dreiundvierzig Jahre alt, obwohl er sich manchmal wie hundertdreiundvierzig fühlte. Er konnte sich vage erinnern, wann zum erstenmal von Fliegenden Untertassen die Rede gewesen war: 1947, gleich nach dem zweiten Weltkrieg. An den Krieg selbst konnte Falkner sich nicht mehr erinnern. Er war 1939 geboren, am Tag des deutschen Überfalls auf Polen, und als der Krieg endete, war er in die Schule gekommen. Aber er erinnerte sich an die Sache mit der Fliegenden Untertasse, weil sie ihm Angst gemacht hatte. Er hatte in einer Zeitschrift darüber gelesen, und der sensationell aufgebauschte Bericht hatte ihn mit Entsetzen erfüllt. Der kleine Tommy Falkner hatte sich immer für die Planeten und den Weltraum interessiert, schon zu einer Zeit, als die allgemeine Öffentlichkeit von solchen Dingen kaum etwas wußte.

Untertassengeschichten waren danach immer wieder und immer häufiger bekanntgeworden. Verrückte waren zu den Zeitungen gekommen, um über ihre Raumfahrten mit fliegenden Untertassen zu berichten. Tom Falkner war auch auf eine Raumfahrt aus, aber eine richtige. Als er 1957 in die Luftwaffenakademie eingetreten war, hatte er dieses unsinnige Zeug längst vergessen. Er wollte am amerikanischen Programm zur Erforschung des Weltraumes teilnehmen. Er wollte Astronaut werden.

Falkner nahm ärgerlich einen Schluck aus seinem Glas.

Ein paar Wochen, nachdem er Kadett geworden war, hatten die Russen einen Sputnik in der Umlaufbahn. Und nun entwickelte sich auch das amerikanische Raumprogramm. Für Projekt Mercury war er viel zu jung; neidvoll sah er zu, wie die Gemini-Astronauten in den Raum gingen und wieder herunterkamen. Aber beim Projekt Apollo war auch für ihn Platz. Er stand auf der Mannschaftsliste für einen geplanten Flug zum Mond. Mit etwas Glück, so rechnete er sich aus, könnte er es sogar schaffen, beim Marsprojekt dabeizusein, bevor er vierzig wäre.

In jenen Jahren war der Raum ernste Wirklichkeit. Er verbrachte seine Tage in Simulatoren, seine Nächte mit Mathematik. Fliegende Untertassen? Für Irre. »Kalifornische Geschichten« pflegte Falkner die Meldungen zu nennen, selbst wenn sie aus Michigan oder Dakota kamen. In Kalifornien glaubten die Leute an alles, selbst an purpurne Menschenfresser von den Sternen. Er arbeitete in seinem Beruf, und sein Beruf war der Raum. In dieser Zeit heiratete er auch, und es war keine schlechte Ehe, außer, daß keine Kinder aus ihr hervorgingen.

Er erinnerte sich an einen Abend im Jahr 1970, als er und ein paar von den anderen Apollo-Leuten miteinander gebechert hatten. Ned Reynolds, angeheitert und unvorsichtig, hatte sich plötzlich an ihn gewandt und gesagt: »Du wirst nicht von der Erde wegkommen, Tom. Willst du wissen, warum? Weil du keine Kinder hast. Schlechte Public Relations. Der Astronaut muß ein paar aufgeweckte Kinder haben, die zu Hause auf ihn warten, sonst verdirbt es den Fernsehpart.«

Falkner hatte amüsiert getan, aber es war ihm nicht leichtgefallen. Das gehörte nicht zu den Dingen, die man als nüchterner Mann zu einem Freund sagte, und ein nüchterner Mann hätte es sich auch von einem Freund nicht sagen lassen. Doch er hatte gelacht.

In vino veritas. Sechs Monate später hatten die Ärzte bei einer Routineuntersuchung etwas in seinem inneren Ohr festgestellt. Irgend etwas mit dem Ding, das für das Gleichgewichtsgefühl des Körpers sorgte, war nicht in Ordnung, und das war zugleich das Ende seiner Karriere beim Projekt Apollo gewesen. In aller Ruhe hatten sie ihn an die Luft gesetzt und mit aufrichtigem Bedauern erklärt, daß sie einen schwindelanfälligen Mann nicht in den Raum schießen könnten, selbst wenn er bisher noch keine offene Tendenz zur Schwindelanfälligkeit habe erkennen lassen…

Sie besorgten ihm einen Posten beim Projekt Bluebook, dem Dreigroschenprogramm, das die Luftwaffe aufgezogen hatte, um der Öffentlichkeit zu beweisen, daß Fliegende Untertassen nicht existierten. Das Projekt Bluebook war nach Art jeder Bürokratie bald zu größeren Dimensionen ausgewuchert und hieß jetzt AFAO, Amt für die Untersuchung atmosphärischer Objekte. Und der arme alte Tom Falkner, der durchgefallene Astronaut, war der AFAO-Chef für Arizona, New Mexico, Utah und Colorado. Er war Colonel bei der Untertassenbrigade. Wenn er die Zähne zusammenbiß und lange genug ausharrte, würde er der nächste Untertassengeneral der Luftwaffe sein.

Er trank sein Glas leer. Im gleichen Augenblick merkte er, daß die Basketball-Übertragung aufgehört hatte und Nachrichten gebracht wurden. Der Sprecher sagte etwas von einem Meteor, einem Lichtstreifen ungeheurer Helligkeit… kein Grund zur Besorgnis.

Falkner versuchte seinen Verstand zu ordnen. Aus seinen Tiefen kam ein unwillkommener Gedanke nach oben geschwommen: Untertasse gesichtet. Endlich. Die blauhäutigen Ungeheuer von Beteigeuze sind hier. Kein Grund zur Besorgnis, aber sie haben eben Washington verschlungen. Alles in Ordnung. Nur ein Meteor.

Er hörte das Telefon hinter der Bar läuten. Und dann kam der Barmann herüber und sagte: »Für Sie, Colonel Falkner. Ihr Büro ruft. Es scheint dringend zu sein, Sir!«

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