20.

Es war Abend geworden. Jill hatte ihr Essen bekommen und schlief. Vorneen, der sich bereits ohne Stock fortbewegen konnte, probierte sein heilendes Bein aus. Kathryn erledigte ihre letzten Hausfrauenpflichten. Der Abend gehörte ihnen. Kathryn fühlte sich wieder verheiratet, und dieses Gefühl machte sie froh. Nun, da alle Barrieren zwischen ihr und Vorneen gefallen waren, einschließlich der physischen, konnte sie nicht länger leugnen, daß sie ihn liebte.

Gewiß, manchmal kam er ihr furchtbar fremd vor. Es gab keine Möglichkeit zu vergessen, daß er nur an der Oberfläche menschlich war, daß er geboren war, bevor Napoleon gelebt hatte, daß er andere Sonnen und andere Welten gesehen hatte. Doch diese Dinge konnte man übersehen. Da stand er, hübsch, zärtlich, mitfühlend, ein Amor, der aus dem Himmel gefallen war.

Sie hatte sich immer gefragt, ob sie sich Ted gegenüber schuldig fühlen würde, wenn sie sich wieder verliebte. Nun hatte sie die Antwort: Sie fühlte sich nicht schuldig. Sie liebte noch immer Teds Erinnerung, aber die Hand ihres toten Mannes hielt sie nicht in einem kalten Griff, wie sie gefürchtet hatte. Ted war nicht mehr. Vorneen war lebendig, war hier.

Es hatte sie überrascht, daß sein Imitationskörper sich verhalten und reagieren konnte, als ob er menschlich wäre. Vorneens Vitalität war zuweilen beängstigend. Kathryn hatte den Verdacht, daß er auf seiner eigenen Welt ein Frauenheld war — wenn es dort so etwas wie ›Frauen‹ gab.

Sie war glücklich, und sie vermied es, sich über die vermutliche Dauer ihres Glücks Gedanken zu machen. Es mußte eine Zeit kommen, da sie Vorneen nicht länger in ihrem Haus verstecken konnte. Wenn er bleiben wollte, mußte er sich in irgendeiner Form der äußeren Umwelt anpassen. Wenn er nicht bleiben wollte…

Kathryn preßte die Lippen zusammen. Es war unrealistisch, zu denken, daß er für immer bei ihr bleiben würde. Aber jetzt war er bei ihr. Das war es, was zählte. Er war jetzt bei ihr.

Als sie die Küche aufgeräumt hatte, hörte sie draußen den Schlag eines Wagens zufallen. Schritte kamen näher, dann läutete die Türglocke.

Das Guckloch zeigte ihr das Gesicht eines jungen, blonden Mädchens.

»Wer ist da, bitte?« fragte Kathryn.

»Mrs. Mason? Mein Name ist Glair. Ich bin mit Vorneen befreundet. Darf ich hineinkommen?«

Glair. Mit Vorneen befreundet.

Er hatte diesen Namen im Delirium genannt. Für Kathryn brach eine ganze Welt zusammen. Mechanisch öffnete sie die Tür.

Glair war nicht groß, von üppigen Formen und schön. Sie sah wie ein Fernsehstar aus, wie ein weibliches Gegenstück zu Vorneen. Ihre Augen waren warm und freundlich, und ihre Haut sah genauso makellos glatt und kühl und unirdisch wie Vorneens aus.

Sie standen einander noch schweigend gegenüber, als Vorneen aus dem Schlafzimmer kam und sagte: »Kathryn, hat es geklingelt…?«

»Hallo, Vorneen.«

»Glair. Du.«

Sie rannten nicht aufeinander zu, wie Kathryn befürchtet hatte. Sie blieben fünf Meter auseinander, und was immer zwischen ihnen hin und her gehen mochte, blieb unausgesprochen und ihrem Bewußtsein verborgen. Erst jetzt bemerkte Kathryn, daß Glair an zwei Aluminiumkrücken ging. In die Stille hinein sagte Kathryn, und es klang fast wie ein Aufschrei: »Sie wollen ihn mitnehmen, ja?«

»Es tut mir leid, Mrs. Mason«, sagte Glair. »Ich weiß genau, was das für Sie bedeutet.« Ihr Blick ging weiter zu Vorneen. »Mirtin ist auch am Leben. Sie haben ihn schon vor Tagen gefunden und von der Erde fortgebracht. Weiß sie…«

»Ja. Sie weiß genug«, sagte Vorneen, etwas unbehaglich.

»Dann kann ich offen sprechen. Ein Schiff wartet auf uns, Vorneen. Mich haben sie auch erst heute geholt. Ich habe in Albuquerque gewohnt. Jemand war so freundlich, mich aufzunehmen und zu pflegen.«

»Du siehst gut aus, Glair«, sagte Vorneen.

»Du auch. Offenbar hattest du gute Pflege.«

Vorneen sah Kathryn an. »Bessere Pflege hätte ich mir nicht wünschen können.«

»Das ist gut«, sagte Glair. »Vorneen, würdest du einen Moment ins Zimmer zurückgehen. Ich möchte ein paar Minuten mit Mrs. Mason sprechen. Dann lasse ich dich mit ihr allein, so lange du willst. Ich werde dich nicht drängen. Ich habe gerade das gleiche mitgemacht.«

Vorneen nickte. Wortlos drehte er sich um und ging ins Schlafzimmer zurück.

Glair schaute Kathryn ruhig an. »Hassen Sie mich sehr?«

Kathryns Lippen bebten. »Hassen? Warum sollte ich Sie hassen?«

»Ich werde Ihnen Vorneen wegnehmen.«

»Er gehört zu seinesgleichen«, sagte Kathryn. »Ich habe keinen Anspruch auf ihn.«

»Außer dem Anspruch der Liebe.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

Glair lächelte. »Das ist nicht schwer zu erkennen. Ich sehe, daß auch er Sie liebt.« Sie setzte sich ungeschickt und stellte ihre Krücken beiseite. »Abgesehen von dem, was ich sehe, kann ich Ihre Gefühle sehr gut nachempfinden. Ich sagte schon, daß ich gerade das gleiche durchgemacht habe. Ein Mann hatte mich aufgenommen. Ich lebte wochenlang bei ihm. Ich liebte ihn, wenn es möglich ist, daß einer von uns einen von Ihrer Rasse lieben kann, und ich glaube, es ist möglich. Und dann kamen meine Leute, um mich zu holen. Darum weiß ich, wie es ist.«

Kathryn war zumute, wie wenn ihr Gehirn in dicke Watte eingebettet wäre. Sie reagierte kaum. Dies alles war so schnell gekommen, daß das Ende ihrer Verbindung mit Vorneen für sie noch nicht wirklich war.

Sie sagte: »Vorneen und ich waren sehr glücklich miteinander. Aber er — er gehört Ihnen, nicht wahr? Sie sind seine Partnerin?«

»Eine Partnerin. Wir sind zu dritt. Hat er ihnen das erklärt?«

»Nicht so genau.«

»Ich will ihn wiederhaben«, sagte Glair. »Sie können das verstehen, weil Sie ihn kennen. Werden Sie mir vergeben, daß ich ihn mit mir nehme?«

Kathryn bewegte sich unbehaglich. »Es wird wehtun. Sobald ich — sobald ich begreife, daß es tatsächlich geschieht. Wird er heute abend gehen?«

»Das wird am besten sein.«

»Wie bald?«

»In ein paar Stunden. Für ein Lebewohl ist noch Zeit. Dann ein glatter Bruch, Schluß. Er gehört nicht auf diese Welt. Er kann niemals zurückkehren. Hat er Ihnen von den Verträgen erzählt?«

»Ja.«

»Dann kennen Sie die Situation.«

»Ich sehe es ein. Aber ich will es nicht einsehen. Ich versuchte zu glauben, er würde immer bei mir bleiben, ich könnte immer für ihn da sein.«

»Sind Sie gern für andere da?« fragte Glair.

Kathryn lächelte. »Ist das nicht offensichtlich?«

»Würden Sie sich dann um jemand anderen kümmern? Mir zuliebe? Da ist ein Mann in Albuquerque — der Mann, der sich meiner angenommen hat. Er ist jetzt allein. Er braucht jemanden, der ihm Wärme entgegenbringt, der ihm hilft. Ich habe ihm ein wenig von Ihnen erzählt. Besuchen Sie ihn in einem oder zwei Tagen, Mrs. Mason. Sprechen Sie mit ihm. Sie und er haben viel gemeinsam.«

»Das ist alles, was Sie von mir wollen? Daß ich mit ihm rede?«

»Mehr kann ich nicht erwarten«, sagte Glair. »Wer kann diese Dinge voraussagen? Besuchen Sie ihn trotzdem. Werden Sie es tun?«

»Meinetwegen«, sagte Kathryn. »Ja.«

»Hier ist seine Adresse.«

Sie gab Kathryn eine Karte. Kathryn warf einen Blick darauf und legte sie weg. Tom Falkner — der Name sagte ihr nichts. Sie würden einander begegnen, trotzdem. Und einander ihr Leid klagen.

Glair nahm ihre Krücken und stand unbeholfen auf. »Ich möchte Ihnen danken, Kathryn. Daß Sie für ihn gesorgt haben. Daß Sie ihn aufgenommen haben. Mehr kann ich nicht sagen. Nur meinen Dank.«

Kathryn seufzte. »Vielleicht sollte ich auch dankbar sein. Daß ich ihn wenigstens für diese kurze Zeit bei mir hatte.«

Glair humpelte zur Schlafzimmertür. »Ich werde jetzt ein paar Worte mit ihm sprechen, dann lasse ich Sie mit ihm allein.«

Sie verschwand im Schlafzimmer, ohne die Tür ganz zu schließen. Als sie Vorneen anredete, sprach sie Englisch, und Kathryn verstand, daß auch für sie bestimmt war, was sie hörte.

»Du hattest großes Glück, Vorneen«, sagte Glair. »Du wurdest von genau der richtigen Person gefunden und aufgenommen.«

»Ja, das denke ich auch.«

»Du möchtest sie jetzt nicht verlassen?«

»Ich habe sie liebgewonnen, Glair. Mehr als ich es jetzt in Worte fassen kann. Aber ich kann nicht bleiben, nicht wahr?«

»Nein.«

»Das Abkommen…«

»Das Abkommen, ja.«

»Wie hast du mich gefunden?«

»Das ist jetzt nicht wichtig. Sartak hat dich gefunden. Und mich. Ich erzähle dir die ganze Geschichte später. Fühlst du dich gesund, Vorneen?«

»Ein bißchen angeschlagen, sonst ganz gut. Und du?«

»Desgleichen. Wo ist dein Anzug?«

»Versteckt.«

»Vergiß ihn nicht, wenn du gehst. Nimm alles mit, was du bei der Landung hattest.«

»Natürlich.«

»Und versuche ihr zu erklären, daß es nötig ist. Daß du unmöglich bleiben kannst. Daß die Beobachter nicht mit den Beobachteten zusammenkommen dürfen. Ich habe das mit Tom auch so gemacht. Er ist der Mann, der mich aufgenommen hatte.«

»Es fiel dir nicht leicht, von ihm fortzugehen, wie?«

»Du weißt, wie es ist. Ein Abschied ist nie leicht. Aber ich habe mich von ihm getrennt. Und du wirst dich von Kathryn trennen. Nach einer Weile wird der Schmerz aufhören.«

»Für uns oder für sie?«

»Für alle«, sagte Glair. »Wir sehen uns später. Schalte das Licht über dem Eingang an, wenn du fertig bist. Unser Wagen steht ein Stück weiter unten. Du brauchst dich nicht zu beeilen.«

Glair kam aus dem Schlafzimmer zu Kathryn, die wie erstarrt an der Tür stand. Die Tatsache ihres Verlustes begann allmählich in ihr Bewußtsein einzusickern. Sie versuchte sich einzureden, daß sie nichts verloren habe, weil Vorneen niemals ihr gehört hatte. Er war nur ein Gast gewesen, ein Besucher. Was zwischen ihnen gewesen war, hatte von Anfang an den Keim des Vergänglichen in sich getragen.

Glair drückte ihr beide Hände. Sie begann etwas zu sagen, unterdrückte die Worte jedoch, bevor sie über ihre Lippen kamen. Kathryn kämpfte mit den Tränen.

»Ich werde ihn nicht lange aufhalten«, murmelte sie.

Sie öffnete die Tür und ließ Glair hinaus, dann drehte sie um und ging ins Schlafzimmer. Vorneen stand am Fenster. Ohne sich ihrer Bewegungen bewußt zu werden, fand Kathryn sich neben ihm.

Sie hatten einander soviel zu sagen — und so wenig Zeit, in der sie es sagen konnten.

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