2.

Die ersten Schwierigkeiten an Bord des dirnaischen Schiffes waren über dem Pol aufgetreten. Es war ein normales Beobachtungsschiff, von der Art, wie sie seit Jahrzehnten um die Erde patrouillierten, und die Möglichkeit von Defekten war so verschwindend gering, daß keine vernünftige Person daran zu denken pflegte. Die Schiffe waren sicher; mehr war dazu nicht zu sagen. Aber dieses eine war defekt geworden.

Die ersten Anzeichen machten sich in einer Höhe von dreißig Kilometern bemerkbar, als die Warnlampe aufleuchtete. Akustische Signale folgten.

Die Mannschaft war an der Arbeit. Sie bestand aus der üblichen dreiköpfigen Sexualgruppe, in diesem Fall aus einem weiblichen und zwei männlichen Mitgliedern. Sie waren nach irdischer Rechnung seit fast hundert Jahren zusammen und versahen den Wachdienst über der Erde bereits länger als zehn Jahre. Die Frau, Glair, war für die Aufnahmeeinrichtungen verantwortlich, die den Planeten unter ihnen ständig kontrollierten und Informationen sammelten. Mirtin verarbeitete und analysierte das gewonnene Informationsmaterial. Vorneen herrschte über die Nachrichtenabteilung, unterhielt Verbindung mit anderen Schiffen und übermittelte die ausgewerteten Informationen der Mutterwelt. Außerdem hatten sie verschiedene andere Pflichten, die sie gemeinsam und nach Absprache erfüllten: Instandhaltung des Schiffes, Nahrungsaufbereitung und Navigation. Sie waren eine gute Gruppe. Als die Warnsignale kamen, blickte jeder sofort von seiner Arbeit auf, bereit zu tun, was immer für die Sicherheit des Schiffes notwendig sein mochte.

Mirtin, der älteste und ruhigste, der als Verkleidung und Tarnung den Körper eines irdischen Mannes mittleren Alters trug, erreichte die Kontrolltafel als erster. Seine Finger bedienten die Anlage mit schnellen, routinierten Bewegungen. Er sammelte die Daten und wandte sich zu den anderen um.

»Der Plasmadruck läßt nach. Wir werden innerhalb von sechs Minuten hochgehen.«

»Das ist doch unmöglich«, erwiderte Glair. »Wir…«

Vorneen lächelte freundlich. »Es ist möglich, Glair«, unterbrach er sie. Er trug den Körper eines jüngeren Mannes, und er war nicht wenig stolz auf sein Aussehen. Andererseits mußte ein Dirnaer auf Wachdienst die äußere Form eines Erdbewohners annehmen, und es war nur vernünftig, diejenige Gestalt zu wählen, die das innere Wesen am besten ausdrückte. Wenn Vorneen sich für ein etwas zu hübsches Aussehen entschieden hatte, wenn Glair sich ein wenig in der wollüstigen Richtung geirrt hatte, wenn Mirtin es für richtig hielt, selbstgenügsam und unscheinbar zu wirken, so waren das alles erlaubte Entscheidungen.

Glair hatte ihre momentane Desorientierung überwunden und machte sich daran, Stromkreise umzuschalten, um zu retten, was noch zu retten war.

Mirtin lachte. »Wir sind jetzt sichtbar. Ein nacktes Gefühl, nicht? Wie wenn man mittags auf dem Marktplatz steht, nackt bis auf die Knochen.«

»Wir dürfen nicht lange sichtbar bleiben«, meinte Vorneen. »Die Detektoren der Erdbewohner werden uns bald ausgemacht haben. Dann fliegen Raketen.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Glair. »Sie haben unsere Schiffe schon öfter gesehen und nicht angegriffen. Sie wissen, daß wir hier oben sind, wenigstens ihre Regierungen. Fünf Minuten mit abgeschaltetem Abschirmsystem werden nicht so gefährlich sein.«

Vorneen wußte, daß sie recht hatte. Es kam darauf an, die Explosion abzuwenden, nicht, sich über die Tatsache Sorgen zu machen, daß sie sich jeder Form irdischer Beobachtung ausgesetzt hatten, vom Neutronenschirm bis zum bloßen Auge. Er öffnete die Durchstiegsluke und kroch in den Maschinenraum.

Das dirnaische Schiff war für unbegrenzte Flugdauer ohne Auftanken konstruiert. Sein Rumpf, eine fast zur Scheibe abgeflachte Kugel, hatte an der Unterseite eine Kuppel, in der ein Fusionsgenerator untergebracht war: nicht mehr und nicht weniger als eine Miniatursonne, von der das Schiff alle benötigte Energie bezog. Der Kern dieses Systems bestand aus Plasma, einer enorm heißen Suppe aus Elektronen und nackten Atomkernen. Es gab keine feste Hülle, die dieses Plasma einschließen konnte, ohne selbst zu Plasma zu werden. Diese Funktion ersetzte ein Magnetfeld, das das Plasma unter gleichmäßigem Druck hielt und es so von seiner Umgebung isolierte. Solange das Plasma unter Kontrolle blieb, konnten die Dirnaer sich seiner Energie bedienen. Ließ der Druck des Magnetfelds jedoch nach, befanden sich die drei Besatzungsmitglieder kaum vier Meter über einer alles verzehrenden Glut mit einer Hitzeentwicklung von einigen Millionen Grad. Nicht lange.

Vorneen erreichte die Energiezentrale und sah zu seiner Bestürzung, daß fünf von den Graphitstäben bereits geschmolzen waren und bläulichweiße Lichtbogen bedrohlich über dem Gehäuse des Generators hin und her zuckten. Er hatte keine Angst vor dem Tod, und von allen Arten des Sterbens wäre dies bestimmt die schnellste, aber die Natur und sein Pflichtgefühl trieben ihn zu einem Versuch, die Situation noch zu retten, wenn dies überhaupt möglich war. Es kam nun darauf an, aus den noch funktionsfähigen Systemen des Schiffes Energie abzuziehen und das Magnetfeld zu stützen. Wäre der Plasmadruck normalisiert, würde die Anlage sich vielleicht wieder stabilisieren.

Der Abschirmkreis war bereits umgeschaltet, womit das Schiff für irdische Beobachter sichtbar geworden war. Das war bedauerlich, aber es war schon häufiger vorgekommen, zu häufig, um sich deswegen jetzt Sorgen zu machen. Am Abend würde es dort unten im Fernsehen eine neue Geschichte über »Fliegende Untertassen« geben, dachte er. Wenn aber der Fusionsgenerator hochginge und womöglich noch eine Stadt mitnähme, würde es eine sensationellere Nachrichtenstory geben, als er zu liefern gewillt war.

»Sendekreise abschalten!« rief er.

»Sie sind umgeschaltet«, antwortete Mirtin. »Vor zwanzig Sekunden. Hast du nichts bemerkt?«

»Keine Wirkung.«

»Ich schalte die Beleuchtung aus«, sagte Glair.

»Am besten alles!« rief Vorneen. »Ich gewinne nichts. Der Druck sinkt weiter!«

Im Schiff wurde es dunkel. Inzwischen war ein Notsignal zu den Sternen hinausgegangen. Im Augenblick, wo eine Mannschaft die Sendekreise ausschaltete und den Kontakt mit der Mutterwelt abbrach, wurde dort automatisch ein SOS registriert. Wegen der viele Lichtjahre weiten Entfernung zwischen Erde und Dirna würden einige Dekaden vergehen, bevor zu Hause jemand erführe, daß dieses Schiff in Schwierigkeiten gekommen war, aber dasselbe Notsignal erreichte Hunderte anderer dirnaischer Schiffe, die sich in größerer Nähe aufhielten. Das war ein gewisser Trost.

Vorneen kehrte zurück. »Es hat keinen Zweck«, sagte er. »Das Schiff geht hoch. Wir müssen von Bord.«

Mirtin saß an der Steuerung. »Dann gehen wir höher, aus der Gefahrenzone. Fünfunddreißig Kilometer?«

»Höher«, sagte Vorneen. »So hoch, wie du es bringen kannst. Und bleib auf Kurs. Es ist besser, wenn es über einer Wüste passiert.«

»Können wir etwas mitnehmen?« fragte Glair.

»Uns«, sagte Vorneen.

Seit vielen Jahren war das Schiff ihre Heimat gewesen; es war traurig, es jetzt verlassen zu müssen. Für Glair vielleicht noch schmerzlicher als für uns, dachte Vorneen. Glair pflegte den kleinen Garten dirnaischer Blumen, den sie an Bord hatten, und Glair hatte die nüchterne Zweckmäßigkeit des Schiffsinnern durch geschmackvolle kleine Überflüssigkeiten verschönt. Nun mußten sie Garten und Schiff preisgeben und auf die dunkle Erde hinunterspringen. Das war eine Möglichkeit, mit der jeder Beobachter leben mußte, aber sie war Vorneen nie als eine echte und reale Möglichkeit erschienen.

Das Schiff stieg steil in den Nachthimmel empor.

Aus dem Maschinenraum drangen jetzt rollende Geräusche. Vorneen versuchte nicht daran zu denken, was sich dort abspielte oder wieviel Zeit ihnen bis zur Explosion noch zur Verfügung stand. Sie legten ihre Sprungausrüstungen an.

»Wir werden weit voneinander entfernt landen«, sagte Vorneen, »vielleicht hundert Kilometer oder mehr.« Er sah Glairs ängstliche Augen, fuhr aber unbeirrt fort: »Es kann sein, daß wir bei der Landung verletzt oder gar getötet werden. Aber wir müssen springen. Mit etwas Glück werden wir irgendwie zusammenfinden.« Er riß einen Hebel herunter, der eine Luke absprengte, und der Notausstieg, den sie niemals zu benützen erwartet hatten, gähnte weit offen. Der atmosphärische Druck entwich schlagartig aus der Kabine, aber sie waren gegen Kälte und Luftleere durch ihre Sprunganzüge geschützt. Hastig drängten sie zur Öffnung.

»Raus«, sagte Vorneen zu Glair.

Sie sprang. Er sah mit kaltem Entsetzen, wie sie sich kreisend vom Schiff entfernte, in weitem Bogen ins Nichts eintauchte, so schnell, daß er fürchtete, sie habe das Bewußtsein verloren. Sie war ungeschickt gesprungen, schlechter als bei der Ausbildung. Aber das war schon lange her. Er verspürte ein elendes Gefühl im Magen: Glair mußte in den Tod gesprungen sein. Er fühlte einen Schmerz, wie er ihn nie gekannt hatte. Das Verlassen des Schiffes war nichts; aber Glair zu verlieren…

»Raus«, sagte Mirtin hinter ihm.

Und dann stieß Vorneen sich aus der Öffnung. Trotz seiner seelischen Qual führte er den Sprung perfekt aus. Es war der Augenblick, in dem Alpträume Wirklichkeit werden; jeder Beobachter träumte Hunderte von Malen von diesem Sprung, doch für die meisten blieb er ein Traum. Aber hier stürzte er in die Tiefe, vierzig Kilometer Leere unter sich, und dann ein Planet voll feindseliger Fremder, und Glair wahrscheinlich bereits tot. Doch mit einer seltsamen Ruhe betätigte er den Auslöser des Lebensrettungssystems und fühlte den plötzlichen Ruck des Abfangschirms. Er würde leben.

Und Mirtin?

Es war schwierig, hinaufzuschauen. Vorneen versuchte es, aber er war inzwischen Tausende von Metern unter dem Schiff und weit zurückgeblieben, und er konnte weder das Schiff noch irgendein Zeichen von Mirtin sehen. War er gesprungen? Natürlich war er gesprungen. Mirtin war ein Fetischist rationalen Denkens; für ihn gab es keine Panik der letzten Minute, kein Verbleiben an Bord des verlorenen Schiffes. Ohne Zweifel fiel auch Mirtin in diesem Augenblick durch die Nacht erdwärts, genauso, wie er es in der Sprungschule gelernt hatte. Vorneen blickte wieder unter sich.

Eine Sekunde später kam die Explosion.

Sie war bei weitem furchtbarer, als er vermutet hatte. Wäre sie einen Moment eher gekommen, während er idiotisch hinaufgeschaut hatte, hätte sie ihm die Augen herausgekocht. Der Himmel leuchtete im grellen Licht einer neuen Sonne auf. Er fühlte die Wärme an Rücken und Schultern, und die Sonne schoß durch den Himmel, einen breiten weißglühenden Schweif hinter sich herziehend, daß es aussah, als ob das Universum einen Riß bekommen hätte, durch den das Licht der ersten Schöpfung schien. Wie würde es von unten aussehen? Würden die Erdbewohner von Entsetzen und Panik ergriffen? Oder würden sie an einen großen Meteor glauben?

Da zog es über den Himmel, immer noch dem festgelegten Kurs folgend. Wenigstens würden keine Fragmente übrigbleiben, dachte Vorneen, keine geheimnisvollen Überreste, in denen die Erdbewohner herumstochern konnten: ein kleiner Trost. Aber dieses Licht! Dieses unmögliche Licht!

Vorneen wurde ohnmächtig.

Als er wieder zu sich kam, entdeckte er zu seinem Mißbehagen eine Reihe Häuser nicht tief unter seinen baumelnden Füßen. Noch tausend Meter, und er würde den Boden des Planeten berühren, den er so lange beobachtet hatte. Tiefer… tiefer…

Glair mußte inzwischen gelandet sein. Er versuchte nicht an ihr Schicksal zu denken. Er mußte sich darauf konzentrieren, Mirtin zu finden, je eher, desto besser, dann konnten sie zusammen auf die Rettungsmannschaft warten, die sie bald abholen würde. Einstweilen ging es ums Überleben. Er verfluchte das Geschick, das ihn so nahe der Zivilisation absetzte, wo es ringsum soviel Wildnis gab. Er tat, was er konnte, um von den Häusern wegzusteuern, zu dem flachen, buschbewachsenen Plateau in der Nähe.

Nun stürzte der Boden ihm entgegen. Mit einer solchen Landung hatte er nicht gerechnet. Schwebte man nicht sanft herunter? Nein. Nein. Er fiel wie eine Bombe. Wenn er die Richtung beibehielt, würde er glatt durch das Dach des letzten Hauses in dieser Reihe schlagen. Er mußte…

Er versuchte zu schwingen, aber die Abweichung betrug nur ein paar Meter.

Dann traf und betäubte ihn der wildeste Schmerz in seinem bisher fast schmerzfreien Leben, und der Mann von den Sternen überschlug sich und blieb still liegen, mehr tot als lebendig.

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