22.

Im Dorf war es jetzt still. Die Festlichkeiten des Feuerbundes waren vorüber, und die weißen Touristen waren nach Albuquerque oder Santa Fé zurückgekehrt. Das Mondlicht legte breite weiße Bahnen über die verlassene Plaza. Im Haus der Estancias röhrte der Fernseher; Ramón und Lupe und ihre Großmutter saßen verzückt davor. Onkel Jorge war in die Cantina gegangen, um sich einen Rausch anzutrinken. Charley Estancias Vater war in der Kiva und spielte mit seinen Freunden. Rosita schmollte in der Küche. Sie war heute abend ohne einen Mann. Charley wußte warum, aber er sagte es ihr nicht. Marty Moquino hatte das Pueblo verlassen. Seit Charley ihn kürzlich mit dem dirnaischen Laser geängstigt hatte, war er in San Miguel nicht mehr gesehen worden. Die Leute sagten, er sei wieder nach Los Angeles gegangen. Charley bezweifelte, daß er diesmal zurückkommen würde; nicht nachdem er vor einem Elfjährigen weggelaufen war.

Charley stand vor der Haustür, hinter sich das bläuliche Glühen des Bildschirms, und zog fröstelnd die Schultern zusammen. Der Winter hatte den Rio Grande erreicht. Am Nachmittag waren ein paar Schneeflocken in der Luft gewesen, und bis Weihnachten würde es vielleicht einen richtigen Schneefall geben. Charley machte die Kälte nichts aus. Unter seiner zerlumpten und zu großen Jacke hatte er zwei Dinge, die ihn warmhielten: einen unbeholfen gekritzelten Brief und ein kleines Metallrohr, das einen phantastischen Lichtstrahl hinausschleudern konnte.

Er schlenderte ziellos über die Plaza. Sein Hund trottete ihm nach.

Der Mond war heute nacht sehr hell. Trotzdem konnte Charley die Sterne klar erkennen. Da waren die drei hellen Sterne von Orions Gürtel. Da war Mirtins Stern. Ihn bloß dort oben zu sehen, war für Charley ein Glücksgefühl.

Übernächstes Jahr, so sagte er sich, fange ich mit der Oberschule an. Ob sie es mögen oder nicht, ich fange an. Wenn sie nein sagen, laufe ich fort, und wenn die Polizisten mich fangen, sage ich ihnen, warum. Ich kann es auch den Zeitungen sagen. Ich sage: Hier bin ich, ein kluger Indianerjunge, der sein Los im Leben verbessern will, nur wollen meine Eltern mich nicht in die Oberschule lassen. Dann machen alle viel Aufhebens um mich, bringen mich fort in eine Schule, und ich kann lernen, von Raketen, von Sternen, alles.

Und eines Tages gehe ich dort hinaus in die Nacht und besuche dich, Mirtin! Da oben auf deinem Stern! Hast du nicht gesagt, wir würden bald hinkommen? Und daß ich dabeisein würde?

Er ging aus dem Pueblo, an den Ruinen der alten Kiva vorbei und durch das Gestrüpp der Ebene zur Transformatorenstation und noch darüber hinaus. Er ging nicht den ganzen Weg bis zu Mirtins Höhle. Er wußte, daß sie leer sein würde. Mehrmals war Charley in den letzten Wochen hingegangen, nur um herumzuschauen, aber es war nicht nötig, die Pilgerfahrt an diesem kalten Abend zu wiederholen. Er blieb am Rand eines Arroyos stehen, warf ein paar Steine in das ausgetrocknete Bachbett und dachte an die Oberschule und was er dort lernen würde und überlegte, wie es wohl wäre, wenn er aus diesem verschlafenen Dorf fortginge, hinaus in die Welt der weißen Männer, wo einer mit Köpfchen alle diese neuen Dinge lernen konnte.

Charley blickte zum Himmel auf.

»He, ihr Dirnaer!« rief er. »Seid ihr heute abend da oben? Könnt ihr mich sehen? Ich bin es, Charley Estancia! Ich bin derjenige, der Mirtin die Tortillas gebracht hat!«

Wie hoch flogen sie, die Untertassen? Kreiste in diesem Augenblick vielleicht eine tausend Meter über seinem Kopf? Hatten sie Maschinen, mit denen sie Stimmen auf der Erde hören konnten?

»Hört ihr mich?« rief Charley. »Ich bin derjenige! Kommt schon, fliegt niedrig, laßt euch sehen! Ich weiß alles über euch!«

Nichts geschah. Eigentlich hatte er auch nichts erwartet. Aber er wußte, daß sie da waren und beobachteten.

Er zog den Laser aus dem Hemd und streichelte das körperwarme Metall. Dann stellte er das Gerät ein und sah den grellen Lichtstrahl hinausschießen und den dürren untersten Ast einer Pinie durchschneiden. Es war ein großartiges Spielzeug. Charley gelobte sich, daß er eines Tages herausbringen würde, wie es funktionierte.

Er steckte es weg.

Leiser sagte er: »Hört zu, ich weiß, daß ihr da oben seid. Tut mir einen Gefallen, ja? Sagt Mirtin von mir, daß ich ihm gute Besserung wünsche. Und sagt ihm meinen Dank, daß er mit mir gesprochen hat, daß er mir soviel gezeigt und erklärt hat. Das ist alles. Dankt Mirtin in meinem Namen, ja?«

Er wartete. Nach einem Moment, als nichts geschah, machte er sich langsam auf den Rückweg zum Dorf. Er blieb stehen, bückte sich und warf einen Felsbrocken in den Arroyo. Sein Hund bellte und sprang hoch, als wollte er nach den Sternen schnappen. Ein plötzlicher Windstoß heulte über das Flachland.

Dann sah Charley einen Lichtstreifen über sich — eine schnurgerade Linie, die aus dem Zenit zu kommen schien und über die halbe Himmelskuppel zog, bevor sie sich nahe dem Horizont verlor. Sein Herz pochte laut, und er lachte. Das war kein dirnaisches Schiff gewesen, diesmal. Nur eine gewöhnliche Sternschnuppe, mehr nicht. Er kannte den Unterschied. Er wußte Bescheid. Dies hier war nichts Besonderes, nur ein Brocken aus Gestein oder Metall, der durch die Atmosphäre schoß und dabei verbrannte.

Aber er nahm es gleichwohl als ein Zeichen. Mirtins Leute antworteten ihm, erkannten ihn an. Sie waren mit ihren Schiffen dort oben, jetzt, in dieser Minute. Sie würden nach ihm sehen.

Er winkte zu den Sternen hinauf.

»Danke«, sagte er. »He, danke, ihr Dirnaer!«

Er trabte zurück zum Dorf, und der Hund hechelte hinterdrein, und keiner von den beiden machte halt, bis die alten Lehmziegelhäuser in Sicht gekommen waren.


ENDE
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