ZEHNTES KAPITEL Gespräche in Mishnory

Am nächsten Morgen beendete ich gerade ein spätes Frühstück, das mir in meiner Suite in Shusgis’ Haus serviert worden war, als das Haustelefon einen höflichen Blökton von sich gab. Als ich es einschaltete, meldete sich der Besucher auf Karhidisch:»Hier Therem Harth. Darf ich heraufkommen?«

»Ja, bitte.«

Ich war froh, diese Begegnung so schnell hinter mich bringen zu können. Ganz offensichtlich konnte es zwischen mir und Estraven keinerlei einigermaßen erträgliche Beziehung geben. Obgleich seine Entmachtung und sein Exil wenigstens offiziell auf mein Konto gingen, konnte ich die Verantwortung dafür nicht übernehmen, ja ich fühlte mich nicht einmal schuldig, denn er hatte mir in Erhenrang weder seine merkwürdige Handlungsweise noch seine Gründe dafür erklärt, und deswegen war es mir auch unmöglich, ihm zu vertrauen. Es wäre mir lieber gewesen, wenn er mit diesen Orgota, die mich sozusagen adoptiert hatten, nichts zu schaffen gehabt hätte.

Einer der vielen Hausangestellten führte ihn in mein Zimmer. Ich bot ihm einen der großen, gepolsterten Sessel an und offerierte ihm ein Frühstücksbier. Er lehnte ab. Sein Verhalten war nicht gezwungen — die Schüchternheit, wenn er je schüchtern gewesen war, hatte er längst abgelegt -, sondern beherrscht: behutsam tastend, reserviert.

»Der erste richtige Schnee«, bemerkte er. Und, als er den Blick sah, den ich zu dem dicht verhangenen Fenster hinüberwarf:»Haben Sie noch nicht hinausgeschaut?«

Ich tat es und sah, daß draußen von einem leichten Wind in dichten Wirbeln Schnee die Straßen entlang und über die weiß gewordenen Dächer getrieben wurde; über Nacht waren sechs bis acht Zentimeter gefallen. Dabei hatten wir erst den Odarh Gor, den 17. Tag des ersten Herbstmonats.»Er kommt dieses Jahr sehr früh«, stellte ich staunend fest, einen Augenblick vom Wunder des ersten Schnees fasziniert.

»Man hat vorausgesagt, daß es ein sehr harter Winter wird.«

Ich ließ die Vorhänge offen. Das trübe, gleichmäßige Licht von draußen fiel auf sein dunkles Gesicht. Er wirkte sichtlich gealtert. Seit ich in Erhenrang, im Roten Eckgebäude des Palastes, an seinem eigenen Kamin zu Gast gewesen war, hatte er schwere Zeiten durchmachen müssen.

»Hier ist das Päckchen, das man mir für Sie mitgegeben hat«, sagte ich und reichte ihm das in Folie gewickelte Geldbündel, das ich, als er sich anmelden ließ, auf einem Tischchen für ihn bereitgelegt hatte. Er nahm es, würdevoll dankend entgegen. Ich selbst hatte mich nicht gesetzt. Nach einer Weile stand er auf, das Päckchen immer noch in den Händen.

Mein Gewissen juckte mich ein wenig, aber ich wollte ihn von jedem weiteren Besuch bei mir abschrecken. Daß ich ihn zu diesem Zweck demütigen mußte, war zwar bedauerlich, aber nicht zu ändern.

Er sah mich offen an. Er war natürlich kleiner als ich, gedrungen, mit kurzen Beinen, und nicht einmal so groß wie viele Frauen meiner Rasse. Und trotzdem schien er jetzt, als er mich ansah, nicht zu mir aufzuschauen. Ich wich seinem Blick aus und musterte mit intensivem Interesse das Radio auf dem Tisch, als sähe ich es zum erstenmal.

»Man darf nicht alles glauben, was man hier so über das Radio hört«, bemerkte er freundlich.»Aber mir scheint, daß Sie in Mishnory einige Informationen und gute Ratschläge gebrauchen könnten.«

»Und anscheinend gibt es eine ganze Reihe Leute, die mir diese nur allzu gern zuteil werden lassen.«

»Je größer die Anzahl, desto größer die Sicherheit, wie? Zehn sind vertrauenswürdiger als einer. Verzeihen Sie, ich sollte hier nicht Karhidisch sprechen.«Auf Orgota fuhr er fort:»Verbannte sollten niemals ihre Heimatsprache verwenden; sie klingt bitter aus ihrem Mund. Und außerdem finde ich, daß diese Sprache, die einem wie Sirup von den Zähnen tropft, einem Verräter besser ansteht. Mr. Ai, ich habe das Recht, Ihnen zu danken. Sie haben sowohl mir als auch meinem alten Freund und Kemmering Ashe Foreth einen Dienst erwiesen, daher werde ich jetzt in seinem und in meinem Namen dieses Recht beanspruchen. Mein Dank an Sie ist ein guter Rat.«Er hielt inne; ich sah ihn nicht an und schwieg. Ich hatte diese herbe, ausgesuchte Höflichkeit bisher noch nie an ihm erlebt und ahnte nicht, was sie bedeuten mochte. Er fuhr fort:»Sie sind hier in Mishnory, was Sie in Erhenrang nicht waren. Dort sagt man, Sie wären es; hier wird man Ihnen sagen, daß Sie es nicht sind. Sie sind das Werkzeug einer Partei. Ich rate Ihnen gut, seien Sie vorsichtig, achten Sie genau darauf, wie Sie sich von ihnen benutzen lassen. Ich rate Ihnen, stellen Sie fest, wer die gegnerische Partei ist, was sie will, und lassen Sie sich von ihr auf keinen Fall benutzen, denn sie wird Sie sonst zu einem schlechten Zweck benutzen.«

Er schwieg. Ich wollte ihn bitten, sich doch etwas näher zu erklären, aber er sagte:»Auf Wiedersehen, Mr. Ai«, drehte sich um und ging. Ich blieb ein wenig benommen zurück. Dieser Mann war wie ein elektrischer Schock: nicht mit den Händen zu greifen, so daß man keine Ahnung hat, wovon man eigentlich getroffen wird.

Nun, eins hatte er mit Sicherheit fertig gebracht: Er hatte die friedliche, selbstzufriedene Stimmung zerstört, in der ich mein Frühstück eingenommen hatte. Ich trat an das schmale Fenster und blickte hinaus. Das Schneetreiben war ein wenig dünner geworden. Wunderschön sah es aus, wie die weißen Flocken herabschwebten. Es erinnerte mich an die fallenden Kirschblüten in den Obstgärten zu Hause, wenn der Frühlingssturm die grünen Hänge Borlands, wo ich geboren bin, entlangtobt: zu Hause, auf der Erde, der warmen Erde, wo die Bäume im Frühling Blüten tragen. Mit einemmal war ich zutiefst niedergeschlagen und krank vor Heimweh. Zwei Jahre hatte ich jetzt auf diesem verdammten Planeten verbracht, und der dritte Winter hatte begonnen, ehe der Herbst überhaupt angefangen hatte: Monate und Monate voll unerbittlicher Kälte, Schneematsch, Eis, Wind, Regen, Schnee, Kälte, Kälte drinnen, Kälte draußen, Kälte, die bis in die Knochen, bis ins Knochenmark drang. Und die ganze Zeit völlig allein, fremd, isoliert, ohne eine Menschenseele, der ich vertrauen konnte. Armer Genly, soll ich über dich weinen? Unten sah ich Estraven aus dem Haus auf die Straße treten, eine dunkle, durch die Perspektive verkürzte Gestalt in dem gleichmäßigen, unbestimmten Grauweiß des Schnees. Er sah sich um, rückte seinen Hiebgürtel zurecht; einen Mantel trug er nicht. Dann ging er mit energischen, geschmeidigen Schritten die Straße hinab — so gesammelt, so zielbewußt, als sei er der wichtigste Mann, der eigentliche Herr in Mishnory.

Ich wandte mich wieder dem warmen Zimmer zu. Seine Behaglichkeit, sein Luxus wirkten auf einmal erstickend und unelegant: der Heizofen, die gepolsterten Sessel, das Bett, auf dem sich die Felle türmten, die Teppiche, Vorhänge, wärmenden Hausmäntel und Schals.

Ich zog meinen Wintermantel an und ging spazieren — ein übellauniger Mann in einer übellaunigen Welt.

Das Mittagessen sollte ich an jenem Tag mit den Commensalen Obsle und Yegey und einigen anderen einnehmen, die ich am Abend zuvor kennengelernt hatte; bei der Gelegenheit sollte ich auch noch einigen Personen vorgestellt werden, die ich noch nicht kannte. Das Mittagessen wird gewöhnlich als Büffet serviert und im Stehen eingenommen — vielleicht, damit man nicht das Gefühl hat, den ganzen Tag bei Tische sitzend verbracht zu haben. Für diese recht förmliche Einladung jedoch hatte man einen Tisch gedeckt, und das Büffet war einfach überwältigend: achtzehn bis zwanzig warme und kalte Speisen, die meisten davon Variationen von Sube-Eiern und Brotäpfeln. Am Serviertisch, ehe das Gesprächstabu in Kraft trat, erklärte mir Obsle, während er sich den Teller mit im Teig gebackenen Sube-Eiern belud:»Der Kerl, der Mersen heißt, ist ein Spion von Erhenrang, und Gaum da drüben ist ein Agent des Sarf.«Er sprach im Unterhaltungston, lachte, als hätte ich ihm eine belustigende Antwort gegeben, und schob sich an die Platte mit eingelegtem Schwarzfisch weiter.

Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was der ›Sarf‹ war.

Als sich die Gäste allmählich hinsetzten, kam ein junger Mann herein und flüsterte unserem Gastgeber Yegey etwas zu. Yegey drehte sich zu uns um und sagte laut:»Neuigkeiten von Karhide! Heute morgen wurde König Argavens Kind geboren und ist innerhalb einer Stunde gestorben.«

Zunächst Schweigen, dann aufgeregtes Stimmengewirr, und schließlich begann der schöne Mann mit Namen Gaum zu lachen und hob seinen Bierkrug.»Auf daß alle Könige von Karhide so lange leben!«Einige der Anwesenden tranken mit, die meisten taten es nicht.»Beim Namen Meshes, über den Tod eines Kindes zu lachen!«tadelte ein dicker, alter Mann in Purpur, der sich schwerfällig neben mir niederließ. Seine Gamaschen bauschten sich wie ein Rock um seine Schenkel, und sein Gesicht drückte tiefe Abscheu aus.

Man diskutierte über die Frage, welchen seiner Kemmeringsöhne Argaven nun wohl zum Erben ernennen würde — denn er war einige Jahre über vierzig und würde nun bestimmt kein leibliches Kind mehr gebären -, und wie lange er Tibe die Regentschaft überlassen würde. Einige glaubten, er werde Tibe die Regentschaft sofort entziehen, andere dagegen zweifelten daran.»Was meinen Sie, Mr. Ai?«erkundigte sich der Mann, der Mersen hieß, und den Obsle als karhidischen Agenten und somit als einen von Tibes Männer bezeichnet hatte.»Sie kommen doch gerade von Erhenrang. Was sagt man dort über die Gerüchte, das Argaven tatsächlich ohne vorherige Ankündigung abgedankt, den Schlitten seinem Cousin überlassen haben soll?«

»Nun ja, ich habe diese Gerüchte auch gehört.«

»Und sind Sie der Ansicht, daß ein Kern Wahrheit in ihnen steckt?«

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte ich. Im selben Augenblick unterbrach uns der Gastgeber mit einer Bemerkung über das Wetter, denn man hatte zu essen begonnen.

Nachdem die Diener unsere Teller und die Berge von Resten an Braten und Eingemachten vom Büffet geräumt hatten, blieben wir alle noch um den langen Tisch sitzen. Kleine Becher eines starken Branntweins wurden serviert, den sie, wie es die Menschen fast überall tun, Lebenswasser nannten. Und nun wurden mir Fragen gestellt.

Seit mich die Ärzte und Wissenschaftler von Erhenrang untersucht hatten, war ich nie wieder einer Gruppe von Menschen gegenübergestellt worden, die von mir verlangten, daß ich ihre Fragen beantwortete. Nur wenige Karhider, sogar die Fischer und Bauern nicht, bei denen ich meine ersten Monate verbracht hatte, hatten sich dazu überwinden können, ihre brennende Neugier zu befriedigen, indem sie mich einfach fragten. Sie waren stets in sich gekehrt, introvertiert, indirekt gewesen; sie mochten weder Fragen noch Antworten. Ich dachte an die Festung Otherhord und an das, was mir Faxe, der Weber, im Hinblick auf Antworten gesagt hatte… Sogar die Fachleute hatten ihre Fragen streng auf physiologische Dinge beschränkt, wie etwa auf die Funktion meiner Drüsen und meines Kreislaufs, in der ich mich am auffallendsten von der gethenischen Norm unterschied. Sie waren, zum Beispiel, niemals so weit gegangen, mich zu fragen, in welcher Weise die fortwährende Sexualität meiner Rasse die sozialen Institutionen beeinflußte und wie wir mit unserer ›permanenten Kemmer‹ fertig wurden. Sie lauschten, als ich berichtete; die Psychologen lauschten, als ich ihnen von der Gedankensprache erzählte; doch nicht ein einziger hatte es über sich gebracht, so viele Fragen zu stellen, daß er sich ein einigermaßen korrektes Bild der terrestrischen oder ökumenischen Gesellschaft machen konnte — niemand, außer vielleicht Estraven.

Hier dagegen waren sie nicht so stark durch Rücksichtnahme auf jedermanns Prestige und Stolz behindert, und hier stellte eine direkte Frage anscheinend auch keine Beleidigung des Fragers oder des Befragten dar. Allerdings erkannte ich bald, daß einige der Fragesteller es darauf abgesehen hatten, mich bloßzustellen, mich als Betrüger zu entlarven. Das brachte mich vorübergehend aus dem Gleichgewicht. Natürlich war ich auch in Karhide auf Ungläubigkeit gestoßen, auf eine feste Entschlossenheit zum Unglauben jedoch kaum. Tibe hatte sich am ersten Tag des Festzugs in Erhenrang größte Mühe gegeben, so zu tun, als mache er gute Miene zum bösen Spiel, doch das war, wie ich sehr wohl wußte, ein Teil des Spiels, das er gespielt hatte, um Estraven zu diskreditieren, und im Grunde war ich der Ansicht, daß Tibe mir glaubte. Er hatte schließlich mein Schiff gesehen, das kleine Landeboot, das mich auf diesen Planeten gebracht hatte; er hatte, wie alle anderen ebenfalls, freien Zugang zu den Berichten der Ingenieure über das Schiff und den Ansible. Von diesen Orgota hatte kein einziger das Schiff gesehen. Ich konnte ihnen zwar den Ansible zeigen, aber der war nicht sehr überzeugend als Produkt einer fremden Welt, denn da er für sie völlig unverständlich war, konnte er ebensogut das Requisit eines groß angelegten Täuschungsmanövers sein. Zu diesem Zeitpunkt verbot noch immer das alte Kulturembargogesetz jede Einfuhr von analysierbaren, imitierbaren Fabrikaten, und deswegen hatte ich, bis auf das Schiff und den Ansible, nur meinen Kasten voll Bilder, meinen unbestreitbar fremdartigen Körper und meinen unbeweisbar einzigartigen Verstand mitgebracht. Die Bilder machten die Runde um den Tisch und wurden mit jenem nichtssagenden Ausdruck betrachtet, den man bei Leuten beobachten kann, die Fotos einer fremden Familie sehen. Die Fragen wurden fortgesetzt. Was die Ökumene sei, wollte Obsle wissen: eine Welt, eine Liga von Welten, ein Ort oder eine Regierung?

»Ja, eigentlich alles und nichts davon. ›Ökumene‹ sagen wir auf Terra; in der Allgemeinsprache heißt es ›der Teil des bewohnten Universums, der zu uns gehört‹; in Karhidisch würde man sie als ›Herd‹ bezeichnen. In Orgota weiß ich es nicht; ich kenne die Sprache noch nicht so gut. ›Commensalität‹, vielleicht, aber sicher nicht, obgleich zwischen der Commensalregierung und der Ökumene unzweifelhaft Ähnlichkeiten bestehen. Nur ist die Ökumene im Grunde keine Regierung. Sie ist ein Versuch, das Mystische wieder mit dem Politischen zu vereinen, und als solcher natürlich weitgehend mißlungen; doch ihre Mißerfolge haben der Menschheit bisher mehr genützt als die Erfolge aller früheren Versuche. Sie ist eine Gesellschaft und hat, wenigstens potentiell, eine Kultur. Sie ist eine Art Erziehungsinstitution; in einer gewissen Hinsicht ist sie eine große Schule — eine sehr große. Ein elementarer Bestandteil ihrer Existenz sind die Motive Kommunikation und Kooperation, und darum ist sie aus anderer Sicht wieder auch eine Liga oder Union von Welten, die bis zu einem gewissen Grad auf konventionelle Art und Weise zentral organisiert ist. Diesen Aspekt der Ökumene, die Liga, repräsentiere ich hier. Als politische Einheit funktioniert die Ökumene mittels Koordination, und nicht mit Hilfe einer Regierung. Sie führt keine Gesetze durch; Entscheidungen werden durch Beratung und Zustimmung getroffen, nicht durch Bestimmungen oder Befehle. Als wirtschaftliche Einheit ist die Ökumene ungeheuer aktiv, sie kümmert sich um die Interweltkommunikation, und koordiniert den Handel zwischen den über achtzig Welten, die ihr bis heute angehören. Vierundachtzig, um genau zu sein, falls Gethen der Ökumene beitritt…«

»Was soll das heißen, sie führt keine Gesetze durch?«erkundigte sich Slose.

»Weil es keine gibt. Die Mitgliedstaaten haben ihre eigenen Gesetze; nur wenn sie kollidieren, greift die Ökumene ein, vermittelt, versucht einen rechtlichen oder ethischen Vergleich oder Kompromiß herbeizuführen. Sollte die Ökumene als zivilisatorisches Experiment sich letztlich als Fehlschlag erweisen, wird sie sich zu einer Macht umorganisieren müssen, die den Friedenswächter spielt, wird eine Polizeitruppe aufstellen, und so weiter. Im Augenblick besteht dazu jedoch keine Notwendigkeit. Alle zentralen Welten sind noch damit beschäftigt, sich von einer sehr unseligen Ära vor zwei Jahrhunderten zu erholen, vergessene Fähigkeiten wiederzubeleben, verlorene Ideen wiederzufinden und wieder zu lernen, miteinander zu reden…«Wie sollte ich einem Volk, das keine Bezeichnung für Krieg hatte, das Zeitalter der Kriege und seine Nachwirkungen begreiflich machen?

»Das ist überaus faszinierend, Mr. Ai«, sagte Commensal Yegey, unser Gastgeber, ein zierlicher, sympathischer Bursche mit schleppender Sprechweise und wachen Augen.»Aber ich sehe nicht ein, was diese Ökumene von uns eigentlich will. Ich meine, was könnte ihr eine vierundachtzigste Welt nützen? Und zwar eine Welt, die, wie ich vermute, nicht einmal besonders hoch entwickelt ist, denn wir haben weder Sternenschiffe noch andere Dinge, die sie dort alle haben.«

»Die haben wir alle erst bekommen, als die Hainer und die Cetianer kamen. Und einige Welten bekamen sie auch dann noch Jahrhunderte lang nicht, bis die Ökumene die Regeln für das festlegte, was hier, glaube ich, freier Handel genannt wird.«Bei diesen Worten begannen alle zu lachen, denn ›Freier Handel‹ war der Name von Yegeys Partei oder Fraktion innerhalb der Commensalität.»Und genau das — Freien Handel — möchten wir hier einzuführen versuchen. Handel, der sich natürlich nicht nur mit Waren befaßt, sondern mit Wissen, mit Technik, mit Ideen, Philosophien, Kunst, Medizin, Wissenschaft, Theorien… Daß Gethen besonders viel Fahrten zu anderen Welten unternimmt, glaube ich kaum. Wir sind hier siebzehn Lichtjahre von Ollul, der nächsten ökumenischen Welt entfernt, einem Planeten des Sternes, den Sie hier Asomse nennen; die weiteste ist zweihundertundfünfzig Lichtjahre entfernt, und man kann von hier aus nicht einmal ihren Stern erkennen. Mit dem Ansible-Kommunikator jedoch, könnten Sie sich mit dieser fernen Welt unterhalten, als handelte es sich dabei um ein Telefongespräch mit einem Freund in der nächsten Stadt, während Sie seine Bewohner wohl kaum einmal zu sehen bekommen werden… Die Form des Handels, von der ich spreche, kann überaus einträglich sein, besteht jedoch weitgehend nicht aus Transporten, sondern einfach aus Kommunikation. Meine Aufgabe hier ist es, herauszufinden, ob Sie bereit sind, mit der übrigen Menschheit in Kommunikation zu treten.«

»Sie«, wiederholte Slose und beugte sich interessiert nach vorn,»bedeutete das Orgoreyn? Oder bedeutet es Gethen insgesamt?«

Ich zögerte einen Augenblick, denn diese Frage hatte ich nicht erwartet.

»Hier und jetzt bedeutet es Orgoreyn. Aber es wird keinesfalls ein Exklusivvertrag. Wenn Sith, die Inselvölker oder Karhide beschließen, der Ökumene beizutreten, so können sie das ebenfalls tun. Jeder einzelne hat die Wahl. Dann allerdings geht es meistens so, daß die verschiedenen Anthrotypen, Regionen oder Nationen schließlich eine Gruppe von Vertretern einsetzen, die als Koordinatoren auf dem Planeten selber und zwischen dem Planeten und den anderen Planeten fungieren: in unserer Terminologie eine ›örtliche Stabilität‹. Beginnt man gleich so, kann man viel Zeit sparen — und Geld, indem man sich nämlich die Kosten teilt. Zum Beispiel, wenn Sie ein eigenes Sternenschiff bauen wollen.«

»Bei Meshes Milch!«sagte der dicke Humery neben mir.»Sie wollen, daß wir ins Nichts hinausfliegen? Pfui!«Vor Abscheu und Belustigung stieß er einen keuchenden Laut aus, der den hohen Tönen eines Akkordeons glich.

Gaum fragte:»Wo ist denn Ihr Schiff, Mr. Ai?«Er stellte die Frage mit leiser Stimme, leicht lächelnd, als wäre es eine sehr subtile Frage und er wünschte, daß das beachtet werde. Gaum war, ganz gleich, welche Maßstäbe man anlegte und welches Geschlecht man in ihm sah, ein außerordentlich schöner Mensch, so daß ich ihn, während ich antwortete, ununterbrochen anstarren mußte, mich aber gleichzeitig fragte, was der Sarf eigentlich war.»Nun, das ist durchaus kein Geheimnis, Mr. Gaum. Der karhidische Rundfunk hat eine Menge Berichte darüber gebracht. Die Rakete landete mit mir auf der Horden-Insel und befindet sich jetzt in der Königlichen Schmiedewerkstatt der Handwerksschule; jedenfalls zum größten Teil. Ich vermute, daß die verschiedenen Experten verschiedene Stücke davon mitgenommen haben, als sie mit ihren Untersuchungen fertig waren.«

»Rakete?«erkundigte sich Humery. Ich hatte nämlich das Orgota-Wort für ›Feuerwerkskörper‹ benutzt.

»Dieser Ausdruck beschreibt präzise die Antriebsmethode des Landungsbootes, Sir.«

Schon wieder keuchte Humery amüsiert. Gaum sagte lächelnd:»Dann haben Sie also keine Möglichkeit, dorthin zurückzukehren, wo Sie hergekommen sind?«

»O doch. Ich kann per Ansible mit Ollul sprechen und bitten, daß man ein NAFAL-Schiff schickt, das mich hier abholt. Es würde siebzehn Jahre für die Fahrt brauchen. Oder ich kann per Funk mit dem Sternenschiff, das mich in Ihr Sonnensystem gebracht hat, Kontakt aufnehmen. Es befindet sich in einer Umlaufbahn um Ihre Sonne und könnte in wenigen Tagen hier sein.«

Die Erregung, die meine Worte bei den anderen auslösten, war deutlich zu sehen und zu hören, und sogar Gaum konnte sein Erstaunen nicht verbergen. Darin lag eine gewisse Diskrepanz. Es war die eine, große Tatsache, die ich in Karhide nicht einmal Estraven mitgeteilt hatte. Wenn die Orgota, wie man mir angedeutet hatte, über mich nur das wußten, was Karhide an sie weitergegeben hatte, dann hätte dies für sie nur eine von vielen Überraschungen sein dürfen. Aber es war die einzige.

»Wo ist dieses Schiff, Sir?«fragte mich Yegey.

»In einer Umlaufbahn um die Sonne, irgendwo zwischen Gethen und Kuhurn.«

»Wie sind Sie von dort hierhergekommen?«

»Mit einem Feuerwerkskörper«, warf der alte Humery ein.

»Genau. Mit Interstellarschiffen landen wir auf bewohnten Planeten erst, wenn eine freie Kommunikation oder ein Bündnis hergestellt worden ist. Darum kam ich in einem kleinen Raketenboot und landete auf der Horden-Insel.«

»Und Sie können sich mit diesem… diesem großen Schiff über eine gewöhnliche Funkanlage in Verbindung setzen?«

Das war Obsle.

»Jawohl.«Die Existenz meines kleinen Relais-Satelliten, der von der Rakete vor der Landung abgesetzt und in eine Umlaufbahn gebracht worden war, verschwieg ich ihnen fürs erste, denn ich wollte nicht, daß sie den Eindruck gewannen, ihr Himmel wimmelte von meinen Maschinen.»Man müßte ein ziemlich starkes Sendegerät nehmen, aber davon haben sie ja genug.«

»Dann könnten wir mit Ihrem Schiff Kontakt aufnehmen?«

»Ja — wenn Sie das richtige Signal wüßten. Die Besatzung befindet sich in einem Zustand, den wir Stase nennen, sozusagen im Winterschlaf, damit die Leute nicht unnütz die Lebensjahre verlieren, die sie mit dem Warten auf mich verbringen, während ich hier unten versuche, meine Aufgabe zu erfüllen. Das richtige Signal auf der richtigen Wellenlänge bringt die Maschinerie in Bewegung, die sie aus der Stase herausholt. Anschließend setzen sie sich mit mir über Ollul als Relaiszentrum per Funk oder Ansible in Verbindung.«

»Wie viele sind es?«fragte jemand beunruhigt.

»Elf.«

Das löste ein erleichtertes Lachen aus. Die Spannung im Raum ließ ein wenig nach.

»Und wenn Sie das Signal nun überhaupt nicht geben?«fragte Obsle.

»Dann werden sie in ungefähr vier Jahren automatisch aus ihrer Stase erwachen.«

»Und hierherkommen, um Sie zu suchen?«

»Nur wenn sie eine Nachricht von mir bekommen. Nein, sie würden sich bei den Stabilen von Ollul und Hain per Ansible Anweisungen holen. Vermutlich werden sie beschließen, noch einen Versuch zu wagen, einen zweiten Gesandten herzuschicken. Dieser zweite Gesandte hat es nicht selten leichter als der Erste. Er braucht nicht soviel zu erklären, und die Leute sind eher geneigt, ihm zu glauben…«

Obsle grinste. Die meisten anderen machten noch immer nachdenkliche, zurückhaltende Gesichter. Gaum nickte mir munter zu, als wollte er mir zu der Schnelligkeit gratulieren, mit der ich diesen Fragen begegnete: das Nicken eines Mitverschwörers. Slose schaute mit glänzenden Augen starr auf eine innere Vision, bis er sich unvermittelt davon losriß und sich an mich wandte.»Warum, Mr. Ai«, fragte er,»haben Sie während der zwei Jahre, die Sie in Karhide verbracht haben, niemals von diesem anderen Schiff gesprochen?«

»Woher sollen wir wissen, daß er nicht davon gesprochen hat?«warf Gaum lächelnd ein.

»Wir wissen verdammt genau, daß er nicht davon gesprochen hat, Mr. Gaum«, konterte Yegey, ebenfalls lächelnd.

»Ich habe es nicht getan«, bestätigte ich.»Und zwar aus folgenden Gründen. Die Vorstellung, daß dieses Schiff da draußen wartet, kann sehr beunruhigend sein. Bestimmt werden einige von Ihnen das ebenso empfinden. In Karhide bin ich bei denjenigen, mit denen ich zu tun hatte, nie so weit gekommen, daß ich Vertrauen zu ihnen haben und das Risiko eingehen konnte, von diesem Schiff zu sprechen. Sie hier dagegen hatten mehr Zeit, über mich nachzudenken; Sie sind bereit, mich in der Öffentlichkeit anzuhören; Sie sind nicht so von Angst beherrscht. Ich bin das Risiko eingegangen, weil ich der Ansicht bin, daß der Zeitpunkt dafür gekommen und das Orgoreyn der richtige Ort dafür ist.«

»Da haben Sie recht Mr. Ai. Da haben Sie recht!«pflichtete Slose mir begeistert bei.»In diesem Monat noch werden Sie Ihr Schiff kommen lassen, und die Orgota werden es als sichtbares Zeichen und Siegel der neuen Epoche willkommen heißen. Allen, die jetzt nicht sehen, werden die Augen geöffnet werden!«

So ging es weiter, bis uns an unseren Plätzen das Abendessen serviert wurde. Wir aßen und tranken und gingen dann heim — ich persönlich war erschöpft, doch alles in allem zufrieden mit dem Verlauf der Ereignisse. Es fehlte natürlich auch nicht an Warnzeichen und Unklarheiten. Slose wollte eine Religion aus mir machen, Gaum mich zum Schwindler stempeln. Mersen schien beweisen zu wollen, daß er kein karhidischer Agent war, indem er bewies, daß ich einer war. Doch Obsle, Yegey und einige andere arbeiteten auf einem höheren Niveau. Sie wollen mit den Stabilen wirklich Kontakt aufnehmen und das NAFAL-Schiff auf Orgota-Boden landen lassen, um dann die Commensalität von Orgoreyn zu einer Allianz mit der Ökumene zu überreden oder, wenn es sein mußte, zu zwingen. Sie glaubten, daß Orgoreyn dadurch einen großen und lange währenden Prestigesieg über Karhide davontragen würde, und daß die Commensalen, die diesen Sieg herbeigeführt hatten, entsprechend an Macht und Prestige in der Regierung gewinnen müßten. Ihre Fraktion, die Freihandelspartei, eine Minderheit der Dreiunddreißig, opponierte gegen die Fortsetzung des Streites um das Sinoth-Tal und repräsentierte ganz allgemein eine konservative, unaggressive, unnationalistische Politik. Sie waren schon lange nicht mehr an der Macht gewesen und schätzen, daß ihre Rückkehr an die Macht, kalkulierte man einige Risiken ein, auf dem Weg lag, den ich ihnen wies. Daß sie nicht weiter sahen, daß meine Mission für sie ein Mittel war, und nicht der Zweck, war nicht weiter schlimm. Waren sie erst einmal auf diesem Weg, begannen sie vielleicht zu ahnen, wohin er sie führen könnte. Bis dahin waren sie, obzwar sehr kurzsichtig, doch immerhin realistisch.

Obsle, der die anderen überreden wollte, hatte gesagt:»Entweder fürchtet sich Karhide vor der Macht, die uns dieses Bündnis verleihen würde — vergeßt nicht, daß Karhide sich schon immer vor neuen Wegen und neuen Ideen fürchtete — und wird darum weit hinter uns zurückbleiben. Oder die Regierung in Erhenrang wird all ihren Mut zusammennehmen, wird ankommen und bitten, nach uns als zweiter aufgenommen zu werden. In jedem Fall wird der shifgrethor von Karhide stark angeschlagen, und in jedem Fall werden wir es sein, die den Schlitten lenken. Wenn wir jetzt klug genug sind, uns diesen Vorteil zunutze zu machen, werden wir immer im Vorteil bleiben, und zwar uneingeschränkt!«Dann, zu mir gewandt:»Aber die Ökumene muß bereit sein, uns zu helfen, Mr. Ai. Wir brauchen mehr Beweise, um sie unserem Volk zeigen zu können. Sie allein, ein einzelner Mann, den man in Erhenrang bereits kennt — Sie sind nicht genug.«

»Das sehe ich ein, Commensal. Sie möchten einen schönen, einleuchtenden Beweis, und den möchte ich Ihnen geben. Aber ich kann das Schiff erst herunterholen, wenn seine Sicherheit und Ihre Aufrichtigkeit mehr oder weniger garantiert sind. Ich brauche die Zustimmung und die Garantie Ihrer Regierung, die, wie ich annehme, aus dem gesamten Commensalengremium besteht, und ich verlange, daß sie ihre Zustimmung und Garantie öffentlich bekanntgibt.«

Obsle machte ein verdrießliches Gesicht, sagte aber:»Durchaus fair.«

Als ich mit Shusgis nach Hause fuhr, der zu der gesamten Diskussion den ganzen Nachmittag lang nichts als sein joviales Lachen beigetragen hatte, erkundigte ich mich:»Mr. Shusgis, was ist der Sarf?«

»Eines der Ständigen Büros der inneren Verwaltung. Verfolgt falsche Eintragungen, nicht genehmigte Reisen, Job- Unterschiebungen, Fälschungen und ähnliche Dinge. Mit einem Wort: Abschaum. Und das bedeutet ›Sarf‹ auch im Gassenjargon der Orgotasprache — Abschaum. Es ist ein Spitzname.«

»Dann sind die Inspektoren Agenten des Sarf?«

»Nun ja, einige schon.«

»Und die Polizei fällt vermutlich bis zu einem gewissen Grad ebenfalls in sein Ressort?«Ich formulierte die Frage sehr vorsichtig und erhielt eine ebenso vorsichtig formulierte Antwort.»Das nehme ich an. Ich bin natürlich in der äußeren Verwaltung beschäftigt und weiß nicht so genau über alle Büros der Inneren Bescheid.«

»Das ist auch, glaube ich, sehr schwer. Was ist zum Beispiel das Wasserbüro?«Auf diese Weise lenkte ich ihn so gut es ging vom Thema Sarf wieder ab. Was Shusgis über dieses Thema nicht gesagt hatte, mochte für einen Mann von Hain oder, sagen wir, dem friedlichen Chiffewar nicht die geringste Bedeutung haben; ich aber war auf der Erde geboren. Es ist nicht immer nur von Nachteil, kriminelle Vorfahren zu haben. Ein Großvater, der Brandstifter war, kann einem die Nase für Rauchgeruch vererben.

Es war amüsant und faszinierend gewesen, hier auf Gethen Regierungsformen zu finden, die denjenigen aus der terrestrischen Geschichte glichen: eine Monarchie und eine echte, blühende Bürokratie. Die allerneueste Entwicklung war ebenfalls faszinierend, allerdings weniger amüsant. Merkwürdig, daß in den weniger primitiven Gesellschaftsformen doch immer eine unheilvollere Atmosphäre herrscht!

So war also Gaum, der mich als Lügner hinstellen wollte, ein Agent der Geheimpolizei von Orgoreyn. Wußte er, daß Obsle ihn als solchen erkannt hatte? Zweifellos. War er dann also ein agent provocateur? Arbeitete er vorgeblich mit oder gegen Obsles Partei? Welche Fraktion in der Regierung der Dreiunddreißig beherrschte den Sarf oder wurde von ihm beherrscht? Auf all diese Fragen mußte ich unbedingt eine Antwort finden, aber das würde bestimmt nicht so leicht sein. Mein Kurs, der eine Zeitlang so ausgesehen hatte, als wäre er klar und aussichtsreich, schien plötzlich ebenso reich an Hindernissen und Geheimnissen zu sein wie in Erhenrang. Alles war gut und glatt gegangen, bis Estraven gestern abend schattengleich an meiner Seite aufgetaucht war.

»Welche Position nimmt Lord Estraven hier in Mishnory ein?«fragte ich Shusgis, der schon halb schlafend, tief in einer Ecke des weich dahinrollenden Wagens lag.

»Estraven? Wissen Sie, hier heißt er Harth. Wir haben in Orgoreyn keine Titel mehr; die haben wir abgeschafft, als die neue Epoche begann. Wie ich gehört habe, ist er ein Dependant von Commensal Yegey.«

»Lebt er nun für immer hier?«

»Das nehme ich an.«

Ich wollte schon sagen, es sei doch seltsam, daß er gestern abend bei Slose, aber heute nicht bei Yegey gewesen sei, als mir auf einmal einfiel, daß es in Anbetracht unseres kurzen Vormittagsgespräches durchaus nicht sonderbar war. Doch schon der Gedanke, daß er mir absichtlich aus dem Wege ging, gab mir ein Gefühl des Unbehagens.

»Sie haben ihn drüben auf der Südseite in einer Leim- oder Fischkonservenfabrik gefunden und ihn aus der Gosse geholt«, erklärte Shusgis, während er auf den weichen Polstern eine bequemere Position für seine breiten Hüften suchte.»Die vom Freihandel, meine ich. Er war ihnen natürlich sehr nützlich gewesen, als er noch Premierminister und in der kyorremy war; deswegen stehen sie ihm auch jetzt noch bei. Nach meiner Meinung hauptsächlich, um Mersen zu ärgern. Ha, ha! Mersen ist Tibes Spion und bildet sich natürlich ein, daß es niemand weiß, aber es wissen praktisch alle, und er kann Harth nicht ausstehen; er glaubt, daß er entweder ein Verräter oder ein Doppelagent sein muß, aber er weiß nicht genau, was er nun wirklich ist, und kann doch sein shifgrethor nicht aufs Spiel setzen, indem er es festzustellen versucht. Ha, ha!«

»Und wofür halten Sie Harth, Mr. Shusgis?«

»Für einen Verräter, Mr. Ai. Schlicht und einfach für einen Verräter. Hat den Anspruch seines Landes auf das Sinoth-Tal verkauft, um zu verhindern, daß Tibe an die Macht gelangt, und hat es nur nicht klug genug angefangen. Hier hätte man ihm eine härtere Strafe auferlegt als nur die Verbannung. Bei Meshes Titten! Sobald man gegen die eigene Seite spielt, verliert man das ganze Spiel. Das wollen diese Burschen, die keinen Patriotismus besitzen, sondern nur Eigenliebe, nicht begreifen. Obwohl es Harth vermutlich gleichgültig ist, wo er lebt, solange er nur weiterhin nach Macht streben kann. Wie Sie ja selbst sehen, ist er hier in den fünf Monaten gar nicht so schlecht gefahren.«

»Nein, gar nicht so schlecht. Das stimmt.«

»Sie trauen ihm auch nicht, wie?«

»Ganz recht, ich traue ihm nicht.«

»Das freut mich zu hören, Mr. Ai. Ich verstehe nicht, warum Yegey und Obsle so an diesem Kerl hängen. Er ist erwiesenermaßen ein Verräter, der nur auf seinen eigenen Vorteil aus ist und nun versucht, sich an Ihren Schlitten zu hängen, Mr. Ai, bis er auf eigenen Beinen weiter kann. So sehe ich das. Na ja, wenn er zu mir kommen würde — ich dächte gar nicht daran, ihn umsonst auf meinem Schlitten mitfahren zu lassen!«Shusgis keuchte und unterstrich seine Ausführungen mit einem energischen Kopfnicken; dann lächelte er mir zu, wie ein Ehrenmann dem anderen zulächelt. Der Wagen fuhr ruhig durch die breiten, hell erleuchteten Straßen. Der Schnee, der am Morgen gefallen war, bildete nur noch schmutzige Haufen in den Rinnsteinen; es regnete jetzt: ein kalter, feiner Nieselregen.

Die großen Gebäude der City von Mishnory — Regierungsgebäude, Schulen, Yomesh-Tempel — waren im weichen Schein der hohen Straßenlaternen so vom Regen verwischt, daß es aussah, als schmölzen sie. Die Hausecken waren nur undeutlich auszumachen, die Fassaden streifig, naß, verschmiert. Es lag etwas Fließendes, Substanzloses in der massiven Wucht dieser Monolithenstadt, dieses Monolithenstaates, der das Teil und das Ganze mit demselben Namen bezeichnete. Und Shusgis, mein jovialer Gastgeber, ein schwerer Mann, ein massiver Mann — auch er war an den Ecken und Kanten irgendwie ein bißchen vage, ein bißchen, ein winziges bißchen nur, irreal.

Schon seit ich mich mit dem Wagen vor vier Tagen durch die weiten, goldenen Felder Orgoreyns aufgemacht und meinen erfolgreichen Weg zum inneren Sanktum von Mishnory begonnen hatte, hatte ich etwas vermißt. Was war es nur? Ich fühlte mich isoliert. In letzter Zeit hatte ich die Kälte nicht mehr so gespürt, aber die Zimmer wurden hier gut geheizt. In letzter Zeit hatte ich nicht mehr mit Appetit gegessen; aber die Orgota-Küche war fade. Also hatte das alles nichts zu bedeuten. Doch warum wirkten die Menschen die ich kennenlernte, ob sie mir positiv oder negativ gegenüberstanden, ebenfalls fade auf mich? Es gab doch starke Persönlichkeiten unter ihnen — Obsle, Slose, den schönen und abscheulichen Gaum -, und dennoch fehlte allen ein gewisses Etwas, irgendeine Dimension des Daseins. Sie konnten sich nicht überzeugen. Sie waren nicht konkret.

Es war, fand ich, als würfen sie keinen Schatten.

Diese Art eigentlich recht überheblicher Spekulation ist ein wesentlicher Bestandteil meiner Aufgabe. Ohne die Veranlagung dazu hätte ich mich nicht als Mobiler qualifizieren können, und diese Veranlagung wurde dann noch auf Hain offiziell trainiert, wo man sie mit der Bezeichnung ›Weitherholen‹ glorifiziert. Was man mit diesem Weitherholen erreichen will, könnte als intuitive Wahrnehmung einer moralischen Ganzheit beschrieben werden und findet seinen Ausdruck eher in Metaphern als in rationalen Symbolen. Ich war nie ein besonders guter Weitherholer, und da ich an diesem Abend sehr müde war, mißtraute ich meiner eigenen Intuition. Zu Hause in meiner Wohnung suchte ich Zuflucht unter einer heißen Dusche. Aber auch dort empfand ich eine unbestimmte Nervosität, als sei sogar das heiße Wasser nicht echt und real, und ich könne mich nicht darauf verlassen, daß es tatsächlich meine Haut berührte.

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