ELFTES KAPITEL Selbstgespräche in Mishnory

Mishnory. Streith Susmy. Ich habe keine Hoffnung mehr, obwohl mir alle Ereignisse Anlaß zur Hoffnung geben. Obsle feilscht und schachert mit seinen Con-Commensalen, Yegey versucht es mit Schmeicheleien, Slose möchte gern bekehren und die Zahl ihrer Anhänger wächst. Sie alle sind sehr kluge Männer und haben ihre Partei fest in der Hand. Nur sieben der Dreiunddreißig sind zuverlässige Vertreter der Freihandelspartei; von den übrigen glaubt Obsle noch zehn zu gewinnen und damit eine knappe Mehrheit zu bekommen.

Ein einziger von ihnen scheint sich aufrichtig für den Gesandten zu interessieren: Csl. Ithepen aus dem Eynyen- Distrikt. Er ist deswegen so wißbegierig im Hinblick auf Mr. Ais Mission, weil er im Dienste des Sarf die Aufgabe hatte, alle Berichte, die wir in Erhenrang über den Rundfunk sendeten, zu zensieren. Es scheint die Bürde dieser Nachrichtenunterdrückung auf seinem Gewissen zu lasten. Er machte Obsle den Vorschlag, die Dreiunddreißig sollten ihre Einladung an das Sternenschiff nicht nur ihren Landsleuten, sondern auch Karhide bekanntgeben und Argaven bitten, seine, des Königs Stimme, der Einladung hinzuzufügen. Ein lobenswerter Plan, der aber nicht befolgt werden wird. Nie werden sie Karhide bitten, sich ihnen in irgendeiner Angelegenheit anzuschließen.

Die Männer des Sarf unter den Dreiunddreißig opponieren natürlich gegen jegliche Berücksichtigung der Anwesenheit und der Mission des Gesandten. Und diese lauen Blockfreien, die Obsle zu gewinnen hofft, haben, so glaube ich, ebenso große Angst vor dem Gesandten wie Argaven und der größte Teil seines Hofes; nur mit dem Unterschied, daß Argaven, da selber wahnsinnig, ihn für einen Wahnsinnigen hielt, während man in ihm hier einen ebenso abgefeimten Lügner sieht, wie sie es selbst sind. Sie fürchten, in aller Öffentlichkeit einem ungeheuren Schwindel aufzusitzen, einem Schwindel, dem Karhide bereits die Tür gewiesen, ja, den Karhide vielleicht sogar erfunden hat. Sie sprechen diese Einladung aus; sie sprechen sie sogar öffentlich aus. Aber wo bleibt ihr shifgrethor, wenn gar kein Sternenschiff kommt?

Genly Ai verlangt in der Tat ein ungewöhnliches Vertrauen von uns.

Für ihn jedoch ist es ganz eindeutig gar nicht so ungewöhnlich.

Und Obsle und Yegey sind überzeugt, daß sie die Mehrheit der Dreiunddreißig dazu bringen können, ihm dieses Vertrauen zu schenken. Ich weiß nicht, warum ich weniger hoffnungsfroh bin als sie; vielleicht will ich im Grunde gar nicht, daß Orgoreyn sich als vorurteilsfreier als Karhide erweist, daß es das Risiko eingeht, das Lob dafür einstreicht und Karhide im Schatten läßt. Wenn diese Mißgunst ein patriotisches Gefühl sein sollte, kommt sie zu spät; sobald ich sah, daß Tibe mich binnen kurzem vertreiben würde, tat ich alles, was in meiner Macht stand, um zu veranlassen, daß der Gesandte nach Orgoreyn kam, und hier im Exil habe ich getan, was ich konnte, die anderen für ihn zu gewinnen.

Dank meines Geldes, das er mir von Ashe brachte, kann ich jetzt wieder selbständig leben — als ›Einheit‹, muß nicht mehr als ›Dependant‹ leben. Ich gehe nicht mehr zu Banketten, lasse mich weder mit Obsle noch mit den anderen Fürsprechern des Gesandten in der Öffentlichkeit sehen und habe auch den Gesandten selbst seit über einem Halbmonat, das heißt, seit seinem zweiten Tag in Mishnory, nicht mehr gesehen.

Er gab mir Ashes Geld, wie man einem gedungenen Mörder seinen Lohn hinwirft. Nur selten bin ich so wütend gewesen, und ich habe ihn bewußt beleidigt. Er wußte, daß ich wütend war, aber ich bin nicht sicher, ob er begriffen hat, daß er beleidigt wurde; er schien meinen Rat trotz der Art und Weise, in der er gegeben wurde, zu akzeptieren. Das erkannte ich, als sich meine Hitze ein wenig gelegt hatte, und es machte mir Sorgen. Wäre es möglich, daß er in Erhenrang die ganze Zeit meinen Rat gesucht hat und nur nicht wußte, wie er mir beibringen sollte, daß er ihn suchte? Wenn dem so ist, dann muß er die Hälfte von allem, was ich ihm damals, am Abend nach der Schlußsteinzeremonie, vor meinem Kamin im Palast gesagt habe, mißverstanden und das übrige überhaupt nicht begriffen haben. Sein shifgrethor scheint auf ganz anderen Grundsätzen zu beruhen, ganz anders zusammengesetzt zu sein und von ganz anderen Dingen getragen zu werden als der unsere, und als ich glaubte, besonders offen und aufrichtig zu ihm zu sein, hat er mich möglicherweise besonders rätselhaft und verwirrend gefunden.

Seine Dummheit beruht auf Unkenntnis, seine Arroganz ebenso. Er kennt uns nicht. Wir kennen ihn nicht. Er ist uns unendlich fremd, und ich bin ein Tor, daß ich meinen Schatten über das Licht der Hoffnung geworfen habe, die er uns bringt. Ich unterdrückte meinen verletzten Stolz. Ich gehe ihm aus dem Weg, denn was er will, ist eindeutig. Und er hat recht. Ein exilierter, karhidischer Verräter ist kein Gewinn für seine Sache.

Dem Orgota-Gesetz entsprechend muß jede ›Einheit‹ einer geregelten Arbeit nachgehen, also arbeite ich von der achten Stunde bis Mittag in einer Plastikfabrik. Leichte Arbeit. Ich beaufsichtige eine Maschine, die Plastikscheiben zu kleinen, durchsichtigen Schachteln zusammenfügt und verschweißt. Wofür diese Schachteln bestimmt sind, weiß ich nicht. Des Nachmittags habe ich, da ich feststellen mußte, daß ich allmählich abstumpfte, die alten Übungen wiederaufgenommen, die ich in Rotherer gelernt habe. Es freut mich, zu sehen, daß ich meine Fähigkeit, dothe-Kräfte zu wecken oder mich in Untrance zu versetzen, noch nicht verlernt habe. Aber die Untrance nützt mir nicht viel, und was die Fähigkeit zum Stillhalten und Fasten angeht, so sieht es aus, als hätte ich sie niemals gelernt. Ich muß, wie ein Kind, noch einmal ganz von vorne anfangen. Jetzt habe ich erst einen Tag gefastet, und schon knurrt mein Magen vor Pein. Dabei sollte ich es eine Woche durchhalten.

In den Nächten friert es jetzt; heute abend wirft ein kräftiger Wind Graupelschauer gegen die Scheiben. Den ganzen Abend mußte ich ununterbrochen an Estre denken, und auch das Tosen des Windes scheint mir das Tosen des Windes zu sein, der in Estre bläst. Ich habe heute abend meinem Sohn geschrieben, einen sehr langen Brief. Beim Schreiben hatte ich immer wieder das Gefühl, Arek sei in meiner Nähe, ich brauche mich nur umzudrehen, um ihn sehen zu können. Warum schreibe ich Dinge wie diese auf? Damit mein Sohn sie eines Tages lesen kann? Sie würden ihm auch nicht viel helfen. Vielleicht tue ich es nur, um in meiner eigenen Sprache schreiben zu können.

Harhahad Susmy. Noch immer ist im Radio der Gesandte mit keinem Wort erwähnt worden. Ich möchte wissen, ob Genly Ai erkennt, daß man in Orgoreyn trotz des riesigen, offen zutage tretenden Regierungsapparates niemals sichtbar etwas tut, niemals laut etwas sagt. Die Maschinerie kaschiert nur die Machenschaften.

Tibe möchte Karhide lügen lehren. Er kopiert seine Lektionen von Orgoreyn: eine gute Lehre. Aber ich denke, daß es uns schwerfallen wird, lügen zu lernen, denn viel zu lange haben wir uns in der Kunst geübt, die Wahrheit zu vermeiden ohne zu lügen.

Gestern gab es einen großen Orgota-Streifzug über den Ey; sie haben die Kornspeicher von Tekember verbrannt. Genau das, was der Sarf will und was Tibe will. Aber wo führt es hin?

Slose, der die Erklärungen des Gesandten mit seinem Mystizismus umgibt, interpretiert das Kommen der Ökumene auf diese Welt als das Kommen des Reiches Meshe zu den Menschen und verliert dabei unser Ziel aus den Augen.»Wir müssen diese Rivalität mit Karhide beenden, bevor die neuen Menschen kommen«, fordert er.»Wir müssen unseren Geist reinigen und auf ihr Kommen vorbereiten. Wir müssen dem shifgrethor entsagen, alle Vergeltungsmaßnahmen verbieten und uns mit ihnen ohne Mißgunst als Brüder eines Herdes vereinigen.«

Aber wie sollen wir das schaffen, bis sie kommen? Wie sollen wir den Teufelskreis unseres Streits durchbrechen?

Guyrny Susmy. Slose steht einem Komitee vor, das beabsichtigt, die obszönen Aufführungen in den hiesigen öffentlichen Kemmerhäusern zu verbieten; das muß etwas Ähnliches sein wie die karhidischen huhuth. Slose ist dagegen, weil sie seicht, vulgär und blasphemisch sind.

Gegen etwas opponieren, bedeutet es zu erhalten.

Man sagt hier: ›Alle Wege führen nach Mishnory‹. Doch wenn man Mishnory den Rücken kehrt und es verläßt, ist man ganz eindeutig immer noch auf dem Weg nach Mishnory. Gegen Vulgarität opponieren bedeutet unvermeidlich, selbst vulgär zu sein. Nein, man muß woanders hingehen; man muß sich ein anderes Ziel setzen. Dann beschreitet man einen anderen Weg.

Yegey sagte heute in der Halle der Dreiunddreißig:»Ich widersetze mich unverändert dieser Blockade der Getreideausfuhr nach Karhide und dem Konkurrenzgeist, der diese Blockade motiviert.«Schön und gut, aber auf die Art wird er niemals von der Straße nach Mishnory herunterkommen. Er müßte eine Alternative bieten. Orgoreyn und Karhide müssen beide den Weg verlassen, den sie bisher beschritten haben, nur jeder in einer anderen Richtung; sie müssen sich ein anderes Ziel suchen, den Kreis durchbrechen. Ich finde, Yegey müßte über den Gesandten sprechen, und von nichts anderem.

Ein Atheist sein bedeutet, Gott zu erhalten. Seine Existenz und seine Nicht-Existenz laufen, was die Beweisführung angeht, auf dasselbe hinaus. Daher ist der Ausdruck ›Beweis‹ ein Wort, das bei den Handdarata nicht oft gebraucht wird, denn sie haben beschlossen, Gott nicht als Tatsache zu betrachten, die eines Beweises bedürftig oder dem Glauben unterworfen ist: Sie haben den Kreis durchbrochen und sind frei.

Zu erkennen, welche Fragen unbeantwortbar sind, und sie nicht zu beantworten versuchen: diese Kunst ist am wichtigsten in Zeiten der Not und der Dunkelheit.

Tormenbod Susmy. Meine Unruhe wächst: Noch immer hat das Zentralbüroradio kein Wort über den Gesandten verlauten lassen. Von den Nachrichten, die wir in Erhenrang über ihn gesendet haben, wurde hier niemals auch nur eine einzige veröffentlicht, und die auf illegalem Rundfunkempfang an der Grenze und Erzählungen von Handelsleuten und Reisenden basierenden Gerüchte scheinen nie sehr weit vorgedrungen zu sein. Der Sarf übt eine schärfere Kontrolle über die Kommunikationsmittel aus als ich dachte oder für möglich hielt. Diese Erkenntnis schreckt mich. In Karhide üben König und kyorremy zwar eine beträchtliche Kontrolle über das Verhalten der Menschen aus, aber kaum über das, was sie hören, und gar nicht über das, was sie sagen. Hier dagegen kann die Regierung nicht nur das Verhalten überprüfen, sondern auch die Gedanken. Solche Macht sollten Menschen niemals über ihre Mitmenschen ausüben dürfen.

Shusgis und die anderen fahren mit Genly Ai offen in der Stadt herum. Ich frage mich, ob er erkennt, daß diese Offenheit die Tatsache kaschiert, daß man ihn versteckt. Niemand weiß, daß er hier ist. Ich frage meine Mitarbeiter in der Fabrik, aber sie wissen nichts und glauben, es sei irgendein verrückter Yomesh-Sektierer. Keine Information, kein Interesse, nichts, was Ais Mission unterstützen und fördern oder sein Leben schützen könnte.

Es ist ein Jammer, daß er uns so ähnlich sieht. In Erhenrang haben sich die Leute oft gegenseitig auf ihn aufmerksam gemacht; sie wußten von ihm, sprachen über ihn und wußten, daß er da war. Hier, wo seine Anwesenheit als Geheimnis gehütet wird, bleibt er unbemerkt. Zweifellos sehen ihn die Menschen hier, wie ich ihn zuerst gesehen habe: als ungewöhnlich großen, kräftigen und ungewöhnlich dunklen jungen Mann im ersten Stadium der Kemmer. Ich habe im vergangenen Jahr die Berichte der Ärzte über ihn studiert. Der Unterschied zwischen ihm und uns ist grundlegend. Keineswegs oberflächlich. Man muß ihn kennen, um zu wissen, daß er ein fremdes Wesen ist.

Aber warum verstecken sie ihn dann? Warum bringt nicht ein einziger der Commensalen das Thema aufs Tapet und erwähnt ihn in einer öffentlichen Ansprache oder im Rundfunk? Warum schweigt sogar Obsle? Aus Angst?

Mein König fürchtete sich vor dem Gesandten; diese Männer hier fürchten sich voreinander.

Ich habe das Gefühl, daß ich, der Ausländer, der einzige Mensch bin, dem Obsle vertraut. Er fühlt sich in meiner Gesellschaft wohl, wie ich mich in seiner, und hat schon mehrmals auf sein shifgrethor verzichtet und offen um meinen Rat gebeten. Doch wenn ich ihn dränge, in der Öffentlichkeit zu sprechen, das öffentliche Interesse als Schutz vor Parteiintrigen zu wecken, hört er nicht auf mich.

»Wenn die gesamte Commensalität auf den Gesandten schaute, würde der Sarf es nicht wagen, Hand an ihn zu legen«, erklärte ich.»Und an Sie auch nicht, Obsle.«

Obsle seufzte.»Ja, ja, aber das ist unmöglich, Estraven. Rundfunk, gedruckte Nachrichten, wissenschaftliche Zeitschriften — alles hält der Sarf unter Kontrolle. Was soll ich tun — an der Straßenecke Volksreden halten wie ein eifernder Priester?«

»Nun, man kann mit den Leuten sprechen, Gerüchte in Umlauf bringen. Etwas Ähnliches mußte ich im vergangenen Jahr in Erhenrang tun. Sorgen Sie dafür, daß die Leute Fragen stellen, auf die Sie die Antwort haben, das heißt also, den Gesandten selbst.«

»Wenn ich nur sein verdammtes Schiff herunterholen könnte, damit wir den Leuten etwas zu zeigen haben! Aber so…«

»Er wird das Schiff erst herunterholen, wenn er weiß, daß Sie aufrichtig sind und es ehrlich meinen.«

»Tu ich das nicht?«rief Obsle und blies sich auf wie ein riesiger Hob-Fisch.»Habe ich im vergangenen Monat nicht jede einzelne Stunde seiner Sache gewidmet? Er erwartet von uns, daß wir alles glauben, was er uns erzählt, und dann dankt er es uns, indem er uns nicht vertraut!«

»Sollte er denn?«

Obsle keuchte und antwortete nicht.

Er ist der Aufrichtigkeit näher als alle anderen Regierungsbeamten von Orgoreyn, die ich kenne.

Odgetheny Susmy. Um hoher Beamter des Sarf zu werden, muß man anscheinend von einer besonderen und einzigartigen Form der Dummheit geschlagen sein. Gaum ist das beste Beispiel dafür. Er sieht in mir einen karhidischen Agenten, der den Orgota einen ungeheuren Prestigeverlust oktroyieren will, indem er sie überredet, an den Schwindel mit dem Gesandten der Ökumene zu glauben; er ist überzeugt, daß ich diesen Schwindel bereits als Premierminister vorbereitet habe. Ich habe, weiß Gott, besseres zu tun, als mit diesem Abschaum shifgrethor zu spielen! Das jedoch ist ein so simpler logischer Schluß, daß er ihn nicht erkennen kann. Da es so aussieht, als hätte Yegey mich abgeschoben, hält Gaum mich für käuflich und versuchte mich auf seine eigene, sehr merkwürdige Art zu kaufen. Er beobachtete mich, oder ließ mich beobachten, bis er wußte, daß ich an Posthe oder Tormenbod in Kemmer kommen würde, und tauchte gestern abend plötzlich in voller — zweifellos durch Hormonspritzen ausgelöster — Kemmer auf, um mich zu verführen. Eine zufällige Begegnung in der Pyenefen-Straße.»Harth! Ich habe Sie mindestens einen Halbmonat lang nicht gesehen. Wo haben Sie sich versteckt? Kommen Sie mit! Trinken Sie einen Becher Bier mit mir.«

Er wählte ein Bierhaus direkt neben einem der öffentlichen Commensal-Kemmerhäuser. Und er bestellte kein Bier, sondern Lebenswasser. Er wollte keine Zeit verlieren. Nach dem ersten Glas streichelte er meine Hand, legte seine Wange an die meine und flüsterte:»Unsere Begegnung ist kein Zufall, ich habe auf Sie gewartet: Ich sehne mich so sehr danach, Sie heute abend als meinen Kemmering zu haben!«Er nannte mich sogar bei meinem Vornamen. Ich schnitt ihm nur deshalb die Zunge nicht ab, weil ich, seit ich Estre verlassen habe, kein Messer mehr bei mir trage. Statt dessen erklärte ich ihm, daß ich beabsichtige, solange ich im Exil sei, abstinent zu leben. Er gurrte und schmeichelte und hielt meine beiden Hände. Nicht lange, und er befand sich in der Vollphase einer Frau. Gaum ist sehr schön in der Kemmer, und er verließ sich auf diese Schönheit, wie auch auf seine sexuelle Hartnäckigkeit. Vermutlich wußte er, daß ich, als Anhänger der Handdara, nie Drogen nehmen würde, die die Kemmer unterdrücken, sondern zur Einhaltung der Abstinenz allein auf meine Willenskraft angewiesen war. Dabei vergaß er allerdings, daß Abscheu nicht weniger wirkungsvoll ist als eine Droge. Ich entwand mich seinen Berührungen, die natürlich auch auf mich eine gewisse Wirkung ausübten, schlug vor, er möge es doch mit dem öffentlichen Kemmerhaus nebenan versuchen, und ging. Er musterte mich mit mitleiderregender Traurigkeit, denn er befand sich, aus welchem hinterhältigen Grund auch immer, in echter Kemmer und war hochgradig sexuell erregt.

Glaubte er wirklich, daß ich mich mit seinem Kleingeld kaufen ließe? Er muß den Eindruck haben, daß ich sehr stark beunruhigt bin. Was mich in der Tat unruhig macht.

Diese verdammten, unsauberen Menschen! Es gibt nicht einen einzigen sauberen unter ihnen.

Odsordny Susmy. Heute nachmittag hat Genly Ai in der Halle der Dreiunddreißig gesprochen. Die Öffentlichkeit war nicht zugelassen, Rundfunkübertragungen wurden nicht genehmigt, doch Obsle lud mich hinterher ein und spielte mir das Band vor, das er während der Sitzung aufgenommen hatte. Der Gesandte sprach gut, mit bewegender Aufrichtigkeit und Dringlichkeit. Er hat eine gewisse Arglosigkeit an sich, die ich bis jetzt eigentlich immer für dumm und einfältig gehalten habe, aber diese scheinbare Naivität läßt soviel geschultes Wissen und Zielbewußtsein erkennen, daß es mir Bewunderung abnötigt. Durch seinen Mund spricht ein kluges und edelmütiges Volk, ein Volk, das uralte, tiefe, schreckliche und unvorstellbar unterschiedliche Lebenserfahrungen zu einer einzigen, großen Weisheit verwoben hat. Er selbst jedoch ist jung: ungeduldig, unerfahren. Er steht höher als wir und sieht dadurch weiter, doch auch er selbst ist eben nur so groß wie ein Mensch.

Er spricht jetzt besser als damals in Erhenrang, schlichter, gewählter. Er hat, wie wir alle, sein Fach gelernt, indem er es ausübte.

Seine Ansprache wurde immer wieder von Mitgliedern der Dominationspartei unterbrochen, die lauthals verlangten, der Präsident möge diesen Verrückten zum Schweigen bringen, ihn hinauswerfen und zur Tagesordnung übergehen. Csl. Yemenbey lärmte am lautesten, vermutlich impulsiv.»Schluckt ihr denn wirklich dieses gichymichy?« grölte er immer wieder lachend zu Obsle hinüber. Nach Obsles Aussage wurden die geplanten Unterbrechungen, die einen Teil des Tonbandes schwer verständlich machten, von Kaharosile geleitet.

Aus der Erinnerung:

Alshel (Präsident): Mr. Ai, wir finden diese Informationen und die Vorschläge von Mr. Obsle, Mr. Slose, Mr. Ithepen, Mr. Yegey und anderen überaus interessant, überaus anregend. Wir brauchen jedoch handfestere Beweise (Gelächter). Da der König von Karhide Ihr… das Fahrzeug, mit dem Sie gekommen sind, an einem Ort verschlossen hat, an dem wir es nicht besichtigen können, wäre es da, wie vorgeschlagen, vielleicht möglich, daß Sie Ihr… Ihr Sternenschiff herunterholen? Oder wie nennen Sie es?

Ai: Sternenschiff ist eine sehr gute Bezeichnung, Sir.

Alshel: So? Aber wie nennen Sie es denn?

Ai: Nun, technisch gesehen, ist es der bemannte, interstellare Cetianische Flugkörper NAFAL-20.

Zwischenruf: Sind Sie sicher, daß es sich nicht um St. Pethethes Schlitten handelt? (Brüllendes Gelächter)

Alshel: Aber bitte, meine Herren! Ja. Also, wenn Sie dieses Schiff herunterholen könnten — sozusagen auf festen Boden -, damit wir handfeste…

Zwischenruf: Handfesten Fischdreck! — So ein Blödsinn!

Ai: Ich möchte das Schiff sehr gerne herunterholen, Mr. Alshel — als Beweis für unseren beiderseitigen aufrichtigen guten Willen. Ich warte nur noch darauf, daß Sie dieses Ereignis vorher öffentlich ankündigen.

Kaharosile: Commensalen, seht ihr denn nicht, was dies alles ist? Das ist nicht nur ein dummer Scherz. Das ist eine beabsichtigte öffentliche Verhöhnung unserer Gutgläubigkeit, unsere Einfalt, unserer Dummheit — veranstaltet mit unglaublicher Unverschämtheit von diesem Mann, der heute hier vor uns steht. Ihr wißt, daß er aus Karhide kommt. Ihr wißt, daß er ein karhidischer Agent ist. Ihr könnt sehen, daß es sich bei ihm um einen sexuell Anomalen jenes Typs handelt, wie sie in Karhide unter dem Einfluß des Dunklen Kultes unbehandelt herumlaufen und gelegentlich für die Orgien der Weissager sogar künstlich geschaffen werden. Und trotzdem braucht er lediglich zu sagen: ›Ich komme aus dem Weltraum‹, und einige von euch schließen wortwörtlich beide Augen, hören nicht auf ihren Intellekt und glauben daran! Niemals hätte ich so etwas für möglich gehalten, usw. usw.

Nach diesem Tonband zu urteilen, nahm Ai den Spott und die Angriffe unglaublich gelassen hin. Obsle sagte, er habe sich gut gehalten. Ich hatte draußen vor der Halle gewartet, um es nicht zu verpassen, wenn sie nach der Sitzung der Dreiunddreißig herauskamen. Ai zeigte eine grimmige, nachdenkliche Miene. Mit Recht.

Meine Machtlosigkeit ist mir unerträglich. Ich bin derjenige, der diese Maschinerie in Gang gesetzt hat, und nun kann ich ihren Lauf nicht mehr beeinflussen. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, schleiche ich durch die Straßen wie ein Dieb, um einen Blick auf den Gesandten werfen zu können. Für dieses sinnlose, entwürdigende Leben habe ich meine Macht, mein Geld und meine Freunde geopfert. O Therem, welch ein Narr du doch bist!

Warum kann ich mein Herz nie an eine Sache hängen, die im Bereich des Möglichen liegt?

Odeps Susmy. Das Sendegerät, das Genly Ai nunmehr den Dreiunddreißig übergeben hat, und das Obsle zu treuen Händen verwahrt, wird diese Leute auch nicht bekehren. Ganz eindeutig kann es all das, was Ai behauptet, doch wenn der Königliche Mathematiker Shorst sagt: ›Ich verstehe das Prinzip nicht‹, dann wird es den Orgota-Mathematikern und Ingenieuren nicht besser ergehen, und wieder einmal ist nichts bewiesen. Ein bewundernswertes Resultat, wäre diese ganze Welt eine Festung der Handdara; doch so müssen wir weiter vorwärts marschieren, den frischen Schnee mit unseren Spuren durchziehen, Beweise und Gegenbeweise suchen, Fragen und Antworten vorbringen.

Noch einmal erklärte ich Obsle, es müsse doch möglich sein, daß Ai sein Sternenschiff per Funk kontaktiere, die Besatzung wecke und sie bäte, über ein Funkgerät in der Halle der Dreiunddreißig mit den Commensalen zu sprechen. Diesesmal hatte Obsle sofort einen Grund parat, weshalb das nicht möglich sei.»Hören Sie, mein lieber Estraven, der Sarf kontrolliert, wie Sie ja inzwischen wissen, sämtliche Radiostationen bei uns. Sogar ich selber habe keine Ahnung, welche der Männer in der Kommunikation Sarf-Leute sind; vermutlich die meisten, denn ich weiß mit Sicherheit, daß sie die Sender und Empfänger auf jeder Stufe, bis hinunter zu den Technikern und Reparaturfachleuten in der Hand haben. Sie könnten und würden jede Übertragung, die wir empfangen — wenn wir überhaupt eine empfangen -, blockieren oder verfälschen. Können Sie sich diese Szene in der Halle vorstellen? Wir ›Weltraumgläubige‹ — Opfer unseres eigenen Schwindels, mit angehaltenem Atem den statischen Geräuschen lauschend, während ansonsten nicht das geringste zu hören ist, keine Antwort, keine Botschaft?«

»Und Sie haben nicht das Geld, um ein paar zuverlässige Techniker zu mieten oder einfach ein paar von den ihren zu kaufen?«erkundigte ich mich. Aber es war zwecklos. Er fürchtet um sein Prestige. Auch sein Verhalten mir gegenüber hat sich geändert. Wenn er den Empfang für den Gesandten heute abend absagt, stehen die Dinge schlecht.

Odarhad Susmy. Er hat den Empfang abgesagt.

Heute morgen ging ich aus, um mit dem Gesandten zu sprechen: auf typische Orgota-Manier. Das heißt, nicht offen in Shusgis’ Haus, wo es von Sarf-Agenten unter den Hausangestellten wimmelt und Shusgis sogar selbst einer ist, sondern genau wie Gaum, gelegentlich einer zufälligen Begegnung, indem ich mich heimlich an ihn heranmachte.»Mr. Ai, würden Sie mich bitte einen Moment anhören?«

Er drehte sich erschrocken um und wurde, als er mich erkannte, unruhig. Nach einem Augenblick entgegnete er:»Wozu, Mr. Harth? Sie wissen, daß ich mich seit Erhenrang nicht mehr auf das, was Sie sagen, verlassen kann…«

Das war sehr offen, wenn es auch nicht von großer Menschenkenntnis zeugte. Doch eine gewisse Menschenkenntnis verriet es trotzdem, denn er wußte sofort, daß ich ihn nicht um etwas bitten, sondern ihm einen Rat geben wollte, und er sprach das, um meinen Stolz zu retten, auch aus.

Ich entgegnete:»Wir sind zwar in Mishnory, nicht in Erhenrang, aber die Gefahr, in der Sie schweben, ist die gleiche. Wenn Sie Obsle oder Yegey nicht die Zustimmung zur Aufnahme des Funkkontakts mit Ihrem Schiff abringen können, so daß die Besatzung zwar in Sicherheit bleibt, Ihren Behauptungen aber trotzdem eine Basis geben kann, dann sollten Sie, wie ich meine, Ihren eigenen Apparat, den Ansible, nehmen und das Schiff herunterholen. Das Risiko, das es dabei eingeht, ist geringer als das Risiko, das Sie eingehen, solange Sie ganz allein hier sind.«

»Die Debatten der Commensalen über meine Botschaft waren geheim. Woher wissen Sie von meinen ›Behauptungen‹, Mr. Harth?«

»Weil ich es mir zum Lebenszweck gemacht habe, so viel wie möglich zu wissen.«

»Aber hier gehen diese Dinge Sie nichts an, Sir. Sie sind ausschließlich Sache der Commensalen von Orgoreyn.«

»Ich versichere Ihnen, daß Sie in Lebensgefahr sind, Mr. Ai!«wiederholte ich. Er schwieg, und ich ging.

Ich hätte schon vor Tagen mit ihm sprechen sollen. Jetzt ist es zu spät. Schon wieder vereitelt die Angst seine Mission und meine Hoffnungen. Nicht die Angst vor dem Fremden, dem Unirdischen — hier nicht. Diese Orgota besitzen weder genug Verstand noch Geistesgröße, um das zu fürchten, was wahrhaft und ungeheuerlich fremdartig ist. Sie können es nicht einmal erkennen. Sie betrachten den Mann von einer anderen Welt und sehen — was? Einen Spion von Karhide, einen Perversen, einen Agenten, den Vertreter einer ebenso jämmerlichen, kleinen politischen Einheit, wie sie es sind.

Wenn er nicht sofort dieses Schiff herunterholt, ist es zu spät. Vielleicht ist es sogar jetzt schon zu spät.

Meine Schuld. Ich habe alles falsch gemacht.

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