ACHTES KAPITEL Ein anderer Weg nach Orgoreyn

Den Sommer verbrachte ich mehr wie ein Investigator denn als Mobiler: Ich wanderte durch das karhidische Land, von Ort zu Ort, von Domäne zu Domäne, ich beobachtete und ich lauschte — Dinge, die ein Mobiler in der ersten Zeit nicht tun kann, weil er dann noch ein Wunder und eine Monstrosität ist und ständig zu besichtigen und auftrittsbereit sein muß. Ich erklärte meinen Gastgebern in diesen ländlichen Herden und Dörfern, wer ich war; die meisten von ihnen hatten bereits im Radio von mir gehört und so eine annähernde Vorstellung von mir. Neugierig waren sie allesamt, einige mehr, einige weniger. Nur wenige fürchteten sich vor mir, verhielten sich ungastlich oder zeigten gar Abscheu. Der Feind ist in Karhide nicht der Fremde, der Eindringling. Der Fremde, der Unbekannte, der kommt, ist ein Gast. Der Feind, das ist immer der Nachbar.

Während des Monates Kus wohnte ich an der Ostküste in einem Clanherd namens Gorinhering, einer Haus-Dorf-Fort- Form auf einem Berg hoch über dem ewigen Nebel des Hodomin-Ozeans. Dort lebten ungefähr fünfhundert Menschen. Viertausend Jahre zuvor hätte ich ihre Vorfahren bereits am selben Platz, im selben Haus gefunden. Während dieser vier Jahrtausende wurde der Elektromotor entwickelt, Radios, mechanische Webstühle, mechanische Fahrzeuge, Landmaschinen und ähnliche Dinge kamen in Gebrauch, und so begann allmählich, ohne industrielle Revolution, ohne überhaupt eine Revolution, das Maschinenzeitalter. In dreißig Jahrhunderten hat Winter nicht einmal das erreicht, was Terra ehedem in drei Jahrzehnten erreichte. Dafür hat Winter aber auch nicht den Preis zahlen müssen, den Terra bezahlt hat.

Winter ist eine feindselige Welt; ihre Strafe für jeden Fehler erfolgt unerbittlich und prompt: Tod durch Erfrieren oder Tod durch Verhungern. Kein Spielraum, kein Aufschub. Ein einzelner Mensch kann auf sein Glück setzen, eine Gesellschaft nicht; und kulturelle Veränderungen erhöhen, genau wie zufällige Mutationen, das Risiko. Deswegen haben sie ihr Tempo gezügelt. An jedem x-beliebigen Punkt ihrer Geschichte könnte ein oberflächlichler Betrachter sagen, daß jeder technologische Fortschritt, jegliche Entwicklung aufgehört hat. Aber sie haben niemals aufgehört. Was ist der Unterschied zwischen dem Sturzbach und dem Gletscher? Beide gelangen an ihr Ziel.

Ich unterhielt mich häufig und lange mit den Alten in Gorinhering, ebensoviel aber mit den Kindern. Hier hatte ich zum erstenmal Gelegenheit, Gethenianerkinder intensiver zu beobachten, denn in Erhenrang sind sie samt und sonders in privaten oder öffentlichen Herden und Schulen untergebracht. Ein Viertel bis ein Drittel der erwachsenen Stadtbevölkerung ist vollauf mit der Aufzucht und Erziehung der Kinder beschäftigt. Hier dagegen sorgte der Clan selbst dafür; alle und jeder waren verantwortlich für sie. Sie waren ein recht wilder Haufen, der ungezügelt über die nebelverhangenen Hügel und Strände tobte. Wenn es mir gelang, eines von ihnen lange genug festzuhalten, um ernsthaft mit ihm zu sprechen, konnte ich feststellen, daß sie scheu, stolz und überaus vertrauensselig waren.

Der Elterninstinkt variiert auf Gethen genauso stark wie anderswo. Man kann unmöglich verallgemeinern. Nie habe ich gesehen, daß ein Karhider ein Kind schlug, ein einziges mal habe ich erlebt, daß einer wütend ein Kind anschrie. Ihre Liebe zu den Kindern ist tief, zärtlich und beinahe ganz und gar selbstlos. Möglicherweise ist es allein diese Selbstlosigkeit, in der sie sich von dem unterscheidet, was wir als ›mütterlichen‹ Instinkt bezeichnen. Ich selbst vermute, daß der Unterschied zwischen dem mütterlichen und dem väterlichen Instinkt kaum erwähnenswert ist; der Elterninstinkt, der Wunsch, zu beschützen und zu fördern, ist ein Charakteristikum, das nicht an das Geschlecht gebunden ist…

Anfang Hakanna hörten wir in Gorinhering in den von statischem Rauschen untermalten Palastbulletins, daß König Argaven die Geburt eines Erben angekündigt habe. Nicht eines weiteren Kemmering-Sohnes, deren er bereits sieben hatte, sondern eines leiblichen Erben, eines König-Sohnes. Der König war schwanger.

Das fand nicht nur ich komisch, sondern auch die Clanmitglieder von Goringhering, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Sie sagten, er sei zu alt, um Kinder zur Welt zu bringen, und ließen sich nicht nur witzig, sondern sogar obszön darüber aus. Die Alten hörten tagelang nicht auf zu kichern. Sie lachten über den König, doch abgesehen davon, interessierten sie sich nicht besonders für ihn. ›Karhide, das sind die Domänen‹, hatte Estraven gesagt, und wie so manches, was Estraven gesagt hatte, kam mir dieser Ausspruch, während ich lernte, immer wieder in den Sinn. Dieses Land, scheinbar eine schon seit Jahrhunderten geeinte Nation, war in Wirklichkeit ein Konglomerat aus unkoordinierten Fürstentümern, Städten, Dörfern, ›pseudo-feudalen, ökonomischen Stammeseinheiten‹, ein zusammengewürfelter Haufen von weit verstreuten, starken, fähigen, streitsüchtigen Einzelexistenzen, über die, lose und unbefestigt, ein lockeres, weitmaschiges Netz von Autorität gelegt worden war. Nichts konnte, nach meiner Auffassung, Karhide jemals zu einer Nation vereinen. Sogar die weite Verbreitung schneller Kommunikationsmittel, die angeblich den Nationalismus befördern soll, hatte das nicht geschafft. Die Ökumene konnte dieses Volk nicht als soziale Einheit, als mobilisierbare Ganzheit ansprechen, sondern sie mußte an seinen starken, wenn auch unentwickelten Sinn für Humanität, für die Einigkeit der Menschheit, appellieren. Erregung packte mich, als ich darüber nachdachte. Aber natürlich täuschte ich mich. Immerhin hatte ich etwas über die Gethenianer gelernt, das sich letztlich als nützlich herausstellen sollte.

Wenn ich nicht das ganze Jahr in Alt-Karhide verbringen wollte, so mußte ich zum West Fall zurückkehren, ehe die Pässe des Kargav zugeschneit waren. Selbst hier an der Küste hatte es in diesem letzten Sommermonat zweimal leichte Schneefälle gegeben. Zögernd nur machte ich mich auf den Weg nach Westen und war Anfang Gor, dem ersten Herbstmonat wieder in Erhenrang. Argaven hatte sich inzwischen in seinen Sommerpalast in Warrever zurückgezogen und Pemmer Harge rem ir Tibe für die Dauer seiner Schwangerschaft zum Regenten ernannt. Und schon hatte Tibe damit begonnen, das Beste aus seiner Regierungszeit herauszuholen. Innerhalb weniger Stunden nach meiner Ankunft erkannte ich den Fehler, den ich bei meiner Analyse von Karhide gemacht hatte — sie war bereits überholt -, und fühlte mich in Erhenrang nicht nur unbehaglich, sondern gefährdet.

Argaven war wahnsinnig; die unheilvolle Unlogik seines Verstandes verdüsterte die Atmosphäre seiner Hauptstadt; er lebte in ständiger Furcht. Alles Positive in seiner Regierungszeit war von den Ministern und der kyorremy gekommen. Er hatte nicht viel Schaden anrichten können. Seine Kämpfe mit den eigenen Alpträumen hatten dem Königreich nicht geschadet. Sein Vetter Tibe dagegen war von einer anderen Art, sein Wahnsinn hatte Methode. Tibe wußte, wann er handeln mußte, und ebensogut wußte er, wie. Das einzige, was er nicht wußte, war, wann er aufhören mußte.

Tibe hielt zahllose Ansprachen im Radio. Das hatte Estraven, als er an der Macht war, nie getan, und es paßte auch nicht zum karhidischen Wesen: In diesem Land wurde normalerweise nicht öffentlich, sondern verborgen und indirekt regiert. Tibe dagegen redete — feierlich und unaufhörlich. Wenn ich im Rundfunk seine Stimme hörte, sah ich in Gedanken sein langzahniges Lächeln und das von einem Netz feiner Fältchen durchzogene Gesicht vor mir. Seine Ansprachen waren endlos und laut: Elogen auf Karhide, Haßtiraden auf Orgoreyn, Verunglimpfungen verräterischem Parteien, Exkurse über die ›Unverletzbarkeit der Grenzen des Königreiches‹, Lektionen über Geschichte, Ethik und Wirtschaft, und alles in einem pathetischen, winselnden, gefühlsschwangeren Tonfall, der sich gelegentlich zu schrillen Keif- oder Schmeicheltönen hob. Er redete immer wieder vom Stolz auf seine Heimat und von der Liebe zu seinem Elternland, doch kaum von shifgrethor, von persönlichem Stolz oder Prestige. Hatte Karhide bei der Sinoth-Tal-Affäre soviel Prestige verloren, daß er dieses Thema nicht aufs Tapet bringen konnte? Nein; denn über das Sinoth-Tal sprach er oft genug. Ich hatte den Eindruck, daß er das Thema shifgrethor absichtlich vermied, weil er weit elementarere, unkontrollierbare Emotionen wecken wollte. Er wollte etwas wachrufen, für das das gesamte shifgrethor-Gefüge eine Verfeinerung, dessen Sublimierung es war. Er wollte seine Zuhörer ängstigen und erzürnen. Nein, seine Themen waren nicht Liebe und Stolz, obgleich er diese Worte ständig im Munde führte; wenn er sie benutzte, bedeuteten sie Selbstbeweihräucherung und Haß. Außerdem sprach er sehr ausgiebig von der ›Wahrheit‹, er wolle mit seinem Anliegen, wie er sich ausdrückte, ›unter den Lack der Zivilisation dringen‹.

Eine recht strapazierfähige, überall anwendbare, bestechende Metapher, dieser Vergleich mit dem Lack (oder Anstrich, oder Pliofilm, oder was immer), der die darunter liegende, edlere Realität verbirgt. Man kann damit ein Dutzend Trugschlüsse auf einmal an den Mann bringen. Einer der weitaus gefährlichsten ist die Folgerung, die Zivilisation sei, da künstlich erzeugt, unnatürlich: sie sei das Gegenteil von natürlich, echt, wahr… Es gibt selbstverständlich keinen Lack, das Ganze ist ein Wachstumsprozeß; Primitivität und Zivilisation sind lediglich verschiedene Stufen einer Entwicklung. Falls es für Zivilisation ein Gegenteil gibt, dann wäre es Krieg. Von diesen beiden hat man immer nur das eine oder das andere. Niemals beide zusammen. Ich hatte jedesmal, wenn ich Tibes monoton leidenschaftliche Ansprachen hörte, den Eindruck, daß er mit Hilfe von Einschüchterung und Überredungskunst versuchte, sein Volk zur Zurücknahme einer Entscheidung zu zwingen, die es schon getroffen hatte, bevor seine Geschichte überhaupt begann: die Entscheidung bei der Wahl zwischen eben diesen beiden Gegensätzen.

Möglicherweise war die Zeit dafür jetzt reif. So langsam die materielle und technologische Weiterentwicklung auf Gethen auch vorangekommen war, so wenig die Gethenianer auch vom Fortschritt an sich hielten — sie hatten trotzdem in den vergangenen fünf, zehn oder fünfzehn Jahrhunderten der Natur einen geringen Vorsprung abgewonnen. Sie waren ihrem grausamen Klima nicht mehr so absolut auf Gnade und Ungnade ausgeliefert; eine einzige Mißernte würde nicht mehr den Hungertod einer ganzen Provinz nach sich ziehen, ein harter Winter nicht mehr jede Stadt isolieren. Auf dieser Basis materieller Stabilität hatte Orgoreyn nach und nach einen geeinten und zunehmend leistungsfähigen, zentralisierten Staat aufgebaut. Nun mußte Karhide sich zusammenreißen, um das gleiche zu tun, und die beste Methode, es dazu zu bringen, war nicht etwa, seinen Stolz zu wecken, seinen Handel zu fördern, seine Straßen, Farmen und Schulen zu verbessern oder ähnliches; keineswegs; das alles ist ja nichts als Zivilisation, also Lack, den Tibe verächtlich abtat. Nein, er wollte etwas Unfehlbares, die unfehlbare, schnellste und dauerhafteste Methode, ein Volk zu einer Nation zusammenzuschweißen: den Krieg. Seine Vorstellungen in dieser Hinsicht konnten bestimmt nicht allzu präzise sein, aber sie waren logisch. Das einzige andere Mittel, ein Volk in seiner Gesamtheit schnell zu mobilisieren, ist eine neue Religion; es war gerade keine zur Hand, also mußte er es mit dem Krieg versuchen.

Ich schickte dem Regenten einen Brief, in dem ich ihm von meiner Frage an die Weissager von Otherhord und deren Antwort darauf Mitteilung machte. Tibe reagierte nicht darauf. Da ging ich zur Orgota-Botschaft und bat um Einreiseerlaubnis nach Orgoreyn.

In den Büros der Stabilen der Ökumene auf Hain arbeiten weniger Angestellte als in dieser Botschaft des einen kleinen Landes beim anderen, und alle waren sie mit kilometerlangen Tonbändern und Aufzeichnungen bewaffnet. Sie arbeiteten langsam, sie arbeiteten gründlich; keine Spur von oberflächlicher Arroganz und dem plötzlichen Hakenschlagen, die die karhidische Bürokratie kennzeichnen. Sie füllten gewissenhaft ihre Formulare aus, und ich wartete.

Das Warten wurde ziemlich unbehaglich. Mit jedem Tag schien sich die Anzahl der Palastwachen und der Stadtpolizisten in den Straßen von Erhenrang zu vervielfachen; sie waren bewaffnet und entwickelten sogar eine Art Uniform. Die Atmosphäre in der Stadt war düster, obgleich die Geschäfte prächtig gediehen, der Wohlstand allgemein verbreitet und das Wetter schön war. Niemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Meine ›Zimmerwirtin‹ führte niemanden mehr voll Stolz durch mein Zimmer, sondern beschwerte sich über die ›Leute aus dem Palast‹, die sie belästigten, und behandelte mich dieserhalb nun weniger wie eine hochgeehrte Attraktion, sondern eher wie einen politisch Verdächtigen. Tibe hielt eine Rede über einen Streit im Sinoth-Tal: tapfere karhidische Farmer, echte Patrioten^ waren über die Grenze südlich von Sassinoth vorgestoßen, hatten ein Orgotadorf überfallen, es niedergebrannt, neun Dorfbewohner getötet und dann die Leichen mit zurückgeschleppt, um sie in den Ey-Fluß zu werfen — ›ein Grab‹, so der Regent, ›wie es allen Feinden unserer Nation zuteil werden wird‹! Ich hörte diese Rundfunkübertragung, als ich im Speisesaal meiner Insel saß. Manche Leute machten ein grimmiges Gesicht, während sie lauschten, andere wirkten uninteressiert, wieder andere höchst zufrieden; in allen Gesichtern jedoch, so verschieden ihre Mienen auch sein mochten, gab es ein gemeinsames Element, einen kleinen Tic, einen Muskelkrampf, der vorher nicht da gewesen war: einen Ausdruck von Besorgnis.

Am selben Abend noch hatte ich in meinem Zimmer einen Besucher — den ersten seit meiner Rückkehr nach Erhenrang. Es war ein zierlicher, scheuer Mann mit glatter Haut, der die Goldkette eines Weissagers trug: einer der Zölibatäre.»Ich bin der Freund eines Mannes, der Ihnen Freundschaft gegeben hat«, sagte er mit jener Schroffheit, die typisch für die Schüchternen ist.»Ich bin gekommen, Sie um einen Gefallen zu bitten — für ihn.«

»Meinen Sie Faxe?«

»Nein. Estraven.«

Anscheinend war der zuvorkommende Ausdruck auf meinem Gesicht verschwunden. Es gab eine kleine Pause; dann sagte der Fremde:»Estraven, der Verräter. Vielleicht erinnern Sie sich an ihn.«

Zorn hatte seine Befangenheit verdrängt, und eindeutig beabsichtigte er jetzt, shifgrethor mit mir zu spielen. Wollte ich mitspielen, mußte ich jetzt etwa sagen: ›Ich bin nicht ganz sicher; erzählen Sie mir Näheres über ihn.‹ Aber ich wollte nicht mitspielen und hatte mich außerdem inzwischen an das vulkanische Temperament der Karhider gewöhnt. Also begegnete ich seinem Zorn mit Geringschätzung und sagte:»Gewiß erinnere ich mich.«

»Aber nicht mit Freundschaft.«Seine dunklen, schräg abwärts gestellten Augen blickten offen und durchdringend.

»Nun ja, vielleicht eher mit Dankbarkeit und Enttäuschung. Hat er Sie zu mir geschickt?«

»Nein, das hat er nicht.«

Ich erwartete, daß er sich näher erklären würde.

Aber er sagte:»Verzeihen Sie. Ich war vermessen; ich akzeptiere, was mir die Vermessenheit eingebracht hat.«

Ich hielt den steifen, kleinen Burschen auf, als er sich schon der Tür zuwandte.»Aber bitte: Ich weiß weder, wer Sie sind, noch was Sie von mir wollen. Ich habe mich nicht geweigert, ich habe lediglich nicht zugesagt. Dieses Recht müssen Sie mir doch als angebrachte Vorsichtsmaßnahme zugestehen. Estraven wurde verbannt, weil er meine Mission in diesem Land unterstützte…«

»Sind Sie der Ansicht, daß Sie dafür in seiner Schuld stehen?«

»In gewissem Sinne — ja. Doch die Mission, in der ich hierher gekommen bin, ist wichtiger als alle persönlichen Schulden und Treueverhältnisse.«

»Wenn das so ist«, entgegnete der Fremde hitzig, aber bestimmt,»dann ist es eine unmoralische Mission.«

Das verschlug mir den Atem. Er sprach wie ein Vertreter der Ökumene, und ich fand keine Antwort darauf.»Das glaube ich eigentlich nicht«, sagte ich schließlich.»Die Unzulänglichkeit liegt wohl beim Boten, nicht in der Botschaft. Doch bitte erklären Sie mir jetzt, um was Sie mich bitten wollten.«

»Ich habe bestimmte Gelder, Mieteinnahmen und Schuldzurückzahlungen, in meinem Besitz, die ich aus den Trümmern des Vermögens meines Freundes retten konnte. Da ich hörte, daß Sie nach Orgoreyn reisen, wollte ich Sie bitten, ihm dieses Geld zu geben, falls Sie ihn finden. Wie Sie bestimmt wissen, wäre das eine strafbare Handlung. Außerdem wäre sie vielleicht umsonst. Er kann in Mishnory sein, er kann auf einer dieser verdammten Farmen sein, er kann aber auch tot sein. Das festzustellen, habe ich keine Möglichkeit. Ich habe keine Freunde in Orgoreyn, und auch niemanden hier, den ich darum zu bitten wage. Ich stellte mir vor, daß Sie jemand wären, der über der Politik steht, der kommen und gehen kann, wie er will. Daß Sie Ihre eigene Politik verfolgen, daran hatte ich allerdings nicht gedacht. Ich entschuldige mich für meine Dummheit.«

»Ich werde das Geld mitnehmen. Wenn er aber tot oder unauffindbar ist — an wen soll ich es dann zurücksenden?«

Er starrte mich an. In seinem Gesicht arbeitete es, und er schluckte. Die meisten Karhider weinen sehr leicht; sie schämen sich ihrer Tränen ebenso wenig, wie sie sich ihres Lachens schämen.»Ich danke Ihnen«, sagte er.»Mein Name ist Foreth. Ich bin ein Bewohner der Festung Orgny.«

»Gehören Sie zu Estravens Clan?«

»Nein. Foreth rem ir Osboth: Ich war sein Kemmering.«

Als ich Estraven kannte, hatte er keinen Kemmering gehabt, aber ich konnte einfach kein Mißtrauen gegen diesen Burschen hegen. Er wurde vielleicht, ohne es zu wissen, von anderen für ihre Zwecke benutzt, er selber aber war aufrichtig. Und hatte mir überdies eine Lehre erteilt: daß man shifgrethor auch auf dem Gebiet der Ethik spielen kann, und daß der bessere Spieler gewinnt. Er hatte mich mit zwei Zügen in die Enge getrieben.

Er hatte das Geld bei sich und überreichte es mir: eine beträchtliche Summe in Königlich-Karhidischen- Handelskreditnoten, die mich nicht inkriminieren, mich aber auch nicht hindern konnten, sie einfach auszugeben.

»Wenn Sie ihn finden…«Er stockte.

»Eine Nachricht?«

»Nein. Nur, wenn ich wüßte…«

»Wenn ich ihn finde, werde ich versuchen, Ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen.«

»Danke«, sagte er und streckte mir beide Hände entgegen — eine Freundschaftsgeste, die Karhider nur sehr selten machen.»Ich wünsche Ihnen Erfolg mit Ihrer Mission, Mr. Ai. Er — Estraven — hat fest daran geglaubt, daß Sie hierhergekommen sind, um Gutes zu wirken, das weiß ich. Er hat von ganzem Herzen daran geglaubt.«

Für diesen jungen Mann gab es auf der ganzen Welt nichts außer Estraven. Er gehörte zu denjenigen, die dazu verdammt sind, nur einmal zu lieben. Ich fragte ihn noch einmal:»Wollen Sie ihm denn gar nichts ausrichten lassen?«

»Sagen Sie ihm, daß es den Kindern gutgeht«, erwiderte er nun zögernd. Und dann: »Nusuth, unwichtig.«Er ging.

Zwei Tage später verließ ich Erhenrang — dieses mal auf der Nordweststraße und zu Fuß. Meine Einreiseerlaubnis für Orgoreyn war weit eher eingetroffen als ich es nach dem Verhalten der Angestellten und Beamten der Orgota-Botschaft erwartet hatte, ja als sie es selber anscheinend erwartet hatten; als ich die Papiere abholen wollte, behandelten sie mich mit einem gewissen giftigen Respekt, wohl weil man auf Veranlassung irgendeiner einflußreichen Persönlichkeit das Protokoll und sämtliche Vorschriften meinetwegen einfach beiseitegeschoben hatte. Da es in Karhide überhaupt keine Vorschriften über das Verlassen des Landes gibt, machte ich mich augenblicklich auf den Weg. Während des Sommers hatte ich gelernt, wie angenehm es sein kann, in Karhide zu wandern. Straßen und Gasthäuser sind nicht nur für Motorfahrzeuge, sondern auch für den Fußverkehr eingerichtet, und wo es einmal kein Gasthaus gibt, kann man sich getrost auf das Gesetz der Gastfreundschaft verlassen. Die Bewohner der Co-Domänen, die Dörfler, Farmer und Domänenherren gewähren jedem Reisenden Nahrung und Unterkunft: drei Tage lang nach dem Gesetz, in der Praxis jedoch viel länger. Und was das beste ist: Man wird überall ohne Aufhebens empfangen und willkommen geheißen, als wäre man schon erwartet worden.

Auf Schlängelpfaden zog ich durch das herrliche, sanft ansteigende Land zwischen Sess und Ey, nahm mir viel Zeit und arbeitete auch wohl einmal für mein Essen auf den Feldern der großen Domänen, wo gerade die Ernte eingebracht und jede Hand, jedes Werkzeug und jede Maschine gebraucht wurde, damit die goldenen Felder geschnitten werden konnten, bevor das Wetter umschlug. Sie war ganz und gar golden, ganz und gar freundlich, diese Woche meiner Wanderung, und des Abends, bevor ich schlafen ging, trat ich noch einmal aus dem dunklen Bauernhaus oder der vom Feuer erleuchteten Herdhalle, wo ich untergebracht war, in die Nacht hinaus, um ein stückweit über die trockenen Stoppeln zu wandern und zu den Sternen hinaufzuschauen, die in der windgefegten Herbstdunkelheit wie ferne Städte leuchteten.

Es fiel mir tatsächlich schwer, dieses Land zu verlassen, das zwar dem Gesandten gegenüber so gleichgültig, dem Fremden gegenüber jedoch so freundlich war. Ich mochte nicht noch einmal von vorn anfangen, noch einmal versuchen, meine Botschaft wieder in einer neuen Sprache neuen Zuhörern zu erläutern, um dann vielleicht noch einmal zu versagen. So wanderte ich mehr nach Norden als nach Westen und rechtfertigte diesen Kurs mit meinem Wunsch, das Sinoth-Tal, den Schauplatz der Rivalität zwischen Karhide und Orgoreyn, zu sehen. Obgleich das Wetter immer noch schön blieb, wurde es langsam kälter, und schließlich drehte ich, noch ehe ich Sassinoth erreichte, nach Westen ab, weil mir nämlich eingefallen war, daß dort ein Zaun die Grenze bildete und ich an dieser Stelle womöglich nicht so einfach aus Karhide hinauskam. Hier dagegen bildete der Ey die Grenze, ein schmaler, aber wilder Fluß, und, wie alle Flüsse des Großen Kontinents, von einem Gletscher gespeist. Auf der Suche nach einer Brücke, marschierte ich wieder mehrere Meilen nach Süden zurück, und fand schließlich eine, die zwei kleine Dörfer verband: Passerer auf der Karhide-Seite und Siuwensin in Orgoreyn. Verschlafen starrten sie einander über den Ey hinweg an.

Der Karhidische Brückenwärter fragte mich lediglich, ob ich beabsichtige, noch in dieser Nacht zurückzukehren, und winkte mir dann, ich könne hinübergehen. Auf der Orgota-Seite wurde ein Inspektor herausgerufen, der meinen Paß und meine Papiere inspizierte und dafür eine ganze Stunde benötigte — eine karhidische Stunde! Er zog meinen Paß ein, erklärte mir, ich könne ihn mir am nächsten Morgen abholen, und gab mir dafür ein Permiso für Mahlzeiten und Unterkunft im Commensal-Passantenhaus von Siuwensin. Eine weitere Stunde verbrachte ich im Büro des Verwalters dieses Passanten-Hauses, während der Verwalter meine Papiere prüfte und sich per Telefongespräch mit dem Inspektor der Commensal-Grenzstation, von der ich gerade kam, von der Echtheit meines Permiso überzeugte.

Es ist mir unmöglich, das Orgota-Wort, das hier als ›Commensal‹, ›Commensalität‹ wiedergegeben wird, präzise zu definieren. Seine Wurzel ist ein Wort, das ›zusammen essen‹ bedeutet. Es wird auf alle nationalen, beziehungsweise Regierungsinstitutionen von Orgoreyn angewendet, vom Staat als Ganzheit über die dreiunddreißig Substaaten oder Distrikte, aus denen er besteht, bis zu den Sub-Substaaten, den Stadtgemeinden, den Kommunalfarmen, Minen, Fabriken und so weiter, aus denen wiederum jene bestehen. Als Adjektiv wird es für alle oben genannten Institutionen benutzt. In der Form ›die Commensalen‹ bezieht es sich gewöhnlich auf die dreiunddreißig Distriktdirektoren, die die Regierung, die Exekutive und Legislative, der Großcommensalität Orgoreyn bilden, kann sich aber auch auf die Bürger, das Volk selbst beziehen. In dieser fehlenden Unterscheidung zwischen der allgemeinen und der spezifischen Anwendung des Wortes, in dem Gebrauch desselben für sowohl das Ganze als auch dessen Teile, für den Staat und das Individuum, in dieser Ungenauigkeit liegt seine präziseste Bedeutung.

Endlich wurden meine Papiere wie auch meine Anwesenheit akzeptiert und ich erhielt zur vierten Stunde die erste Mahlzeit seit dem Frühstück — das Abendessen: kadik-Brei und kalte Brotapfelscheiben. Trotz seines großen Aufgebots von Beamten war Siuwensin ein kleiner, primitiver Ort, der schon tief im ländlichen Winterschlaf versunken war. Das Commensal-Passantenhaus war kürzer als sein Name. Der Speiseraum hatte nur einen Tisch, fünf Stühle und kein Feuer; das Essen wurde von der Garküche des Dorfes herübergebracht. Der zweite Raum war der Schlafsaal: sechs Betten, eine Menge Staub und etwas Meltau. Ich hatte ihn für mich allein. Da alle Bewohner von Siuwensin anscheinend gleich nach dem Essen zu Bett gegangen waren, tat ich das gleiche. Umgeben von dieser ganz eigenen ländlichen Stille, in der einem die Ohren rauschen, schlief ich ein. Ich schlief eine Stunde und erwachte in den Klauen eines Alptraums von Gewalt, Explosionen, Totschlag, Geschrei und Feuer.

Es war ein unglaublich scheußlicher Traum, von der Art, in denen man mit zahllosen anderen Leuten, die keine Gesichter haben, im Dunkeln eine unbekannte Straße entlangläuft, während hinter einem Häuser in Flammen aufgehen und Kinder schreien.

Ich fand mich auf freiem Feld wieder, einem Stoppelacker, unter einer schwarzen Hecke. Durch die Wolken am Himmel schimmerten der mattrote Halbmond und einige Sterne. Der Wind war bitter kalt. Neben mir ragte eine große Scheune oder ein Kornspeicher in die Nacht, und in der Ferne dahinter sah ich im Wind kleine Funkenbündel aufstieben.

Ich stand da, barfuß, im Hemd, ohne Kniehose, Hieb oder Mantel; aber ich hatte mein Bündel bei mir, und das enthielt nicht nur Reservekleidung, sondern darüber hinaus meine Rubine, mein Bargeld, meine Dokumente, meine Papiere und meinen Ansible. Auf Reisen benutze ich es stets als Kopfkissen. Anscheinend lasse ich es nicht einmal in meinen Träumen aus der Hand. Ich holte Schuhe, Hose und meinen pelzgefütterten Winterhieb heraus und zog mich in der kalten, dunklen Stille der Landschaft an, während eine halbe Meile hinter mir Siuwensin verbrannte. Dann machte ich mich auf die Suche nach einer Straße und fand auch eine, auf der außer mir noch andere Menschen zogen — Flüchtlinge wie ich, nur, daß sie wußten, wohin sie gingen. Ich folgte ihnen, denn ich hatte kein festes Ziel — nur den Wunsch, nicht nach Siuwensin zurückzukehren, das, wie ich aus ihren Bemerkungen während des Marsches schloß, Ziel eines Überfalls von Passerer auf der anderen Seite der Brücke gewesen war.

Sie hatten zugeschlagen, Feuer gelegt und sich wieder zurückgezogen; Widerstand hatte es nicht gegeben, es kam alles zu überraschend. Plötzlich kamen in der Dunkelheit Lichter auf uns zu, und als wir hastig an den Wegrand auswichen, jagte eine Landkarawane aus zwanzig Lastwagen mit Spitzengeschwindigkeit heran und rauschte unter zwanzigfachem Scheinwerfergleißen und Räderzischen an uns vorbei. Dann herrschten wieder Stille und Dunkelheit.

Nicht lange darauf erreichten wir ein Kommunalfarmzentrum, wo wir angehalten und ausgefragt wurden. Ich versuchte bei der Gruppe zu bleiben, der ich schon bis hierher gefolgt war, hatte aber kein Glück damit. Die übrigen waren allerdings auch nicht glücklicher daran, da sie ihre Personalpapiere nicht vorzeigen konnten. Mit ihnen zusammen wurde ich, der Ausländer ohne Paß, aus der Herde ausgesondert und für den Rest der Nacht in einer Vorratsscheune untergebracht, einem riesigen Halbkeller aus Stein ganz ohne Fenster und einer einzigen Tür, die von außen verriegelt wurde. Dann und wann wurde die Tür geöffnet, und ein mit einem gethenianischen Schallgewehr bewaffneter Farmpolizist stieß einen weiteren Flüchtling herein. Sobald die Tür geschlossen war, herrschte wieder totale Finsternis: kein Licht. Meine Augen, jeder Sicht beraubt, schossen Leuchtraketen und funkelnde Sterne durch die Schwärze. Die Luft war kalt und durchsetzt mit Staub und dem Geruch von Getreide. Niemand hatte eine Handlampe; die anderen waren ebenso plötzlich aus ihren Betten gescheucht worden wie ich. Ein paar waren sogar buchstäblich nackt und hatten erst unterwegs von Leidensgenossen Decken oder Kleidungsstücke bekommen. Sonst hatten sie nichts. Hätten sie etwas gehabt, dann wären das ihre Papiere gewesen. In Orgoreyn läuft man besser nackt als ohne Papiere herum.

Sie saßen weit verteilt in dieser weiten, staubigen Dunkelheit. Manchmal unterhielten sich zwei eine Zeitlang im Flüsterton. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl gemeinsamer Gefangenschaft gab es nicht. Ebenso wenig gab es Klagen.

Einmal hörte ich jemanden zu meiner Linken wispern:»Ich habe ihn gesehen, auf der Straße, direkt vor meiner Tür. Sie haben ihm den Kopf weggeschossen.«

»Ja, ja, sie schießen mit diesen Gewehren, die kleine Metallstücke abfeuern. Streitgewehre.«

»Tiena behauptet, daß sie gar nicht von Passerer, sondern mit Lastwagen von der Ovord-Domäne gekommen sind.«

»Aber es gibt doch gar keinen Streit zwischen Ovord und Siuwensin…«

Sie begriffen nicht; sie klagten nicht. Sie protestierten nicht einmal dagegen, daß sie von ihren Mitbürgern in einen Keller eingesperrt worden waren, nachdem man sie mit Waffengewalt und Mordbrennerei aus ihren Häusern verjagt hatte. Sie suchten nicht nach Gründen für das, was ihnen zugestoßen war. Das Flüstern im Dunkeln, ohnehin nur selten und sehr ruhig, leise Worte in der weichen Orgota-Sprache, neben der Karhidisch klingt wie eine Gießkanne voll Kieselsteine, hörte allmählich auf. Die Leute schliefen. Nur ein Baby gab noch keine Ruhe; es weinte, weit hinten in der Dunkelheit, weil es sich vor dem Echo seines Weinens fürchtete.

Die Tür öffnete sich quietschend, und es war hellichter Tag. Die Sonne schnitt mir wie mit Messern in die Augen — blendend und unerträglich grell. Benommen stolperte ich hinter den anderen her ins Freie und wollte ihnen automatisch folgen, als ich meinen Namen hörte. Ich hätte ihn beinahe nicht erkannt, denn die Orgota können das ›1‹ aussprechen. Irgend jemand hatte, nachdem die Tür aufgeschlossen worden war, immer wieder nach mir gerufen.

»Bitte, hier entlang, Mr. Ai«, forderte mich ein gehetzt wirkender Mann in Rot höflich auf, und plötzlich war ich kein Flüchtling mehr. Ich wurde erhoben über diese Namenlosen, mit denen ich die dunkle Straße entlanggeflohen war, und deren Identitätslosigkeit ich die ganze Nacht lang in jenem dunklen Gefängnis geteilt hatte. Ich hatte einen Namen, ich war bekannt, akzeptiert; ich existierte. Das war eine ungeheure Erleichterung. Ich folgte der Aufforderung des Mannes in Rot mit Freuden.

Im Büro der Ortscommensal-Farmzentralität herrschte eine hektische, erregte Atmosphäre, aber man nahm sich Zeit, sich um mich zu kümmern, und entschuldigte sich bei mir für die Unbequemlichkeiten der vergangenen Nacht.»Wenn Sie die Commensalität nur nicht ausgerechnet bei Siuwensin betreten hätten!«jammerte ein dicker Inspektor.»Wenn Sie sich nur an die üblichen Straßen gehalten hätten!«Man wußte weder, wer ich war, noch warum mir diese Sonderbehandlung zuteil wurde; die allgemeine Unkenntnis trat deutlich zutage, spielte aber überhaupt keine Rolle. Genly Ai, der Gesandte, war als bedeutende Persönlichkeit zu behandeln, und so behandelte man mich auch. Am Nachmittag schon war ich unterwegs nach Mishnory — in einem Wagen, den mir die Commensal- Farmzentralität Ost-Homsvashom, achter Distrikt, zur Verfügung gestellt hatte. Ich hatte einen neuen Paß, einen Freischein für alle Passantenhäuser an meiner Route und eine telegraphische Einladung in die Mish’nory-Residenz des Ersten Commensal-Distriktkommissars für Einreise-Straßen und -Häfen.

Das Radio des kleinen Wagens schaltete sich gleichzeitig mit dem Motor ein und lief, solange der Wagen fuhr, so daß ich den ganzen Nachmittag hindurch die Rundfunksendungen hörte, während ich durch die weiten, flachen Getreideanbaugebiete Ost-Orgoreyns rollte, wo es, weil keine Viehherden, auch keine Zäune, dafür aber zahllose Flußläufe gab. Das Radio informierte mich über das Wetter, die Ernte, den Straßenzustand; sie ermahnten mich, vorsichtig zu fahren; sie brachten die verschiedensten Nachrichten aus allen dreiunddreißig Distrikten, meldeten den Ausstoß der verschiedensten Fabriken, berichteten über den Reedereibetrieb in den verschiedenen See- und Flußhäfen; sie unterhielten mich mit ein paar Yomesh-Gesängen und informierten mich dann wieder über das Wetter. Nach all den pathetischen Reden, die ich in Erhenrang über das Radio zu hören bekommen hatte, kam mir das alles überaus zurückhaltend vor. Der Überfall auf Siuwensin wurde mit keinem Wort erwähnt; die Regierung von Orgoreyn wollte offenbar eher jede Erregung vermeiden, statt sie zu schüren. Ein kurzes, offizielles Bulletin, das in regelmäßigen Abständen wiederholt wurde, erklärte lediglich, daß die Ordnung an der Ostgrenze aufrechterhalten werde und bleibe. Das gefiel mir; es klang beruhigend und nicht provozierend und besaß jene gelassene Härte, die ich an den Gethenianern schon immer bewundert hatte: die Ordnung wird aufrechterhalten… Jetzt war ich froh, Karhide hinter mir gelassen zu haben, dieses zerrissene Land, das von einem paranoiden, schwangeren König und einem egomanischen Regenten zur Gewalttätigkeit aufgehetzt wurde. Ich war froh, in einem Wagen zu sitzen und ruhig, mit einer Stundengeschwindigkeit von fünfundzwanzig Meilen, unter einem gleichmäßig grauen Himmel durch weite, von geraden Furchen durchzogene Kornfelder einer Hauptstadt entgegenzufahren, deren Regierung an die Ordnung glaubte.

Die Straße war ausgezeichnet beschildert (ganz anders als in Karhide, wo es keine Wegweiser gab und man die Richtung, die man einzuschlagen hatte, entweder erraten oder erfragen mußte), und sogar mit Hinweisen auf die Inspektionsstation dieser oder jener Commensalregion versehen; an diesen inneren Zollhäusern mußte man seine Personalpapiere vorzeigen und seine Durchfahrt registrieren lassen. Meine Papiere passierten alle Kontrollen, ich wurde nach einem kaum nennenswerten Aufenthalt höflich weitergewinkt und erhielt darüber hinaus höfliche Auskunft, wie weit es, falls ich essen oder schlafen wollte, zum nächsten Passantenhaus sei. Bei einer Stundengeschwindigkeit von fünfundzwanzig Meilen ist es ein langer Weg vom Nordfall bis nach Mishnory, so daß ich zweimal unterwegs übernachten mußte. Das Essen in den Passantenhäusern war langweilig, aber reichlich, die Unterbringung anständig, nur ohne jede Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Letzteres wurde allerdings durch die Zurückhaltung meiner Mitreisenden zu einem gewissen Grade wettgemacht. Ich schloß bei keiner meiner Übernachtungen eine Bekanntschaft, ja, konnte nicht einmal ein Gespräch anknüpfen, obgleich ich es mehrere Male versuchte. Die Orgota schienen zwar kein unfreundliches, aber auch kein neugieriges Volk zu sein; sie waren farblos, ruhig, verhalten. Ich mochte sie. In Karhide hatte ich zwei Jahre lang Farbe, Temperament und Leidenschaft genossen. Eine Abwechslung war mir willkommen.

Am Ostufer des großen Kunderer-Stromes entlang, gelangte ich am späten Vormittag des dritten Tages meiner Reise durch Orgoreyn nach Mishnory, der größten Hauptstadt dieser Welt.

Im schwachen Licht der Sonne, die ab und zu zwischen herbstlichen Regenschauern durchbrach, wirkte die Stadt sonderbar: nur nackte Steinwände, in denen die vereinzelten, schmalen Fenster viel zu hoch oben saßen, breite Straßen, in denen die Menschen wie Zwerge wirkten, Straßenlampen auf lächerlich hohen Laternenpfählen, Dächer, so steil wie betende Hände, Remisendächer, die wie riesige, sinnlose Bücherregale sechs Meter weit über dem Boden aus den Hauswänden ragten — im Sonnenlicht eine unproportionierte, groteske Stadt. Aber sie war auch nicht für das Sonnenlicht gebaut. Sie war für den Winter gebaut. Im Winter, wenn diese Straßen drei Meter hoch mit fest gepacktem, hart gewalztem Schnee bedeckt sind, wenn Eiszapfen an den steilen Dächern hängen, wenn Schlitten unter den Remisendächern parken und die schmalen Fensterschlitze gelblich durch den dahintreibenden Schneeregen schimmern — im Winter würde ein jeder die Zweckmäßigkeit dieser Stadt, ihre sinnvolle Architektur und ihre Schönheit erkennen.

Mishnory war sauberer, größer und heller als Erhenrang: es war weiträumig, offen und eindrucksvoll. Große Gebäude aus gelblich-weißem Stein beherrschten das Stadtbild, schlichte, stattliche Häuserblocks, alle nach einem Schema errichtet, die nicht nur die Büros und Amtsstellen der Commensalregierung beherbergten, sondern auch die Haupttempel des Yomeshkults, der von der Commensalität gefördert wird. Es gab weder Unordnung noch Verwirrung, und auch nicht das Gefühl, überall unter dem Schatten von etwas Hohem, Düsterem zu stehen, wie ich es in Erhenrang kennengelernt hatte; hier war alles schlicht aber großzügig angelegt. Ich fühlte mich, als wäre ich aus einem dunklen Zeitalter gekommen, und wünschte, nicht ganze zwei Jahre in Karhide vertan zu haben. Dieses Land hier sah wirklich aus, als wäre es bereit, ins Zeitalter der Ökumene einzutreten.

Ich fuhr eine Weile in der Stadt herum, gab dann den Wagen im entsprechenden Regionalbüro ab und ging zu Fuß zur Residenz des Ersten Commensal-Distriktkommissars für Einreise-Straßen und -Häfen. Ich habe nie genau feststellen können, ob es sich bei dieser Einladung um eine Bitte oder einen höflich formulierten Befehl handelte. Nusuth. Ich war nach Orgoreyn gekommen, um für die Ökumene zu sprechen, und konnte damit genausogut hier wie anderswo beginnen.

Meine Vorstellung von Orgota-Phlegma und -Zurückhaltung wurde von Kommissar Shusgis gründlich zerstört: lächelnd und mich laut begrüßend kam er auf mich zu, ergriff mit einer Geste, die die Karhider nur in Augenblicken äußerster persönlicher Emotion anwenden würden, meine beiden Hände, schüttelte sie so heftig, als wollte er mich wie einen Motor in Gang bringen, und brüllte einen Willkommensgruß für den Botschafter der Ökumene der bekannten Welten in Gethen.

Das war eine Überraschung für mich, denn nicht einer der zwölf oder vierzehn Inspektoren, die meine Papiere studiert haben mußten, hatte sich anmerken lassen, ob ihm mein Name oder die Bezeichnungen Gesandter oder Ökumene bekannt waren, während sämtliche Karhider, die ich kennengelernt hatte, wenigstens vage damit vertraut gewesen waren. Daraus hatte ich geschlossen, daß Karhide eine Übernahme der Sendungen, die mich betrafen, durch Orgota-Stationen erfolgreich verhindert und alles getan hatte, um aus meiner Anwesenheit ein nationales Geheimnis zu machen.

»Nicht Botschafter, Mr. Shusgis. Nur Gesandter.«

»Dann eben zukünftiger Botschafter. Jawohl, bei Meshe!«Shusgis, ein kräftiger, stets freudestrahlender Mann, maß mich von Kopf bis Fuß und lachte abermals.»Sie sind ganz anders, als ich erwartet hatte, Mr. Ai! Ganz und gar anders. So groß wie ein Laternenpfahl, habe ich gehört, so dünn wie eine Schlittenkufe, pechschwarz und schlitzäugig. Einen Eisoger hatte ich erwartet, ein Ungeheuer! Nichts davon stimmt. Nur, daß Sie dunkler sind als die meisten von uns.«

»Erdfarben«, erklärte ich.

»Und Sie waren in der Nacht des Überfalls in Siuwensin? Bei Meshes Brüsten! In was für einer Welt wir doch leben! Sie hätten beim Übergang über die Ey-Brücke getötet werden können, und das, nachdem sie den ganzen Weltraum durchquert haben, um hierherzukommen. Na ja, nun sind Sie ja glücklich angelangt. Und so viele Menschen möchten Sie sehen, und hören, und sie endlich in Orgoreyn willkommen heißen!«

Er brachte mich auf der Stelle, keine Widerrede, in einer Wohnung seines Hauses unter. Als hoher Beamter und reicher Mann lebte er in einem Stil, für den in Karhide kein Äquivalent existiert, nicht einmal unter den Herren der großen Domänen. Shusgis’-Haus war eine ganze Insel, in der zwar über hundert Angestellte, Bedienstete, Büroarbeiter, technische Berater und so weiter wohnten, aber kein einziger Verwandter, keine Familienangehörigen. In Orgoreyn ist das System der erweiterten Familienclans, der Herde und Domänen innerhalb der Commensalstruktur nur noch vage erkennbar und schon von mehreren hundert Jahren nationalisierte worden. Kein Kind, das über ein Jahr alt ist, lebt mit dem einen oder gar mit beiden Elternteilen zusammen; sie werden samt und sonders in den Commensal-Herden großgezogen. Erbliche Titel gibt es nicht. Private Testamente sind ungesetzlich: Wer stirbt, hinterläßt sein Vermögen dem Staat. Alle haben den gleichen Start. Doch offensichtlich kommen sie nicht alle gleich schnell voran. Shusgis war reich, und sehr großzügig mit seinem Reichtum. Mein Zimmer war mit einem Luxus ausgestattet, den ich auf Winter nicht für möglich gehalten hätte. So gab es zum Beispiel eine Dusche. Es gab einen elektrischen Heizofen und einen Kamin, in dem ein Höllenfeuer prasselte, Shusgis lachte.»Man hat mir gesagt, mach’ es dem Gesandten schön warm, er kommt von einer heißen Welt, von einem wahren Ofen von Welt, und kann unsere Kälte nicht ertragen. Behandle ihn, als wäre er schwanger, tu’ Pelze auf sein Bett und Heizöfen in sein Zimmer, gib ihm warmes Waschwasser und halte seine Fenster geschlossen. Ist es richtig so? Ist es Ihnen bequem genug? Bitte, sagen Sie mir, was Sie sonst noch gern hätten!«

Bequem! In Karhide hatte man mich nie, bei keiner einzigen Gelegenheit danach gefragt, ob es mir bequem genug sei.

»Mr. Shusgis«, sagte ich herzlich,»ich fühle mich jetzt schon hier wie zu Hause.«

Er war erst zufrieden, als er mir noch eine pesthry-Pelzdecke aufs Bett gelegt und noch mehr Scheite in den Kamin geschoben hatte.»Ich weiß, wie das ist«, stellte er fest.»Als ich schwanger war, konnte ich es nicht warm genug haben. Ständig waren meine Füße wie Eis, und den ganzen Winter lang hockte ich vor dem Feuer. Das ist natürlich schon lange her, aber ich erinnere mich noch gut daran.«Die Gethenianer bekommen ihre Kinder meist, wenn sie noch jung sind; sobald sie die fünfundzwanzig oder so hinter sich haben, benutzen sie empfängnisverhütende Mittel, und um die vierzig herum werden sie in der weiblichen Phase unfruchtbar. Shusgis war in den Fünfzigern, daher sein ›das ist natürlich schon lange her‹, und es fiel mir schwer, mir ihn als junge Mutter vorzustellen. Er war ein harter, gerissener Politiker, dessen Liebenswürdigkeit ausschließlich dem eigenen Interesse diente, und dem Interesse einzig der eigenen Person galt. Dieser Typ ist panhuman. Ich war ihm auf der Erde begegnet, auf Hain und auf Ollul. Ich bin überzeugt, daß ich ihm auch in der Hölle begegnen werde.

»Sie sind über mein Aussehen und meine Gewohnheiten ausgezeichnet informiert, Mr. Shusgis. Ich fühle mich sehr geschmeichelt; ich hätte nicht gedacht, daß mir mein Ruf vorausgeeilt ist.«

Er verstand, was ich damit sagen wollte.»Nein«, antwortete er,»man hätte Sie in Erhenrang ebensogut unter eine Schneewehe begraben können, wie? Aber man hat Sie gehen lassen; man hat Sie gehen lassen, und daran haben wir erkannt, daß Sie nicht einfach einer von diesen karhidischen Wahnsinnigen sind, sondern echt.«

»Ich glaube, ich kann Ihnen nicht recht folgen.«

»Nun, Argaven und seine Leute hatten Angst vor Ihnen, Mr. Ai — Angst vor Ihnen, und waren froh, als Sie ihrem Land den Rücken kehrten. Sie fürchteten, daß Vergeltung geübt würde, wenn Sie mißhandelt oder zum Schweigen gebracht würden. Ein Überfall aus dem Weltraum. Deswegen wagten sie es nicht, Hand an Sie zu legen. Deswegen versuchten sie, alles über Sie geheimzuhalten. Weil sie vor Ihnen und dem, was Sie Gethen bringen, Angst hatten.«

Das war übertrieben. Man hatte mich in den karhidischen Nachrichten keineswegs totgeschwiegen, wenigstens nicht, solange Estraven noch selbst regierte. Aber ich hatte bereits den Eindruck, daß in Orgoreyn alle Nachrichten über mich aus demselben Grund nicht weit herumkamen, und Shusgis bestätigte meinen Verdacht.

»Dann haben Sie also keine Angst vor dem, was ich Gethen bringe?«

»Nein, wir nicht!«

»Ich manchmal schon.«

Es beliebte ihm, darüber zu lachen. Ich erläuterte meine Worte nicht. Ich bin kein Verkäufer, ich verkaufe nicht Fortschritt an die Abos. Wir müssen uns als gleichwertige Partner gegenüberstehen, in gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Offenheit, sonst brauche ich mit meiner Mission gar nicht erst anzufangen.

»Mr. Ai, eine Menge Leute warten gespannt darauf, Sie kennenzulernen, die großen Tiere wie die kleinen, und darunter auch einige, mit denen Sie selbst gern sprechen möchten — diejenigen, die Einfluß haben. Ich habe um die Ehre gebeten, Ihr Gastgeber sein zu dürfen, weil ich ein großes Haus besitze, und weil ich überall als neutral bekannt bin; ich bin weder ein Anhänger der Dominations- noch einer der Freihandelspartei, sondern einfach ein schlichter Kommissar, der seine Pflicht tut und verhindert, daß man über die Wahl des Hauses tuschelt, in dem Sie absteigen.«

Er lachte.»Aber das bedeutet, daß Sie recht häufig an Einladungen teilnehmen müssen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«

»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, Mr. Shusgis.«

»Dann werden wir heute abend zu einem kleinen Essen bei Vanake Slose erscheinen.«

»Dem Commensalen von Kuwera, dritter Distrikt, nicht wahr?«Ich hatte; bevor ich herkam, meine Schulaufgaben gut gelernt. Er machte ein großes Theater um die Tatsache, daß ich so gütig gewesen sei und mich herabgelassen habe, mich überhaupt mit seiner Heimat zu beschäftigen. Die Orgota hatten entschieden andere Manieren als die Karhider. In Karhide hätte so ein Theater entweder seinen eigenen shifgrethor herabgesetzt oder den meinen gekränkt; welches von beiden, wußte ich nicht genau, aber das eine oder das andere wäre mit Sicherheit der Fall gewesen. Es war fast bei allem und jedem der Fall.

Da ich meinen guten Erhenrang-Anzug beim Überfall auf Siuwensin verloren hatte, brauchte ich für die Einladung neue Kleider. So nahm ich am selben Nachmittag noch ein Regierungstaxi, fuhr in die Stadt und besorgte mir eine Orgota- Ausstattung. Hieb und Hemd waren ganz ähnlich wie die in Karhide, statt Sommerkniehosen jedoch trug man hier das ganze Jahr hindurch hüfthohe Gamaschen, die steif und unbequem waren. Als Farben herrschten grelle Blau- und Rottöne vor, Stoffe, Schnitt und Verarbeitung waren minderwertig. Es waren standardisierte Bekleidungsstücke, die mich erkennen ließen, was dieser eindrucksvollen, wuchtigen Stadt im Grunde fehlte: die Eleganz. Doch Eleganz ist der geringe Preis für den man für die Aufklärung zu bezahlen hat, und ich bezahlte ihn gern. Ich kehrte zu Shusgis’ Haus zurück, genoß ausgiebig die heiße Dusche, in der das Wasser als feiner, prickelnder Nebel von allen Seiten kam, und dachte an die kahlen Zinkwannen von Ostkarhide zurück, in denen ich im vergangenen Sommer gebibbert und geschnattert hatte, und an das vereiste Waschbecken in meinem Zimmer in Erhenrang. Was soll Eleganz? Es lebe die Bequemlichkeit! Ich warf mich in meinen grellroten Galaputz und ließ mich mit Shusgis in dessen chauffeurgelenktem Wagen zur Party fahren. In Orgoreyn gibt es mehr Bedienstete und mehr Dienstleistungen als in Karhide. Das kommt daher, weil alle Orgota Staatsangestellte sind; der Staat muß für alle Bürger eine Stellung finden und schafft das auch. So lautet jedenfalls die allgemein akzeptierte Erklärung, obgleich auch diese, wie die meisten Erklärungen auf dem Wirtschaftssektor, bei Licht betrachtet, am springenden Punkt vorübergeht.

Im Commensal Sloses hell erleuchtetem, hohem, weißem Empfangssaal befanden sich bereits zwanzig bis dreißig Gäste, von denen drei Commensale, die übrigen eindeutig Notabein der einen oder anderen Art waren. Dies war weit mehr als nur eine Gruppe neugieriger Orgota, die ›den Fremden‹ sehen wollten. Hier war ich keine Kuriosität, wie ich es ein ganzes Jahr lang in Karhide gewesen war, hier war ich kein Monstrum und kein Rätsel. Hier war ich offensichtlich ein Schlüssel.

Doch welche Tür sollte ich aufschließen? Einige unter den Anwesenden, diesen Staatsmännern und Beamten, die mich so überschwenglich begrüßten, schienen zu wissen, was sie wollten, oder zumindest eine Ahnung zu haben. Ich hatte keine.

Und während des Essens sollte ich auch nichts erfahren. Beim Essen vom Geschäft zu reden, gilt überall auf Winter, sogar im eisigen, barbarischen Perunter, als abstoßend vulgär. Sobald das Essen serviert wurde, schob ich meine Fragen auf und widmete mich einer zähflüssigen Fischsuppe, meinem Gastgeber und seinen Gästen. Slose war ein zierlicher junger Mann mit ungewöhnlich hellen, strahlenden Augen und einer leisen, gefühlvollen Stimme. Er wirkte wie ein Idealist, wie einer, der sich ganz an eine Sache hingeben kann. Mir gefiel seine Art, aber ich fragte mich, welcher Sache er sich wohl hingab. Zu meiner Linken saß ein Commensal, ein Mann namens Obsle, mit fettem Gesicht. Obsle war derb, jovial und auf eine plumpe Art wißbegierig. Beim dritten Löffel Suppe erkundigte er sich, ob ich, zum Teufel noch mal, tatsächlich auf einer anderen Welt geboren sei, und wie es dort wäre, tatsächlich wärmer als auf Gethen, wie alle behaupteten? Wie warm denn?

»Nun, auf Terra schneit es auf diesem Breitengrad niemals.«

»Es schneit niemals! Es schneit niemals?«Er lachte herzlich und voll Freude, so wie ein Kind über eine gelungene Lüge lacht.

»Bei uns gleichen die subarktischen Regionen Ihrer bewohnbaren Zone; wir haben unsere letzte Eiszeit länger hinter uns als Sie, aber ganz heraus sind wir auch noch nicht. Im Grunde sind sich Terra und Gethen ziemlich ähnlich. Wie alle bewohnten Welten. Der Mensch kann nur innerhalb einer begrenzten Varietät von Umweltbedingungen leben; Gethen ist das eine Extrem…«

»Ja, gibt es denn Welten, die noch heißer sind als Ihre?«

»Die meisten sind wärmer als meine. Einige sind richtig heiß; zum Beispiel Gde. Da gibt es nur Sand und Felswüste. Gde war von Anfang an heiß, aber eine ausbeuterische Zivilisation zerstörte vor fünfzig- oder sechzigtausend Jahren das ökologische Gleichgewicht des Planeten; sie schlug die Wälder, um Feuerholz daraus zu machen. Es gibt zwar heute noch Menschen dort, aber Gde gleicht — wenn ich den Text richtig verstanden habe — der Vorstellung der Yomesh- Religion von jenem Ort, an den die Diebe nach ihrem Tod geschickt werden.«

Der letzte Satz entlockte Obsle ein Grinsen, ein stilles, zustimmendes Grinsen, das mich veranlaßte, meine Einschätzung dieses Mannes rasch zu revidieren.

»Einige Kulte behaupten, daß sich diese Zwischenstationen nach dem Tod tatsächlich, physisch auf anderen Welten, auf anderen Planeten des realen Universums befinden, die sie offenbar schon besucht haben. Sind Sie dieser Auffassung schon einmal begegnet, Mr. Ai?«

»Nein. Man hat mich zwar schon auf die mannigfaltigste und kurioseste Art und Weise beschrieben, aber noch niemand hat versucht, aus mir einen Geist zu machen.«Beim Sprechen blickte ich zufällig nach rechts, und als ich ›Geist‹ sagte, sah ich einen. Dunkel, in dunkler Kleidung, stumm und schattenhaft, saß er neben mir: das Phantom an der Festtafel.

Obsle wurde von seinem anderen Nachbarn ins Gespräch gezogen, die meisten übrigen Gäste hörten zu, was Slose am Kopfende des Tisches sagte.»Ich hatte nicht erwartet, Sie hier zu finden, Lord Estraven«, murmelte ich.

»Das Unerwartete erst macht das Leben möglich«, gab er zurück.

»Man hat mir eine Botschaft für Sie anvertraut.«

Er sah mich fragend an.

»In Form einer Geldsumme. Ihr eigenes Geld. Foreth rem ir Osboth schickt es Ihnen. Ich habe es bei meinen Sachen, im Haus von Shusgis. Ich werde dafür sorgen, daß Sie es bekommen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Ai.«

Er gab sich still, verhalten, bescheiden — ein Verbannter, der in der Fremde einzig von seinem Verstand leben muß. Er schien nicht geneigt, sich mit mir zu unterhalten, und ich war froh, daß ich mich nicht mit ihm unterhalten mußte. Und dennoch drängte sich mir seine Anwesenheit während dieser langen, schwierigen, redseligen Party immer wieder auf — drängte sich mir auf, obgleich ich meine ganze Aufmerksamkeit diesen komplizierten, mächtigen Orgota zuwandte, die entweder meine Freunde sein oder mich ausnutzen wollten. Er drängte sich mir auf; er, sein Schweigen, sein abgewandtes Gesicht. Und so sehr ich mich auch bemühte, diesen Gedanken als unbegründet beiseite zu schieben, ging es mir immer wieder durch den Sinn, daß ich nach Mishnory nicht aus freien Stücken gekommen war, um mit den Commensalen gebratenen Schwarzfisch zu essen, und daß auch sie mich nicht von selber hierher geholt hatten. Nein, das war sein, Estravens Werk.

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