Eine ostkarhidische Erzählung, erzählt in Gorinhering von Tobord Chorhawa, aufgezeichnet von G. A. Die Geschichte ist überall in verschiedenen Versionen bekannt, und die fahrenden Schauspieler östlich des Karvag haben ein ›habben‹-Spiel über das Thema in ihrem Repertoire.
Vor langer Zeit, noch vor den Tagen König Argavens I. der Karhide zu einem Königreich zusammenfaßte, gab es eine Blutfehde zwischen der Domäne Stok und der Domäne Estre im Kerm-Land. Diese Fehde wurde seit drei Generationen mit Überfällen und Hinterhalten ausgefochten, und es gab keine Möglichkeit, sie beizulegen, denn sie stritten um ein Stück Land. Gutes Land aber ist rar in Kerm, jede Domäne ist stolz auf die Länge ihrer Grenzen und die Herren des Kerm-Landes sind stolze Männer, nachtragende Männer, die schwarze Schatten werfen.
Nun begab es sich, daß der leibliche Sohn des Herrn von Estre, ein junger Mann, im Monat Irrem bei der Jagd auf Pesthry mit seinen Skiern über den Eisfußsee kam, auf schlechtes Eis geriet und ins Wasser fiel. Indem er einen Ski an einer festeren Eiskante als Hebel ansetzte, konnte er sich schließlich aus dem Wasser ziehen, aber seine Lage auf dem Eis war fast ebenso schlecht wie im Wasser, denn er war völlig durchnäßt, die Luft war kurem (feucht, minus 18 bis minus 30 Grad Celsius), und die Nacht brach herein. Er sah keine Möglichkeit, Estre zu erreichen, das acht Meilen weit bergauf von dieser Stelle lag, und machte sich also zum Dorf Ebos an der Nordküste des Sees auf den Weg. Als die Nacht kam, zog Nebel vom Gletscher herüber und legte sich über den ganzen See, so daß er den Weg nicht erkennen konnte und nicht wußte, wohin er seine Skier setzte. Langsam lief er, aus Angst vor dem schlechten Eis, und dennoch in Eile, denn die Kälte nagte an seinen Knochen, und nicht lange, dann würde er sich nicht mehr bewegen können. Endlich sah er vor sich in der Nacht und dem Nebel ein Licht. Er legte die Skier ab, denn das Seeufer war uneben und an einigen Stellen nicht schneebedeckt. Seine Beine wollten ihn nicht mehr tragen, aber er schleppte sich, so gut es ging, dem Licht entgegen. Er war weit von dem Weg nach Ebos abgekommen. Das Licht gehörte zu einem kleinen Haus, das ganz allein in einem Wald von Thore-Bäume stand — den Bäumen, aus denen alle Wälder im Kerm-Land bestehen -, und die Bäume wuchsen dicht um das Haus und waren nicht höher als das Dach. Er schlug mit den Händen an die Tür und begann laut zu rufen, und dann öffnete jemand die Tür und holte ihn ins Licht des Feuers herein.
Es war niemand sonst in der Hütte, nur dieser eine Mann. Er nahm Estraven die Kleider ab, die vor Eis starrten, als wären sie aus Eisen, steckte ihn nackt zwischen Pelze und vertrieb mit seiner Körperwärme die Erfrierungen aus Estravens Füßen, Händen und Gesicht. Dann gab er ihm heißes Bier zu trinken. Zuletzt erholte sich der junge Mann und betrachtete den anderen, der sich um ihn gekümmert hatte.
Es war ein Fremder, jünger noch als er selbst. Sie sahen einander an. Sie waren beide schön, kräftig gewachsen mit edlen Zügen, fein und dunkel. Estraven erkannte das erste Feuer der Kemmer in den Augen des anderen.
»Ich bin Arek von Estre«, sagte er.
»Ich bin Therem von Stok«, sagte der andere.
Da lachte Estraven, denn er war noch sehr schwach, und fragte:»Hast du mich mit deiner Wärme ins Leben zurückgeholt, um mich zu töten, Stokven?«
»Nein«, antwortete der andere.
Er streckte die Hand aus und berührte Estravens Hand, als wolle er sich vergewissern, daß der Frost tatsächlich verschwunden war. Bei dieser Berührung fühlte Estraven auch in sich selbst das Feuer erwachen, obwohl er noch ein oder zwei Tage von seiner Kemmerzeit entfernt war. So blieben sie beide eine Weile ganz still sitzen, während nur ihre Hände einander berührten.
»Sie sind genau gleich«, sagte Stokven und legte zum Beweis seine Handfläche an Estravens: Ihre Hände glichen sich in Größe und Form, Finger um Finger, wie die beiden Hände eines einzelnen Mannes, Fläche an Fläche gelegt.
»Ich habe dich noch nie gesehen«, sagte Stokven.»Wir sind Todfeinde.«Er stand auf, legte Holz im Herd nach und kehrte zu Estraven zurück.
»Wir sind Todfeinde«, bestätigte Estraven.»Aber ich würde dir Kemmering schwören.«
»Und ich dir«, sagte der andere. Dann schworen sie einander Kemmering. Im Kerm-Land darf heute und durfte damals ein Treueschwur niemals gebrochen, niemals einem zweiten Menschen geschworen werden. Sie verbrachten die Nacht und den folgenden Tag und die darauf folgende Nacht in der Hütte im Wald bei dem zugefrorenen See. Am Morgen darauf kam eine Gruppe Männer aus Stok an die Hütte. Einer von ihnen kannte den jungen Estraven vom Ansehen. Er sagte kein Wort und warnte ihn nicht, sondern zog sein Messer und stach Estraven vor Stokvens Augen in den Hals und in die Brust, daß der junge Mann sterbend an seinem Blute über den kalten Herd niedersank.
»Er war der Erbe von Estre«, erklärte der Mörder.
»Legt ihn auf euren Schlitten und bringt ihn nach Estre, damit er begraben wird«, befahl Stokven.
Er kehrte nach Stok zurück. Die Männer zogen mit dem toten Estraven auf ihrem Schlitten davon, aber sie ließen den Leichnam tief im Thore-Wald den wilden Tieren zum Fraße liegen und kamen noch in derselben Nacht nach Stok zurück. Therem trat vor seinen leiblichen Erzeuger, Lord Harish rem ir Stokven, und sprach zu den Männer:»Habt ihr getan, was ich euch befohlen habe?«Sie antworteten:»Ja.«Therem sagte:»Ihr lügt, denn ihr wäret niemals lebendig von Estre zurückgekehrt. Diese Männer haben meine Befehle mißachtet und gelogen, um ihren Ungehorsam zu verbergen. Ich bitte dich, sie zu verbannen.«Lord Harish gewährte dem Sohn die Bitte, und die Männer wurden aus dem Herd und aus dem Gesetz gejagt.
Bald darauf verließ Therem seine Domäne, weil er, wie er sagte, eine Zeitlang in der Festung Rotherer einwohnen wollte, und kehrte erst nach Stock zurück, als ein ganzes Jahr vergangen war.
Nun suchte man aber in der Domäne Estre in den Bergen und auf der Ebene nach Arek und begann, als man ihn nicht fand, um ihn zu trauern: bitter zu trauern, den ganzen Sommer und Herbst hindurch, denn er war das einzige leibliche Kind des Herrn gewesen. Gegen Ende des Monats Thern jedoch, als der Winter schwer über dem Land lag, kam ein Mann auf Skiern den Berg herauf und gab dem Hüter des Estre-Tores ein in Pelze gewickeltes Bündel.»Dies ist Therem, der Sohnessohn Estres«, sagte der Mann. Dann jagte er wie ein Kiesel, der über die Wellen hüpft, auf seinen Skiern wieder den Berg hinab, und war verschwunden, ehe nur jemand daran dachte, ihn zurückzuhalten.
In dem Pelzbündel lag ein neugeborenes Kind, das weinte. Sie brachten das Kind zu Lord Sorve hinein und berichteten ihm des Fremden Worte; und der alte Lord sah in dem Säugling voll Trauer seinen Sohn Arek. Er befahl, das Kind als Sohn des Inneren Herdes aufzuziehen und es Therem zu nennen, obgleich dieser Name noch niemals vom Estre-Clan benutzt worden war.
Das Kind wuchs heran, schön, edel und stark; es war dunkel und schweigsam, doch alle erkannten in ihm eine Ähnlichkeit mit dem verlorenen Arek. Als der Knabe herangewachsen war, ernannte ihn Lord Sorve im Eigensinn des hohen Alters zum Erben von Estre. Da gab es böses Blut unter Sorves Kemmeringsöhnen, starken Männern im besten Alter, die lange schon auf den Lordtitel warteten. Sie legten sich in den Hinterhalt, als einmal der junge Therem im Monat Irrem ganz allein pesthry jagen ging. Aber er war bewaffnet und nicht unvorbereitet. Im dichten Nebel, der bei Tauwetter über dem Eisfuß-See liegt, erschoß er zwei seiner Herdbrüder, mit einem dritten kämpfte er mit dem Messer und tötete schließlich auch ihn, obgleich er selbst tiefe Schnittwunden an Brust und Hals hatte. Dann stand er im Nebel über dem Eis bei seines Bruders Leichnam und sah, daß die Nacht hereinbrach. Das Blut floß aus seinen Wunden, so daß ihn eine Schwäche überfiel und er beschloß, zum Dorf Ebos zu gehen, um dort Hilfe zu suchen. Im Dunkeln aber ging er in die Irre und kam in den Thore- Wald an der Ostküste des Sees. Dort sah er eine verlassene Hütte, trat ein und fiel, weil er zu schwach war, ein Feuer zu machen, über die kalten Steine des Herdes. So blieb er mit unverbundenen Wunden liegen.
Da kam einer aus der Nacht, ein Mann, ganz allein. Er blieb an der Türe stehen und starrte stumm den Mann an, der in seinem Blut über den Herdsteinen lag. Dann trat er eilig ein, machte aus Pelzen, die er aus einer alten Truhe nahm, ein Bett, legte ein Feuer, säuberte Therems Wunden und verband sie. Als er merkte, daß ihn der junge Mann ansah, sagte er zu ihm:»Ich bin Therem von Stok.«
»Ich bin Therem von Estre.«
Nun herrschte eine Weile Schweigen zwischen ihnen. Dann lächelte der junge Mann und sagte:»Hast du meine Wunden verbunden, um mich zu töten, Stokven?«
»Nein«, antwortete der ältere.
Estraven fragte:»Wie kommt es, daß du, der Herr von Stok, hier draußen allein auf umstrittenem Boden bist?«
»Ich komme oft hierher«, erwiderte Stokven.
Er prüfte des jungen Mannes Puls und Hand, ob er Fieber habe, und legte ganz kurz seine Handfläche an Estravens; die beiden Hände glichen sich in Größe und Form, Finger um Finger, wie die beiden Hände eines einzelnen Mannes, Fläche an Fläche gelegt.
»Wir sind Todfeinde«, sagte Stokven.
»Wir sind Todfeinde«, bestätigte Estraven.»Aber ich habe dich noch nie gesehen.«
Stokven wandte das Gesicht ab.»Ich sah dich einmal vor langer Zeit«, sagte er.»Ich wünschte, es könnte Frieden sein zwischen unseren Häusern.«
Estraven antwortete:»Ich werde dir Frieden schwören.«
Sie schworen Frieden, und dann sprach niemand mehr; der Verwundete schlief. Am nächsten Morgen war Stokven fort, aber eine Gruppe Leute aus dem Dorf Ebos kam an die Hütte und brachte Estraven heim nach Estre. Sie wagten sich dem Willen des alten Lord nicht mehr zu widersetzen, denn die Rechtmäßigkeit seiner Entscheidung stand, jedermann sichtbar, mit dem Blut dreier Männer auf das Eis des Sees geschrieben; und so wurde Therem nach Sorves Tod Lord von Estre. Innerhalb eines Jahres beendete er die alte Fehde, indem er die Hälfte des umstrittenen Landes der Domäne Stock übergab. Deswegen, und auch wegen des Mordes an seinen Herdbrüdern, nannte man ihn Estraven, den Verräter. Trotzdem aber wird den Kindern dieser Domäne bis auf den heutigen Tag sein Name, Therem, gegeben.