Manchmal, wenn ich in einem dunklen, stillen Raum in Schlaf sinke, erlebe ich für einen Augenblick eine große und kostbare Illusion aus der Vergangenheit. Die Wand eines Zeltes hängt schräg über meinem Gesicht — nicht sichtbar, nur hörbar: eine schräge Ebene schwacher Geräusche, des leisen Geflüsters fallenden Schnees. Zu sehen ist nichts. Das Licht des Chabe- Ofens ist abgestellt, und der Ofen existiert nur als eine Kugel aus Hitze, ein Zentrum der Wärme. Die leichte Feuchtigkeit, die einhüllende weiche Berührung meines Schlafsacks auf der Haut; das Geräusch des fallenden Schnees; kaum hörbar, Estravens Atem im Schlaf; und Dunkelheit. Sonst nichts. Wir, wir beide allein, befinden uns in sicherer Hut, ruhen im Mittelpunkt aller Dinge. Draußen liegt, wie immer, die große Dunkelheit, die Kälte, die Einsamkeit des Todes.
In solchen, glücklichen Augenblicken, bevor ich wieder einschlafe, weiß ich mit einer über alle Zweifel erhabenen Sicherheit, wo der wirkliche Mittelpunkt meines eigenen Lebens liegt: in jener Zeit, die vergangen und verloren und dennoch ewig ist, in jenem endlosen Augenblick, in jenem Kern aus köstlicher Wärme.
Ich will damit nicht sagen, daß ich in jenen Wochen, in denen wir mitten im Winter den Schlitten über das tödliche Eisplateau zogen, glücklich war. Im Gegenteil, ich war hungrig, überanstrengt, häufig bekümmert, und je länger es dauerte, desto schlimmer wurde das alles für mich. Nein, glücklich war ich wirklich nicht. Glücklichsein hat etwas mit dem Verstand zu tun, und man erreicht es nur mit dem Verstand. Was mir damals gegeben wurde, war etwas, was man nicht durch Bemühungen des Verstandes erreichen und halten kann, und häufig nicht einmal erkennt, wenn man es hat: Ich meine Freude.
Ich wachte immer als erster auf — gewöhnlich schon vor Tagesanbruch. Mein Stoffwechselsystem arbeitete ein wenig schneller als das der Gethenianer, genau wie ich sie auch an Gewicht und Größe übertreffe. Estraven, in seiner Gewissenhaftigkeit, die man als hausfraulich, vielleicht aber auch als wissenschaftlich ansehen konnte, hatte diese Unterschiede in seine Lebensmittelzuteilungs-Kalkulationen einbezogen, und so bekam ich von Anfang an jeweils ungefähr fünfzig Gramm Nahrung mehr als er. Proteste, das sei doch ungerecht, mußten vor seinem Sinn für die Gerechtigkeit dieser ungleichen Teilung verstummen. Doch wie auch immer aufgeteilt — unsere Rationen waren klein. Ich war hungrig, ständig hungrig, und wurde tagtäglicher hungriger. Ich wachte einfach vor Tageseinbruch auf, weil ich Hunger hatte.
Wenn es noch dunkel war, schaltete ich das Licht des Chabe- Ofens ein und stellte einen Topf voll Eis, das wir am Abend zuvor hereingeholt hatten, und das inzwischen geschmolzen war, zum Sieden aufs Feuer. Inzwischen focht Estraven seinen üblichen erbitterten, stummen Kampf mit dem Schlaf aus, der jedesmal wirkte, als ringe er mit einem Engel. Hatte er ihn gewonnen, richtete er sich auf, starrte mich ausdruckslos an, schüttelte den Kopf und erwachte. Wenn wir dann angezogen waren und die Schlafsäcke zusammengerollt hatten, war auch das Frühstück fertig: ein Becher voll kochend heißem Orsh mit einem Würfel Gichymichy, mit heißem Wasser zu einer Art kleinem, teigigem Brötchen aufgeschwemmt. Wir kauten langsam, konzentriert und hoben alle heruntergefallenen Krumen auf. Während wir aßen, kühlte der Ofen ab. Zusammen mit Topf und Bechern packten wir ihn ein, zogen die Kapuzenmäntel und Handschuhe an und krochen in die frische Luft hinaus. Die Kälte draußen kam mir immer wieder unglaublich vor, aber jeden Morgen mußte ich von neuem daran glauben lernen. War man zuvor schon einmal draußen gewesen, um sich zu erleichtern, dann fiel das zweite Verlassen des Zeltes um so schwerer.
Manchmal schneite es; manchmal lagen die langen Sonnenstrahlen des frühen Morgens herrlich golden und blau über der meilenweiten Eisfläche; zumeist jedoch war alles grau.
Bei Nacht nahmen wir das Thermometer mit uns ins Zelt, und wenn wir es dann wieder hinausbrachten, war es interessant, zu sehen, wie der Zeiger ruckartig rechts ausschlug (die Gethenianer-Skalen werden im entgegengesetzten Uhrzeigersinn gelesen) und einen Temperatursturz von zehn, dreißig, vierzig Grad anzeigte, bis er dann irgendwo zwischen minus zwanzig und minus fünfzig stehenblieb.
Einer von uns brach das Zelt ab und legte es zusammen, während der andere Ofen, Schlafsäcke und so weiter auf dem Schlitten verstaute; das Zelt wurde über die gesamte Ladung gespannt, und dann waren wir für Skier und Geschirr bereit. Bei unseren Gurten und Beschlägen war kaum Metall verwendet worden, das Geschirr jedoch hatte Schnallen aus einer Aluminiumlegierung, die zu klein waren, um sie mit Handschuhen schließen zu können, und mir vor Kälte die Haut verbrannte, als wären sie glühend heiß. Sobald die Temperatur auf minus dreißig Grad sank, mußte ich vor allem, wenn es windig war, sehr vorsichtig mit meinen Fingern sein, weil sie erstaunlich schnell erfroren. Mit meinen Füßen hatte ich keine Schwierigkeiten, und das ist ein lebenswichtiger Faktor bei einer Winterexpedition, auf der Erfrierungen, die länger als eine Stunde anhalten, den Befallenen auf Lebenszeit zum Krüppel machen können. Estraven hatte meine Größe schätzen müssen, daher waren mir die Schneestiefel, die er besorgt hatte, ein wenig zu groß. Mit einem Paar Extrasocken ließ sich der Unterschied aber leicht ausgleichen. Wir schnallten die Skier an, spannten uns möglichst schnell ins Geschirr, zogen, zerrten und stemmten den Schlitten frei, wenn die Kufen festgefroren waren, und liefen los.
Nach starkem Schneefall mußten wir morgens zunächst das Zelt und den Schlitten ausgraben, bevor wir aufbrechen konnten. Aber der Neuschnee ließ sich leicht beiseite schaufeln, auch wenn er sich um uns, da wir ja schließlich das einzige Hindernis, auf Hunderte von Meilen das einzige Objekt waren, das sich über das Eis erhob, zu hohen, imposanten Wehen aufgetürmt hatte.
Mit Hilfe des Kompasses marschierten wir ostwärts. Der Wind wehte fast ständig aus Norden, also vom Gletscher herunter. Tag um Tag kam der Wind von links. Dagegen half auch die Kapuze nichts mehr, so daß ich zum Schutz meiner Nase und meiner linken Wange eine Gesichtsmaske tragen mußte. Trotzdem fror eines Tages mein linkes Auge zu, und ich fürchtete schon, die Sehkraft verloren zu haben; denn selbst als Estraven es mit seinem Atem und seiner Zunge aufgetaut hatte, konnte ich eine Zeitlang nichts mehr sehen; also war doch vermutlich noch mehr eingefroren als nur die Wimpern. Bei Sonne trugen wir beide die gethenianische Schlitzbrille, darum hatte keiner von uns unter Schneeblindheit zu leiden. Allerdings gab es dazu auch kaum Gelegenheit. Das Eis hält, wie Estraven mir erklärt hatte, eine Hochdruckzone über seinem Zentralgebiet fest, wo Tausende von Quadratmeilen glitzerndes Weiß das Sonnenlicht reflektieren. Wir aber befanden uns nicht in diesem Zentralgebiet, sondern höchstens an seinem äußersten Rand, zwischen ihm und jener Turbulenzzone abgelenkter, schneebeladener Stürme, die der Gletscher ständig zur Geißel der unterglazialen Regionen macht. Der Nordwind brachte trockenes, klares Wetter, der Nordost und der Nordwestwind dagegen brachten Schnee, peitschten den trockenen, zuvor gefallenen Schnee zu blendenden, beißenden Wolken auf, die denen der Sand- und Staubstürme glichen, oder sie trieben ihn, kaum wahrnehmbar, in Schlangenlinien über die Eisfläche, so daß der Himmel weiß war, die Luft weiß war, und es weder Sonne noch Schatten gab: Sogar der Schnee, das Eis selber, verschwand wie in einem Schleier unter unseren Füßen.
Gegen Mittag machten wir halt, schnitten uns ein paar Eisblöcke zurecht, aus denen wir, falls der Wind zu stark war, eine Schutzwand bauten, erhitzten Wasser, um einen Würfel Gichymichy darin aufzuschwemmen und tranken hinterher auch noch das Wasser aus, gelegentlich mit etwas Zucker versüßt. Dann spannten wir uns wieder ins Geschirr und zogen weiter.
Wir sprachen weder unterwegs noch beim Mittagessen sehr viel, denn unsere Lippen waren wund, und sowie man den Mund öffnete, fuhr die Kälte hinein, daß Zähne, Kehle und Lungen schmerzten; daher war es ratsam, den Mund geschlossen zu halten und durch die Nase zu atmen — wenigstens, wenn die Temperatur auf dreißig bis vierzig Grad minus sank. Lag sie noch tiefer, dann wurde der Atmungsvorgang weiter durch die Tatsache kompliziert, daß der ausgestoßene Atem sofort gefror; wenn man nicht aufpaßte, froren einem die Nasenlöcher zu und man mußte, wollte man nicht ersticken, eine Lunge voll Rasierklingen einatmen.
Unter gewissen Bedingungen verursachte unser sofort gefrierender Atem ein ganz leichtes, knisterndes Geräusch, das an ein fernes Feuerwerk erinnerte, und erzeugte einen Schauer von Kristallen: jeder Atemzug ein Miniatur-Schneesturm.
Wir zogen, bis wir müde waren oder bis es dunkel wurde. Dann hielten wir, richteten das Zelt auf, befestigten den Schlitten, wenn es windig zu werden drohte, mit Pflöcken, und machten uns für die Nacht bereit. An einem durchschnittlichen Tag hatten wir elf bis zwölf Stunden im Geschirr hinter uns und zwölf bis achtzehn Meilen zurückgelegt.
Das sieht nicht aus wie eine überwältigende Geschwindigkeit, aber die Bedingungen, unter denen wir marschierten, waren auch nicht sonderlich günstig. Die Schneedecke war nur selten für Skier und für Schlittenkufen gleich gut geeignet. War sie leicht und frisch, lief der Schlitten nicht über sie hin, sondern eher durch sie hindurch; war sie stellenweise verhärtet, blieb der Schlitten stecken, die Skier jedoch nicht, und das bedeutete, daß wir jedesmal mit einem Ruck nach hinten gerissen wurden; und war sie hart, türmte sie sich zu langen Dünen auf: den sastrugi, die über einen Meter hoch sein konnten. Dann mußten wir den Schlitten hinauf zerren, über den messerscharfen Grat oder die fantastisch geformte Kuppe kippen lassen, ihn vorsichtig hinunterlassen und dann die nächste Welle angehen: denn nie schienen sie parallel zu unserem Kurs zu verlaufen. Ich hatte mir das Gobrin-Eisplateau so glatt wie einen zugefrorenen Teich vorgestellt, aber auf Hunderten von Meilen unserer Strecke glich es eher einem sturmgepeitschten Meer, das mitten in seiner Bewegung erstarrt war.
Beschwerlich war auch die Notwendigkeit, Abend für Abend das Zelt aufzuschlagen, alles zu sichern, den festhängenden Schnee von der Oberkleidung zu klopfen, und so weiter. Zuweilen schien es der Mühe gar nicht wert zu sein. Es war so spät, so kalt, wir waren so müde, daß es viel leichter gewesen wäre, sich einfach im Schlafsack in den Windschatten des Schlittens zu legen und sich gar nicht erst mit dem Zelt abzuplagen. Ich weiß noch heute, wie vernünftig mir dieser Gedanke eines Abends erschien, und wie bitterböse ich meinem Begleiter war, weil er so gewissenhaft und tyrannisch darauf bestand, daß wir es doch taten, und zwar genau, wie es sich gehörte, und gründlich. In solchen Augenblicken haßte ich ihn — mit einem Haß, der unmittelbar aus dem Tod aufsteigt, den ich in meinem Charakter trage. Ich haßte die harten, schwierigen, unnachgiebigen Forderungen, die er im Namen des Lebens an mich stellte.
Wenn alles fertig war und wir das Zelt betreten konnten, umfing uns die Wärme des Chabe-Ofens sofort und spürbar wie eine schützende Hülle. Wir badeten uns in etwas Wunderbarem: in Wärme. Tod und Kälte ließen wir draußen.
Und auch der Haß blieb draußen. Wir aßen und tranken. Wenn wir gegessen hatten, unterhielten wir uns. Sobald eine extreme Kälte herrschte, ließ sie sich sogar von der ausgezeichneten Isolierung unseres Zeltes nicht abhalten, und wir rückten mit unseren Schlafsäcken so dicht wie nur möglich an den Ofen. An der Innenfläche unseres Zeltes bildete sich ein dünner Pelz aus Reif, öffneten wir das Ventil, so ließen wir damit einen Schwall Kälte herein, der sofort kondensierte und das Zelt mit einem wogenden Nebel aus feinstem Schnee füllte. Bei einem Blizzard drangen trotz aller kunstvollen Abdichtungen eisige Luftnadeln zu den Ventilöffnungen herein, und in der Luft schwebte ein kaum spürbarer Schneestaub. In solchen Nächten brüllte der Sturm mit unglaublicher Lautstärke, so daß wir uns nur unterhalten konnten, wenn wir die Köpfe zusammensteckten. In anderen Nächten wiederum umgab uns eine lautlose Stille — eine Stille, wie sie geherrscht haben mag, bevor sich die Sterne zu bilden begannen, oder wie sie vielleicht herrschen wird, nachdem alles erloschen ist.
Ungefähr eine Stunde nach dem Abendessen drehte Estraven, falls es möglich war, den Ofen kleiner und schaltete das Licht aus. Dabei murmelte er ein kurzes, hübsches Dankgebet, die einzigen rituellen Worte der Handdara, die ich gelernt habe:»Gelobt sei die Dunkelheit und die unvollendete Schöpfung.«Und dunkel war es. Dann schliefen wir. Am nächsten Tag begann wieder alles von vorn.
So ging es fünfzig Tage lang.
Estraven führte sein Tagebuch weiter, obgleich er während der Wochen auf dem Eis nur selten mehr schrieb als eine kurze Notiz über das Wetter und die Entfernung, die wir am Tag zurückgelegt hatten. In diesen Notizen erwähnt er zwar gelegentlich seine Gedanken oder auch unsere Gesprächsthemen, aber kein Wort von unseren ernsten, tiefergreifenden Unterhaltungen, mit denen wir an manchen Abenden des ersten Monats auf dem Eis, wenn wir noch Energie genug zum Sprechen hatten, die Ruhepause zwischen Abendessen und Schlaf, und an den Tagen, da uns der Sturm im Zelt festhielt, viele Stunden ausfüllten. Ich erklärte ihm, daß man es mir zwar nicht verboten, immerhin aber doch abgeraten hatte, auf nicht-alliierten Planeten die paraverbale Sprache zu benutzen, und bat ihn, alles, was er von mir lernte, vor seinem eigenen Volk wenigstens so lange geheimzuhalten, bis ich Gelegenheit hatte, mit meinen Schiffskollegen darüber zu sprechen. Er versprach es, und hielt sein Versprechen auch. Nie sagte oder schrieb er irgend etwas, was mit unseren stummen Gesprächen zusammenhing.
Die Gedankensprache war das einzige aus meinem Kulturkreis, aus meiner ihm fremden Realität, für die er sich so sehr interessierte, was ich Estraven zum Geschenk machen konnte. Ich konnte zwar endlos über alles reden, ihm alles beschreiben, doch mehr hatte ich ihm nicht zu geben. Vielleicht ist die Gedankensprache überhaupt die einzig wichtige Gabe, die wir für Winter haben.
Aber daß Dankbarkeit mein Motiv für diesen Verstoß gegen das Kulturembargogesetz war, das kann ich nicht behaupten. Ich zahlte damit keineswegs meine Schuld an ihn ab. Derartige Schulden bleiben ewig. Nein, Estraven und ich waren ganz einfach an einem Punkt angelangt, da wir miteinander alles teilten, was des Teilens wert war.
Wie ich vermute, wird sich herausstellen, daß ein Geschlechtsverkehr zwischen den doppelgeschlechtlichen Gethenianern und den eingeschlechtlichen Menschen der Hain- Norm möglich ist, aber unvermeidlich steril bleiben muß. Das wird sich erweisen. Estraven und ich bewiesen in dieser Hinsicht gar nichts, höchstens vielleicht einen wesentlich subtileren Punkt. Der Vorfall, der unser sexuelles Begehren einer Krise am nächsten brachte, ereignete sich eines Abends ziemlich am Anfang unserer Reise, das heißt, am zweiten Abend auf dem Eis. Wir hatten den ganzen Tag damit verbracht, den Schlitten mühselig über das zerrissene, von Spalten durchzogene Gebiet östlich der Feuerberge zu ziehen. Am Abend waren wir zwar müde, aber auch hochgestimmt, da wir mit Sicherheit erwarteten, daß sich schon bald ein bequemerer Weg für uns öffnen werde. Doch nach dem Essen wurde Estraven plötzlich einsilbig und schnitt mir immer wieder das Wort ab. Schließlich fragte ich ihn nach einer besonders deutlichen Abfuhr:»Harth, wenn ich mal wieder etwas Falsches gesagt habe, dann erklären Sie mir bitte, was.«
Er blieb stumm.
»Ich habe schon mehrmals shifgrethor-Fehler gemacht. Das tut mir leid; anscheinend werde ich es nie lernen. Ich verstehe ja nicht einmal die Bedeutung des Wortes.«
»Shifgrethor? Das kommt von einem alten Wort für ›Schatten‹.«
Wir schwiegen beide, bis er mich mit einem offenen, freundlichen Blick ansah. Sein Gesicht wirkte in dem rötlichen Licht so sanft, verletzlich und fern wie das Gesicht einer Frau, die mitten aus ihren Gedanken heraus aufschaut, nichts sagt, nur schaut.
In diesem Augenblick sah ich wieder einmal, sah ich endgültig, was zu sehen ich immer gefürchtet, und was nicht zu sehen ich immer vorgegeben hatte: daß er sowohl ein Mann als auch eine Frau war. Jedes Bedürfnis, die Quelle dieser Furcht zu ergründen, verschwand zusammen mit der Furcht selbst; was übrig blieb, war die Erkenntnis, daß ich ihn endlich so akzeptierte, wie er war. Bis dahin hatte ich ihn zurückgestoßen, hatte ihm seine eigene Realität verweigert. Er hatte ganz recht gehabt, als er sagte, daß er, der einzige Mensch auf Gethen, der mir vertraute, der einzige Gethenianer war, dem ich mißtraute. Denn er war der einzige, der mich vollkommen als Mensch akzeptiert hatte: der mich persönlich gern gehabt und mir seine ganze persönliche Loyalität geschenkt, und der darum von mir ein gleiches Maß an Anerkennung, an Akzeptierung gefordert hatte. Das aber war ich nicht zu geben bereit gewesen. Ich hatte mich davor gefürchtet, es zu geben. Ich wollte mein Vertrauen, meine Freundschaft keinem Mann schenken, der eine Frau war, wollte sie keiner Frau schenken, die ein Mann war.
Er erklärte mir, steif, aber mit schlichten Worten, daß er in Kemmer sei und mir deswegen so weit aus dem Weg zu gehen versuche, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war.»Ich darf Sie nicht berühren«, sagte er äußerst beherrscht. Und wandte dabei den Kopf zur Seite.
Ich antwortete:»Ich verstehe. Ich bin vollkommen einverstanden.«
Denn mir schien — und ich glaube, ihm ging es ebenso -, daß aus dieser zwischen uns bestehenden sexuellen Spannung, jetzt eingestanden und von uns verstanden und akzeptiert wurde, daß aus ihr die große Sicherheit der gegenseitigen Freundschaft erwuchs: einer Freundschaft, so notwendig für uns beide in unserem Exil, und in den Tagen und Nächten unseres bitteren Marsches bereits so gut erprobt, daß man sie, jetzt und später, ebenso gut Liebe nennen könnte. Doch diese Liebe entstand aus dem Unterschied zwischen uns, nicht aus der Affinität und Ähnlichkeit; sie entstand aus dem Unterschied und war die Brücke, die einzige Brücke über das, was uns beide trennte. Eine sexuelle Begegnung wäre für uns nur wieder eine Begegnung zwischen Fremden gewesen. Wir hatten uns auf die einzige Art berührt, in der wir uns berühren konnten. Und dabei beließen wir es. Ob wir recht damit taten, weiß ich nicht.
Wir unterhielten uns noch lange an jenem Abend, und ich erinnere mich, daß es mir schwerfiel, zusammenhängend zu antworten, als er mich fragte, was eine Frau sei und wie Frauen eigentlich wären. Während der nächsten paar Tage verhielten wir uns beide ziemlich steif und vorsichtig. Die tiefe Liebe zwischen zwei Menschen beinhaltet auch die Macht und die Möglichkeit, tiefen Schmerz zuzufügen. Vor diesem Abend wäre es mir nie in den Sinn gekommen, daß ich Estraven Schmerz zufügen könnte.
Nun, da diese Schranken gefallen waren, kam mir die Begrenztheit, unter der unsere Gespräche und unser gegenseitiges Verständnis in meinen Augen litten, fast unerträglich vor. Schon kurz darauf, zwei oder drei Tage später, sagte ich nach dem Abendessen — gezuckerte Kadik- Grütze, etwas Besonderes zur Feier eines Zwanzig-Meilen- Tagespensums — zu meinem Gefährten:»Im letzten Frühjahr, an jenem Abend im Roten Eckgebäude, sagten Sie mir, daß Sie den Wunsch hätten, mehr über die paraverbale Sprache zu erfahren.«
»Ganz recht.«
»Wollen wir versuchen, ob ich Sie diese Sprache lehren kann?«
Er lachte.»Sie wollen mich beim Lügen ertappen?«
»Wenn Sie mich jemals belogen haben, so liegt das lange zurück und in einem anderen Land.«
Er war ein aufrichtiger Mensch, aber selten freimütig. Meine Worte amüsierten ihn, und er sagte:»In einem anderen Land erzählte ich Ihnen vielleicht andere Lügen. Aber ich dachte, es wäre Ihnen verboten, den… den Eingeborenen Unterricht in der Gedankensprache zu geben, bevor wir uns nicht der Ökumene angeschlossen haben.«
»Verboten nicht. Man tut es nur nicht. Ich aber werde es tun, wenn Sie es wollen. Und wenn ich es kann. Ich bin kein Eduktor.«
»Es gibt also spezielle Lehrer für diese Kunst?«
»Ja. Auf Alterra allerdings nicht, weil dort das Vorkommen der natürlichen Sensitivität sehr hoch ist und — wie man behauptet — die Mütter sich mit ihren ungeborenen Kindern unterhalten. Keine Ahnung, was die Kinder antworten. Wir anderen aber müssen die Sprache fast alle genauso lernen, als handele es sich um eine Fremdsprache. Oder vielmehr, als handle es sich um unsere Muttersprache, die wir ja auch erst lernen müssen.«
Ich glaube, er verstand, warum ich ihm anbot, ihn in dieser Kunst zu unterrichten, und wollte sie auch sehr gern erlernen. Also versuchten wir es. Ich rief mir ins Gedächtnis zurück, auf welche Weise ich mit ungefähr zwölf Jahren eduziert worden war. Ich bat ihn, an nichts zu denken, seinen Kopf ganz leer, ganz dunkel zu machen. Er tat das zweifellos wesentlich schneller und gründlicher als es mir jemals gelungen ist, denn schließlich war er ein Handdara-Adept. Dann besprach ich ihn so klar und deutlich es ging. Ohne Erfolg. Wir machten einen neuen Versuch. Da man erst selbst besprechen kann, nachdem man einmal besprochen worden, nachdem also die telepathische Fähigkeit durch einen klaren Empfang sensitiviert worden ist, mußte ich zuerst mit ihm Kontakt herstellen. Ich bemühte mich eine halbe Stunde lang, bis mir das Hirn heiser geworden war. Er sah mich niedergeschlagen an.»Ich hatte gedacht, es würde mir leicht fallen«, gestand er. Wir waren beide völlig erschöpft und gaben die Versuche für diesen Tag auf.
Unsere nächsten Bemühungen waren ebensowenig von Erfolg gekrönt. Ich versuchte, mit Estraven Verbindung aufzunehmen, während er schlief, denn mir war eingefallen, was mein Eduktor mir über das Vorkommen von ›Traumbotschaften‹ bei Prä-Telepathen erzählt hatte, aber auch das klappte nicht.
»Vielleicht ist meine Spezies gar nicht dazu fähig«, gab er zu bedenken.»Bei uns kursieren zwar genügend Gerüchte und Andeutungen, um in unserer Sprache einen Ausdruck für diese Fähigkeit zu schaffen, von irgendwelchen bewiesenen telepathischen Vorfällen jedoch ist mir nichts bekannt.«
»Genauso ging es meinem Volk vor Tausenden von Jahren. Es gab einige wenige natürliche Sensitive, die ihre Gabe nicht verstanden, und die niemanden hatten, an den sie senden oder von dem sie empfangen konnten. Die übrigen waren, falls überhaupt, alle latent. Wie Sie wissen, habe ich Ihnen schon erklärt, daß diese Fähigkeit, außer beim geborenen Sensitiven, zwar eine physiologische Basis hat, dennoch aber eine psychologische Fähigkeit ist, ein Kulturprodukt, ein Nebeneffekt der Arbeit des Gehirns. Kleine Kinder, Anomale und Angehörige unentwickelter oder zurückentwickelter Gesellschaften können nicht gedankensprechen. Zuerst muß die Denkfähigkeit bis auf ein bestimmtes, komplexes Niveau entwickelt sein. Aus einzelnen Atomen kann man keine Aminosäuren machen, bevor nicht eine gewisse Komplexität der Anordnung in Verbindungen erreicht ist: die gleiche Situation, Abstraktes Denken, verschiedene soziale Wechselwirkungen, schwierige kulturelle Angleichungsvorgänge, ästhetisches und ethisches Empfinden — das alles muß ein bestimmtes Niveau erreichen, bevor eine so komplexe Verbindung hergestellt werden kann, bevor man überhaupt in die Reichweite dieser Fähigkeit kommt.«
»Vielleicht haben wir Gethenianer dieses Niveau noch nicht er reicht.«
»Ihr seid weit darüber hinaus. Aber es gehört auch Glück dazu. Genau wie bei der Schaffung von Aminosäuren… Oder nehmen wir lieber kulturelle Analogien — nichts weiter als Analogien, aber sie beleuchten die Situation: zum Beispiel die wissenschaftlichen Methoden, die Anwendung komplizierter experimenteller Methoden auf dem Gebiet der Naturwissenschaft. Es gibt Völker in der Ökumene, die eine hoch entwickelte Kultur besitzen, eine komplex zusammengesetzte Gesellschaft, Philosophie, Kunst, Ethik, einen hoch entwickelten Stil und große Errungenschaften auf all diesen Gebieten; und trotzdem haben sie nie gelernt, zum Beispiel etwas präzise abzuwiegen. Sie können es natürlich lernen, aber sie haben es eine halbe Million Jahre lang nicht gelernt, weil sie sich nie dafür interessiert haben, was Dinge exakt wiegen… Es gibt Völker, die kennen überhaupt keine höhere Mathematik, nichts, was über die simpelste, angewandte Arithmetik hinausgeht. Jeder einzelne von ihnen ist in der Lage, das Kalkül zu begreifen, aber nicht einer von ihnen hat es begriffen oder begreift es. Sogar mein eigenes Volk, die Terraner, hatten bis vor ungefähr dreitausend Jahren keine Ahnung vom Gebrauch der Null.«
Estraven blinzelte verwundert.»Was aber nun Gethen betrifft, so bin ich neugierig, ob wir anderen in uns die Fähigkeit zum Weissagen entdecken, ob das auch zur Evolution des Gehirns gehört und ob ihr uns die Technik lehren könnt.«
»Halten Sie sie für eine nützliche Errungenschaft?«
»Die akkurate Prophezeiung? Aber natürlich!«
»Dann müssen Sie, um sie zu lernen, vielleicht erst zu der Erkenntnis gelangen, daß es eine nutzlose Errungenschaft ist.«
»Ihre Handdara fasziniert mich, Harth, aber gelegentlich frage ich mich, ob es sich dabei nicht einfach um ein Paradoxon handelt, das zur Lebensphilosophie erhoben wurde…«
Wir machten einen weiteren Versuch mit der Gedankensprache. Noch nie zuvor hatte ich wiederholt zu einem absoluten Nicht-Empfänger gesendet. Es war eine unangenehme Erfahrung. Ich kam mir allmählich vor wie ein betender Atheist. Auf einmal gähnte Estraven und sagte:»Ich bin taub — so taub wie ein Stein. Es ist wohl besser, wir gehen schlafen.«Ich stimmte ihm zu. Er schaltete das Licht aus, murmelte sein kurzes Gebet an die Dunkelheit, dann verkrochen wir uns in unsere Schlafsäcke, und nach einer Minute schon glitt er in den Schlaf wie ein Schwimmer in dunkles Wasser. Ich spürte seinen Schlaf, als wäre es mein eigener: die emphatische Verbindung war da, und noch einmal besprach ich ihn, schläfrig schon, nannte ich seinen Namen: »Therem!«
Er richtete sich mit einem Ruck auf, seine Stimme ertönte in der Dunkelheit laut und deutlich über mir:»Arek! Bist du das?«
»Nein, ich bin es, Genly Ai. Ich bespreche Sie.«
Er hielt den Atem an. Stille. Dann hantierte er mit dem Chabe-Ofen, schaltete das Licht ein und starrte mich angsterfüllt mit seinen dunklen Augen an.»Ich habe geträumt«, sagte er.»Ich dachte, ich wäre zu Hause…«
»Sie haben mich gedankensprechen gehört.«
»Sie haben mich gerufen… Es war mein Bruder. Es war meines Bruders Stimme, die ich gehört habe. Er ist tot. Sie haben mich… Sie haben mich Therem genannt? Ich… Das ist ja furchtbar! Viel furchtbarer, als ich es mir vorgestellt hatte.«Er schüttelte den Kopf, als wolle er einen Alptraum abschütteln, und barg dann das Gesicht in den Händen.
»Harth, es tut mir sehr leid…«
»Nein, nennen Sie mich bei meinem Namen. Wenn Sie in meinem Kopf mit der Stimme eines Toten sprechen können, dann können Sie mich auch bei meinem Namen nennen! Hätte er mich ›Harth‹ genannt? O ja, jetzt weiß ich, warum man in der Gedankensprache nicht lügen kann! Es ist etwas Furchtbares! Aber nun gut. Nun gut, sprechen Sie noch einmal mit mir.«
»Augenblick.«
»Nein. Bitte.«
Und während er mich mit wildem, angstvollem Blick anstarrte, besprach ich ihn: »Therem, mein Freund, zwischen uns gibt es nichts zu befürchten.«
Er hörte nicht auf, mich anzustarren, so daß ich schon dachte, er hätte mich nicht verstanden. Aber dem war nicht so.»O ja — doch«, sagte er laut.
Nach einer Weile riß er sich zusammen und sagte ruhig:»Sie haben in meiner Sprache mit mir gesprochen.«
»Weil du die meine nicht verstehst.«
»Ich weiß, Sie sagten mir, daß es mit Worten geschehen würde… Aber ich hatte es mir trotzdem als… als eine Art Verstehen vorgestellt…«
»Empathie, ›Einführung‹, ist etwas anderes, aber es bestehen gewisse Ähnlichkeiten. Sie hat heute Nacht den Kontakt zwischen uns hergestellt. Doch bei der Gedankensprache werden die bewußten Sprachzentren des Gehirns aktiviert und…«
»Nein, nein, nein! Erklären Sie mir das später. Warum haben Sie mit meines Bruders Stimme gesprochen?«Seine eigene Stimme klang rauh.
»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß es nicht. Erzähl mir von ihm.«
»Nusuth… Er war mein Vollbruder, Arek Harth rem Estraven. Ein Jahr älter als ich. Er hätte Herr von Estre werden sollen. Wir… Ich bin seinetwegen von zu Hause weggegangen. Er ist schon vierzehn Jahre tot.«
Eine Zeitlang schwiegen wir beide. Ich konnte weder wissen noch fragen, was hinter seinen Worten lag: Allein das wenige, was er gesagt hatte, hatte ihn schon zuviel gekostet.
Schließlich bat ich:»Besprich mich, Therem. Nenne mich bei meinem Namen.«Ich wußte, daß er es konnte: der Rapport war hergestellt oder, wie es die Fachleute ausdrücken, die Phasen waren konsonant. Aber er hatte natürlich noch keine Ahnung, wie man die Schranke von sich aus hebt. Wäre ich ein Lauscher gewesen, hätte ich ihn denken hören können.
»Nein«, gab er zurück.»Niemals. Jetzt noch nicht…«
Doch weder Schock, Scheu noch Entsetzen konnten, und seien sie noch so groß, diesen unersättlichen, umhertastenden Verstand lange hindern. Als er das Licht wieder ausgemacht hatte, hörte ich auf einmal mit meinem inneren Ohr ihn stammeln: »Genry…«Sogar in der Gedankensprache konnte er das ›1‹ nicht aussprechen.
Ich antwortete sofort. Er stieß im Dunkeln einen unartikulierten Angstlaut aus, der aber auch eine Spur Genugtuung verriet.»Nicht mehr! Nicht mehr!«sagte er laut. Nach einer Weile schliefen wir endlich ein.
Es fiel ihm niemals leicht. Nicht, weil ihm die Begabung fehlte oder er die Fähigkeit dazu nicht entwickeln konnte, sondern weil es ihn zutiefst erschütterte und er es einfach nicht als selbstverständlich hinnehmen konnte. Er lernte zwar schnell, die Schranken zu errichten, aber ich weiß nicht recht, ob er jemals das Gefühl hatte, sich auch auf sie verlassen zu können. Vielleicht waren wir ebenso, als vor Jahrhunderten die ersten Edukatoren von Rokanons Welt kamen, um uns die ›Letzte Kunst‹ zu lehren. Vielleicht empfindet ein Gethenianer, auf einzigartige Weise vollkommen, die telepathische Sprache als eine Verletzung seiner Vollkommenheit, als einen Einbruch in seine innerste Unversehrtheit, den er nur schwer tolerieren kann. Vielleicht aber lag es auch an Estravens Charakter, in dem sowohl Freimut als auch Reserviertheit stark ausgeprägt waren: Jedes einzelne Wort, das er sprach, erhob sich aus einer tiefen Stille. Er hatte in meiner Stimme, die ihn besprach, die Stimme eines Toten, die Stimme seines Bruders gehört. Ich wußte nicht, was außer Liebe und Tod noch zwischen ihm und diesem Bruder bestand, aber ich wußte, daß er jedesmal, wenn ich ihn besprach, innerlich vor mir zurückzuckte, als berühre ich eine schmerzhafte Wunde. So sehr, daß die gedankliche Vertrautheit, die zwischen uns entstand, zwar ein Band war, aber die Öffnung, die so zwischen uns entstanden war, ließ weniger Licht herein als ich es eigentlich erwartet hatte, sie ließ uns vielmehr das Ausmaß der Dunkelheit ahnen, die zwischen uns lag.
Und Tag um Tag krochen wir über die Eisebene nach Osten. Zeitlich hatten wir die Hälfte der Reise nach unserem Plan am fünfunddreißigsten Tag, Odorny Anner, hinter uns; räumlich jedoch hatten wir an diesem Tag noch bei weitem nicht die Hälfte der Entfernung zurückgelegt. Nach unserem Tachometer am Schlitten hatten wir zwar vierhundert Meilen zurückgelegt, doch mindestens ein Viertel davon hatten wir auf Umwege verschwendet, und wieviel noch vor uns lag, konnten wir nur sehr grob schätzen. Der lange Kampf, auf das Eis zu kommen, hatte uns Tage, Meilen und Rationen gekostet. Seltsamerweise machte sich Estraven weniger Sorgen über die Hunderte von Meilen, die wir noch zu überwinden hatten, als ich.»Der Schlitten ist jetzt leichter«, erklärte er.»Wenn es aufs Ende zugeht, wird er noch leichter sein. Und wenn es notwendig ist, können wir die Rationen herabsetzen. Wir haben bis jetzt eigentlich recht gut gegessen.«
Ich dachte, er hätte das ironisch gemeint, aber ich hätte ihn besser kennen müssen.
Am vierzigsten Tag und den beiden darauffolgenden waren wir von einem Blizzard eingeschneit. Während der langen Stunden, die wir untätig im Zelt herumliegen mußten, schlief Estraven beinahe ununterbrochen, aß nichts und trank bei den Mahlzeiten lediglich Orsh. Dafür bestand er darauf, daß ich etwas aß, auch wenn es nur die halbe Ration war.»Du hast keine Erfahrung im Hungern«, meinte er.
Ich fühlte mich gedemütigt.»Und du — wieviel Erfahrung hast du darin, Herr einer Domäne und Premierminister?«
»Genry, wir üben uns in der Entbehrung, bis wir Experten darin sind. Ich habe schon als Kind, zu Hause in Estre, hungern gelernt, und später dann in der Festung Rotherer, von den Handdarata, noch einmal… In Erhenrang, das muß ich zugeben, bin ich allerdings ein bißchen aus der Übung gekommen, obwohl ich es in Mishnory wieder nachgeholt habe… Bitte, tu’, was ich sage, mein Freund; ich weiß genau, was ich tue.«
Er wußte es wirklich besser, und ich gehorchte.
In bitterster Kälte — minus fünfunddreißig Grad — marschierten wir noch vier Tage weiter, bis wir in einen neuen Blizzard gerieten, der uns mit einem Sturmwind aus östlicher Richtung ansprang. Innerhalb von zwei Minuten, nach den ersten, starken Böen, war das Schneetreiben so dicht geworden, daß ich Estraven nicht mehr sehen konnte, obgleich er höchstens zwei Meter von mir entfernt war. Ich hatte ihm, dem Schlitten und diesem waagrecht heranschießenden, blendenden, erstickenden Schnee nur einen Moment den Rücken gekehrt, um wieder zu Atem zu kommen, und als ich mich wieder umdrehte, war Estraven samt dem Schlitten verschwunden, sah ich überhaupt nichts mehr. Ich stolperte ein paar Schritte weit in die Richtung, in der ich ihn zuletzt gesehen hatte, und tastete herum. Ich schrie und konnte meine eigene Stimme nicht hören. Ich war taub und ganz allein in einem von kleinen, stechenden, grauen Nadeln erfüllten Universum. Panische Angst erfaßte mich, ich stolperte blindlings weiter und rief hysterisch in der Gedankensprache: »Therem!«
Er kniete direkt unter meiner tastenden rechten Hand und antwortete ruhig:»Komm her, hilf mir mit dem Zelt.«
Ich half ihm und sagte kein Wort von meiner panischen Angst. Es war nicht nötig.
Dieser Blizzard dauerte zwei Tage; inzwischen hatten wir fünf Tage verloren, und würden noch mehr verlieren. Nimmer und Anner sind die Monate der großen Stürme.
»Es wird allmählich ein bißchen knapp, nicht wahr?«sagte ich eines Abends, als ich unsere Gichymichy-Rationen abmaß und sie zum Aufschwemmen in heißes Wasser legte.
Er sah mich an. Sein glattes, breites Gesicht verriet, wieviel Gewicht er verloren hatte: unter den Wangenknochen lagen tiefe Schatten, die Augen waren eingesunken und seine Lippen aufgesprungen, spröde und rissig. Gott allein weiß, wie ich ausgesehen haben muß, wenn er schon so aussah! Er lächelte.»Wenn wir Glück haben, schaffen wir es, und wenn wir kein Glück haben, schaffen wir es nicht.«
Das hatte er von Anfang an gesagt. Bei all meinen Befürchtungen, meinem Gefühl, ein verzweifeltes Risiko einzugehen, war ich nicht realistisch genug gewesen, ihm wirklich zu glauben.
Selbst jetzt noch dachte ich: Nachdem wir so hart gearbeitet haben, müßten wir doch…
Aber dem Eis war es völlig gleichgültig, wie hart wir arbeiteten. Warum sollte es auch nur Notiz von uns nehmen? Die Proportion bleibt gewahrt.
»In welche Richtung dreht sich dein Glücksrad, Therem?«fragte ich schließlich.
Er lächelte nicht über meine Frage, noch beantwortete er sie. Nach einer Weile sagte er:»Ich habe über sie alle da unten nachgedacht.«›Da unten‹ — das war für uns jetzt der Süden, die Welt unterhalb des Eisplateaus, die Region der Erde, der Menschen, Straßen und Städte, von denen wir uns nur noch schwer vorstellen konnten, daß sie tatsächlich existierten.»Wie du weißt, habe ich an dem Tag, als ich Mishnory verließ, dem König eine Nachricht über dich zukommen lassen. Ich habe ihm mitgeteilt, was Shusgis mir gesagt hatte — daß du auf die Pulefen Farm gebracht werden solltest. Zu jenem Zeitpunkt war ich mir über meine Absichten noch nicht ganz im klaren, sondern handelte ausschließlich intuitiv. Inzwischen habe ich jedoch diese Intuition durchdacht. Folgendes kann geschehen: Der König sieht eine Gelegenheit, shifgrethor zu spielen. Tibe wird ihm zwar abraten, doch Argaven wird allmählich von Tibe genug haben und seinen Rat ignorieren. Er wird Erkundigungen einziehen. Wo ist der Gesandte, der Gast Karhides? — Mishnory wird lügen. Höchst bedauerlich, aber er ist in diesem Herbst am Horm-Fieber gestorben. — Wieso werden wir dann von unserer eigenen Botschaft dahingehend informiert, daß er sich auf der Pulefen-Farm befindet? — Er ist nicht dort; seht selber nach. — Nein, nein, natürlich nicht; wir begnügen uns mit dem Wort der Commensalen von Orgoreyn… Doch wenige Wochen nach diesem Frage- und Antwortspiel taucht der Gesandte plötzlich als Flüchtling von der Pulefen-Farm in Nord-Karhide auf. Bestürzung in Mishnory, Empörung in Erhenrang. Gesichtsverlust für die Commensalen, die man bei einer Lüge ertappt hat. Und für König Argaven bist du ein Schatz, ein langvermißter Herdbruder, Genry. Eine Zeitlang. Du mußt sofort, bei der ersten Gelegenheit, die sich bietet, dein Sternenschiff benachrichtigen. Laß deine Leute nach Karhide kommen und erfülle deine Mission sofort, bevor Argaven Zeit hat, in dir den potentiellen Feind zu sehen, bevor Tibe oder ein anderer Ratgeber ihn unter Ausnutzung seines Wahnsinns wieder verängstigen kann. Wenn er den Vertrag mit dir abschließt, wird er ihn einhalten. Ein Vertragsbruch wäre der Todesstoß für seinen shifgrethor. Die Harge-Könige halten gegebene Versprechen. Aber du mußt schnell handeln und das Schiff so bald wie möglich herunterholen.«
»Das werde ich tun, sobald ich auch nur das kleinste Zeichen dafür erhalte, daß es willkommen ist.«
»Nein! Verzeih mir, daß ich dir einen Rat gebe, aber du darfst nicht warten, bis man zu erkennen gibt, daß ihr willkommen seid. Aber man wird dich willkommen heißen, davon, bin ich überzeugt. Und das Schiff ebenfalls. Karhide ist in diesem vergangenen Halbjahr bitter gedemütigt worden. Du wirst Argaven die Möglichkeit geben, das Blatt zu wenden. Ich denke, er wird seine Chance nutzen.«
»Sehr schön. Aber du wirst inzwischen…«
»Ich bin Estraven, der Verräter. Ich habe nicht das geringste mit dir zu tun.«
»Anfangs.«
»Anfangs«, bestätigte er.
»Kannst du dich verstecken, falls es anfangs gefährlich für dich sein sollte?«
»O ja, gewiß.«
Unsere Mahlzeit war fertig, und wir machten uns darüber her. Das Essen war eine so wichtige und intensive Beschäftigung, daß wir uns nie mehr als nötig dabei unterhielten; das Tabu hatte nun wieder seine vollkommene, möglicherweise ursprüngliche Form angenommen, und kein Wort fiel, bevor die letzte Krume verschwunden war. Als wir so weit waren, sagte er:»Nun, hoffentlich habe ich recht mit meiner Einschätzung der Lage. Du wirst… du verzeihst mir doch…«
»Daß du mir einen offenen Rat gegeben hast?«ergänzte ich, denn einige Dinge hatte ich jetzt endlich begriffen.»Natürlich verzeihe ich dir, Therem. Wie kannst du noch daran zweifeln? Du weißt, ich habe keinen shifgrethor, auf den kann ich verzichten.«Darüber war er ein wenig belustigt, aber er brütete trotzdem weiter vor sich hin.
»Warum«, fragte er mich schließlich,»warum bist du allein gekommen? Warum hat man dich ganz allein hierhergeschickt? Es hängt doch trotzdem noch alles vom Kommen dieses Schiffes ab. Warum hat man es dir, warum hat man es uns so schwer gemacht?«
»So ist es bei der Ökumene der Brauch, und es gibt gute Gründe dafür. Obgleich ich mich wirklich allmählich frage, ob ich diese Gründe jemals richtig verstanden habe. Ich dachte immer, es wäre euretwegen, daß ich allein kommen mußte — so offensichtlich allein, so ungeschützt, daß ich persönlich keine Gefahr darstellen, kein Gleichgewicht stören konnte: nicht eine Invasion, sondern einfach ein Botenjunge. Aber nein, es steckt mehr dahinter. Bin ich allein, kann ich eure Welt nicht verändern, kann aber von ihr verändert werden. Bin ich allein, muß ich auch zuhören, und nicht nur sprechen. Bin ich allein, ist der Kontakt, den ich herstelle — falls ich überhaupt einen herstelle -, weder unpersönlich noch ausschließlich politischer Natur: Er ist individuell, er ist persönlich, er ist gleichzeitig mehr und weniger als politisch. Nicht Wir und Sie; nicht Ich und Es; sondern Ich und Du. Nicht politisch, nicht pragmatisch, sondern mystisch. In gewissem Sinne ist die Ökumene keine politische Körperschaft, sondern eine mystische Körperschaft. Sie hält jeden Anfang für ungeheuer wichtig. Den Anfang und die Mittel. Ihre Doktrin ist genau das Gegenteil der Doktrin, daß der Zweck die Mittel heilige. Sie schlägt daher sehr subtile Wege, langsame, seltsame und riskante Wege ein; sie ist ein bißchen wie die Evolution, die in gewisser Hinsicht ihr Vorbild ist… Wurde ich also euretwegen allein geschickt? Oder meinetwegen? Ich weiß es nicht. Ja, es stimmt — es hat die Dinge erschwert. Aber ich könnte euch ebensogut fragen, warum ihr nie auf die Idee gekommen seid, Flugkörper zu erfinden? Ein einziges, kleines gestohlenes Flugzeug hätte euch und mir eine Menge Ärger erspart.«
»Wie soll ein normal denkender Mensch je darauf kommen, daß er fliegen kann?«erwiderte Estraven streng. Das war eine gerechtfertigte Antwort — jedenfalls auf einer Welt, auf der kein Lebewesen Flügel hat und sogar die Engel der Yomesh- Heiligenhierarchie nicht fliegen können, sondern flügellos zur Erde herabsinken wie weiche Schneeflocken oder wie die vom Wind getragenen Samen dieser Welt, die keine Blüten kennt.
Gegen die Mitte des Nimmer-Monats kamen wir, nach vielen Stürmen und bitterer Kälte, in ruhigeres Wetter, das einige Tage anhielt. Wenn es einmal irgendwo Sturm gab, dann höchstens weit südlich von uns, ›da unten‹, während wir im Zentrum des Blizzards Windstille hatten, und nur eine leichte Wolkendecke dein Himmel überzog. Zuerst war die Wolkendecke sehr dünn, so daß die Luft von einem gleichmäßigen, wie aus indirekter Quelle kommenden Sonnenlicht erfüllt war, weil es sowohl von den Wolken als auch vom Schnee, von oben und von unten, reflektiert wurde. Eines Nachts jedoch wurden die Wolken dichter. Am nächsten Morgen war das helle Strahlen verschwunden, und auf einmal war gar nichts mehr da. Wir traten aus unserem Zelt ins Nichts. Schlitten und Zelt waren da, Estraven stand neben mir, doch weder er noch ich warfen einen Schatten. Überall um uns herum herrschte ein mattes, alles durchdringendes Licht. Als wir über den knirschenden Schnee gingen, zeigte kein Schatten unsere Fußspuren. Wir hinterließen keine Fährte. Schlitten, Zelt, er und ich: sonst nichts. Keine Sonne, kein Himmel, kein Horizont, keine Welt. Ein weißlich-graues Nichts, in dem wir richtungslos zu hängen schienen. Die Illusion war so vollkommen, daß es mir Mühe machte, das Gleichgewicht zu bewahren. Mein Innenohr war zu sehr daran gewöhnt, von meinen Augen die Bestätigung der Position zu erhalten, in der ich mich gerade befand, doch hier erhielt es diese Bestätigung nicht. Ich hätte ebensogut blind sein können. Solange wir aufluden, ging es noch, aber dann anschließend das Ziehen, ohne etwas, das vor uns lag, ohne etwas, nach dem wir uns umdrehen konnten, ohne jede Orientierung, ohne überhaupt den geringsten Anhaltspunkt für das Auge, war anfangs unangenehm, später ermüdend. Wir liefen auf Skiern über eine gute Firnfläche ohne Sastrugi, die — das stand fest — auf etwa zweitausend Meter Tiefe fest gepackt war. Wir hätten schnell vorankommen müssen. Statt dessen jedoch wurden wir immer langsamer und mußten uns den Weg über diese vollkommen glatte Ebene ertasten: Es kostete uns enorme Willenskraft, ein normales Tempo einzuhalten. Jede winzige Veränderung in der Oberfläche kam wie ein Schock — ungefähr wie beim Treppensteigen im Dunkeln die unerwartete letzte oder die erwartete, aber nicht vorhandene Stufe -, denn wir konnten vor uns nichts erkennen: Es gab keinen Schatten, der uns ein Hindernis gezeigt hätte. Wir liefen blindlings, trotz offener Augen. So ging es einen Tag nach dem anderen. Wir waren gezwungen, die Tagesmärsche zu verkürzen, denn schon am Nachmittag begannen wir beide vor Anstrengung und Erschöpfung zu schwitzen und zu zittern. Es kam so weit, daß ich mich nach Schnee, nach einem Blizzard, nach irgendeiner Veränderung sehnte. Doch jeden Morgen, wenn wir das Zelt verließen, betraten wir dieses Nichts, diese Weiße, die Estraven ›Unschatten‹ nannte.
Eines Tages, an Odorny Nimmer, dem einundsechzigsten Tag unserer Reise, begann dieses matte, blinde Nichts um uns herum gegen Mittag plötzlich zu fließen und zu wirbeln. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, weil sie mich schon so häufig genarrt hatten, und schenkte dieser schwachen, bedeutungslosen Luftbewegung nur wenig Beachtung, bis ich auf einmal hoch oben eine kleine, blasse, tote Sonne entdeckte. Und als ich meinen Blick von der Sonne abwandte und nach vorn richtete, sah ich aus dem Nichts einen riesigen, schwarzen Schatten auf uns zukommen. Schwarze Tentakeln reckten sich empor, griffen nach uns. Ich erstarrte mitten im Schritt, so daß ich Estraven auf seinen Skiern herumriß, denn wir gingen nebeneinander im Geschirr.»Was ist das?«
Er starrte auf die vom Nebel verschleierten, dunklen Ungeheuer und sagte schließlich:»Die Crags… Das müssen Esherhoth-Cragsrags sein.«Und setzte sich wieder in Bewegung. Wir waren noch meilenweit von den Dingern entfernt, die ich für so nah gehalten hatte, daß ich glaubte, sie hätte greifen zu können. Als sich das weiße Nichts dann in einen dichten Bodennebel verdichtete und das Wetter endlich aufklarte, sahen wir sie deutlich vor der untergehenden Sonne daliegen: Nunataks, große, zerklüftete und zerrissene Felsspitzen, die senkrecht aus dem Eis ragen und von denen nicht mehr sichtbar ist als von einem Eisberg über Wasser: kalte, im Eis ertrunkene Vulkane, die seit Äonen schon tot sind.
An ihnen erkannten wir, daß wir uns ein wenig nördlich der kürzesten Route befanden — das heißt, falls wir uns auf die schlecht gezeichnete Karte verließen, die wir als einziges Hilfsmittel hatten. Am nächsten Tag marschierten wir zum erstenmal ein bißchen mehr in südöstliche Richtung.