DRITTES KAPITEL Der wahnsinnige König

Ich schlief lange und verbrachte den Rest des Vormittags damit, meine Notizen über die Palast-Etikette und die Beobachtungen meiner Vorgänger, der Investigatoren, über Gethenianische Psychologie und Gebräuche zu lesen. Mein Verstand nahm nicht auf, was ich las, aber das war nicht weiter schlimm, da ich das alles bereits auswendig konnte und eigentlich nur las, um meine innere Stimme zu übertönen, die mir unaufhörlich zuflüsterte: Es ist alles fehlgeschlagen. Als die Stimme nicht schweigen wollte, begann ich mit ihr zu diskutieren, ihr zu versichern, daß ich auch ohne Estraven auskommen könne, besser vielleicht sogar, als mit ihm zusammen. Schließlich war meine Aufgabe hier ein Ein-Mann- Job. Es gibt immer nur einen Ersten Mobilen. Die erste Botschaft der Ökumene wird auf jeder Welt nur von einer einzigen Stimme vorgetragen, von einem einzigen Mann, der persönlich anwesend ist und allein. Er kann getötet werden, wie Pelleige auf Four-Taurus, er kann mit Verrückten zusammengesperrt werden, wie einer nach dem anderen die ersten drei Mobilen auf Gao; und trotzdem wird diese Praxis beibehalten, weil sie auf lange Sicht erfolgreich ist. Eine einzige Stimme, die die Wahrheit spricht, ist eine größere Macht als Flotten und Armeen — wenn man ihr Zeit läßt; viel Zeit. Doch Zeit hat die Ökumene mehr als genug… Du aber nicht, konterte die innere Stimme. Ärgerlich brachte ich sie zum Schweigen und erschien um die zweite Stunde zu meiner Audienz beim König voll Ruhe und Entschlossenheit im Palast, um schon im Vorzimmer, noch ehe ich den König überhaupt zu Gesicht bekommen hatte, wieder in Unruhe und Zweifel gestürzt zu werden.

Wachen und Bedienstete hatten mich durch die langen Flure und Korridore des königlichen Palastes ins Vorzimmer geführt. Ein Adjutant bat mich zu warten und ließ mich in dem hohen, fensterlosen Raum allein. Da stand ich nun, fein herausgeputzt für meine Begegnung mit dem Herrscher. Ich hatte meinen vierten Rubin verkauft (die Investigatoren hatten berichtet, daß die Gethenianer Juwelen aus Kohle ebenso hoch bewerten wie die Terraner; deswegen hatte ich als finanziellen Grundstock eine Tasche voll Steine mitgebracht, als ich nach Winter kam) und ein Drittel des Erlöses auf angemessene Kleidung für den gestrigen Festzug und die heutige Audienz verwendet — alles neu, überaus schwer und gut verarbeitet, wie alle Kleidungsstücke in Karhide: weißes, pelzgestricktes Hemd, graue Kniehosen, die lange wappenrockähnliche Übertunika, hieb genannt, aus blaugrünem Leder, neue Kappe, neue, im vorgeschriebenen Winkel unter den losen hieb-Gürtel gesteckte Handschuhe, neue Stiefel… Das Bewußtsein, gut gekleidet zu sein, verstärkte meine Ruhe und Entschlossenheit wieder. Ruhig und entschlossen sah ich mich um.

Wie alle königlichen Gemächer war auch dieser Raum hoch, rot, alt, kahl und von einer modrigen Kälte erfüllt. Überall zog es, und mir schien, als käme die kalte Luft nicht durch schlechtschließende Fenster und Türen, sondern streiche aus anderen Jahrhunderten herüber. Im großen Kamin loderte ein Feuer, aber es war völlig wirkungslos. In Karhide sind die Feuer da, den Geist zu erwärmen, nicht das Fleisch. Das Zeitalter der Technisierung in Karhide dauert schon mindestens dreitausend Jahre, und die Bewohner haben während dieser drei Jahrtausende ausgezeichnete und wirtschaftliche Zentralheizungsanlagen für Dampf, Elektrizität und andere Brennstoffe entwickelt, aber sie installieren sie nicht in ihren Häusern. Vielleicht, weil sie sonst ihre physiologische Wetterfestigkeit verlieren würden: wie arktische Vögel, denen nach längerem Aufenthalt in warmen Zelten die Füße erfrieren. Ich dagegen, ein tropischer Vogel, fror; fror außerhalb des Hauses in der einen Form, innerhalb des Hauses in einer anderen, jedoch unablässig und durch und durch. Jetzt wanderte ich auf und ab, um mich zu erwärmen. Außer mir selbst und dem Feuer gab es in diesem langen Vorzimmer nur wenig zu sehen: einen Hocker, einen Tisch mit einer Schale Fingersteine und ein uraltes Radio aus geschnitztem Holz, mit Einlegearbeiten aus Silber und Bein, das Meisterstück eines Handwerkers. Es spielte kaum hörbar, deswegen stellte ich es ein wenig lauter und hörte, daß ein Palast-Bulletin die eintönige Musik oder die monotonen Gesänge unterbrach, die sonst ständig gesendet wurden. In der Regel lesen die Karhider nicht viel; sie ziehen es vor, Nachrichten und Literatur zu hören statt sie zu sehen. Bücher und Fernsehgeräte sind daher weniger gebräuchlich als Radios, und Zeitungen existieren nicht. Ich hatte das Morgenbulletin an meinem Apparat zu Hause verpaßt und hörte jetzt, da ich mit meinen Gedanken woanders war, auch nur mit halbem Ohr hin. Bis mich die mehrfache Wiederholung des Namens schließlich aufhorchen ließ und ich auf meiner Wanderung durch den Saal innehielt. Was war mit Estraven? Eine Proklamation wurde verlesen.

»Hiermit wird kund und zu wissen getan, daß Therem Harth rem ir Estraven, Lord von Estre in Kerm, auf Befehl des Königs den Lordstitel des Königreiches und seinen Sitz in den Versammlungen des Königreichs verwirkt hat und das Königreich, sowie alle Domänen von Karhide umgehend verlassen muß. Hat er das Königreich und alle Domänen nicht innerhalb von drei Tagen verlassen, oder kehrt er zu seinen Lebzeiten ins Königreich zurück, darf er von einem jeden, dem er begegnet, ohne weiteres zu Tode gebracht werden. Es ist jedem Einwohner von Karhide unter Androhung von Gefängnisstrafe verboten, mit Harth rem ir Estraven zu sprechen oder ihn in seinem Haus oder auf seinem Land aufzunehmen; ebenso ist es jedem Einwohner von Karhide unter Androhung des Verkehrs und Geldstrafe verboten, Harth rem ir Estraven Geld oder Gut zu schenken oder zu leihen oder ihm eine Schuld zu bezahlen. Hiermit sei allen Einwohnern von Karhide kund und zu wissen getan, daß das Verbrechen, für das Harth rem ir Estraven verbannt wird, das Verbrechen des Verrats ist: heimlich und offen, in der Versammlung und im Palast hat er unter dem Vorwand, seinem König treu zu dienen, darauf gedrängt, daß das National-Dominion Karhide seine Souveränität aufgebe und auf seine Macht verzichte, um sich als minderes und unterworfenes Land einem gewissen Völkerbund anzuschließen, den es, wie allen Menschen kund und zu wissen getan sei, überhaupt nicht gibt, sondern der ein übler Trick und eine jeder Grundlage entbehrende Erfindung gewisser verschwörerischer Verräter ist, deren Ziel darin besteht, zugunsten der wahren und unmittelbaren Feinde des Landes die Autorität von Karhide in der Person des Königs zu schwächen. Odguyrny Tuwa, achte Stunde, im Palast von Erhenrang: ARGAVEN HARGE.«

Dieser Erlaß wurde auch gedruckt und an mehreren Toren und Pfeilern der Stadt angeschlagen. Der obige Text stammt wortgetreu von einem dieser Anschläge.

Meine erste, impulsive Reaktion war simpel. Ich stellte das Radio ab, als wolle ich es daran hindern, gegen mich auszusagen, und huschte zur Tür. Dort aber blieb ich natürlich stehen. Ich kehrte zu dem Tisch am Kamin zurück und zögerte. Ich war jetzt weder ruhig noch entschlossen. Am liebsten hätte ich meinen Koffer geöffnet, den Ansible herausgeholt und einen Anfrage-Dringend-Ruf nach Hain gesendet. Auch diesen Impuls unterdrückte ich, da er noch törichter war als der erste. Zum Glück blieb mir keine Zeit für weitere Einfälle. Die Doppeltür am Ende des Vorzimmers wurde geöffnet, ein Adjutant trat heraus, um mich vorbeizulassen, meldete mich:»Genry Ai«- mein Name lautet Genly, doch Karhider können kein ›l‹ aussprechen — und ließ mich im roten Saal mit König Argaven XV. allein.

Der rote Saal des königlichen Hauses ist ein immens hoher und langer Raum. Eine halbe Meile bis zu den Kaminen. Eine halbe Meile bis zu der mit roten, verstaubten und von der Zeit vergilbten und zerschlissenen Fahnen und Bannern verhängten Balkendecke hinauf. Die Fenster nicht mehr als schmale Schlitze in dicken Mauern, die Lampen spärlich, hoch oben aufgehängt, mattes Licht. Meine neuen Stiefel knarren — iiik- iik, iiik-iiik -, als ich gemessen auf den König zuschreite: eine Sechsmonatswanderung.

Argaven stand vor dem mittleren und größten der drei Kamine auf einer niedrigen, breit ausladenden Bühne: eine gedrungene Gestalt in rötlichem Feuerschein, ziemlich beleibt, sehr aufrecht, eine dunkle, konturenlose Silhouette, an der nur der große Siegelring am Daumen lebendig glänzte.

Ich blieb an der Rampe der Bühne stehen und verhielt mich so, wie man es mir beigebracht hatte: Ich tat und sagte nichts.

»Kommen Sie herauf, Mr. Ai. Setzen Sie sich.«

Ich gehorchte und nahm den rechten Sessel neben dem mittleren Kamin. Ich war ausgezeichnet gedrillt worden. Argaven selbst setzte sich nicht, sondern blieb drei Meter von mir entfernt stehen, die knisternden, hellen Flammen malerisch hinter sich, und kam sofort zur Sache.»Sagen Sie mir, was Sie mir zu sagen haben, Mr. Ai. Wie man mir mitteilte, haben Sie eine Botschaft für mich.«

Das Gesicht, das sich mir zuwandte, rot durch den Feuerschein und voll Schatten, war ebenso flach und grausam wie der Mond, Winters matter, rotbrauner Mond. Hier, aus der Nähe, wirkte Argaven weniger königlich, weniger männlich als aus der Ferne inmitten all seiner Höflinge. Er hatte eine dünne Stimme und hielt seinen wilden, Wahnsinn verratenden Kopf in wunderlich arroganter Pose.

»Majestät, was ich zu sagen habe, ist mir entfallen. Soeben erst hörte ich, daß Lord Estraven in Ungnade gefallen ist.«

Argaven lächelte — ein breites, starres Grinsen. Er lachte schrill wie eine keifende Frau, die sich lustig gibt.»Er sei verflucht, dieser überhebliche, anmaßende, eidbrüchige Verräter!«schimpfte er.»Sie haben gestern abend bei ihm gegessen, nicht wahr? Und er hat Ihnen erklärt, was für ein mächtiger Mann er ist, wie er den König manipulieren kann und wieviel leichter es Ihnen fallen wird, mit mir zu verhandeln, nachdem er mit mir über Sie gesprochen hat, wie? Hat er Ihnen das gesagt, Mr. Ai?«

Ich zögerte.

»Ich werde Ihnen sagen, was er mir von Ihnen erzählt hat, falls es Sie interessiert. Er hat mir geraten, Ihnen die Audienz zu verweigern, sie weiter warten zu lassen, Sie vielleicht sogar nach Orgoreyn oder den Inseln zu schicken. Den ganzen Halbmonat lang hat er mir das gesagt, mit seiner verdammten Unverschämtheit! Statt dessen wird nun er nach Orgoreyn geschickt — ha, ha, ha!«Abermals dieses schrille, gekünstelte Lachen, und jetzt klatschte er dabei sogar noch in die Hände. Sofort erschien lautlos ein Wachtposten zwischen den Vorhängen am Ende der Bühne. Argaven knurrte ihn an und knurrte noch immer, als er zu mir herüberkam und mich offen anstarrte. Die dunkle Iris seiner Augen glühte eine Spur orangefarben. Ich fürchtete mich weit mehr vor ihm als ich erwartet hatte.

Bei all diesen Widersprüchen sah ich keinen anderen Kurs, den ich hätte steuern können, als den der Freimütigkeit. Deswegen sagte ich:»Darf ich Sie fragen, Sir, ob ich als an Estravens Verbrechen beteiligt gelte?«

»Sie? Nein.«Er starrte mich noch durchdringender an.»Ich weiß zwar nicht, was Sie eigentlich sind, Mr. Ai, ein sexuelles Monstrum, ein künstliches Ungeheuer oder ein Besucher aus den Domänen des Nichts, doch ein Verräter sind Sie nicht. Sie waren lediglich das Werkzeug eines Verräters, und Werkzeuge bestrafe ich nicht. Sie richten nur in den Händen eines schlechten Handwerkers Schaden an. Aber ich möchte Ihnen einen Rat geben.«Das sagte Argaven mit merkwürdigem Nachdruck und seltsamer Genugtuung, und plötzlich fiel mir ein, daß mir in diesen ganzen zwei Jahren noch nie jemand einen Rat gegeben hatte. Die Leute hier beantworteten meine Fragen, aber sie gaben mir nie einen Rat, nicht einmal Estraven, als er noch mein Protektor war. Es mußte irgend etwas mit shifgrethor zu tun haben.»Lassen Sie sich von niemandem ausnutzen, Mr. Ai«, sagte der König.»Halten Sie sich fern von den Parteien. Erzählen Sie Ihre eigenen Lügen, führen Sie Ihre eigenen Pläne aus. Aber trauen Sie niemandem. Hören Sie? Trauen Sie niemandem. Dieser verdammte, kaltblütige, lügnerische Verräter — ich habe ihm vertraut! Ich habe ihm die Silberkette um den verdammten Hals gelegt. Ich wünschte, ich hätte ihn daran aufgehängt! Ich habe ihm noch nie vertraut. Niemals. Trauen Sie niemandem! Soll er in den Jauchegruben von Mishnory beim Müllwühlen verhungern, sollen seine Eingeweide verfaulen, damit er nie…«König Argaven zitterte, schnappte nach Luft, holte mit einem würgenden Geräusch tief Atem und kehrte mir den Rücken. Er trat gegen die Holzscheite des großen Feuers, bis ihm die Funken ins Gesicht stoben, auf seine Haare und seine schwarze Tunika fielen und er mit den flachen Händen nach ihnen schlagen mußte.

Ohne sich wieder zu mir umzuwenden, sagte er mit schriller, gequälter Stimme:»Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, Mr. Ai.«

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Sir?«

»Ja.«Dem Feuer zugewandt, wiegte er sich von einem Fuß auf den anderen. Ich mußte zu seinem Rücken sprechen.

»Glauben Sie mir, daß ich bin, was ich zu sein behaupte?«

»Estraven ließ mir von den Ärzten endlose Bänder über Sie vorlegen, und ebenfalls von den Ingenieuren der Werkstätten, in denen Ihr Flugschiff steht. Die können nicht allesamt Lügner sein, aber sie sagen alle, daß Sie kein Mensch sind. Also was?«

»Was, Sir? Es gibt noch andere wie ich. Das heißt, ich bin ein Vertreter…«

»Dieses Bundes, dieser Autorität, ja, ja, schon gut. Weshalb hat man Sie hergeschickt — wollten Sie, daß ich das frage?«

Argaven mochte weder geistig gesund noch besonders scharfsinnig sein, aber er besaß eine langjährige Erfahrung auf dem Gebiet der Ausweichmanöver, Herausforderungen und rhetorischen Finessen, deren sich alle diejenigen bei einer Konversation bedienen, deren Hauptziel im Leben darin besteht, eine möglichst hohe Stufe des shifgrethor- Verhältnisses zu erreichen und zu halten. Weite Gebiete dieses Verhältnisses waren für mich noch immer ein Buch mit sieben Siegeln, ein wenig wußte ich jedoch über seinen kämpferischen, prestigeheischenden Aspekt und über die unaufhörlichen Rededuelle, die daraus erwachsen können. Daß ich mich mit Argaven nicht duellierte, sondern zu verständigen suchte, war an sich schon eine Tatsache, die ich ihm niemals begreiflich machen konnte.

»Ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, Sir. Die Ökumene wünscht eine Allianz mit den Nationen von Gethen.«

»Zu welchem Zweck?«

»Materieller Profit. Erweiterung des Wissens. Steigerung der Komplexität und Intensität auf dem Gebiet des intelligenten Lebens. Vermehrung der Harmonie und der Herrlichkeit Gottes. Neugier. Abenteuer. Freude.«

Ich redete nicht in der Sprache jener, die Menschen regieren, der Sprache der Könige, Eroberer, Diktatoren, Generale; in dieser Sprache gab es keine Antwort auf seine Frage. Mißmutig und unaufmerksam starrte Argaven, von einem Fuß auf den anderen tretend, ins Feuer.

»Wie groß ist dieses Königreich da draußen im Nirgendwo, diese Ökumene?«

»Die Ökumene umfaßt dreiundachtzig bewohnbare Planeten mit über dreitausend Nationen oder anthrotypischen Gruppen…«

»Dreitausend? Aha. Dann erklären Sie mir bitte, warum wir — einer gegen dreitausend — uns mit all diesen im Nichts lebenden Nationen von Monstren einlassen sollten?«Jetzt drehte er sich herum und sah mich an, denn für ihn war dies noch immer ein Duell und seine Frage eine rhetorische, ja beinahe eine scherzhafte. Allerdings ging dieser Scherz nicht gerade tief. Argaven war, wie Estraven es mir vorausgesagt hatte, beunruhigt, bestürzt.

»Ganz recht, Sir: dreitausend Nationen auf dreiundachtzig Welten. Aber um diejenige zu erreichen, die Gethen am nächsten liegt, braucht man in Schiffen, die fast mit Lichtgeschwindigkeit fliegen, siebzehn Jahre. Wenn Sie befürchten, daß Gethen von seinen Nachbarn belästigt oder gar in Kämpfe verwickelt würde — bedenken Sie doch bitte die Entfernung, in der sie von hier leben. Wenn es gilt, Weltraumentfernungen zu überwinden, lohnt sich kein Streit.«Ich sprach aus gutem Grund nicht von Krieg; in Karhidisch gibt es kein Wort dafür.»Der Handel dagegen lohnt sich sehr. Austausch von Ideen und technischen Methoden, durch Ansible übermittelt; Austausch von Waren und Gebrauchsgütern, verschickt mit bemannten oder unbemannten Schiffen. Gesandte, Gelehrte und Kaufleute — einige von ihnen kommen vielleicht hierher, während einige von den euren die Welt hier verlassen werden. Die Ökumene ist kein Königreich, sondern ein Koordinator, ein Umschlagplatz für Handel und Wissen. Ohne sie bliebe die Kommunikation zwischen den Bewohnern der verschiedenen Welten mehr oder weniger dem Zufall überlassen, bliebe der Handel ein riskantes Unternehmen, wie Sie ja sehen. Das Leben der Menschen ist zu kurz für die Zeitsprünge zwischen den Welten, wenn es kein Verkehrs- und Nachrichtennetz und keine Zentrale gäbe, keine Kontrolle, keine Kontinuität, mit deren Hilfe man arbeiten kann. Deswegen werden sie Mitglieder der Ökumene… Wir alle sind Menschen, Sir. Alle. Alle von Menschen bewohnten Welten wurden vor Äonen von einer Welt aus besiedelt: von Hain. Wir sind zwar verschieden, haben uns in Jahrtausenden verändert, aber wir sind alle Kinder desselben Herdes…«

Nichts von alledem, was ich sagte, erregte das Interesse des Königs oder war geeignet, ihn zu beruhigen. Ich redete noch ein wenig weiter, wobei ich ihm zu versichern suchte, daß sein — oder Karhides — shifgrethor durch die Mitgliedschaft der Ökumene erhöht und nicht bedroht werde, aber es hatte keinen Sinn. Argaven stand mißmutig wie ein alter Otter in einem Käfig vor dem Kamin, wiegte sich hin und her, hin und her, von einem Fuß auf den anderen, und entblößte mit gequältem Grinsen seine Zähne. Ich hielt inne.

»Sind eigentlich alle so schwarz wie Sie?«

Gethenianer sind im allgemeinen gelblich- bis rötlichbraun, aber ich hatte auch eine ganze Menge gesehen, die ebenso dunkel waren wie ich.»Einige sind dunkler«, sagte ich.»Es gibt uns in allen Farben.«Und nun öffnete ich den Koffer (bei meinem Anmarsch auf den roten Saal viermal sehr höflich von den Palastwachen kontrolliert), der meinen Ansible und einige Bilder enthielt. Die Bilder — Filme, Fotos, Gemälde, Aktive und einige Kuben — stellten eine kleine Galerie von Menschen dar: Bewohner von Hain, Chiffewar und den Cetians, von S, Terra und Alterra, von den Uttermosts, von Kapteyn, Ollul, Four-Taurus, Rokanan, Ensbo, Cime, Gde und Sheashel Haven… Ein paar davon betrachtete der König mit Neugier.»Was ist denn das?«

»Ein Mensch von Cime, weiblich.«Ich mußte das Wort benutzen, mit dem die Gethenianer nur einen Menschen im Höhepunkt der Kemmer bezeichnen; die einzige Alternative war das Wort für ein weibliches Tier.

»Ständig?«

»Ja.«

Er ließ den Kubus fallen und blieb, mich an- oder an mir vorbeistarrend, eine Weile stehen. Noch immer wiegte er sich von einem Fuß auf den anderen; der Feuerschein tanzte auf seinem Gesicht.»Sind sie alle so — so wie Sie?«

Das war eine Hürde, die ich ihnen nicht erleichtern konnte. Sie würden letztlich lernen müssen, sie zu nehmen.

»Ja. Die Sexualphysiologie der Gethenianer ist, soweit wir bis jetzt wissen, einzigartig unter den Menschen.«

»Dann befinden sich also alle Menschen auf diesen anderen Planeten in ständiger Kemmer? Eine Gesellschaft von Pervertierten? So hat es Lord Tibe einmal genannt; ich habe gedacht, er mache einen Scherz. Nun ja, Mr. Ai, das mag alles stimmen, aber es ist eine widerwärtige Vorstellung, und ich sehe nicht ein, weshalb die Menschen hier auf der Erde eine Verbindung mit Kreaturen, die sich auf eine dermaßen monströse Art von ihnen unterscheiden, wünschen oder tolerieren sollten. Aber vielleicht sind Sie ja gekommen, um mir zu erklären, daß es für mich in dieser Angelegenheit keine Wahl gibt.«

»Die Wahl — für Karhide — bleibt Ihnen überlassen, Sir.«

»Und wenn ich Sie ebenfalls hinauswerfe?«

»Dann werde ich gehen. Möglicherweise werde ich es später, mit einer anderen Generation, abermals versuchen…«

Das saß.»Sind Sie unsterblich?«fuhr er mich an.

»Durchaus nicht, Sir. Aber die Zeitsprünge haben ihre guten Seiten. Wenn ich Gethen jetzt verlassen und zur nächstbenachbarten Welt, Ollul, hinüberfliegen würde, dann würde mich die Reise siebzehn Jahre planetarischer Zeit kosten. Das Zeitspringen ist eine Fortbewegungsfunktion, die beinahe so schnell ist wie das Licht. Wenn ich auf Ollul einfach kehrtmachen und zurückkommen würde, dann wären während der wenigen Stunden, die ich auf dem Schiff verbracht habe, hier vierunddreißig Jahre vergangen, und ich könnte noch einmal von vorn anfangen.«Doch der Gedanke des Zeitspringens mit dem Schein der Unsterblichkeit, der von den Fischern von Horden Island bis zum Premierminister alle fasziniert hatte, die mir zuhörten, ließ ihn kalt. Mit seiner schrillen, harten Stimme fragte er:»Was haben Sie da?«Er deutete auf den Ansible.

»Das ist ein Ansible-Kommunikator, Sir.«

»Ein Radio?«

»Er funktioniert weder mit Radiowellen noch mit irgendeiner anderen Form von Energie. Das Prinzip, auf dem seine Funktion basiert, die Konstante der Simultaneität, ist in gewisser Weise der Schwerkraft analog…«Wieder einmal hatte ich vergessen, daß ich nicht mit Estraven sprach, der jeden einzelnen Bericht über mich gelesen hatte und all meinen Erklärungen aufmerksam und verständnisvoll lauschte, sondern mit einem gelangweilten König.»Er produziert eine Botschaft gleichzeitig an zwei Punkten. Überall. Ein Punkt allerdings muß feststehend sein, auf einem Planeten einer bestimmten Masse, das andere Ende aber ist tragbar. Dieses hier. Ich habe die Koordinaten für Hain, die Präsidiumswelt, eingestellt. Ein NAFAL-Schiff braucht für die Reise von Gethen nach Hain siebenundsechzig Jahre, wenn ich aber jetzt auf diesem Schirm eine Botschaft schreibe, wird sie auf Hain im selben Augenblick empfangen, in dem ich sie schreibe. Möchten Sie den Stabilen auf Hain vielleicht etwas mitteilen, Sir?«

»Ich spreche nicht Nichtsisch«, antwortete der König mit seinem stumpfen, bösartigen Grinsen.

»Ich habe vorher Bescheid gesagt. Es wird ein Adjutant bereitstehen, der Karhidisch übersetzen kann.«

»Was soll das heißen? Wie?«

»Nun, Sir, wie Sie wissen, bin ich nicht der erste Fremde, der nach Gethen kommt. Vor mir war bereits eine Gruppe von Investigatoren hier, die sich aber nicht ankündigten, sondern so gut es ging als Gethenianer tarnten. Ein Jahr lang sind sie in Karhide, Orgoreyn und dem Archipel herumgereist. Dann verließen sie Gethen wieder und erstatteten dem Rat der Ökumene Bericht: das war vor vierzig Jahren, während der Regierungszeit Ihres Großvaters, und ihr Bericht fiel überaus positiv aus. Deswegen studierte ich alle Informationen, die sie gesammelt, sowie die Sprachen, die sie aufgezeichnet hatten, und kam. Möchten Sie einmal sehen, wie der Apparat funktioniert, Sir?«

»Ich liebe keine Tricks, Mr. Ai.«

»Es ist kein Trick, Sir. Einige Ihrer eigenen Wissenschaftler haben ihn…«

»Ich bin kein Wissenschaftler.«

»Sie sind ein Monarch, Sir. Ihre Amtsbrüder auf der Präsidiumswelt der Ökumene warten auf ein Wort von Ihnen.«

Er starrte mich wütend an. Bei dem Versuch, ihm zu schmeicheln und sein Interesse zu wecken, hatte ich ihn in eine Prestige-Falle manövriert. Alles ging schief.

»Nun gut. Fragen Sie Ihre Maschine da, was ein Verräter ist.«

Langsam tippte ich auf den Tasten, die auf karhidische Buchstaben eingestellt waren:»König Argaven von Karhide fragt die Stabilen auf Hain, was ein Verräter ist.«Die Lettern leuchteten auf dem kleinen Bildschirm auf und verblaßten wieder. Argaven sah zu; seine rastlosen Augen standen endlich einmal still.

Nun kam eine Pause — eine lange Pause. Zweifellos war jetzt, zweiundsiebzig Lichtjahre entfernt, irgend jemand fieberhaft damit beschäftigt, Fragen in den Sprachencomputer für Karhidisch, wenn nicht sogar in einen Philosophiespeichercomputer zu füttern. Endlich leuchteten die Buchstaben auf dem Bildschirm auf, blieben eine Weile stehen und verblaßten dann langsam:»An König Argaven von Karhide auf Gethen. Grüße. Ich weiß nicht, was ein Verräter ist. Niemand hält sich für einen Verräter, daher ist es schwierig, die Antwort auf diese Frage zu finden. Hochachtungsvoll, Spimolle G. F. in Vertretung der Stabilen, Saire auf Hain, 93/1491/45.«

Als die Bandaufzeichnung fertig war, zog ich sie heraus und reichte sie Argaven. Er warf sie achtlos auf den Tisch, ging wieder zum mittleren Kamin, so nah, daß er beinahe hineinfiel, trat gegen die lodernden Scheite und schlug mit der flachen Hand nach den Funken.»Eine Antwort, mit der ich ebensoviel oder so wenig anfangen kann wie mit der Antwort eines Weissagers. Doch Antworten genügen nicht, Mr. Ai. Genausowenig wie Ihr Kasten da, Ihre Maschine. Und Ihr Fahrzeug, Ihr Schiff. Ein Sack voll Tricks, und ein Schwindler. Sie verlangen von mir, daß ich Ihre Märchen und Botschaften glaube. Aber warum sollte ich Ihnen glauben, warum Ihnen überhaupt zuhören? Sie sagen, daß unter den Sternen achtzigtausend Welten voll Monstren existieren. Na und? Wir wollen nichts von ihnen. Wir haben unseren Lebensweg gewählt und folgen ihm schon seit langer Zeit. Karhide steht am Beginn einer neuen Epoche, eines großartigen neuen Zeitalters. Wir gehen unseren eigenen Weg.«Er stockte, als habe er den Faden seiner Beweisführung verloren. Die möglicherweise gar nicht mal seine eigene war: Wenn Estraven nicht mehr das Ohr des Königs war, mußte ein anderer seinen Platz einnehmen.»Und wenn diese Ökumenen von uns etwas wollten, dann hätten sie Sie nicht ganz allein hergeschickt. Nein, nein, das Ganze ist ein Witz, ein schlechter Scherz. Sonst wären jetzt Tausende von Fremden hier.«

»Man braucht nicht tausend Mann, um eine Tür zu öffnen, Sir.«

»Aber vielleicht, um sie offenzuhalten.«

»Die Ökumene wird warten, bis Sie sie öffnen, Sir. Sie wird Ihnen nichts aufzwingen. Ich wurde allein geschickt, und bleibe allein hier, damit es Ihnen unmöglich ist, mich zu fürchten.«

»Fürchten — Sie?«sagte der König mit lauter, schriller Stimme, während er mir sein schattenzernarbtes, grinsendes Gesicht zuwandte.»Aber ich fürchte Sie ja, Gesandter. Ich fürchte diejenigen, die Sie geschickt haben. Ich fürchte Lügner, ich fürchte Schwindler und am meisten fürchte ich die bittere Wahrheit. Und darum regiere ich mein Land gut. Denn einzig die Furcht regiert die Menschen. Sonst nichts. Nichts dauert lange genug. Sie sind das, was Sie zu sein behaupten, und dennoch sind Sie ein Witz, ein schlechter Scherz. Zwischen den Sternen ist nichts als leerer Raum, Schrecken und Dunkelheit, und plötzlich kommen Sie ganz allein aus diesem Schrecken und dieser Dunkelheit, diesem Nichts hierher und versuchen, mich in Furcht zu versetzen. Aber ich fürchte mich bereits, und außerdem bin ich der König. Die Furcht ist König! Jetzt nehmen Sie Ihre Siebensachen und verschwinden Sie. Es gibt nichts mehr zu sagen. Ich habe befohlen, Ihnen in Karhide volle Bewegungsfreiheit zu gewähren.«

Und so entfernte ich mich — iiik-iiik, iiik-iiik — aus der Gegenwart des Königs und schritt über den endlosen, roten Fußboden durch das rötliche Dämmerlicht des Saals, bis sich die Doppeltüren hinter mir schlossen.

Ich hatte versagt, in jeder Hinsicht versagt. Was mich aber beunruhigte, als ich das Haus des Königs verließ und durch das Palastgelände wanderte, war nicht mein Versagen, sondern die Rolle, die Estraven dabei gespielt hatte. Warum hatte ihn der König wegen seiner Fürsprache für die Ökumene verbannt, wie es aus der Proklamation hervorging, da er doch, wenn man dem König glauben wollte, genau das Gegenteil getan hatte? Wann hatte er dem König wohl zuerst geraten, mir aus dem Weg zu gehen? Und warum? Warum wurde er verbannt, während man mich laufen ließ? Wer von den beiden hatte mehr gelogen, und, zum Teufel noch mal, aus welchem Grund logen sie?

Estraven, um seine Haut zu retten, entschied ich schließlich; der König, um sein Gesicht zu wahren. Eine glatte, saubere Erklärung. Aber hatte mich Estraven eigentlich jemals belogen? Mir wurde klar, daß ich keine Antwort darauf wußte.

Ich kam am Roten Eckgebäude vorbei. Das Gartentor stand weit offen. Ich warf einen Blick hinein, auf die Serem-Bäume, die sich weiß über den dunklen Teich neigten, die Fußpfade aus rotem Backstein, die verlassen im stillen, grauen Licht des Nachmittags lagen. Leichter Schnee bedeckte die Stellen, auf die die Felsbrocken am Teich ihre Schatten warfen. Ich dachte daran, wie Estraven gestern abend, als der Schnee fiel, hier auf mich gewartet hatte, und spürte auf einmal Mitleid mit diesem Mann, der gestern noch, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, kraftvoll und großartig, im Festzug unter dem Gewicht seiner Galakleidung und seiner Macht geschwitzt hatte. Und jetzt — alles verloren! Auf der Flucht zur Grenze, während der Tod ihm mit drei Tagen Abstand folgte, während nicht ein einziger Mensch mit ihm sprach. In Karhide wird nur selten ein Todesurteil verhängt. Das Leben auf Winter ist hart, deswegen überläßt man es im allgemeinen der Natur oder dem Zorn, einen Menschen zu töten, nicht dem Gesetz. Ich fragte mich, wie Estraven, von diesem Urteil verfolgt, wohl reisen würde. Bestimmt nicht mit einem Wagen, denn die waren hier alle Palasteigentum. Ob ihn ein Schiff oder Landboot mitnahm? Oder marschierte er zu Fuß über die Straßen, trug bei sich, was er tragen konnte? Die Karhider gehen fast immer zu Fuß; sie haben weder Lasttiere noch Flugvehikel, und der motorisierte Verkehr wird fast das ganze Jahr hindurch vom Wetter erschwert. Außerdem sind sie ein Volk, das niemals in Eile ist. Ich stellte mir den stolzen Mann vor, wie er da Schritt um Schritt ins Exil wanderte, eine kleine, mühsam sich weiterschleppende Gestalt auf dem langen Weg nach Westen zum Golf. All das ging mir durch den Kopf, als ich am Tor des Roten Eckgebäudes vorbeikam, aber es verflog auch wieder, und mit ihm meine wirren Spekulationen über das Verhalten und die Motive von Estraven und dem König. Die beiden waren für mich erledigt. Ich hatte versagt. Was nun?

Eigentlich hätte ich nach Orgoreyn, zu Karhides Nachbarn und Rivalen, gehen müssen. Doch einmal dort, wäre es vermutlich sehr schwer für mich gewesen, nach Karhide zurückzukehren, und ich mußte erst meine Aufgabe dort zu Ende bringen. Ich durfte keinen Augenblick vergessen, daß für die Erfüllung der Mission, die mir die Ökumene anvertraut hatte, mein ganzes Leben verwendet werden konnte und vielleicht auch würde. Also nur keine Eile. Es war nicht notwendig, überstürzt nach Orgoreyn abzureisen, bevor ich noch mehr über Karhide und vor allem über die Festungen in Erfahrung gebracht hatte. Zwei Jahre lang hatte ich Fragen beantwortet, nun würde ich selbst einige stellen. Aber nicht in Erhenrang. Endlich hatte ich begriffen, daß Estraven mich hatte warnen wollen, und wenn ich seiner Warnung auch mißtraute, so konnte ich sie doch nicht ignorieren. Er hatte mir, sehr indirekt, geraten, die Stadt und den Hof zu verlassen. Aus irgendeinem Grund mußte ich an Lord Tibes Zähne denken… Der König hatte mir volle Bewegungsfreiheit im Land gewährt; ich würde sie nutzen. Wie sagt man doch in der Schule der Ökumene? Wenn das Handeln nichts mehr einbringt, sammele Informationen; wenn die Informationen nichts mehr einbringen, schlafe. Ich war noch nicht müde. Ich wollte nach Osten zu den Festungen gehen, um dort — vielleicht — von den Weissagern Informationen zu erhalten.

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