Ich erwachte. Bis dahin war es seltsam, unbegreiflich für mich gewesen, in diesem schwach erleuchteten, herrlich warmen Kegel zu erwachen, zu hören, wie mein Verstand mir sagte, daß es ein Zelt war, in dem ich lag — lebend lag -, und daß ich nicht mehr auf der Pulefen-Farm war. Diesmal dagegen war gar nichts Seltsames an meinem Erwachen, sondern mich überkam ein Gefühl dankbaren Friedens. Gähnend richtete ich mich auf und versuchte, mein verfilztes Haar mit den Fingern zu glätten. Ich betrachtete Estraven, der einen halben Meter von mir entfernt oben auf seinem Schlafsack lag und tief und fest schlummerte. Er war nur mit seiner Kniehose bekleidet; es war ihm zu heiß. Das dunkle, geheimnisvolle Gesicht war dem Licht, war meinen Blicken voll ausgesetzt. Im Schlaf wirkte Estraven, wie jeder Schlafende, ein wenig dümmlich: ein rundes, kraftvolles Gesicht, gelöst und entspannt, mit kleinen Schweißtropfen auf der Oberlippe und über den dichten Augenbrauen. Ich erinnerte mich, wie er im vollen Glanz seiner Position, im hellen Sonnenlicht damals beim Festzug in Erhenrang auf der Empore gestanden und geschwitzt hatte. Jetzt sah ich ihn wehrlos und halbnackt in einem kälteren Licht, und sah ihn zum erstenmal so, wie er wirklich war.
Er wachte spät und nur langsam auf. Als er sich endlich gähnend erhob, zog er sein Hemd an, steckte den Kopf aus dem Zelt, um nach dem Wetter zu sehen, und fragte mich dann, ob ich eine Tasse Orsh wolle. Als er erfuhr, daß ich schon herumgekrochen und mit dem Wasser, das wir am Abend zuvor als Eis im Topf auf den Ofen zum Auftauen gestellt hatte, eine Kanne voll Orsh gekocht hatte, nahm er von mir eine Tasse entgegen, dankte mir steif und setzte sich hin, um sie zu trinken.
»Wohin wollen wir von hier aus gehen, Estraven?«
»Das hängt davon ab, wohin Sie wollen, Mr. Ai. Und welche Art des Reisens Sie bewältigen können.«
»Was ist der kürzeste Weg aus Orgoreyn hinaus?«
»Nach Westen. Zur Küste. Ungefähr dreißig Meilen.«
»Und dann?«
»Die Häfen hier frieren jetzt zu oder sind bereits zugefroren. Wie dem auch sei, im Winter fährt kein Schiff weit hinaus. Wir müßten uns also irgendwo verstecken und bis zum nächsten Frühjahr warten, wenn die großen Handelsschiffe nach Sith und Perunter fahren. Nach Karhide wird, solange das Handels-Embargo dauert, kein einziges von ihnen fahren. Wir könnten unsere Passage auf einem Handelsschiff abarbeiten. Ich habe nämlich leider auch kein Geld mehr.«
»Gibt es eine andere Möglichkeit?«
»Karhide. Über Land.«
»Und wie weit ist es dahin? Tausend Meilen?«
»Ja, auf der Straße. Aber wir können nicht wagen, die Straßen zu benutzen. Wir würden nicht mal am ersten Inspektor vorbeikommen. Unsere einzige Möglichkeit wäre, zuerst nach Norden über die Berge zu gehen, dann östlich über den Gobrin weiter, und schließlich an der Grenze entlang zur Guthen-Bucht hinunter.«
»Über den Gobrin — die Eisplatte, meinen Sie?«
Er nickte.
»Das ist im Winter aber nicht möglich, wie?«
»Ich glaube doch; allerdings mit ein bißchen Glück, wie bei allen Winterreisen. In einer Hinsicht ist die Fahrt über einen Gletscher im Winter sogar günstiger. Das gute Wetter neigt nämlich dazu, über den großen Gletschern hängenzubleiben, und das Eis reflektiert die Sonnenwärme. Dadurch werden die Stürme ganz an die Peripherie gedrängt. So ist auch die Legende vom Zentrum des Blizzards entstanden. Dies könnte sich zu unseren Gunsten auswirken. Sonst allerdings kaum etwas.«
»Dann glauben Sie ernstlich…«
»Es hätte keinen Sinn gehabt, Sie aus der Pulefen-Farm zu befreien, wenn ich es nicht glaubte.«
Er war noch immer steif, ärgerlich, finster. Die Unterhaltung am Abend zuvor hatte uns beide stark erschüttert.
»Und wie ich annehme, halten Sie die Eisüberquerung für ein geringeres Risiko als das Warten auf eine Seereise im Frühjahr?«
Er nickte.»Einsamkeit«, erklärte er lakonisch.
Ich dachte eine Weile darüber nach.»Hoffentlich haben Sie in Betracht gezogen, daß ich nur mit Vorbehalt dafür geeignet bin. Ich bin nicht so kälteresistent wie Sie — bei weitem nicht. Ich bin kein geübter Skiläufer. Ich bin in schlechter körperlicher Verfassung, auch wenn es mir im Augenblick wesentlich besser geht als vor ein paar Tagen.«
Er nickte abermals.»Ich denke, daß wir es schaffen werden«, erklärte er mit seiner ihm eigenen Schlichtheit, die ich so lange für Ironie gehalten hatte.
»Also gut.«
Er warf mir einen kurzen Blick zu und trank seine Tasse Tee. Man kann dieses Gebräu tatsächlich als Tee bezeichnen; es wird aus gerösteten Permkörnern hergestellt und ist ein bräunliches, süßsaures Getränk mit viel Vitamin A und C, Zucker und einem angenehmen, dem Lobelin verwandten Anregungsmittel. Wo es auf Winter kein Bier gibt, da gibt es Orsh; wo es weder Bier noch Orsh gibt, da gibt es auch keine Menschen.
»Es wird ein schwerer Marsch«, sagte Estraven, als er seine Tasse absetzte.»Ein sehr schwerer Marsch. Wenn wir kein Glück haben, werden wir es nicht schaffen.«
»Ich sterbe lieber da oben auf dem Eis als in dieser Kloake, aus der Sie mich rausgeholt haben.«
Er schnitt ein Stück von einem getrockneten Brotapfel ab, bot mir eine Scheibe an und saß nachdenklich kauend da.»Wir brauchen Lebensmittel«, meinte er dann.
»Was geschieht, wenn wir es wirklich bis Karhide schaffen — mit Ihnen, meine ich? Sie sind doch immer noch verbannt.«
Er richtete den Blick seiner dunklen, ottergleichen Augen auf mich.»Ganz recht. Ich werde vermutlich auf. dieser Seite der Grenze bleiben.«
»Und wenn man entdeckt, daß Sie einem Gefangenen zur Flucht verholfen haben?«
»Das muß man ja nicht unbedingt erfahren.«Er lächelte ein wenig bedrückt und sagte:»Aber zuerst müssen wir das Große Eis überqueren.«
»Hören Sie, Estraven«, brach es aus mir heraus,»verzeihen Sie mir, was ich gestern gesagt habe…«
»Nusuth.« Noch immer kauend, stand er auf, zog Hieb, Mantel und Stiefel an und schlüpfte geschickt wie ein Otter durch die selbstschließende, wie ein Ventil luftdicht versiegelte Türöffnung. Von draußen steckte er noch einmal den Kopf herein.»Es kann sehr spät werden; vielleicht bleibe ich sogar über Nacht. Werden Sie hier allein fertig?«
»Aber sicher.«
»Na schön.«Damit verschwand er. Ich kannte keinen Menschen, der so vollkommen und schnell auf eine veränderte Situation reagierte, wie Estraven. Ich erholte mich langsam und war bereit, den Marsch zu wagen; er hatte die Thangen- Zeit hinter sich. Sobald das klar war, machte er sich auf den Weg. Nie handelte er unüberlegt oder eilig, aber er war stets bereit. Das war zweifellos auch das Geheimnis seiner erstaunlichen politischen Karriere, die er für mich einfach weggeworfen hatte; und es war die Erklärung für seinen festen Glauben an mich und seine Hingabe an meine Mission. Als ich kam, war er bereit. Als ein einziger auf ganz Winter.
Und trotzdem hielt er sich selbst für einen langsamen Menschen, der einem Notfall nur mühsam gewachsen war.
Einmal erzählte er mir, daß er, da er so langsam im Denken war, sein Verhalten nach einer allgemeinen Intuition richtete, die ihm stets sagte, in welche Richtung sich sein Schicksal, sein ›Glücksrad‹, drehte, und daß ihn diese Intuition nur sehr selten im Stich ließ. Er meinte es ernst; es könnte zutreffen. Die Weissager der Festungen sind nicht die einzigen Menschen auf Wintert, die in die Zukunft sehen können. Sie haben diese Intuition zwar gezähmt und trainiert, doch ihre Treffsicherheit keineswegs erhöht. In dieser Hinsicht können die Yomeshta also einen Punkt für sich verbuchen: Es handelt sich dabei nicht ausschließlich oder präzise um die Gabe des Weissagens, sondern eigentlich eher um die Fähigkeit, alles auf einmal zu sehen (und sei es nur für den Bruchteil einer Sekunde): das Ganze zu sehen.
Während Estraven fort war, stellte ich den kleinen Heizofen auf seine höchste Stufe ein und wurde so zum erstenmal wieder durch und durch warm — zum erstenmal, seit… Ja, seit wann eigentlich? Ich hatte das Gefühl, daß es inzwischen Thern geworden war, der erste Monat des Winters und eines neuen Jahres Eins. Aber ich hatte in Pulefen jegliches Zeitgefühl verloren.
Der Ofen war eines jener ausgezeichneten und wirtschaftlichen Geräte, die von den Gethenianern im Laufe ihrer tausendjährigen Bemühungen, die Kälte zu überlisten, entwickelt und perfektioniert worden war. Höchstens die Verwendung eines Fusionspacks als Energiequelle hätte ihn noch verbessern können. Seine bionisch gespeiste Batterie reichte für vierzehn Monate ununterbrochenen Gebrauchs, seine Hitzeausstrahlung war stark, er war gleichzeitig Ofen, Heizgerät und Laterne und wog ungefähr vier Pfund. Ohne ihn wären wir nicht einmal fünfzig Meilen weit gekommen. Er mußte einen beträchtlichen Teil von Estravens Geld verschlungen haben, von diesem Geld, das ich ihm damals in Mishnory so hochmütig übergeben hatte. Das Zelt, aus wetterbeständigem Plastikmaterial hergestellt und so imprägniert, daß es wenigstens etwas von dem innen entstehenden Kondenswassers, der ewigen Plage aller Zelte in kaltem Wetter, verarbeiten konnte; die Schlafsäcke aus Pesthry-Pelzen; die Kleidungsstücke, Skier, Schlitten, Nahrungsmittelvorräte — alles war von erster Qualität, extrem leicht, dauerhaft und kostspielig. Wenn er jetzt fortgegangen war, um weitere Lebensmittel zu besorgen — womit wollte er die bezahlen?
Er kam erst am Abend des folgenden Tages zurück. Ich selbst war mehrmals auf Schneeschuhen hinausgegangen, um meine Muskeln ein wenig zu trainieren und beim Herumstapfen an den Hängen des schneebedeckten Tales, in dem unser Zelt stand, ein wenig Übung in dieser für mich neuen Fortbewegungsart zu bekommen. Auf Skiern war ich ziemlich gut, mit Schneeschuhen aber konnte ich noch nicht so recht umgehen. Allerdings wagte ich es nicht, mich weit von unserem Zelt zu entfernen, weil ich fürchtete, in diesem wilden, von Bachläufen und Schluchten durchzogenen Gelände, das sich steil zu den wolkenverhüllten Bergen im Osten emporzog, den Rückweg nicht mehr zu finden. So hatte ich Zeit, gründlich darüber nachzudenken, was ich in dieser gottverlassenen Gegend anfangen sollte, falls Estraven nicht wiederkam.
Er kam wie ein Blitz über die dämmrigen Hügel geschossen — er war ein ausgezeichneter Skiläufer — und brachte seine Bretter, schmutzig, müde und schwerbeladen, direkt neben mir zum Halten. Auf dem Rücken trug er einen dicken, verrußten Sack, der bis obenhin voll zahlloser Bündel steckte: der Weihnachtsmann unserer alten Erde, der durch den Schornstein herunterkommt. Die Bündel enthielten Kadik- Keime, getrocknete Brotäpfel, Tee und Brocken jenes harten, roten, erdig schmeckenden Zuckers, den die Gethenianer aus einem ihrer Knollengewächse gewinnen.
»Woher haben Sie das alles?«
»Gestohlen«, antwortete der ehemalige Premierminister von Karhide schlankweg, während er seine Hände über den Ofen hielt. Er hatte ihn noch nicht kleiner gestellt; jetzt fror also sogar er.»In Turuf. Knappe Sache.«Mehr sollte ich niemals erfahren. Er war nämlich keineswegs stolz auf seinen Fischzug und unfähig, darüber zu lachen. Diebstahl ist auf Winter ein übles Verbrechen; ein Dieb ist fast ebenso verabscheuungswürdig wie ein Selbstmörder.
»Wir werden dieses Zeug hier zuerst verbrauchen«, erklärte er, als ich einen Topf mit Schnee zum Schmelzen auf den Ofen stellte.»Es ist ziemlich schwer.«Die meisten Vorräte, die er für uns besorgt hatte, waren ›Hyperkost‹-Rationen, eine angereicherte, dehydrierte, in Würfeln gepreßte Mischung aus verschiedenen Kraftnahrungen. Die Orgota-Bezeichnung dafür lautet ›Gichymichy‹, und so nannten wir sie auch weiterhin, obgleich wir sonst natürlich Karhidisch miteinander sprachen. Wir hatten soviel von dem Zeug, daß wir bei Minimalrationen sechzig Tage damit auskommen mußten: pro Mann und Tag ein Pfund. Nachdem er sich gewaschen und etwas gegessen hatte, saß Estraven an jenem Abend noch lange am Ofen und rechnete genau aus, was wir hatten, und wie und wann wir es verwenden durften. Eine Waage hatten wir nicht, darum mußte er mit einem Pfund Gichymichy als Meßeinheit die Portionen schätzen. Wie die meisten Gethenianer, kannte er den Kalorien- und Nährwert aller Lebensmittel auswendig, wußte, wieviel sein Körper unter den verschiedenartigsten Bedingungen brauchte, und war in der Lage, auch meinen Verbrauch ungefähr einzuschätzen. Ein derartiges Wissen ist auf Winter lebenswichtig.
Als er den Plan für unsere Rationen endlich fertig hatte, legte er sich auf seinen Pelzsack und schlief. In der Nacht hörte ich ihn im Traum Zahlen murmeln: Gewichte, Tage, Entfernungen…
Wir hatten, grob gerechnet, achthundert Meilen zurückzulegen. Die ersten hundert würden uns nach Norden oder Nordosten durch den Wald und quer über die nördlichsten Ausläufer der Sembensyen-Kette zum großen Gletscher führen, der riesigen Eisplatte, die den doppellappigen Großen Kontinent nördlich des 45. Breitengrades ganz, und stellenweise bis hinunter zum 35. Breitengrad bedeckt. Einer dieser südlichen Arme ragt in das Gebiet der Feuerberge, der letzten Gipfel der Sembensyens, hinein, und dieses Gebiet hatten wir als unser erstes Ziel ausersehen. Dort, in den Bergen, mußte es uns möglich sein, auf die Eisplatte zu gelangen, und zwar entweder absteigend von einem Berg oder aufsteigend über den Hang eines ihrer Nebengletscher. Von da aus ging es dann auf dem Großen Eis selbst ungefähr sechshundert Meilen nach Osten weiter. Wo sich der Gobrin bei der Bucht von Guthen nach Norden zurückzieht, wollten wir ihn verlassen und die letzten fünfzig oder hundert Meilen quer über die Shenshey-Sümpfe, die bis dahin von ungefähr vier bis sechs Metern Schnee bedeckt sein würden, zur Karhidischen Grenze zurücklegen.
Diese Route führte uns in ihrer ganzen Länge ausschließlich durch unbewohntes oder unbewohnbares Land. Wir würden mit Sicherheit auf keinen Inspektor stoßen, und das war zweifellos von allergrößter Wichtigkeit. Ich hatte gar keine Papiere, und Estraven meinte, daß seine auch keine weiteren Fälschungen mehr aushalten würden. Ansonsten würden mich bestimmt alle, die nichts anderes erwarteten, für einen Gethenianer halten; für jemanden, der nicht ausdrücklich nach mir Ausschau hielt, war ich von den Bewohnern hier kaum zu unterscheiden. In dieser Hinsicht war also der Weg, den Estraven für uns vorgesehen hatte, überaus praktisch. In jeder anderen Hinsicht war er der helle Wahnsinn.
Natürlich behielt ich diese Meinung für mich, denn es war mir absolut ernst gewesen, als ich sagte, ich würde, wenn ich zu wählen hätte, lieber auf der Flucht sterben als auf der Farm. Estraven dagegen erwog immer noch Alternativen. Am nächsten Tag, den wir mit dem überaus sorgfältigen Packen und Beladen des Schlittens verbrachten, sagte er plötzlich:»Wenn Sie das Sternenschiff alarmieren — wann könnte es da sein?«
»Irgendwann zwischen acht Tagen und einem Halbmonat nach Übermittlung des Signals; das hängt davon ab, wo es sich in seiner Umlaufbahn um die Sonne befindet. Es könnte ja gerade, von Gethen aus, auf der Rückseite der Sonne sein.«
»Nicht eher?«
»Nicht eher. Der NAFAL-Antrieb kann innerhalb eines Sonnensystems nicht benutzt werden. Das Schiff kann nur den normalen Raketenantrieb verwenden, und damit braucht es mindestens acht Tage. Warum?«
Er zog eine Schnur fest und verknotete sie, ehe er mir antwortete.»Ich überlege, ob es nicht klüger wäre, Hilfe von Ihrer Welt zu erbitten, da meine sich ja anscheinend weigert, uns zu helfen. In Turuf gibt es eine Sendeanlage.«
»Wie stark?«
»Nicht sehr. Der nächste größere Sender wäre in Kuhumey, ungefähr vierhundert Meilen südlich von hier.«
»Kuhumey ist eine große Stadt, nicht wahr?«
»Zweihundertfünfzigtausend Seelen.«
»Wir müßten irgendwie dafür sorgen, daß wir den Sender benutzen können. Dann müßten wir uns mindestens acht Tage verstecken, während der Sarf nach uns sucht… Nein, keine Chance.«
Er nickte.
Ich schleppte den letzten Sack Kadik-Keime aus dem Zelt, paßte ihn in seine Nische in der Schlittenladung und sagte:»Wenn ich das Schiff nur damals in Mishnory alarmiert hätte… an jenem Tag, als Sie es mir rieten, am Abend, bevor ich verhaftet wurde… Aber meinen Ansible hatte Obsle; und hat ihn vermutlich heute noch.«
»Kann er damit umgehen?«
»Nein. Er kann ihn nicht einmal zufällig in Betrieb setzen, wenn er daran herumspielt. Die Koordinateneinstellung ist sehr kompliziert. Aber wenn ich ihn nur damals benutzt hätte!«
»Wenn ich nur gewußt hätte, daß das Spiel schon am selben Tag aus war!«sagte er lächelnd. Er hielt nicht viel von nachträglichem ›Hätte ich nur‹.
»Ich denke fast, daß Sie es wußten. Aber ich wollte Ihnen nicht glauben.«
Als der Schlitten beladen war, bestand er darauf, daß wir den Rest des Tages nichts mehr taten, sondern Kräfte sammelten. Er selbst lag im Zelt und schrieb mit seiner flinken, kleinen, vertikal-kursiven karhidischen Handschrift in einem Notizbuch — den Bericht, der in diesem Buch als das vorhergehende Kapitel erscheint. Den ganzen vergangenen Monat hindurch hatte er keine Tagebuchaufzeichnungen machen können, und das ärgerte ihn; er war ziemlich gewissenhaft, mit diesem Tagebuch. Das Tagebuchführen war für ihn, glaube ich, sowohl eine Verpflichtung gegenüber als auch eine Verbindung mit seiner Familie, dem Herd von Estre. Das jedoch erfuhr ich erst sehr viel später; im Augenblick wußte ich nicht, was er da schrieb, sondern saß herum, wachste die Skier oder war ganz und gar untätig. Als ich einmal eine Tanzweise pfiff, brach ich mitten drin ab. Wir hatten nur dieses eine Zelt, und wenn wir es ständig teilen wollten, ohne uns gegenseitig verrückt zu machen, dann war ganz eindeutig ein gewisses Maß an Selbstdisziplin, an guten Manieren erforderlich… Estraven hatte bei meinem Pfeifen tatsächlich den Kopf gehoben, aber er war nicht böse darüber. Er sah mich vielmehr ein wenig verträumt an und sagte:
»Ich wünschte, ich hätte im letzten Jahr schon von Ihrem Schiff gewußt… Warum hat man Sie ganz allein auf diese Welt geschickt?«
»Der erste Gesandte geht immer allein auf eine Welt. Ein einzelner Fremder ist eine Kuriosität, zwei sind bereits eine Invasion.«
»Dann scheint das Leben des ersten Gesandten hier wenig zu gelten.«
»Nein. In der Ökumene gilt keines Menschen Leben wenig. Deswegen handelt man nach der Einsicht, daß es besser ist, ein Leben zu gefährden, als zwei oder zwanzig. Außerdem ist es sehr kostspielig und zeitraubend, Menschen über die großen Sprünge zu transportieren. Doch wie dem auch sei, ich hatte mich um die Aufgabe beworben.«
»Gefahr bringt Ehre«, erwiderte er. Das schien ein Sprichwort zu sein, denn er setzte leise hinzu:»Wir werden mit Ehre bedeckt sein, wenn wir in Karhide ankommen…«
Als er das sagte, merkte ich, daß ich tatsächlich glaubte, wir würden Karhide erreichen: achthundert Meilen weit über Berge, Schluchten, Abgründe, Vulkane, Gletscher, Eisplatten, zugefrorene Sümpfe und zugefrorene Meeresbuchten — diese ungeheure Einöde, ungeschützt vor den Stürmen des Mittwinters auf dem Höhepunkt einer Eiszeit. Er saß da und schrieb seine Berichte mit der gleichen, hartnackigen, geduldigen Gründlichkeit, die ich schon einmal bemerkt hatte: bei einem wahnsinnigen König, der, hoch auf einem Baugerüst stehend, den Schlußstein in einem Mauerbogen verfugte. Und er sagte:
»Wenn wir in Karhide ankommen…«Nicht falls.
Und dieses ›wenn‹ war nicht einmal eine vage Hoffnung, denn er beabsichtigte, genau am vierten Tag des vierten Wintermonats, Arhad Anner, in Karhide anzukommen. Morgen, am dreizehnten Tag des ersten Monats, Tormenbod Thern, wollten wir aufbrechen. Unsere Rationen würden wir, nach seiner Kalkulation, im Höchstfall auf drei Gethen- Monate, also achtundsiebzig Tage strecken können, so daß wir siebzig Tage lang zwölf Meilen pro Tag zurücklegen und an Arhad Anner in Karhide ankommen mußten. Alles war festgelegt. Jetzt konnten wir nur noch möglichst gut schlafen.
Im Morgengrauen schnallten wir unsere Schneeschuhe an und machten uns auf den Weg. Es schneite dünn; kein Lüftchen regte sich. Die Schneedecke auf den Bergen war bessa, das heißt, weich und noch nicht fest gepackt — das, was die Skiläufer auf Terra, glaube ich, ›Pulverschnee‹ nennen. Der Schlitten war schwer beladen, und Estraven schätzte das Gesamtgewicht, das wir ziehen mußten, auf etwas über dreihundert Pfund. Obwohl er so handlich war wie ein gut konstruiertes Boot, ließ er sich auf dem pulvrigen Schnee nur mühsam ziehen. Die Kufen, wahre Wunderwerke der Handwerkskunst, waren mit einem polymeren Film überzogen, der den Reibungswiderstand praktisch auf Null reduzierte; aber das nützte natürlich überhaupt nichts, wenn das Gefährt in einer Schneewehe stecken blieb. Bei diesem Schnee und diesem Gelände — ständig hinauf und herunter, durch Wasserrinnen und kleine Schluchten — hielten wir es für das Beste, wenn einer zog und der andere hinten schob. Der Schnee fiel, fein und weich, den ganzen Tag. Zweimal hielten wir an, um einen Happen zu essen. In diesem weiten Hügelland war kein einziger Laut zu hören. Wir zogen weiter, und urplötzlich begann es dunkel zu werden. In einem Tal, das ebenso aussah wie das, welches wir am Morgen verlassen hatten — eine tiefe Mulde zwischen weißen kuppelförmigen Hügeln -, machten wir Halt. Ich war so müde, daß ich schwankte, und trotzdem konnte ich es nicht fassen, daß der erste Tag schon vorüber war. Der Tachometer am Schlitten zeigte an, daß wir beinahe fünfzehn Meilen zurückgelegt hatten.
Wenn wir mit vollständiger Ladung, in weichem Schnee und durch ein unwegsames Gelände, in dem wir ständig Berge und Täler zu überwinden hatten, so gut vorwärtskamen, dann würde es auf dem Großen Eis, auf festem Schnee, in ebenem Gelände und mit einer immer leichter werdenden Ladung, noch weitaus besser gehen. Mein Vertrauen in Estravan war anfangs eher gezwungen gewesen als spontan; jetzt glaubte ich ihm voll und ganz. In siebzig Tagen würden wir in Karhide sein.
»Sind Sie schon öfter so gereist?«fragte ich ihn.
»Mit dem Schlitten? O ja — sehr oft.«
»Auch lange Strecken?«
»Vor Jahren einmal, im Herbst, zweihundert Meilen weit auf dem Kerm-Eis.«
Das untere Ende von Kermland, die gebirgige, südlichste Halbinsel des Halbkontinents Karhide, vergletschert genau so wie der Norden. Die Menschen auf dem Großen Kontinent von Gethen leben auf einem Streifen Land zwischen zwei weißen Mauern. Ein weiteres Absinken der Sonnenstrahlung um acht Prozent würde, wie sie errechnet haben, die Mauern noch weiter zusammenrücken lassen. Dann gäbe es keine Menschen mehr und kein Land: nur noch das Eis.
»Warum?«
»Aus Neugier, aus Abenteuerlust.«Er zögerte, kaum spürbar lächelnd.»Zur Steigerung der Komplexität und Intensität auf dem Gebiet des intelligenten Lebens«, zitierte er eines meiner ökumenischen Zitate.
»Aha: Sie haben bewußt die evolutionäre Tendenz verstärkt, die dem Sein innewohnt, und zu deren Prinzipien die Entdeckerfreude gehört.«Wir waren, als wir da in unserem warmen Zelt saßen, heißen Tee tranken und darauf warteten, daß die Kadik-Grütze endlich kochte, beide sehr zufrieden mit uns.
»Genau«, bestätigte er.»Wir waren sechs, und alle noch jung. Mein Bruder und ich von Estre, unsere vier Freunde von Stok. Die Reise diente keinem bestimmten Zweck. Wir wollten lediglich den Teremander sehen, einen Berg, der sich dort unten aus dem Großen Eis erhebt. Es gibt nur wenige Menschen, die ihn von der Landseite aus gesehen haben.«
Die Grütze blubberte — ganz etwas anderes als der steife, braune Kleister auf der Pulefen-Farm; sie schmeckte wie die gerösteten Kastanien von Terra und brannte mir köstlich im Mund. Durch und durch warm, und daher guter Laune, stellte ich fest:»Das beste Essen auf Gethen habe ich immer in Ihrer Gesellschaft eingenommen, Estraven.«
»Bis auf das Bankett in Mishnory.«
»Ach nein, das stimmt… Sie hassen Orgoreyn, nicht wahr?«
»Die Orgota können nicht kochen. Orgoreyn hassen? Nein, wie sollte ich das? Wie haßt man ein Land? Wie liebt man es? Tibe redet ständig davon; ich habe diesen Trick nie gelernt. Ich kenne Menschen, ich kenne Städte, Farmen, Berge, Flüsse und Felsen, ich weiß, wie bei einem Sonnenuntergang im Herbst die Sonnenstrahlen auf ein bestimmtes Stück Ackerland an einem Abhang fallen. Doch welchen Sinn hat es, all dem eine Grenze zu geben, all dem einen Namen zu geben und dort, wo der Name nicht mehr zutrifft, aufzuhören, es schön zu finden? Was ist das, Liebe zum eigenen Land? Ist es der Haß auf das eigene Nicht-Land? Dann wäre sie wahrhaftig nichts Gutes. Ist es vielleicht ganz schlicht und einfach Eigenliebe? Das ist etwas Gutes, aber man darf weder eine Tugend daraus machen, noch einen Beruf… Wie ich das Leben liebe, so liebe ich die Berge der Domäne Estre, doch diese Liebe ist nicht von einer Grenze aus Haß umgeben. Im Hinblick darauf, was jenseits dieser Wirklichkeit liegt, bin ich — hoffentlich — unwissend.«
Unwissend im Sinn der Handdara: unwissend im Hinblick auf die Abstraktion, festhaltend am konkreten Ding. In dieser Einstellung lag etwas Feminines, ein Verschließen vor dem Abstrakten, dem Ideal, eine Hingabe an das Gegebene, die mir nicht so recht gefiel.
Er aber setzte nachdenklich hinzu:»Ein Mensch, der eine schlechte Regierung nicht verabscheut, ist ein Narr. Und wenn es auf dieser Welt so etwas wie eine gute Regierung gäbe, wäre es mir eine große Freude, ihr zu dienen.«
In diesem Punkt verstanden wir uns.»Ich habe diese Freude kennengelernt«, sagte ich.
»Ja. Das dachte ich mir.«
Ich spülte unsere Eßschalen mit heißem Wasser aus und schüttete das Spülwasser vor das Zelt. Draußen war es stockfinster geworden; der Schnee fiel in feinen, dünnen Flocken, in dem matten, ovalen Lichtstreifen der Öffnung gerade noch erkennbar. Wieder fest eingesiegelt in die trockene Wärme unseres Zeltes, rollten wir unsere Schlafsäcke aus. Estraven sagte etwas.»Geben Sie mir die Schalen, Mr. Ai«, oder eine ähnliche, belanglose Bemerkung, und ich gab zurück:»Soll es denn ganz über das Gobrin-Eis hinweg beim ›Mister‹ bleiben?«
Er hob den Kopf und sah mich lächelnd an.»Ich weiß nicht, wie ich Sie sonst nennen soll.«
»Mein Name lautet Genly Ai.«
»Ich weiß. Sie benutzen meinen Landnamen.«
»Ich weiß auch nicht, wie ich Sie sonst nennen soll.«
»Harth.«
»Dann heiße ich Ai. — Wer nennt sich beim Vornamen?«
»Herdbrüder oder Freunde«, sagte er, und als er es sagte, war er auf einmal weit fort, war er, obwohl mich in dem drei Meter breiten Zelt nicht mal ein ganzer Meter von ihm trennte, fremd und unerreichbar geworden. Darauf gab es keine Erwiderung. Was kann arroganter sein als Aufrichtigkeit? Ernüchtert kletterte ich in meinen Pelzsack.»Gute Nacht, Ai«, sagte der Fremde, und der andere Fremde antwortete:
»Gute Nacht, Harth.«
Ein Freund. Was ist ein Freund in einer Welt, wo jeder Freund bei einer neuen Mondphase zum Geliebten werden kann? Ich konnte das nicht sein, ich, der ich in meiner Männlichkeit gefangen war: weder für Therem Harth noch für einen anderen seiner Rasse konnte ich ein Freund sein. Diese Menschen, weder Mann noch Frau, keines von beiden und doch beides, zyklusabhängig, mondabhängig, sich verwandelnd bei der Berührung einer Hand, Wechselbälger in der Wiege der Menschheit — diese Menschen waren nicht Fleisch von meinem Fleisch, waren für mich keine Freunde: zwischen uns konnte keine Liebe sein.
Wir schliefen. Einmal, als ich kurz aufwachte, hörte ich das leise Geräusch des Schnees, der knisternd und weich auf unser Zeltdach fiel.
Bei Morgengrauen stand Estraven auf und machte das Frühstück. Strahlend zog der Tag herauf. Wir luden auf, und als die Sonne die Spitzen der verkrüppelten Büsche am Rand der Mulde vergoldete, waren wir schon unterwegs: Estraven vorn im Geschirr, ich hinten als Steuermann. Der Schnee bekam allmählich eine Kruste; glatte Hänge nahmen wir wie ein Team Schlittenhunde: im Laufschritt. An jenem Tag marschierten wir am Rand des Waldes entlang, der bis an die Pulefen-Farm grenzt, und schließlich drangen wir in ihn ein, diesen Zwergwald aus dicht stehenden, knorrigen, mit Eisbärten behangenen Thore-Bäumen. Die Hauptstraße nach Norden wagten wir nicht zu benutzen, doch eine Weile konnten wir Holzwegen folgen, die in unsere Richtung führten, und kamen, da man umgestürzte Bäume und Unterholz säuberlich entfernt hatte, zügig voran. Im Tarrenpeth gab es kaum Schluchten oder steile Hänge zu überwinden. Am Abend zeigte der Tachometer am Schlitten eine Tagesleistung von zwanzig Meilen, und trotzdem waren wir längst nicht so müde wie am Abend zuvor.
Ein Ausgleich für die Härte des Winters auf Winter ist, daß es am Tag lange hell bleibt. Der Planet ist im Verhältnis zur Ebene der Ekliptik nur wenige Grade geneigt — nicht so stark, daß es in den niederen Breiten zu einem spürbaren Unterschied in den Jahreszeiten kommt. Die Jahreszeiten sind keine Angelegenheit der Hemisphären, sondern des gesamten Planeten — eine Folge seiner stark elliptischen Umlaufbahn. Im Aphel, dem sonnenfernsten und langsamsten Abschnitt der Bahn, gibt es nur eben soviel weniger Sonnenstrahlung, daß der Temperaturabfall das ohnehin unausgeglichene Wetter stört, daß der Teil der Oberfläche, der ohnehin kalt ist, noch kälter wird, und daß der nasse, graue Sommer der Äquatorgegend in einen stürmischen eisigen Winter übergeht. Da es im Winter trockener ist als im übrigen Jahr, könnte er die angenehmere Jahreszeit sein — wenn er nicht so unerträglich kalt wäre. Die Sonne steht immer hoch — wenn man sie sieht; es gibt keinen langsamen Übergang von Licht zu Dunkelheit, wie in den Polarregionen der Erde, wo Kälte und Nacht zusammen einfallen. Nein, Gethen hat einen hellen Winter: hart, schrecklich und hell.
Wir brauchten drei Tage, um den Tarrenpeth-Wald zu durchqueren. Am letzten Tag machte Estraven schon zeitig halt, um vor dem Dunkelwerden noch Fallen aufstellen zu können. Er wollte Pesthry fangen. Die Pesthry gehören zu den größeren Landtieren auf Winter, sind ungefähr so groß wie ein Fuchs, eierlegende Pflanzenfresser und haben einen wunderbaren grauen oder weißen Pelz. Estraven jedoch wollte ihr Fleisch, denn Pesthryfleisch ist nicht nur genießbar, sondern sogar wohlschmeckend. Die Tiere zogen jetzt in Scharen gen Süden; sie sind so schnell und scheu, daß wir auf unserem Weg nur zwei oder drei zu Gesicht bekamen, aber der Schnee war auf jeder Lichtung des Thore-Waldes von zahllosen, kleinen Schneeschuhspuren bedeckt, die alle in Richtung Süden wiesen. Nach ein bis zwei Stunden waren Estravens Fallen voll. Er säuberte und zerlegte die sechs Tiere, hängte ein Teil des Fleisches zum Einfrieren auf und kochte den Rest für unser Abendessen. Die Gethenianer sind keine Jäger, weil es ganz einfach nicht viel zu jagen gibt: keine großen Pflanzenfresser, und daher auch keine großen Fleischfresser. Eine Ausnahme macht nur das Meer. Die Gethenianer sind Fischer und Bauern. Noch nie zuvor hatte ich einen von ihnen mit Blut an den Händen gesehen.
Estraven musterte die weißen Felle.»Eine Woche Unterkunft und Verpflegung für einen Pesthry-Jäger«, erklärte er.»Vergeudet.«Er reichte mir eines, damit ich es anfassen konnte. Der Pelz war so weich und dick, daß die Hände buchstäblich in ihm versanken. Mit diesem Pelz waren unsere Schlafsäcke, Mäntel und Kapuzen gefüttert er war ein unvergleichliches Isoliermaterial und überdies wunderschön.»Eigentlich schade«, meinte ich.»Nur für ein Essen.«
Estraven warf mir einen jener rätselhaften Blicke, die für ihn so charakteristisch waren und sagte:»Wir brauchen Protein.«Dann warf er die Felle fort. In der Nacht würden die russy kommen, die kleinen, stets hungrigen Rattenschlangen, und würden die Felle, Eingeweide und Knochen fressen und sogar noch den blutigen Schnee auflecken.
Er hatte natürlich recht; er hatte eigentlich immer recht. Ein Pesthry ergab ein bis zwei Pfund eßbares Fleisch. Ich aß an jenem Abend meine Portion und hätte mühelos auch noch seine bewältigen können. Als wir am nächsten Mittag die Berge erreichten, war ich als Schlittenmotor das doppelte wert wie bisher.
An diesem Tag ging es bergauf. Der willkommene Schneefall und das kroxet — windstilles Wetter zwischen minus achtzehn und minus fünf Grad Celsius -, die uns durch den Tarrenpeth- Wald und uns aus dem Bereich einer möglichen Verfolgung hinaus begleitet hatten, verwandelten sich nun leider in Temperaturen über dem Gefrierpunkt und starken Regen. Jetzt begriff ich, warum die Gethenianer stöhnen, sobald die Temperatur im Winter steigt, sich aber freuen, wenn sie wieder fällt. In der Stadt ist der Regen unbequem; für den Reisenden ist er eine Katastrophe. Den ganzen Morgen quälten wir uns mit dem Schlitten durch tiefen, naßkalten, regenweichen Schneematsch die Hänge der Sembensyens hinauf. Am späten Nachmittag war der Schnee auf den Steilhängen fast gänzlich verschwunden. Ströme von Regen, Meilen um Meilen von Schlamm und Geröll. Wir beschuhten die Kufen, setzten die Schlitten auf Räder und zogen weiter. Als Räderkarren erwies er sich widerspenstig, schwerfällig und sehr schlecht zu steuern. Die Dunkelheit brach herein, noch ehe wir eine schützende Felsnase oder eine Höhle gefunden hatten, in der wir das Zelt aufschlagen konnten, so daß unsere Sachen trotz aller Sorgfalt naß wurden. Estraven hatte mir erklärt, daß sich ein Zelt wie das unsere in jedem Wetter als äußerst bequem und angenehm erweisen würde, solange es von innen trocken blieb.»Wenn man den Schlafsack nicht trocknen kann, verliert man bei Nacht zuviel Körperwärme und schläft nicht gut. Das können wir uns bei unseren knappen Lebensmittelrationen aber nicht leisten. Darauf, daß die Sonne herauskommt und alles trocknet, können wir uns nicht verlassen, also müssen wir uns davor hüten, irgend etwas naß werden zu lassen.«Ich hatte mir seine Warnung zu Herzen genommen und ebenso sorgfältig wie er darauf geachtet, daß weder Schnee noch Nässe ins Zelt getragen wurde und sich drinnen höchstens das Kondenswasser bildete, das beim Kochen und durch unseren Atem und unsere Ausdünstung unvermeidlich entstand. An diesem Abend jedoch war alles schon naß, bevor wir das Zelt aufschlagen konnten. Dampfend hockten wir vor dem Chabe- Ofen, und es dauerte nicht lange, da hatten wir eine kräftige, heiße Pesthry-Mahlzeit zubereitet, die so schmackhaft war, daß sie uns für beinahe alles andere entschädigte. Der Tachometer allerdings ließ sich von unserer Schwerarbeit, zu der uns das ständige Bergaufklettern gezwungen hatte, nicht beeinflussen und teilte uns mit, daß wir nur neun Meilen zurückgelegt hatten.
»Das erstemal, daß wir unser Pensum nicht erfüllt haben«, sagte ich.
Estraven nickte und knackte einen Beinknochen, um das Mark herauszusaugen. Er hatte seine nasse Oberkleidung abgelegt und saß barfuß, in Hose und offenstehendem Hemd am Ofen. Mir war noch immer so kalt, daß ich weder Mantel noch Hieb oder Stiefel abgelegt hatte. Da saß er nun, glatt, zäh und nicht kleinzukriegen, knackte Markknochen und ließ das Wasser aus seinen glatten, pelzähnlichen Haaren tropfen, als wären es Vogelfedern: einiges davon tropfte sogar auf seine Schultern, und er bemerkte es nicht einmal. Er ließ sich nicht entmutigen. Er gehörte hierher.
Die erste Fleischration hatte mir bereits Bauchkrämpfe beschert; in dieser Nacht, nach der zweiten Fleischmahlzeit, wurden sie schlimmer. Hellwach lag ich in der nassen Dunkelheit und lauschte dem Regen.
Beim Frühstück stellte Estraven fest:»Sie haben eine schlechte Nacht gehabt.«
»Woher wissen Sie das?«Denn Estraven schlief immer sehr fest; er rührte sich kaum — nicht einmal, wenn ich das Zelt verließ.
Abermals musterte er mich aufmerksam.»Was haben Sie?«
»Diarrhöe.«
Er zuckte zusammen und sagte heftig:»Das ist das Fleisch.«
»Vermutlich.«
»Meine Schuld. Ich hätte…«
»Schon gut.«
»Können Sie marschieren?«
»Ja.«
Es regnete und regnete. Der Westwind von See her hielt die Temperatur selbst hier, in mehr als tausend Meter Höhe, über null Grad. Die Sicht betrug in diesem Nebel und dem grauen Regenvorhang höchstens eine Viertelmeile. Berge ragten über uns auf, doch ich hob nicht einmal den Kopf. Es war ja doch nichts zu sehen als dieser unablässige Regen. Wir richteten uns nach dem Kompaß und marschierten, so weit es das bergige Gelände zuließ, geradewegs nach Norden.
Der riesige Gletscher hatte in den Hunderttausenden von Jahren, in denen er über den Nordteil des Landes hin und her gerutscht war, auch diese Berghänge bedeckt und abgehobelt. Immer wieder trafen wir auf tief in den Granit geschnittene Spuren, die gerade so verliefen, als wären sie mit einem riesigen u-förmigen Meißel in den Stein gehauen worden. Zuweilen konnten wir den Schlitten in diesen Vertiefungen ziehen, als wären es breite Straßen.
Ich ging am liebsten vorne und zog: dabei konnte ich mich kräftig ins Geschirr legen, und das hielt mich warm. Als wir gegen Mittag zu einer kleinen Mahlzeit haltmachten, fühlte ich mich jedoch sehr elend und durchgefroren und konnte nichts essen. Bald ging es weiter, immer höher. Es regnete ununterbrochen. Am Nachmittag hielt Estraven plötzlich den Schlitten unter einem großen, schwarzen Felsüberhang an. Bis ich mich aus dem Geschirr befreit hatte, war unser Zelt schon beinahe aufgestellt. In barschem Ton befahl er mir, hineinzugehen und mich sofort hinzulegen.
»Es geht mir aber gut«, protestierte ich.
»Das ist nicht wahr«, entgegnete er.»Los, gehen Sie!«
Ich gehorchte, aber sein Ton paßte mir nicht. Als er mit allem, was wir für die Nacht benötigten, ins Zelt kam, setzte ich mich auf und wollte kochen, denn diesmal war die Reihe an mir. Im selben Kommandoton befahl er mir, still liegen zu bleiben.
»Sie brauchen mich nicht rumzukommandieren«, sagte ich.
»Tut mir leid«, sagte er ungerührt, ohne sich zu mir umzudrehen.
»Ich bin nicht krank. Das wissen Sie doch.«
»Das weiß ich nicht. Wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen wollen, muß ich nach Ihrem Aussehen urteilen. Sie haben sich noch immer nicht ganz erholt, und unser Marsch ist anstrengend gewesen. Ich weiß nicht, wo die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit liegen.«
»Ich werde es Ihnen schon sagen, wenn ich sie erreicht habe.«
Seine herablassende Haltung ärgerte mich. Er war um einen Kopf kleiner als ich und schien wie eine stämmige Frau, eher aus Fett als aus Muskeln zu bestehen; wenn wir den Schlitten zusammen zogen, mußte ich kurz treten, um mich seinen Schritten anzupassen, durfte ich meine Kraft nicht voll einsetzen, um nicht den größten Teil der Arbeit zu leisten: ein Hengst, mit einer Kuh zusammengespannt, dachte ich erbost.
»Dann sind Sie also nicht mehr krank?«
»Nein. Aber ich bin natürlich müde. Genau wie Sie.«
»Ja, ich bin müde«, bestätigte er.»Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht. Es liegt noch ein sehr langer Weg vor uns.«
Er hatte nicht herablassend sein wollen. Er hatte gedacht, daß ich krank sei, und Kranke muß man herumkommandieren. Er war vollkommen offen mit mir und erwartete als Gegenleistung dieselbe Offenheit, die ich aber womöglich nicht aufbringen konnte. Sein Stolz wurde eben nicht von Maßstäben der Männlichkeit kompliziert.
Wenn er jedoch all seine Maßstäbe des shifgrethor mißachten konnte, wie er es, das mußte ich zugeben, mir gegenüber getan hatte, dann konnte ich andererseits wohl auch auf den kämpferischen Konkurrenztrieb meiner männlichen Selbstachtung verzichten, die er mit Sicherheit ebensowenig verstand wie ich seinen shifgrethor.
»Wieviel haben wir heute geschafft?«
Er drehte sich um und sah mich lächelnd an.»Sechs Meilen«, sagte er.
Am nächsten Tag schafften wir sieben Meilen, am Tag darauf zwölf, am dritten Tag ließen wir den Regen, die Wolken und die von Menschen bewohnten Regionen hinter uns. Es war der neunte Tag unserer Wanderung. Wir befanden uns jetzt ungefähr zweitausend Meter über dem Meeresspiegel auf einem Hochplateau, das von jüngster Vulkantätigkeit zeugte: in den Feuerbergen der Sembensyen-Kette. Das Plateau verengte sich nach und nach zu einem Tal, das Tal zu einem Paß zwischen zwei langgestreckten Bergkämmen. Als wir uns dem Ende des Passes näherten, wurden die Regenwolken allmählich dünner, bis sie schließlich zerrissen. Ein kalter Nordwind vertrieb sie ganz und legte die Gipfel zu unserer Rechten und Linken frei — Basalt mit Schnee, ein buntscheckiges Muster aus Schwarz und Weiß, im hellen Glanz der strahlenden Sonne an einem leuchtend blauen Himmel. Vor unseren Füßen, vom Wind leergefegt, lagen tief unten verschlungene Täler voll Geröll und Eis. Und auf der anderen Seite dieser Täler erhob sich eine riesige Wand, eine feste Mauer aus blankem Eis, und als wir unsere Blicke an dieser immensen Mauer emporwandern ließen, wurde uns klar, daß wir das Große Eis vor uns hatten, den Gobrin-Gletscher, der sich weiß, fast zu grell für das ungeschützte menschliche Auge, nach Norden erstreckte bis an den unsichtbaren Horizont, wo die flimmernde Helligkeit in den Himmel überzugehen schien.
Hier und da erhoben sich aus diesen Gerölltälern, Klippen, Winkeln und Massen am Rande des großen Eisfeldes dunkle Grate; ein riesiger Block stieg senkrecht aus dem Plateau bis zu der Höhe der beiden Torpfeiler-Gipfel empor, zwischen denen wir uns im Augenblick befanden, und aus seiner Flanke wand sich ein träger, meilenlanger Rauchstreifen in die Luft. Weit in der Ferne entdeckten wir noch mehr Einzelheiten, sahen Kuppeln und Fialen, sahen Rußkegel auf dem Eis, deren glühende Feuerschlünde Rauch und Asche auf den Gletscher spien.
Estraven stand neben mir im Geschirr und betrachtete dieses herrliche, unbeschreiblich wilde Panorama mit Bewunderung.»Ich freue mich, daß ich dies sehen durfte«, sagte er leise.
Ich empfand ebenso. Es ist gut, auf einer Reise ein Ziel zu haben, auf das man zustreben kann; letztlich jedoch ist es die Reise selbst, auf die es ankommt.
Hier auf den nördlichen Hängen hatte es nicht geregnet. Die Schneefelder erstreckten sich von der Paßhöhe bis hinunter in die Moränentäler. Wir verstauten die Schlittenräder, befreiten die Kufen von ihren Hüllen, schnallten die Skier unter die Füße und fuhren los — hinab, nach Norden, hinein in diese schweigende Weite aus Feuer und Eis, auf der in riesigen Buchstaben, Schwarz auf Weiß, quer über einen ganzen Kontinent hinweg, TOD, TOD geschrieben stand. Der Schlitten lief so leicht wie eine Feder, und wir beide jauchzten vor Vergnügen.