DREIZEHNTES KAPITEL Auf der Farm

Durch Estravens plötzliches Auftauchen, seine Vertrautheit mit meinen Angelegenheiten und die verbissene Dringlichkeit, mit der er seine Warnungen vorgebracht hatte, in tiefe Unruhe versetzt, winkte ich ein Taxi herbei und ließ mich zu Obsles Insel fahren. Ich wollte den Commensal fragen, woher Estraven das alles wußte, und warum er so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war, um mich zu überreden, genau das zu tun, wovon mir Obsle gestern abgeraten hatte. Der Commensal war ausgegangen, der Türhüter wußte weder, wo er war, noch wann er wiederkommen würde. Ich fuhr zu Yegey, hatte aber dort auch kein Glück. Es herrschte Schneetreiben, das dichteste seit dem Herbstanfang; mein Chauffeur weigerte sich, mich weiter zu fahren als bis zu Shusgis’ Haus: Er habe keine Schneeklauen an den Reifen. An diesem Abend konnte ich weder Obsle noch Yegey oder Slose per Telefon erreichen.

Beim Essen erklärte mir Shusgis, warum: Es wurde gerade ein Yomesh-Festtag gefeiert — die Zeremonie der Heiligen und Thronerhalter -, und man erwartete, daß sich die hohen Beamten der Commensalität im Tempel zeigten. Darüber hinaus erklärte er mir Estravens Verhalten überaus geschickt als das eines Mannes, der einstmals mächtig gewesen, nun aber gestürzt worden sei und jede Gelegenheit ergreife, Personen oder Geschehnisse zu beeinflussen: jedesmal hektischer und verzweifelter, da er, wie er selber erkennt, mit der Zeit immer tiefer in ohnmächtige Anonymität versinkt. Ich stimmte zu, daß diese Auslegung Estravens aufgeregtes, beinahe hysterisches Verhalten erklären könne. Dennoch hatte er mich mit seiner Nervosität angesteckt. Das ganze lange und schwere Mahl hindurch fühlte ich mich beunruhigt. Shusgis redete ununterbrochen auf mich, die vielen Angestellten, Gehilfen und Speichellecker ein, die jeden Abend an seinem Tisch saßen; noch nie hatte ich ihn so langatmig, so unermüdlich jovial erlebt. Als wir das Essen hinter uns gebracht hatten, war es zu spät geworden, um noch einmal auszugehen, und außerdem würde die Zeremonie die Commensalen, wie Shusgis sagte, ohnehin bis nach Mitternacht beschäftigen. Also beschloß ich, die letzte Mahlzeit ausfallen zu lassen, und begab mich früh zu Bett. Irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen wurde ich von völlig fremden Leuten aus dem Schlaf gerissen, die mir barsch erklärten, ich stehe unter Arrest, und mich von bewaffneten Wachtposten ins Kundershaden-Gefängnis bringen ließen.

Das Kundershaden-Gefängnis ist alt — eines der wenigen alten Gebäude, die noch in Mishnory übriggeblieben sind. Ich hatte es schon oft gesehen, wenn ich in der Stadt spazierenging: ein langgestrecktes, schmutziges, bedrohlich wirkendes Bauwerk mit vielen Türmen, das sich von all den farblosen Riesenkästen der Commensal-Bürokratie auffallend unterschied. Es ist genauso, wie es aussieht und heißt: ein Gefängnis. Es ist keine falsche Fassade für etwas anderes, es ist auch kein Pseudonym. Es ist das Wahre, das Echte, die Realität hinter der Bezeichnung.

Die Wachen, robuste, kräftige Männer, stießen mich durch die Korridore und ließen mich dann in einem kleinen, sehr verdreckten und sehr hell erleuchteten Zimmer allein. Nach ein paar Minuten schob sich ein zweites Wachkommando herein, das einen schmalgesichtigen Mann, eindeutig eine Autoritätsperson, eskortierte. Er entließ sie alle bis auf zwei. Ich fragte ihn, ob man mir gestatten werde, Commensal Obsle eine Nachricht zu schicken.

»Der Commensal weiß von Ihrer Verhaftung.«

»Er weiß davon?«fragte ich verblüfft.

»Meine Vorgesetzten handeln selbstverständlich auf Befehl der Dreiunddreißig. Wir werden Sie jetzt einem Verhör unterziehen.«

Die Wachen packten meine Arme. Ich wehrte mich und sagte wütend:»Ich bin durchaus bereit, Ihre Fragen zu beantworten. Die Einschüchterung können Sie sich sparen!«Der Schmalgesichtige hörte nicht auf meinen Protest, sondern rief noch einen weiteren Wachmann herein. Zu dritt schnallten sie mich auf einen verstellbaren Tisch, zogen mich aus und injizierten mir, wie ich annehme, eine Wahrheitsdroge.

Ich weiß nicht, wie lange das Verhör dauerte, und auch nicht, um welches Thema es ging, denn ich stand die ganze Zeit bis zur Bewußtlosigkeit unter Drogen und kann mich an nichts mehr erinnern. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie lange man mich in Kundershaden behalten hatte: nach meinem körperlichen Zustand zu urteilen, vier bis fünf Tage, aber ganz sicher war ich nicht. Eine Zeitlang wußte ich auch nicht, welchen Tag des Monats, ja nicht einmal, welchen Monat wir hatten, und wurde mir überhaupt erst allmählich meiner Umgebung bewußt.

Ich befand mich in einem Lastwagen, ganz ähnlich demjenigen, der mich über den Kargav nach Rer gebracht hatte; nur war ich diesmal im Laderaum, statt in der Fahrerkabine. Außer mir gab es noch zwanzig bis dreißig andere Personen, aber ihre Zahl war schwer zu bestimmen, da der Laderaum keine Fenster hatte und nur durch einen Schlitz in der Hecktür, der noch dazu mit vier Lagen Maschendraht gesichert war, ein wenig Licht hereinfiel. Wir waren anscheinend schon eine ganze Weile unterwegs, als ich das Bewußtsein wiedererlangte, denn jeder von uns hatte bereits einen Platz für sich erobert und der Gestank nach Exkrementen, Erbrochenem und Schweiß hatte inzwischen einen Punkt erreicht, an dem er weder zunehmen noch abnehmen konnte. Keiner von uns kannte den anderen. Keiner wußte, wohin wir fuhren. Gesprochen wurde nur sehr wenig. Dies war nun das zweitemal, daß ich zusammen mit den niemals klagenden, niemals hoffenden Menschen von Orgoreyn im Dunkeln eingesperrt war. Jetzt wußte ich, daß ich in jener ersten Nacht in diesem Land ein Zeichen bekommen hatte. Damals hatte ich einen Zipfel der Wahrheit in der Hand gehalten, doch ich hatte den schwarzen Keller ignoriert und die Substanz von Orgoreyn über der Erde, im hellen Tageslicht, gesucht. Kein Wunder, daß sie mir unwirklich vorgekommen war.

Ich hatte das Gefühl, daß der Lastwagen nach Osten fuhr, und konnte diesen Eindruck auch nicht loswerden, als eindeutig feststand, daß er nach Westen rollte, also immer tiefer nach Orgoreyn hinein. Auf einem fremden Planeten gerät der unterbewußte Richtungssinn vollkommen durcheinander, und wenn der Intellekt diese Fehlinformation nicht ausgleichen kann oder will, resultiert daraus eine tiefe Verwirrung, das Gefühl, daß irgendwie alles in Unordnung geraten ist.

Noch in derselben Nacht starb einer meiner Leidensgenossen. Man hatte ihn mit Prügeln oder mit Fäusten in den Magen geschlagen, er brach die ganze Fahrt über Blut und hatte Blut im Stuhlgang, den er nicht halten konnte. Niemand kümmerte sich um ihn; man konnte nichts mehr für ihn tun. Vor mehreren Stunden hatte man uns einen Plastikkrug voll Wasser hereingeschoben, aber der war schon lange leer. Zufällig saß der Sterbende rechts neben mir, also nahm ich seinen Kopf auf meine Knie, damit er ein wenig leichter atmen konnte, und so starb er. Wir waren alle nackt. Von da an jedoch klebte an meinen Beinen, Schenkeln und Händen sein Blut, ein krustiges, steifes, bräunliches Gewand, das keine Wärme gab.

Die Nacht wurde bitterkalt, so daß wir eng zusammenkriechen mußten, um etwas die Wärme zu halten. Der Leichnam, der keine Wärme mehr geben konnte, wurde ausgestoßen, beiseite geschoben. Wir anderen saßen die ganze Nacht hindurch, dicht aneinander gedrängt und ließen uns gemeinsam durchschütteln. In diesem Stahlsarg herrschte völlige Dunkelheit. Wir fuhren auf einer Landstraße, und nicht ein einziger Wagen begegnete oder überholte uns; sogar wenn man das Gesicht ganz fest an den Maschendraht preßte, konnte man durch den Türschlitz nichts anderes sehen als Dunkelheit und den ungewissen Schimmer des gefallenen Schnees.

Fallender Schnee; frisch gefallener Schnee; alter Schnee; Schnee, nachdem Regen darauf gefallen ist; verharschter Schnee… Sowohl die Orgota- als auch die Karhidesprache haben Bezeichnungen für jede einzelne dieser Schneearten. Auf Karhidisch, das mir geläufiger ist als Orgota, gibt es nach meiner Rechnung zweiundsechzig Namen für die verschiedenen Schneesorten, -Stadien, -alter und -beschaffenheiten; das heißt, des bereits gefallenen Schnees. Eine andere Wortgruppe bezeichnet die verschiedenen Eigenschaften des Schneefalls, eine weitere diejenige des Eises und dann gibt es noch zwanzig oder mehr Bezeichnungen für die Temperatur, die Windstärke und den Niederschlag im allgemeinen. Während ich in jener Nacht untätig dasaß, versuchte ich in Gedanken eine Liste all dieser Wörter aufzustellen. Und jedesmal, wenn mir wieder ein neues einfiel, wiederholte ich die gesamte Litanei und setzte es in alphabetischer Reihenfolge an den ihm zukommenden Platz.

Im Morgengrauen hielt der Lastwagen an. Meine Leidensgenossen stürzten an den Sehschlitz und schrien hinaus, es ist ein Toter im Wagen; kommt und holt ihn endlich heraus. Einer nach dem anderen schrien wir. Gemeinsam hämmerten wir an die Seitenwände und die Tür und veranstalteten in unserem Stahlsarg einen so fürchterlichen Lärm, daß wir ihn bald selbst nicht mehr aushalten konnten. Niemand kam. Der Wagen blieb mehrere Stunden stehen. Endlich erklangen draußen Stimmen; der Wagen ruckte an, kam auf einem Eisbrett ins Rutschen und setzte sich in Bewegung. Durch den Schlitz konnte man sehen, daß es ein sonniger Vormittag war, und daß wir durch bewaldetes Hügelland fuhren.

So rollte der Lastwagen noch drei weitere Tage und Nächte dahin — alles in allem seit meinem Erwachen vier. Er hielt an keinem Kontrollpunkt an, und ich glaube, er kam auch durch keine größere Ortschaft. Er folgte einer Route, die kreuz und quer verlief, fuhr sozusagen auf Schleichwegen durch das Land. Gelegentlich wurde angehalten, damit sich die Fahrer abwechseln und die Batterien aufgeladen werden konnten; dann wieder gab es einen längeren Aufenthalt, dessen Grund vom Innern des Laderaums aus nicht ersichtlich war. Zwei Tage lang blieb der Wagen von Mittag bis Einbruch der Dunkelheit stehen, als sei er von den Fahrern vergessen worden; dann ging es, als es Abend war, wieder weiter. Einmal am Tag, so um die Mittagszeit, wurde uns durch eine Klappe in der Tür ein großer Krug Wasser hereingereicht.

Mit dem Toten zusammen waren wir sechsundzwanzig, zweimal dreizehn. Die Gethenianer rechnen gern mit dreizehn, sechsundzwanzig, zweiundfünfzig und so weiter, vermutlich wegen dem sechsundzwanzigtägigen Mondzyklus, der ihren immer gleichbleibenden Monat und annähernd ihren Sexualzyklus bestimmt. Den Leichnam hatten wir gegen die Stahltüren geschoben, von denen die Heckwand unseres Wagenkastens gebildet wurde, denn dort würde er am ehesten kalt bleiben. Wir übrigen saßen, lagen oder hockten jeder auf seinem Platz, seinem Territorium, seiner Domäne, bis die Nacht hereinbrach und die Kälte so unerträglich wurde, daß wir allmählich immer näher aneinanderrückten und schließlich zu einer Einheit verschmolzen, in deren Mitte es relativ warm war, während es an ihrer Peripherie immer kalt blieb.

Es gab auch Barmherzigkeit. Ich und einige andere, ein alter Mann und einer, der unter einem fast unerträglichen Husten litt, wurde als diejenigen, die am meisten unter der Kälte litten, von den übrigen fünfundzwanzig Nacht für Nacht in die Mitte genommen, wo es am wärmsten war. Wir kämpften nicht um diesen warmen Platz, wir waren einfach jede Nacht dort. Sie hat etwas Erschreckendes an sich, diese Barmherzigkeit, die der Mensch niemals verliert. Erschreckend, weil sie, wenn wir zuletzt nur noch nackt und bloß in Kälte und Dunkelheit hocken, das einzige ist, was uns noch bleibt. Wir, die wir so reich, so voller Kraft sind, müssen uns schließlich mit so kleiner Münze begnügen. Weil wir sonst nichts zu geben haben.

Doch wenn wir des Nachts auch eng zusammenrückten, so blieben wir einander unendlich fern. Einige waren noch von den Drogen benommen, andere waren an sich schon geistig oder sozial geschädigt, alle waren mißhandelt und eingeschüchtert worden. Dennoch mag es seltsam erscheinen, daß von den Fünfundzwanzig niemals einer auch nur ein einziges Mal zu allen anderen als Gruppe sprach, nicht einmal, um sie zu verfluchen. Es wurde Barmherzigkeit geübt, es wurde Ausdauer im Erdulden von Schmerz und Leid gezeigt, doch nur schweigend, immer nur schweigend. In der säuerlichen Finsternis unserer gemeinsamen Sterblichkeit eng zusammengedrängt, stießen wir ständig gegeneinander, wurden gegeneinander geworfen, fielen übereinander, atmeten so dicht beieinander, daß sich unser Atem mischte, preßten die Wärme mit unseren Körpern zusammen, als hätten wir ein Feuer zu schützen — und blieben doch Fremde. Nicht einmal ihre Namen erfuhr ich von meinen Leidensgefährten im Wagen.

Eines Tages, ich glaube, es war am dritten Tag, machte der Lastwagen halt und blieb mehrere Stunden lang stehen, so daß ich fürchtete, man habe uns an einem völlig verlassenen Ort einfach unserem Schicksal überlassen. Da begann auf einmal einer von ihnen mit mir zu sprechen. Er erzählte mir eine lange Geschichte von einer Mühle in Süd-Orgoreyn, wo er gearbeitet und sich mit dem Aufseher gestritten hatte. Er redete und redete mit seiner weichen, monotonen Stimme, und legte immer wieder seine Hand auf die meine, als wolle er sich vergewissern, daß ich ihm auch zuhöre. Die Sonne wanderte nach Westen, und während wir da am Straßenrand standen, fiel plötzlich ein Lichtstreifen zum Türschlitz herein. Auf einmal konnten wir alle, sogar diejenigen, die ganz hinten im Wagen saßen, ein wenig sehen. Und was ich sah, war ein Mädchen — ein verdrecktes, hübsches, dummes, erschöpftes Mädchen, das mir beim Sprechen schüchtern lächelnd, trostsuchend ins Gesicht sah. Der junge Orgota war in der Kemmer und fühlte sich zu mir hingezogen. Die einzige Gelegenheit, bei der einer von ihnen mich um etwas bat, und ich konnte es ihm nicht geben! Ich erhob mich und ging an den Fensterschlitz, als wollte ich nur frische Luft atmen und hinaussehen. Ich kehrte sehr lange nicht an meinen Platz zurück.

In jener Nacht erklomm der Lastwagen lange Steigungen, fuhr einmal abwärts, dann von neuem bergauf. Von Zeit zu Zeit blieb er aus unerklärlichen Gründen stehen. Bei jedem Halt lag draußen, außerhalb der Stahlwände unseres Wagenkastens, ein eisiges, absolutes Schweigen, das Schweigen einer weiten Ödlandschaft, das Schweigen der hohen Berge. Der Orgota, der in der Kemmer war, saß immer noch neben mir, versuchte noch immer, mich zu berühren, suchte meine Nähe. Abermals stand ich auf, preßte mein Gesicht an die Stahlmaschen des Fensters und atmete die saubere Luft, die mir wie ein Rasiermesser in Kehle und Lungen schnitt. Meine Hände, die auf der Metalltür lagen, wurden gefühllos, bis mir auf einmal klar wurde, daß sie erfrieren würden, wenn sie es nicht sogar schon waren. Der Atem hatte eine kleine Eisbrücke zwischen meinen Lippen und dem Draht gebildet. Ich mußte sie mit den Fingern zerbrechen, als ich mich abwenden wollte. Ich hockte mich dicht zu den anderen Gefangenen, begann aber trotzdem nach kurzer Zeit so stark vor Kälte zu zittern, einer Kälte, wie ich sie noch nie in meinem Leben gespürt hatte. Es war ein krampfhaftes, quälendes Schütteln, das den Konvulsionen des Fiebers glich. Der Lastwagen fuhr weiter. Das Motorengeräusch und die Bewegung verliehen mir die Illusion einer gewissen Wärme, weil sie das totenähnliche, gletscherkalte Schweigen durchbrachen, aber ich fror die ganze Nacht hindurch so sehr, daß ich nicht einen Augenblick lang schlafen konnte. Ich vermutete, daß wir uns während eines großen Teils der Nacht in extremer Höhe befanden, mit Sicherheit sagen ließ sich das jedoch nur schwer, da Atem, Herzschlag und Energieniveau unter den gegebenen Umständen nur unzuverlässige Indikatoren sind.

Wie ich später erfuhr, überquerten wir in jener Nacht die Sembensyens und müssen uns auf den Paßhöhen in über dreitausend Meter befunden haben.

Der Hunger störte mich nicht besonders. Die letzte Mahlzeit, an die ich mich erinnerte, war jenes lange und schwere Essen bei Shusgis gewesen, und in Kundershaden mußte man mir wohl auch etwas gegeben haben, obwohl ich daran keine Erinnerung hatte. Aber das Essen schien mit diesem Leben in dem Stahlkasten nichts zu tun zu haben, und ich dachte auch nicht oft daran. Der Durst allerdings war ein Dauerzustand. Einmal am Tag wurde die Klappe, die offensichtlich einzig zu diesem Zweck in der Hecktür angebracht war, bei einem kurzen Halt geöffnet, einer von uns schob den Plastikkrug hinaus, und gleich darauf wurde er uns, zusammen mit einem Hauch eisiger Luft, wieder hereingereicht. Eine Möglichkeit, die Wassermenge, die jedem von uns zustand, abzumessen, gab es nicht. Der Krug ging herum und jeder bekam drei bis vier kräftige Schlucke, ehe die nächste Hand danach griff. Niemand, weder ein Einzelner noch eine Gruppe, trat als Verteiler oder Überwacher auf; niemand sorgte dafür, daß für den Mann, der so schwer hustete, ein Schluck Wasser aufgehoben wurde, obgleich er jetzt hohes Fieber hatte. Ich machte zwar einmal einen entsprechenden Vorschlag, und alle, die in meiner Nähe saßen, nickten zustimmend; unternommen aber wurde nichts, niemand hielt sich daran. Das Wasser wurde mehr oder weniger gerecht verteilt — niemand versuchte jemals, sich mehr als seinen Anteil zu holen — und war binnen weniger Minuten ausgetrunken. Einmal bekamen die letzten drei, die an der Vorderwand des Kastens saßen, nichts mehr ab: Der Krug war leer, als er zu ihnen kam. Am nächsten Tag bestanden zwei von ihnen darauf, die ersten zu sein, und man ließ sie gewähren. Der dritte lag regungslos in seiner Ecke und niemand kümmerte sich darum, daß er seinen Anteil bekam. Warum unternahm ich nichts? Ich weiß, es nicht. Es war der vierte Tag im Wagen. Ich weiß nicht einmal, ob ich versucht hätte, mir meinen Anteil zu holen, wenn man mich übergangen hätte. Ich wußte, daß er und der Kranke und die anderen Durst hatten und litten, genau wie ich. Aber ich konnte nichts dagegen tun, und darum nahm ich es hin, wie sie es hinnahmen: gelassen.

Ich weiß, daß Menschen sich unter denselben Umständen sehr unterschiedlich verhalten können. Doch dies waren Orgota, Menschen, die von Geburt an auf Gehorsam und Unterwerfung unter einen Gruppenzweck gedrillt waren, der von oben befohlen wurde. Selbständigkeit und Entschlußkraft waren in ihnen absichtlich unterdrückt worden. Die Fähigkeit, in Zorn auszubrechen, besaßen sie nur in geringem Maß. Sie bildeten ein Ganzes, zu dem auch ich gehörte. Jeder einzelne fühlte es, und in der Nacht war es für uns eine Zuflucht und ein Trost, dieses Ganze der eng zusammengedrängten Gruppe zu spüren, in der jeder vom anderen Leben bekam. Aber es gab keinen Sprecher für das Ganze; es hatte keinen Kopf, es war und blieb passiv.

Menschen, deren Willenskraft stärker entwickelt war, wären vielleicht besser gefahren, hätten mehr geredet, das Wasser gerechter verteilt, den Kranken mehr Fürsorge zuteil werden lassen und den Kopf oben behalten. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, wie es in diesem Lastwagen war.

Am fünften Morgen nach meinem Erwachen im Wagen wurde wieder angehalten. Wir hörten Stimmen und Rufe. Die stählernen Hecktüren wurden von außen entriegelt und weit aufgerissen.

Einer nach dem anderen krochen wir, einige von uns auf allen Vieren, zum offenen Ende des Stahlkastens und sprangen oder hangelten uns auf den Boden hinab. Das heißt, vierundzwanzig von uns. Zwei Tote, der alte Leichnam und ein neuer — derjenige, der zwei Tage lang keinen Schluck Wasser bekommen hatte — wurden herausgezerrt.

Es war kalt draußen, so kalt und so grell durch das weiße Sonnenlicht auf dem weißen Schnee, daß es uns sehr, sehr schwerfiel, das stinkende Obdach des Lastwagens zu verlassen, und einige von uns in Tränen ausbrachen. In einer dichten Gruppe standen wir nackt und stinkend neben dem großen Lastwagen, sahen unser kleines Ganzes, unser Nacht- Ganzes, plötzlich dem hellen, grausamen Tageslicht ausgesetzt. Man riß uns auseinander, befahl uns, eine Reihe zu bilden, und führte uns zu einem wenige hundert Meter entfernten Gebäude. Die stählernen Wände und das schneebedeckte Dach des Gebäudes, die weite Schnee-Ebene rings um uns, die riesige Bergkette, die unter der aufgehenden Sonne lag, der hohe Himmel — alles schien unter einem Übermaß an Licht zu flimmern und zu glitzern.

Wir mußten uns aufstellen und an einem großen Trog in einer Holzhütte waschen; alle tranken sich zunächst an ihrem Waschwasser satt. Danach wurden wir ins Hauptgebäude geführt, wo wir Unterzeug, graue Filzhemden, Kniehosen, Gamaschen und Filzstiefel erhielten. Ein Wachtposten hakte, als wir in den Eßsaal gingen, auf einer Liste unsere Namen ab. Mit hundert oder mehr anderen, ebenfalls in Grau gekleideten Gefangenen saßen wir an festgeschraubten Tischen und verschlangen das Frühstück: Grütze mit lauwarmem Bier. Anschließend wurden wir alle, die alten und die neuen Sträflinge, in Zwölfergruppen eingeteilt. Meine Gruppe wurde zu einer Sägemühle gebracht, die Wenige hundert Meter hinter dem Hauptgebäude, aber noch innerhalb des Zauns lag. Außerhalb des Zauns, in nur geringer Entfernung vom Lager, begann ein Wald, der sich, so weit das Auge reichte, nach Norden, über die Hügel erstreckte. Unter der Aufsicht eines Wachtpostens trugen wir zurechtgesägte Bretter von der Mühle zu einem riesigen Schuppen, wo wir sie für den Winter zum Trocknen stapelten.

Nach all den Tagen in unserem Lastwagen fiel es uns schwer, zu gehen, uns zu bücken und Lasten zu heben. Man duldete nicht, daß wir müßig herumstanden, zwang uns aber auch nicht zu schnellerem Tempo. Um die Mittagszeit erhielten wir einen Becher orsh, ein unfermentiertes Korngebräu. Vor Sonnenuntergang wurden wir zu den Baracken zurückgeführt und bekamen das Abendbrot: Grütze mit ein bißchen Gemüse und dazu Bier. Bei Anbruch der Dunkelheit wurden wir im Schlafsaal eingeschlossen, in dem man die ganze Nacht über das Licht brennen ließ. Wir schliefen auf ein Meter fünfzig tiefen Regalen aus Brettern, die sich zweistöckig an den Wänden des Saales entlangzogen. Die alten Insassen stürzten sich auf die obere Reihe — die bessere, da Wärme bekanntlich nach oben steigt. Als Bettzeug erhielt jeder von uns an der Tür einen Schlafsack ausgehändigt, grobe, sehr schwere Säcke, die noch vom Schweiß früherer Benutzer stanken, aber gut isoliert waren und warm hielten. Der Nachteil für mich bestand darin, daß sie zu kurz waren. Ein durchschnittlich großer Gethenianer konnte sich bis über den Kopf darin verkriechen, ich aber konnte mich nicht einmal auf dem Schlafbrett ganz ausstrecken.

Das Lager hieß ›Dritte Freiwilligenfarm‹ und unterstand der Neusiedlungsagentur der Commensality Pulefen. Pulefen, Distrikt dreißig, liegt im äußersten Nordwesten der bewohnbaren Zone Orgoreyns und wird begrenzt von den Sembensyen-Bergen, dem Esagel-Fluß und der Küste. Es ist ein nur dünn besiedeltes Gebiet, in dem es keine größeren Städte gibt. Die unserem Lager nächste Ortschaft hieß Turuf und war mehrere Meilen in südwestlicher Richtung entfernt; ich habe sie nie zu sehen bekommen. Die Farm lag am Rand einer großen, unbewohnten Waldregion namens Tarrenpeth. Da so hoch im Norden die größeren Bäume, die Hemmens, Serems oder schwarzen Vates, nicht mehr wachsen, bestand der ganze Wald aus einer einzigen Baumart, einer knotigen, verkrüppelten, drei bis vier Meter hohen und mit grauen Nadeln besetzten Konifere, der thore. Obgleich die Zahl der auf Winter heimischen Tier- und Pflanzenarten ungewöhnlich klein ist, sind doch die Mitglieder jeder Spezies überaus zahlreich: Und so bestand dieser Wald aus Tausenden von Quadratmeilen, auf denen außer den thore-Bäumen so gut wie gar nichts gedieh. Sogar die Wildnis wird hier sorgfältig gehegt, daher gab es im Wald trotz ständigen jahrhundertelangen Ausholzens keinen Kahlschlag, keine trostlose Baumstumpffläche, keine erodierten Abhänge. Es sah so aus, als sei jeder einzelne Baum gezählt worden, und auch nicht ein Stäubchen Sägemehl von unserer Mühle blieb ungenutzt. Es gehört auch eine kleine Fabrik zu der Farm, und wenn das Wetter so schlecht war, daß die Holzfäller nicht in den Wald gehen konnten, arbeiteten wir in der Mühle oder in der Fabrik und preßten Späne, Rinde und Sägemehl zu den verschiedensten Formen. Aus den getrockneten thore-Nadeln wurde ein Harz extrahiert, das man für Plastikmaterial verwendete.

Diese Arbeit war echte Arbeit, aber wir wurden nicht übermäßig geschunden. Hätte man uns nur ein bißchen mehr Essen und bessere Kleidung gegeben, wäre der größte Teil unserer Arbeit recht angenehm gewesen, so aber mußten wir fast immer zu sehr hungern und frieren, um überhaupt etwas als angenehm zu empfinden. Die Wachen waren selten hart und niemals grausam. Sie neigten eher zu Teilnahmslosigkeit, Nachlässigkeit, Schwerfälligkeit und wirkten auf mich sehr feminin, doch keineswegs im Sinne von Zartheit und Empfindsamkeit, sondern ganz das Gegenteil: sie waren grobschlächtig, träge und fleischig, von einer fast kuhähnlichen Stumpfheit. Auch bei meinen Mitgefangenen hatte ich jetzt zum erstenmal auf Winter das vage Gefühl, ein Mann unter Frauen oder Eunuchen zu sein. Die Häftlinge hatten alle den gleichen schlaffen, aufgeschwemmten Körper. Sie waren schwer zu unterscheiden; ihre emotionelle Spannkraft schien unverändert niedrig, ihre Gespräche trivial. Ich hielt diese Trägheit und diesen Gleichmut zunächst für eine Folge des Nahrungs-, Wärme- und Freiheitsentzugs, stellte aber bald fest, daß es sich um einen wesentlich spezifischeren Effekt handelt. Es war die Wirkung gewisser Drogen, die allen Gefangenen verabreicht wurden, damit sie nicht in Kemmer kamen.

Ich wußte bereits, daß es Drogen gab, mit denen man die Potenzphase des gethenianischen Sexualzyklus reduzieren oder ganz eliminieren konnte; sie wurden verwendet, sobald Bequemlichkeit, Gesundheit oder Ethik Abstinenz erforderten. Auf diese Weise konnte man die Kemmerzeit ein- oder mehrmals überspringen, ohne nachteilige Folgen befürchten zu müssen. Der freiwillige Gebrauch derartiger Drogen war allgemein üblich und akzeptiert. Nie hätte ich jedoch gedacht, daß man sie auch Menschen verabreichte, die nicht damit einverstanden waren.

Aber es gab gute Gründe dafür. Ein Häftling in Kemmer würde sein ganzes Arbeitskommando lahmlegen. Wenn man ihn von der Arbeit befreite — wohin mit ihm? Vor allem dann, wenn zu dem Zeitpunkt kein anderer Häftling in Kemmer war, was bei einer Anzahl von einhundertfünfzig Mann, wie in unserem Lager, durchaus passieren konnte. Die Kemmerzeit ohne Partner überstehen zu müssen, ist ziemlich hart für einen Gethenianer. Es war also viel einfacher, wenn man das ganze Problem — und damit auch die Gefahr, Arbeitszeit zu verschwenden — kurzerhand so löste, daß ein Häftling überhaupt nicht in Kemmer kam. Man beugte mit der Verabreichung von Drogen vor.

Gefangene, die bereits mehrere Jahre hier lebten, hatten sich psychologisch und, wie ich glaube, auch physisch mit dieser chemischen Kastration abgefunden und angepaßt. Sie waren so geschlechtslos wie Ochsen. Sie kannten weder Scham noch Begehren und glichen in dieser Hinsicht wohl den Engeln, denn weder Scham noch Begehren zu kennen, ist nicht- menschlich.

Der Sexualtrieb der Gethenianer ist von der Natur so festgelegt und limitiert, daß die Gesellschaft sich fast überhaupt nicht damit zu befassen braucht: Es gibt auf Winter weniger Gesetze, Regeln und Verbote, die die Sexualität betreffen, als in allen mir bekannten bisexuellen Gesellschaftsformen. Abstinenz ist in der Regel ganz und gar freiwillig; Genußsucht wird durchweg akzeptiert. Sowohl sexuelle Angst als auch sexuelle Frustration sind äußerst selten. Hier erlebte ich zum erstenmal, daß der Gemeinschaftszweck dem Sexualtrieb zuwiderlief. Da es sich um eine vollkommene Unterdrückung und nicht lediglich um eine Verdrängung handelte, entstand daraus zwar keine Frustration, aber dafür etwas auf lange Sicht viel Bedrohlicheres: lähmende Passivität.

Es gibt auf Winter keine Insekten, die Staaten bilden. Anders als die Terraner, brauchen die Gethenianer ihre Erde nicht mit jenen älteren Gesellschaften zu teilen, mit jenen unzähligen Siedlungen voll kleiner, geschlechtsloser Arbeiter, denen nur der eine Instinkt gegeben ist, der Gruppe, dem Ganzen zu dienen und zu gehorchen. Gäbe es Ameisen auf Winter, hätten die Gethenianer vermutlich schon lange versucht, sie nachzuahmen. Das System der Freiwilligenfarmen ist verhältnismäßig neu, auf nur ein Land des Planeten begrenzt und anderswo buchstäblich unbekannt. Aber es ist ein bedrohliches Zeichen für den Weg, den eine Gesellschaftsform von Menschen, die sich sexuell so leicht dirigieren lassen, nehmen kann.

Auf der Pulefenfarm waren wir, wie gesagt, für die Arbeit, die man uns zudiktierte, viel zu unterernährt, und unsere Kleidung, vor allem die Fußbekleidung, war vollkommen unzureichend für das Winterklima. Den Wachen, zum größten Teil Bewährungshäftlinge, ging es nicht viel besser. Der Sinn der Farm und des Systems war die Bestrafung, nicht die Zerstörung der Menschen, und wie ich glaube, wäre es ganz erträglich gewesen, hätte es nicht die Drogen und Untersuchungen gegeben.

Einige Gefangene wurden in Zwölfergruppen zur Untersuchung geholt; sie rezitierten dabei lediglich eine Art Beichte und Katechismus, bekamen ihre Anti-Kemmerspritze und wurden wieder zur Arbeit entlassen. Andere, die politischen Häftlinge, wurden jeden fünften Tag einem Verhör mit Drogen unterzogen.

Ich weiß nicht, welche Drogen man dafür verwendete. Ich habe auch keine Ahnung, was der Sinn dieser Verhöre war. Ich kann nicht sagen, welche Fragen mir gestellt wurden. Ich kam nach einigen Stunden im Schlafsaal wieder zu mir, wo ich mit sechs oder sieben anderen auf den Schlafbrettern lag, von denen die einen gerade auch erwachten, während die anderen unter dem Einfluß der Droge noch benommen waren. Als wir uns alle wieder aufgerappelt hatten, brachten uns die Wachen zur Arbeit in die Fabrik, doch nach der dritten oder vierten Untersuchung konnte ich einfach nicht mehr aufstehen. Man ließ mich in Ruhe, und am folgenden Tag konnte ich, obwohl noch immer ein wenig weich in den Knien, wieder mit meinem Kommando hinausziehen. Nach der nächsten Untersuchung blieb ich zwei Tage lang hilflos liegen. Anscheinend wirkten entweder die Anti-Kemmerhormone oder die Wahrheitsdrogen auf mein nicht gethenianisches Nervensystem wie ein Gift, und ihre Wirkung schien kumulativ zu sein.

Ich erinnere mich, daß ich mir vornahm, den Inspektor bei der nächsten Untersuchung anzuflehen, bei mir eine Ausnahme zu machen. Zuerst wollte ich ihm fest versprechen, auch ohne Drogen jede Frage, die er mir stellte, wahrheitsgemäß zu beantworten; später dann wollte ich zu ihm sagen:»Sehen Sie nicht, wie sinnlos es ist, die Antwort auf die falsche Frage zu kennen, Sir?«Dann würde sich der Inspektor in Faxe mit der Goldkette des Wahrsagers um den Hals verwandeln, und ich würde lange Gespräche mit ihm führen, mich überaus wohl dabei fühlen und zwischendurch die Säure kontrollieren, die aus einer Röhre in ein Faß pulverisierter Holzabfälle tropfte. Doch als ich in das kleine Zimmer kam, wo wir untersucht wurden, hatte mir der Assistent des Inspektors natürlich schon den Kragen zurückgezogen und die Injektion verabreicht, bevor ich den Mund aufmachen konnte, und alles, woran ich mich aus dieser Sitzung erinnere — möglicherweise stammt die Erinnerung aber auch von einer früheren Untersuchung -, ist, daß der Inspektor, ein müde wirkender, junger Orgota mit schmutzigen Fingernägeln, gelangweilt sagte:»Sie müssen meine Fragen auf Orgota beantworten, Sie dürfen keine andere Sprache sprechen. Sie müssen Orgota sprechen.«

Ein Krankenrevier gab es nicht. Das Prinzip der Farm hieß, arbeite oder stirb; in der Praxis jedoch wurde Nachsicht geübt, gewährten einem die Wachen zwischen Arbeit und Tod eine Ruhepause. Wie ich schon sagte, grausam waren sie nicht; aber sie waren auch nicht freundlich. Sie waren nachlässig und kümmerten sich um nichts, solange sie nur selbst keinen Ärger bekamen. Sie duldeten, daß ich und ein anderer Gefangener im Schlafsaal blieben, ließen uns, sobald sich herausstellte, daß wir nicht aufstehen konnten, einfach in unseren Schlafsäcken liegen, als hätten sie uns übersehen. Ich selber war nach der letzten Untersuchung schwerkrank; der andere, ein Mann im mittleren Alter, hatte offenbar ein Nierenleiden und lag im Sterben. Da er jedoch nicht von heute auf morgen sterben konnte, erlaubte man ihm, sich etwas Zeit damit zu lassen und auf dem Schlafbrett liegen zu bleiben.

An ihn erinnere ich mich von allem, was ich auf der Pulefenfarm erlebt und gesehen habe, am deutlichsten. Körperlich war er ein typischer Gethenianer des Großen Kontinents, kräftig gebaut, untersetzt, mit kurzen Armen und Beinen und einer dicken Schicht Fett unter der Haut, die seinem Körper selbst bei der Krankheit eine rundlich Glätte verlieh. Er hatte kleine Hände und Füße, verhältnismäßig breite Hüften und einen tiefen Brustkasten, dessen Brüste kaum mehr entwickelt waren als bei einem Mann meiner eigenen Rasse. Seine Haut war von einer dunklen, rosig- braunen Farbe, sein schwarzes Haar sehr dünn und pelzähnlich. Sein breites Gesicht mit schmalen, kräftigen Zügen hatte deutlich ausgeprägte Wangenknochen. Er war ein Typ, wie man ihn bei verschiedenen isolierten Terranergruppen findet, die in sehr großer Höhe oder in arktischen Gebieten leben. Sein Name war Asra; er war früher Tischler gewesen.

Wir unterhielten uns miteinander.

Asra wehrte sich, wie ich glaube, nicht gegen das Sterben, aber er hatte Angst davor und suchte Ablenkung von dieser Angst.

Im Grunde hatten wir nur die Todesnähe gemeinsam, und gerade das war es, worüber wir nicht sprechen wollten. Deswegen verstanden wir uns zumeist nicht sehr gut. Ihm war alles gleichgültig. Ich dagegen, jünger und nicht so leichtgläubig, wäre für Verständnis, Begreifen, Erklärungen dankbar gewesen. Aber es gab keine Erklärungen. Wir sprachen.

Bei Nacht war unser Barackenschlafsaal hell erleuchtet, voll Menschen und sehr laut. Während des Tages wurden die Lichter gelöscht, und der große Raum lag dämmrig, leer und still. Wir rückten auf dem Schlafbrett eng zusammen und unterhielten uns leise. Am liebsten erzählte Asra lange, komplizierte Geschichten aus seiner Jugendzeit auf einer Commensalfarm im Kunderer-Tal, der weiten, wunderschönen Ebene, durch die ich gekommen war, als ich von der Grenze aus nach Mishnory fuhr. Er sprach einen starken Dialekt und erwähnte viele Bezeichnungen von Menschen, Orten, Gebräuchen und Werkzeugen, deren Bedeutung ich nicht kannte; daher erfaßte ich nicht mehr als die allgemeine Richtung seiner Reminiszenzen. Wenn er sich besser fühlte, gewöhnlich um die Mittagszeit, bat ich ihn um eine Sage oder Legende. Die meisten Gethenianer haben einen Riesenvorrat an solchen Geschichten im Kopf. Ihre Literatur existiert zwar auch in geschriebener Form, ist aber im Grunde eine lebendige, mündliche Tradition, und in diesem Sinne sind sie alle literarisch gebildet. Asra kannte sämtliche Hauptthemen der Orgota: die Meshe-Legenden, das Parsid-Lied, Teile der großen Epen und die romanhafte Seehändler-Saga. All diese, und überdies Bruchstücke seines heimatlichen Märchengutes, an die er sich aus seiner Kinderzeit erinnerte, erzählte er mir in seinem verwaschenen Dialekt, und wenn er müde wurde, bat er zur Abwechslung mich um eine Geschichte.»Was erzählt man sich denn so in Karhide?«fragte er, während er sich die Beine rieb, die ihn mit dumpfen und stechenden Schmerzen quälten, und wandte mir sein Gesicht mit einem scheuen, verstohlenen und geduldigen Lächeln zu.

Einmal antwortete ich:»Ich weiß eine Geschichte von Menschen, die auf einer anderen Welt wohnen.«

»Was für eine Welt könnte das sein?«

»Im großen und ganzen genau so eine wie diese; nur dreht sie sich nicht um diese Sonne, sie dreht sich um einen Stern, den ihr Selemy nennt. Das ist ein gelber Stern, wie die Sonne, und auf dieser Welt, unter dieser Sonne, leben Menschen.«

»Das kommt auch in den Sanovy-Lehren vor, diese Sache mit den anderen Welten. Als ich noch klein war, kam immer ein alter, verrückter Sanovy-Priester in meinen Herd und erzählte uns Kindern, wo die Lügner hinkommen, wenn sie sterben, und wo die Selbstmörder hinkommen, und wo die Diebe hinkommen… Dahin werden wir beide wohl auch kommen, nicht wahr — auf eine von diesen fernen Welten?«

»Nein. Was ich meine, das ist keine Geisterwelt, sondern eine wirkliche. Die Menschen, die dort wohnen, sind wirkliche Menschen, sie leben wirklich, genau wie hier. Aber sie haben vor sehr langer Zeit das Fliegen erlernt.«

Asra lächelte nachsichtig.

»Nicht so, daß sie mit ihren Armen schlagen — nein, sie fliegen in großen Maschinen, die ganz ähnlich sind wie hier die Autos.«Aber das ließ sich in Orgota nur schwer ausdrücken, da es kein Wort gibt, das genau ›fliegen‹ bedeutet. Am nächsten heran kommt man wohl mit einem Wort, das soviel wie ›gleiten‹ heißt.»Sie lernten, Maschinen zu bauen, die über die Luft gleiten wie Schlitten über den Schnee. Und nach einer Weile lernten sie, diese Maschinen so zu bauen, daß sie immer weiter und weiter kamen, bis sie, wie ein Stein aus der Schleuder, von der Erde aus über die Wolken, und dann aus der Luft hinaus bis zu einer anderen Welt kamen und um deren Sonne kreisten. Und als sie zu jener Welt kamen — was fanden sie da? Menschen…«

»Die auf der Luft glitten?«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht… Als sie zu meiner Welt kamen, wußten wir schon, wie man in der Luft herumfahren kann. Aber sie lehrten uns, von einer Welt zur anderen zu gelangen. Bis dahin hatten wir noch nicht die richtigen Maschinen dafür.«

Die Einführung des Erzählers in die Erzählung verwirrte Asra. Ich hatte Fieber, litt unter den Schwären, die als Folge der Drogeninjektionen meine Brust und meine Arme bedeckten und näßten, und konnte mich nicht mehr erinnern, wie ich den Faden hatte weiterspinnen wollen.

»Erzähl doch weiter«, forderte er mich auf, bemüht, einen Sinn in meine Erzählung zu bringen.»Was taten sie denn noch, außer in der Luft herumzufahren?«

»Ach, ungefähr das gleiche wie die Leute hier. Aber sie sind ununterbrochen in Kemmer.«

Er kicherte. So, wie wir leben mußten, gab es natürlich keine Möglichkeit, irgend etwas zu verbergen, und daher lautete mein Spitzname bei den Gefangenen und Wärtern unvermeidlicherweise ›der Perverse‹. Doch wo es weder Scham noch Begehren gibt, wird keiner, so anomal er auch immer sein mochte, von den anderen ausgestoßen; darum glaube ich nicht, daß Asra diese Vorstellung mit mir und meinen charakteristischen Eigenheiten in Verbindung brachte. Er sah sie lediglich als Variation eines uralten Themas. Deswegen kicherte er also ein bißchen und sagte:»Ununterbrochen in Kemmer? Ist diese Welt dann also eine Belohnung? Oder ist sie eine Strafe?«

»Das weiß ich nicht, Asra. Was ist die Welt, auf der wir jetzt sind?«

»Keines von beiden, mein Kind. Sie ist ganz einfach die Welt, mehr nicht. Man wird in sie hineingeboren, und… Die Dinge sind eben so, wie sie sind…«

»Ich wurde nicht in sie hineingeboren. Ich bin zu ihr gekommen. Ich habe sie mir gewählt.«

Das Schweigen und der Schatten umgaben uns. Weit in der Ferne, im Schweigen des Landes hinter den Barackenwänden, ertönte ein leises, scharfes Geräusch: das Kreischen einer Handsäge. Sonst nichts.

»Na ja… Na ja…«, murmelte Asra seufzend und rieb sich mit leisen Stöhnen die Beine, dessen er sich wohl nicht bewußt war.»Keiner von uns kann wählen.«

Ein oder zwei Tage danach fiel er ins Koma und starb kurz darauf. Ich hatte niemals erfahren, warum man ihn auf die Freiwilligenfarm geschickt hatte, für welches Verbrechen, für welchen Fehler oder für welchen Irrtum in seinen Personalpapieren; ich wußte nur, daß er weniger als ein Jahr auf der Pulefenfarm gewesen war.

Am Tag nach Asras Tod holte man mich zur Untersuchung; diesmal mußten sie mich hinübertragen, und von da an kann ich mich an nichts mehr erinnern.

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