SECHSTES KAPITEL Ein Weg nach Orgoreyn

Der Koch, der immer schon sehr früh ins Haus kam, weckte mich. Ich habe einen festen Schlaf, deswegen mußte er mich kräftig schütteln und mir ins Ohr schreien:»Wachen Sie auf! Wachen Sie auf, Lord Estraven! Ein Läufer vom Haus des Königs ist gekommen!«Endlich begriff ich, was er da rief, erhob mich, noch ganz benommen von Schlaf und dem durchdringenden Geschrei, eilte zur Zimmertür, wo schon der Bote wartete. Und so ging ich, nackt und unwissend wie ein ungeborenes Kind, in mein Exil.

Während ich das Dokument las, das mir der Läufer reichte, sagte ich mir in Gedanken, daß ich zwar so etwas erwartet hatte, doch immerhin nicht so schnell. Als ich dann aber zusehen mußte, wie der Mann das verdammte Dokument an meine Haustür nagelte, da hatte ich das Gefühl, er könne die Nägel ebensogut in meine Stirn schlagen. Ich mußte mich abwenden und stand da, bleich, hilflos und völlig vernichtet von einem Schmerz, auf den ich nicht gefaßt gewesen war.

Nachdem dieser erste Schock abgeklungen war, erledigte ich, was erledigt werden mußte, und hatte, als die Gongs die neunte Stunde schlugen, das Palastgelände verlassen. Was meinen Besitz und mein Bankkonto betraf, so war es unmöglich für mich, zu Bargeld zu kommen, ohne die Männer, mit denen ich deswegen verhandeln mußte, zu gefährden, und je treuere Freunde sie mir waren, desto größer war die Gefahr, in der sie schwebten. Ich schrieb meinem alten Kemmerin Ashe und teilte ihm mit, auf welche Weise er den Erlös gewisser Wertgegenstände in seinen Besitz bringen und für unseren Sohn bewahren konnte, bat ihn aber, mir kein Geld zu schicken, denn Tibe lasse mit Sicherheit die Grenze bewachen. Unterschreiben konnte ich den Brief nicht. Mit jemandem zu telefonieren, bedeutete, den Empfänger des Anrufs ins Gefängnis schicken, und meine Eile, den Palast zu verlassen, sollte unter anderem verhindern, daß mich etwa ein Freund, der von nichts wußte, in aller Unschuld besuchen kam und dann, als Lohn für seine Freundschaft, sein Geld und seine Freiheit verlor.

Ich machte mich, quer durch die Stadt, nach Westen auf. An einer Kreuzung blieb ich stehen und dachte mir: Warum soll ich nicht über die Berge und Ebenen nach Osten, nach Kermland gehen und so, ein armer Wanderer, in meine Heimat Estre zurückkehren, in jenes Steinhaus am kargen Berghang, wo ich geboren bin? Warum nicht nach Hause gehen? Drei- oder viermal blieb ich stehen und sah zurück. Und jedesmal entdeckte ich unter den gleichgültigen Passantengesichtern eines, das sehr wohl einem Spion gehören konnte, der darüber wachen sollte, daß ich Erhenrang auch wirklich verließ, und jedesmal dachte ich daran, wie töricht es wäre, heimkehren zu wollen. Genausogut konnte ich mich gleich umbringen. Ich war anscheinend zu einem Leben im Exil geboren, und die einzige Möglichkeit, heimzukommen, war durch den Tod. Darum wandte ich mich endgültig nach Westen und blickte von da an nicht mehr zurück.

Die drei Tage Galgenfrist, die ich hatte, würden mich, vorausgesetzt, es kam nichts dazwischen, im Höchstfall fünfundachtzig Meilen weit, bis nach Kuseben am Golf bringen. Den meisten Verbannten ließ man den Ausweisungsbefehl bereits am Abend zuvor ankündigen, damit sie die Möglichkeit hatten, Passage auf einem Schiff den Sess hinunter zu buchen, bevor die Schiffsführer für ihre Hilfeleistung bestraft werden konnten. Doch Tibes Charakter ließ eine derartige Höflichkeit nicht zu. Jetzt würde es kein Schiffsführer mehr wagen, mich mitzunehmen, und da ich den Hafen für Argaven gebaut hatte, war ich dort leider nur allzu bekannt. Mit einem Landboot konnte ich auch nicht fahren, und bis zur Landesgrenze sind es von Erhenrang vierhundert Meilen. Mir blieb keine Wahl: Ich mußte versuchen, Kuseben zu Fuß zu erreichen.

Der Koch hatte das vorausgesehen. Ich hatte ihn natürlich sofort weggeschickt, doch ehe er ging, hatte er alles Eßbare, das er finden konnte, herausgesucht und für mich als Wegzehrung für meine Dreitageflucht zu einem Paket zusammengeschnürt. Seine Güte war meine Rettung, und sie erhielt mir auch meinen Mut; denn immer, wenn ich unterwegs von den Früchten oder dem Brot aß, sagte ich mir:»Es gibt einen Menschen, der mich nicht für einen Verräter hält, denn er hat mir dies hier gegeben.«

Es war sehr schwer zu ertragen, daß man mich einen Verräter nannte. Merkwürdig, daß das so schwer zu ertragen ist, denn einen anderen so zu nennen, ist doch sehr leicht. Es ist eine Bezeichnung, die haften bleibt, die auf jeden paßt, die jeden überzeugt. Fast war ich schon selbst überzeugt. In der Abenddämmerung des dritten Tages kam ich in Kuseben an — abgekämpft und mit wunden Füßen, weil ich in diesen letzten Jahren in Erhenrang nur Wohlleben und Luxus genossen hatte und meine Kondition für lange Fußmärsche nicht mehr die beste war. Und dort, vor dem Tor der kleinen Stadt, stand Ashe und wartete auf mich.

Sieben Jahre lang waren wir Kemmeringe gewesen und hatten zwei Söhne. Da sie als Fleisch von seinem Fleische geboren waren, trugen sie seinen Namen — Foreth rem ir Osboth — und wuchsen in seinem Clanherd auf. Vor drei Jahren hatte er sich in die Festung Orgny zurückgezogen und trug jetzt die goldene Kette eines Zölibatärs der Weissager. In diesen vergangenen drei Jahren hatten wir einander nicht mehr gesehen, und dennoch spürte ich, als ich sein Gesicht im Zwielicht unter dem Steinbogen erblickte, die alte Vertrautheit unserer Liebe, als sei sie erst gestern zerbrochen. Ich spürte seine unwandelbare Treue, die ihn veranlaßt hatte, hierherzukommen, um meinen Ruin mit mir zu teilen. Und ich spürte, als sich dieses lästige Band wieder um mich legte, Ungeduld und Zorn; denn immer schon hatte Ashes Liebe mich gezwungen, gegen die Stimme meines eigenen Herzens zu handeln.

Schweigend ging ich an ihm vorbei. Wenn ich zu ihm schon grausam sein mußte, dann offen und ehrlich, ohne Freundlichkeit vorzutäuschen.»Therem!«rief er mir nach und folgte mir. Mit raschen Schritten ging ich durch Kusebens steile Straßen zu den Anlegeplätzen hinunter. Vom Meer herüber blies ein Südwind, der in den schwarzen Bäumen der Gärten rauschte, während ich in dieser lauen Sommerdämmerung vor Ashe davonlief, als sei er ein Mörder. Bald hatte er mich eingeholt, denn meine Füße taten so weh, daß ich meine Geschwindigkeit nicht lange aufrechterhalten konnte.»Therem«, sagte er,»ich werde mit dir kommen.«

Ich antwortete nicht.

»Vor zehn Jahren, im selben Monat, Tuwa, haben wir einander geschworen…«

»Und vor drei Jahren hast du den Schwur gebrochen und mich verlassen. Eine sehr kluge Wahl.«

»Ich habe den Eid, den wir uns geschworen haben, niemals gebrochen, Therem.«

»Ganz recht. Weil es keinen Eid zu brechen gab. Es war ein falscher Schwur, ein zweiter Schwur. Du weißt es genau; du wußtest es damals schon. Der einzige Treueeid, den ich jemals geschworen habe, wurde nie ausgesprochen, durfte nicht ausgesprochen werden, und der Mann, dem ich ihn geschworen habe, ist schon seit langem tot. Du schuldest mir nichts, ich schulde dir nichts. Laß mich gehen.«

Noch während ich sprach, kehrten sich meine Wut und Bitterkeit von Ashe ab und gegen mich selbst, gegen mein eigenes Leben, das wie ein gebrochenes Versprechen hinter mir lag. Aber das wußte Ashe nicht. In seinen Augen standen Tränen, als er jetzt sagte:»Bitte, nimm das hier, Therem. Ich schulde dir nichts, aber ich liebe dich.«Er reichte mir ein kleines Päckchen.

»Nein, Ashe. Ich habe Geld. Laß mich gehen. Ich muß allein gehen.«

Ich ging, und er folgte mir nicht. Nur meines Bruders Schatten folgte mir. Es war unklug von mir gewesen, von ihm zu sprechen. Ich hatte in allem unklug gehandelt.

Im Hafen hatte ich kein Glück. Am Kai lag kein einziges Schiff von Orgoreyn, auf dem ich hätte Passage nehmen und somit Karhide, wie es die Vorschrift war, bis Mitternacht verlassen können. Nur wenige Männer waren noch auf den Piers, und diese wenigen hatten es alle eilig, nach Hause zu kommen. Der einzige, den ich fand und ansprach, ein Fischer, der den Motor seines Bootes reparierte, sah mich nur einmal kurz an und drehte mir dann schweigend den Rücken zu. Das weckte plötzlich meine Angst. Der Mann wußte, wer ich war, und das konnte er nur, wenn man ihn informiert hatte. Tibe hatte also seine Söldlinge ausgeschickt, um mir zuvorzukommen und dafür zu sorgen, daß ich in Karhide bleiben mußte, bis meine Zeit abgelaufen war. Bis jetzt hatte ich mich mit Schmerz und Zorn herumgeschlagen, mit Angst noch nicht; nie hätte ich gedacht, daß der Ausweisungsbefehl möglicherweise ein Vorwand für meine Hinrichtung sein könnte. Sobald die sechste Stunde schlug, war ich leichte Beute für Tibes Männer, und niemand konnte behaupten, es wäre Mord, denn es wurde ja nur der Gerechtigkeit Genüge getan.

Ich setzte mich im windigen, dunklen Hafen auf einen Ballast-Sandsack. Die Wellen schlugen klatschend und schmatzend an die Spundwand, Fischerboote zerrten an ihrer Vertäuung und draußen, am Ende der langen Pier, brannte eine Laterne. Ich saß und starrte auf den Lichtpunkt, starrte an ihm vorbei auf das dunkle Meer hinaus. Manche Menschen sind unmittelbar drohender Gefahr gewachsen — ich nicht. Meine Stärke ist das Planen für die Zukunft. Auge in Auge mit der Gefahr benehme ich mich wie ein Idiot, hocke auf einem Sandsack und überlege, ob man nach Orgoreyn hinüberschwimmen kann. Das Eis des Charsunegolfs ist schon seit ein bis zwei Monaten getaut; man könnte eine Zeitlang im Wasser am Leben bleiben. Zur Küste von Orgoreyn sind es einhundertfünfzig Meilen von hier, und ich kann nicht schwimmen. Ich wandte mich vom Wasser ab, und als ich Kusebens Straßen entlangblickte, merkte ich plötzlich, daß ich in der Hoffnung, er möge mir noch immer folgen, nach Ashe Ausschau hielt. Da riß mich die Scham aus der lähmenden Benommenheit, und ich vermochte wieder logisch zu denken.

Wenn ich mit dem Fischer, der im inneren Dock noch immer mit seinem Boot beschäftigt war, einen Handel abschließen wollte, konnte ich nur zu Bestechung oder Gewalt Zuflucht nehmen: ein defekter Motor jedoch war diese Mühe auf keinen Fall wert. Also Diebstahl. Aber die Motoren der Fischereifahrzeuge sind gesichert. Einen unterbrochenen Stromkreis zu überbrücken, den Motor anzulassen, das Boot unter den Pierlaternen aus dem Dock und nach Orgoreyn zu steuern, war für mich, der ich noch niemals ein Motorboot gesteuert hatte, eindeutig ein törichtes, verzweifeltes Unternehmen. Nein, ein Motorboot hatte ich noch nie gefahren, aber gerudert auf dem Eisfußsee in Kerm hatte ich einmal! Und da, im äußeren Dock, war zwischen zwei Barkassen ein Ruderboot festgemacht. Kaum entdeckt, schon gestohlen. Im hellen Laternenschein lief ich auf die Pier hinaus, sprang ins Boot, löste die Vorleine, legte die Riemen aus und ruderte auf das steigende Wasser des Hafens hinaus, wo die Lichter auf den schwarzen Wellen hüpften und glitzerten. Als ich ein gutes Stück vom Ufer entfernt war, machte ich halt, um die Dolle des einen Riemens zu richten, denn er ließ sich nur schwer bewegen, und ich hatte, auch wenn ich hoffte, am nächsten Tag von einer Orgota-Patrouille oder einem Fischer aufgelesen zu werden, ein gutes Stück weit zu rudern. Gerade, als ich mich zu der Dolle hinunterbückte, packte mich plötzlich am ganzen Körper eine Schwäche. Ich fürchtete, ohnmächtig zu werden, und ließ mich hilflos auf die Ruderbank sinken. Es war die Feigheit, die mich mit Übelkeit übermannte. Ich hatte nicht gewußt, daß mir die Feigheit so schwer im Magen lag. Als ich den Kopf hob und über die Wasserfläche blickte, sah ich im fernen Schein der elektrischen Lampen zwei schwarze Gestalten am Ende der Pier stehen, und plötzlich wußte ich, daß meine Lähmung keine Folge der Angst war, sondern die Auswirkung eines Gewehrschusses aus extremer Entfernung.

Ich sah ganz deutlich, daß einer der beiden ein Streitgewehr in den Händen hielt, und wäre Mitternacht schon vorüber gewesen, hätte er vermutlich damit auf mich geschossen und mich getötet; aber die Streitgewehre machen viel Lärm, und dafür wäre eine Erklärung nötig gewesen. Darum hatten sie ein Schallgewehr benutzt. Mit Lähmungseinstellung kann ein Schallgewehr sein Resonanzfeld nur in einem Radius von ungefähr dreißig Metern zur Wirkung bringen. Wie groß die Schußweite bei Tötungseinstellung ist, weiß ich nicht, aber weit darüber hinaus konnte ich nicht sein, denn ich krümmte mich wie ein Kind, das Bauchschmerzen hat. Das Atmen wurde mir schwer, denn das abgeschwächte Feld hatte mich in die Brust getroffen. Nicht lange, und sie würden ein Motorboot haben, herauskommen und mich erledigen; ich durfte also keine Zeit mehr verlieren und konnte es mir nicht leisten, keuchend über meinen Riemen zu hängen. Hinter mir, vor dem Bug meines Bootes, lag tiefe Dunkelheit. In diese Dunkelheit mußte ich hineinrudern. Ich ruderte mit kraftlosen Armen und ohne den Blick von meinen Händen zu nehmen: Ich mußte mich vergewissern, daß meine Finger fest um die Holme lagen, denn fühlen konnte ich nichts. So kam ich allmählich in rauhes Wasser, in die Dunkelheit, in den offenen Golf hinaus. Hier mußte ich anhalten. Mit jedem Riemenschlag verstärkte sich die Taubheit in meinen Armen. Mein Herz wollte nicht mehr mitmachen, und meine Lungen hatten vergessen, wie man Luft holt. Ich gab mir alle Mühe, weiterzurudern, aber ich konnte nicht sagen, ob meine Arme dem Befehl gehorchten. Nun versuchte ich, die Riemen einzuziehen, schaffte es aber nicht. Als mich dann der Suchscheinwerfer einer Hafenpatrouille aus der Nacht hob wie eine Schneeflocke auf Ruß, konnte ich nicht einmal den Blick von dem gleißenden Licht abwenden.

Sie machten meine verkrampften Hände von den Holmen los, zogen mich aus dem Boot und legten mich lang auf das Deck des Patrouillenbootes. Ich merkte, wie sie mich betrachteten, konnte aber nicht genau verstehen, was sie sagten. Nur einen, nach seinem Ton zu urteilen, der Schiffsführer, verstand ich. Er sagte:»Es ist noch nicht die sechste Stunde.«Und dann, auf die Frage eines anderen:»Was geht das mich an? Der König hat ihn verbannt, also werde ich ausschließlich die Befehle des Königs befolgen. Des Königs und keines anderen.«

So brachte mich der Offizier der Kuseben-Patrouille gegen den Funkbefehl von Tibes Männern ans Ufer und gegen die Vorhaltungen seines Kameraden, der sich vor Strafe fürchtete, quer über den Golf von Charisune und setzte mich im Hafen von Shelt in Orgoreyn sicher an Land. Ob er das aus shifgrethor-Gründen gegen Tibes Männer tat, die einen Unbewaffneten töten wollten, oder ob Freundlichkeit ihn dazu trieb, das weiß ich nicht. Nusuth.»Das Bewundernswerte ist unerklärlich.«

Als bald darauf die Orgota-Küste grau aus dem Morgennebel auftauchte, raffte ich mich auf, befahl meinen Beinen, sich in Bewegung zu setzen, und taumelte durch die Hafenstraßen von Shelt, doch irgendwo muß ich wieder gefallen sein. Als ich erwachte, lag ich im Commensal-Krankenhaus des Charisune- Küstenbezirks Vier, vierundzwanzigste Commensalität, Sennethny. Das wußte ich ganz genau, denn es war in Orgota- Schrift auf das Kopfteil meines Bettes, der Lampe neben dem Bett, dem Metallbecher auf dem Nachttisch, dem Nachttisch, den hiebs der Krankenschwestern, der Bettwäsche und dem Nachthemd, das ich trug, graviert oder gestickt. Ein Arzt, der kam, fragte mich:»Warum wehren Sie sich gegen dothe?«

»Ich war nicht in dothe«, erwiderte ich.»Ich war in einem Schallfeld.«

»Ihre Symptome deuteten daraufhin, daß Sie sich gegen die Entspannungsphase von dothe gewehrt haben.«Es war ein despotischer, alter Arzt, der mich zuletzt tatsächlich so weit brachte, daß ich zugab, möglicherweise ohne es zu wissen, dothe-Kraft verwendet zu haben, um beim Rudern die Müdigkeit zu überwinden; frühmorgens, während der thangen- Phase, in der man unbedingt ruhen muß, war ich dann aufgestanden und weitergegangen und hätte mich damit beinahe selbst umgebracht. Als dieser Hergang zu seiner Genugtuung rekonstruiert worden war, erklärte er mir, daß ich in ein, zwei Tagen entlassen werden könne, und ging zum nächsten Bett. Ihm auf dem Fuße folgte der Inspektor.

In Orgoreyn folgt jedem der Inspektor.

»Name?«

Ich hatte ihn nicht nach seinem gefragt. Ich mußte lernen, so zu leben, wie man in Orgoreyn lebt: ohne Schatten, ohne gekränkt zu sein, ohne jemanden unnötig zu kränken. Aber ich nannte ihm nicht meinen Landnamen; der geht niemanden in Orgoreyn etwas an.

»Therem Harth? Das ist kein Orgota-Name. Welche Commensalität?«

»Karhide.«

»Das ist keine Commensalität von Orgoreyn. Wo sind Ihre Einreise- und Personalpapiere?«

Ja, wo waren meine Papiere?

Ich war, bevor mich jemand ins Krankenhaus geschafft hatte, ganz und gar ausgenommen und ohne Papiere, persönliche Habe, Mantel, Schuhe und Bargeld gefunden worden. Als ich das hörte, ließ ich meinen Zorn fahren und lachte laut auf; wenn man ganz unten angekommen ist, gibt es keinen Zorn. Der Inspektor fühlte sich durch mein Lachen gekränkt.»Begreifen Sie denn nicht, daß Sie ein mittelloser und nicht registrierter Ausländer sind? Wie gedenken Sie nach Karhide zurückzukehren?«

»Im Sarg.«

»Auf amtliche Fragen haben Sie keine ungebührlichen Antworten zu geben. Wenn Sie nicht beabsichtigen, in Ihr Heimatland zurückzukehren, werden Sie auf eine Freiwilligenfarm geschickt, wo es für kriminelles Gesindel, Ausländer und nicht registrierte Personen genügend Platz gibt. Orgoreyn hat keinen Raum für Mittellose und Subversive wie Sie. Sie sollten mir lieber gleich hier erklären, daß Sie beabsichtigen, innerhalb von drei Tagen nach Karhide zurückzukehren, andernfalls sähe ich mich gezwungen…«

»Ich bin aus Karhide verbannt.«

Der Arzt, der sich, als er meinen Namen hörte, zu uns beiden umgedreht hatte, zog den Inspektor beiseite und flüsterte eine Weile mit ihm. Die Miene des Inspektors wurde sauer, und als er zu mir zurückkam, sagte er, bei jedem Wort unwillig zögernd:»Dann nehme ich an, daß Sie mir jetzt die Erklärung abgeben wollen und die ständige Aufenthaltserlaubnis für die Großcommensalität Orgoreyn beantragen, und zwar unter der Voraussetzung, daß Sie als Digital einer Commensalität oder Stadtgemeinde eine nutzbringende Arbeit erhalten und behalten?«

»Ja«, antwortete ich. Das Wort ›ständig‹ hatte der ganzen Angelegenheit endgültig die scherzhafte Seite genommen.

Nach fünf Tagen wurde mir die ständige Aufenthaltsgenehmigung unter der Voraussetzung erteilt, daß ich mich in der Stadtgemeinde Mishnory (die ich mir ausgesucht hatte) als Digital registrieren ließ, und erhielt für die Reise nach dieser Stadt provisorische Personalpapiere. Wenn mich der alte Arzt nicht während dieser fünf Tage im Krankenhaus behalten hätte, wäre ich wohl ziemlich hungrig geworden. Aber der Gedanke, einen Premierminister von Karhide auf seiner Station zu haben, behagte ihm, und der Premierminister war ihm dankbar.

Die Reise nach Mishnory verdiente ich mir als Landbootlader in einer Frischfischkarawane aus Shelt. Es war eine schnelle, von Gestank begleitete Reise; sie endete auf dem großen Markt in Süd-Mishnory, wo ich schon bald in den Kühlhäusern Arbeit fand. Im Sommer, wenn die verderblichen Waren verladen, verpackt, gelagert und verschickt werden müssen, gibt es dort immer Arbeit genug. Ich selber hatte hauptsächlich mit Fisch zu tun und wohnte mit meinen Kameraden aus dem Kühlhaus zusammen in einer Insel in der Nähe des Marktes. Fischinsel wurde sie genannt, und das ganze Gebäude stank danach. Mir aber gefiel die Arbeit, weil ich mich dabei fast den ganzen Tag im kühlen Lagerhaus aufhalten konnte. Mishnory gleicht im Sommer einem Dampfbad. Die Türen der Hügel sind fest geschlossen; der Fluß kocht; die Menschen schwitzen. Im Monat Ockre gab es zehn Tage und Nächte, an denen die Temperatur niemals unter fünfzehn Grad Wärme sank, und an einem Tag stieg die Hitze sogar auf fast dreißig Grad. Wenn ich am Abend aus meinem kühlen, fischduftenden Refugium in diesen Glutofen hinausgejagt wurde, ging ich zur zwei Meilen entfernten Kunderer-Promenade hinunter, von wo aus man den großen Fluß sehen, wenn auch nicht zu ihm hinabsteigen kann. Dort hielt ich mich bis in die Nacht hinein auf, um dann durch die bedrückende, erstickende Dunkelheit zur Fischinsel zurückzukehren. In meinem Viertel von Mishnory hatten die Bewohner die Straßenlaternen zerstört, damit die Nacht ihre Umtriebe schützte. Die Autos der Inspektoren jedoch kreuzten ununterbrochen durch die Straßen, schnüffelten überall herum, erleuchteten das Dunkel mit ihren Scheinwerfern und nahmen den Armen damit auch noch ihren letzten Schutz: die Nacht.

Das neue Ausländer-Registriergesetz, erlassen im Monat Kus als Schachzug in diesem Schattenboxen mit Karhide, machte meine Registrierung wieder ungültig und kostete mich die Arbeitsstelle. Einen halben Monat verbrachte ich wartend in den Vorzimmern unzähliger Inspektoren. Meine Kollegen liehen mir Geld und stahlen mir Fisch zum Essen, und so gelang es mir, neu registriert zu werden, bevor ich verhungerte. Aber ich hatte meine Lektion gelernt. Ich mochte diese harten, zuverlässigen Männer, nur lebten sie in einer Falle, aus der es kein Entrinnen gab, und deswegen mußte ich mit Menschen zusammenarbeiten, die mir weit weniger gut gefielen. Ich führte die Telefongespräche, die ich seit drei Monaten aufgeschoben hatte.

Als ich am folgenden Tag im Waschhaus auf dem Hof der Fischinsel mit mehreren anderen zusammen — allesamt nackt oder halb nackt — mein Hemd auswusch, rief jemand mitten in diesem Dampf, dem Gestank nach Schmutz und Fisch und das Geplätscher von Wasser meinen Landnamen. Ich blickte auf, und da war er auch schon: Commensal Yegey. Er sah noch genauso aus wie vor sieben Monaten im Palast von Erhenrang beim Empfang des Botschafters aus dem Archipel im großen Festsaal.»Kommen Sie da heraus, Estraven!«sagte er in dem hohen, lauten, nasalen Tonfall der Reichen von Mishnory.»Ach was, lassen Sie das verdammte Hemd!«

»Ich habe kein anderes.«

»Dann holen Sie es aus der Brühe und kommen Sie mit. Es ist mir zu heiß hier.«

Die anderen starrten ihn mit mürrischer Neugier an; sie wußten, daß er ein reicher Mann war; daß er ein Commensal war, wußten sie jedoch nicht. Mir paßte es nicht, daß er persönlich gekommen war; er hätte einen anderen schicken sollen. Nur sehr wenige Orgota haben ein Gefühl für Takt. Ich wollte ihn möglichst schnell hier hinausschaffen. Mit meinem Hemd konnte ich, naß wie es war, nichts anfangen; darum sagte ich einem herdlosen Burschen, der sich im Hof herumtrieb, er könne es tragen, bis ich zurückkäme. Meine Schulden und die Miete waren bezahlt, meine Papiere steckten in meiner hieb-Tasche. Ohne ein Hemd am Leib verließ ich die Insel am Markt und kehrte mit Yegey in die Häuser der Mächtigen zurück.

Als sein ›Sekretär‹ wurde ich in den Büchern von Orgoreyn neu registriert — diesesmal nicht als Digital, sondern als Dependant. Namen genügen hier nicht, sie müssen den Menschen Etiketten aufkleben, an denen man die Marke erkennt, bevor man den Inhalt sieht. In meinem Fall jedoch paßte diese Markenbezeichnung genau: Ich war im wahrsten Sinne des Wortes abhängig und lernte schon bald die Absicht verfluchen, die mich veranlaßt hatte, eines anderen Mannes Brot zu essen. Denn auch nach einem ganzen Monat gab es noch immer nicht das geringste Zeichen dafür, daß ich meinem Ziel nähergekommen war als zu der Zeit, da ich in der Fischinsel gelebt hatte.

Am regnerischen Abend des letzten Sommertags ließ mich Yegey in sein Arbeitszimmer rufen, wo ich ihn im Gespräch mit dem Commensal des Sekeve-Bezirks fand. Ich kannte Obsle aus der Zeit, da er die Orgota-Schiffshandelskommission in Erhenrang geleitet hatte. Klein, krummrückig, mit schmalen, dreieckigen Augen in einem fetten, flachen Gesicht, bildete er einen merkwürdigen Gegensatz zu Yegey, der sehr feingliedrig, fast dürr wirkte. Die Vogelscheuche und der Frosch hätte man sie nennen können, aber sie waren in Wirklichkeit weit mehr. Sie waren zwei jener dreiunddreißig, die Orgoreyn regieren, und waren dennoch wiederum mehr.

Höflichkeiten wurden ausgetauscht, ein Schluck Sithisches Lebenswasser getrunken. Dann seufzte Obsle und sagte zu mir:»Bitte, Estraven, erklären Sie mir, warum Sie das taten, was Sie in Sassinoth getan haben. Denn wenn es jemals einen Mann gab, der in meinen Augen ein unbeirrbares Gefühl für die zeitliche Abstimmung eines Planes und das Abwägen von shifgrethor hat, dann waren Sie dieser Mann.«

»Die Angst in mir siegte über die Vorsicht, Commensal.«

»Angst? Wovor, zum Teufel noch mal? Wovor fürchten Sie sich, Estraven?«

»Vor dem, was jetzt gerade geschieht. Vor der Fortsetzung des Prestigekampfes im Sinoth-Tal; vor der Demütigung Karhides und dem Zorn, der aus dieser Demütigung entsteht; vor der Wahrscheinlichkeit, daß Karhides Regierung diesen Zorn ausnutzt.«

»Ausnutzt? Wozu?«

Obsle hat keine Manieren, deswegen kam Yegey, empfindsam und bissig, mir zu Hilfe.»Verzeihung, Commensal, Lord Estraven ist mein Gast und nicht verpflichtet, sich einem Verhör zu unterziehen…«

»Lord Estraven wird, wie er es immer getan hat, alle Fragen beantworten, wann und wie er es für richtig hält«, entgegnete Obsle grinsend, wie eine Nadel, die unter einem Berg Schmalz vergraben ist.»Er weiß, daß er sich hier unter Freunden befindet.«

»Ich nehme meine Freunde, wo ich sie finde, Commensal. Aber ich habe es aufgegeben, sie lange zu halten.«

»Das sehe ich. Aber wir können doch gemeinsam einen Schlitten ziehen, ohne gleich Kemmeringe zu sein, wie wir in Eskeve sagen — wie? Zum Teufel, ich weiß genau, weshalb man Sie verbannt hat, mein Lieber: weil Sie Karhide mehr lieben als seinen König.«

»Eigentlich eher, weil ich den König mehr liebe als seinen Vetter.«

»Oder weil er Karhide mehr liebt als Orgoreyn«, konterte Yegey.»Irre ich mich, Lord Estraven?«

»Nein, Commensal.«

»Dann sind Sie der Ansicht, daß Tibe Karhide genauso regieren möchte wie wir Orgoreyn — hart und wirksam?«

»Jawohl. Ich bin der Ansicht, daß Tibe, mit dem Streit um das Sinoth-Tal als Antriebs Stachel, den er nach Belieben zuspitzt, innerhalb eines Jahres eine größere Veränderung in Karhide bewirken kann, als das Land in den vergangenen tausend Jahren durchgemacht hat. Er hat ein Vorbild, dem er nacheifern kann: den Sarf. Und er weiß Argavens Angstgefühle zu dirigieren. Das ist weit einfacher als jeder Versuch, Argavens Mut zu wecken, wie ich es vorgehabt hatte. Wenn Tibe Erfolg hat, dann werden Sie, meine Herren, feststellen, daß Sie einen Feind vor sich haben, der Ihnen ebenbürtig ist.«

Obsle nickte.»Ich verzichte auf shifgrethor«, sagte Yegey.»Worauf wollen Sie hinaus, Estraven?«

»Auf folgendes: Ist auf dem großen Kontinent Platz für zwei Orgoreyns?«

»Ja, ja, ja, ja! Ganz meine Meinung!«bestätigte Obsle.»Dieselbe Frage, die ich mir stelle. Sie, Estraven, haben sie mir vor langer Zeit schon in den Kopf gesetzt, und es gelingt mir nicht, sie wieder loszuwerden. Unser Schatten wird zu lang. Er wird auch Karhide bedecken. Eine Fehde zwischen zwei Clans — ja; ein Streit zwischen zwei Städten — ja, eine Grenzauseinandersetzung, ein paar Scheunen, die niedergebrannt werden, ein paar Morde — ja. Aber eine Fehde zwischen zwei Nationen? Ein Streit, der fünfzig Millionen Menschen einbezieht? Bei Meshes süßer Milch, das ist eine Vorstellung, die mir den Schlaf schon vieler Nächte verbrannt hat, so daß ich schwitzend aufgewacht bin… Wir sind in Gefahr! Wir sind in Gefahr, und Sie wissen es, Yegey. Sie haben es, auf Ihre eigene Art, schon oft genug ausgesprochen.«

»Ich habe jetzt dreizehnmal gegen ein Forcieren des Streits um das Sinoth-Tal gestimmt. Und was hat es genützt? Nichts! Der Dominationspartei stehen auf Abruf zwanzig Stimmen zur Verfügung, und jede Maßnahme von Tibes Seite verstärkt die Macht, die der Sarf auf diese zwanzig ausübt. Er läßt einen Zaun quer durch das Tal errichten, stellt Wachen am Zaun entlang auf, die mit Streitgewehren bewaffnet sind — mit Streitgewehren! Man stelle sich das vor! Ich dachte, die gäbe es nur noch im Museum. Er bietet der Dominationspartei eine Herausforderung, wann immer sie eine braucht.«

»Und macht auf diese Weise Orgoreyn stärker. Aber gleichzeitig auch Karhide. Jede einzelne eurer Reaktionen auf seine Provokationen, jede Demütigung, die ihr Karhide zufügt, jeder Prestigegewinn auf eurer Seite dient nur dazu, Karhide stärker zu machen — so lange, bis es euch ebenbürtig ist, bis es, genau wie Orgoreyn, von einer Zentrale aus regiert wird. Und in Karhide gibt es die Streitgewehre nicht nur in den Museen: Die Leibgarde des Königs ist damit ausgerüstet.«

Yegey schenkte noch einmal Lebenswasser ein. Orgota- Edelleute trinken dieses kostbare Feuer, das über fünftausend Meilen nebliger Meere von Sith herübergebracht wird, als wäre es Bier. Obsle wischte sich den Mund und kniff die Augen zusammen.

»Nun gut«, sagte er,»all das ist genau das, wie ich es sehe. Und ich bin der Ansicht, daß wir einen Schlitten zusammen zu ziehen haben. Aber ich habe noch eine Frage, ehe wir uns ins Geschirr begeben, Estraven. Sie haben mir die Kapuze ganz über die Augen heruntergezogen. Sagen Sie mir eines ganz offen: Was sollte diese ganze Verdunkelungskampagne, diese Vernebelung und dieser Unsinn über einen Gesandten von der anderen Seite des Mondes?«

Also hatte Genly Ai um Einreiseerlaubnis nach Orgoreyn gebeten.

»Der Gesandte? Er ist genau das, was er behauptet.«

»Und das wäre?«

»Der Gesandte einer anderen Welt.«

»Bitte, verschonen Sie mich mit Ihren verdammten nebelhaften karhidischen Metaphern, Estraven! Ich pfeife auf shifgrethor, das ist jetzt nebensächlich. Würden Sie mir also die Frage beantworten?«

»Das habe ich getan.«

»Ist er ein fremdes Wesen?«fragte Obsle und riß seine kleinen Augen auf. Und Yegey ergänzte:»Hat man ihm wirklich eine Audienz bei König Argaven gewährt?«

Ich bejahte beides. Minutenlang schwiegen beide, dann fingen sie, ohne den geringsten Versuch, ihr Interesse zu kaschieren, gleichzeitig an zu sprechen. Yegey wollte noch Umschweife machen, Obsle dagegen kam gleich zur Sache.»Was für eine Position nahm er in Ihren Plänen ein? Anscheinend hatten Sie sich doch auf ihn gestützt, sind aber gestolpert. Warum?«

»Weil Tibe mir ein Bein gestellt hat. Ich habe nach den Sternen geschaut und nicht auf den Dreck geachtet, durch den ich zu waten hatte.«

»Seit wann beschäftigen Sie sich mit Astronomie, mein Guter?«

»Wir sollten uns am besten alle mit Astronomie beschäftigen, Obsle.«

»Stellt dieser Gesandte eine Gefahr für uns dar?«

»Ich glaube nicht. Er bringt uns von seinem Volk nur Angebote für Kommunikation, Handel, Verträge und Bündnisse, sonst nichts. Er kam allein, ohne Waffen, ohne Verteidigungsmöglichkeit, nur mit einem Kommunikationsgerät und seinem Schiff, das wir bis ins Kleinste untersuchen durften. Nach meiner Meinung haben wir von ihm nichts zu befürchten. Und dennoch bringt er uns in seinen leeren Händen das Ende von Königreich und Commensalitäten.«

»Wieso?«

»Wie können wir mit Fremden verhandeln, wenn wir es nicht als Brüder tun? Wie kann Gethen mit einer Union von achtzig Welten verhandeln, wenn nicht selbst auch als eine Welt?«

»Achtzig Welten?«echote Yegey, nervös lachend. Obsle warf mir einen schrägen Blick zu.»Ich würde lieber daran glauben, daß Sie zu lange bei diesem Verrückten im Palast gewesen und selber verrückt geworden sind… Beim Namen Meshes! Was soll dieses Gerede von Allianzen mit den Sonnen und Bündnissen mit dem Mond? Wie kam dieser Bursche überhaupt hierher? Ist er auf einem Kometen geritten? Auf einem Meteor? Sie sagen, mit einem Schiff. Mit einem Schiff, das in der Luft schwebt? Im leeren Raum? Doch leider sind Sie jetzt nicht verrückter als sonst, Estraven, womit ich sagen will, gerissen verrückt, klug und weise verrückt. Alle Karhider sind wahnsinnig. Fahren Sie fort, Lord Estraven, ich folge. Nur weiter!«

»Ich wüßte nicht, wohin, Obsle. Was könnte mein Ziel sein? Sie aber könnten eines Tages an ein Ziel gelangen. Wenn Sie dem Gesandten nur ein kleines Stück folgen, könnte er Ihnen einen Ausweg aus dem Sinoth-Tal zeigen, aus dem bösen Kreislauf, in dem wir gefangen sind.«

»Ausgezeichnet. Ich werde mich also in meinem Alter mit Astronomie beschäftigen. Doch wohin wird mich das führen?«

»Zur Größe — falls Sie sich klüger verhalten als ich. Meine Herren, ich war lange und oft mit diesem Gesandten beisammen, ich habe sein Schiff gesehen, das durch den leeren Raum gekommen ist, und weiß, daß er wirklich und wahrhaftig ein Bote von außerhalb dieser Welt ist. Was nun die Aufrichtigkeit seiner Botschaft und die Wahrheit seiner Beschreibungen dieser fremden Welten betrifft, so ist es unmöglich, sie zu beurteilen. Und ihn persönlich kann man nur so beurteilen, wie man jeden anderen Mann auch beurteilen würde; wäre er einer von uns, würde ich ihn als Ehrenmann bezeichnen. Aber das werden Sie vermutlich selbst entscheiden können. Soviel allerdings ist sicher: In seiner Gegenwart sind Striche, die auf der Erde gezogen wurden, keine Grenzen und keine Verteidigungslinien. An Orgoreyns Schwelle wartet eine größere Herausforderung als Karhide. Und die Männer, die diese Herausforderung annehmen, die Männer, die als erste die Türen dieses Planeten öffnen — sie werden unser aller Führer sein: die Führer der drei Kontinente, der ganzen Welt. Unsere Grenze ist jetzt nicht mehr eine Linie zwischen zwei Bergen, sondern die Linie, die unser Planet zieht, wenn er die Sonne umkreist. Unseren shifgrethor auf eine geringere Chance zu setzen, wäre in der jetzigen Situation eine Torheit.«

Yegey hatte ich überzeugt, doch Obsle saß tief in seine Fettmassen versunken und musterte mich aufmerksam mit seinen kleinen Augen.»Um das zu glauben, braucht man einen Monat«, erklärte er.»Und wenn es von einem anderen käme als von Ihnen, Estraven, würde ich es für einen Witz halten, ein Fangnetz für unseren Stolz, aus Sternenglanz geknüpft. Aber ich kenne Sie; Sie haben einen steifen Nacken. Zu steif, als daß Sie sich nur um uns zu narren, zu einer mutmaßlichen Würdelosigkeit herablassen. Ich kann nicht glauben, daß Sie die Wahrheit sagen, und dennoch weiß ich, daß Sie an einer Lüge ersticken würden… Nun gut. Wird er mit uns so sprechen, wie er anscheinend mit Ihnen gesprochen hat?«

»Das will er ja: sprechen, damit er gehört wird. Dort oder hier. Tibe wird ihn zum Schweigen bringen, sobald er noch einmal versucht, in Karhide zu sprechen. Ich habe Angst um ihn; er scheint überhaupt nicht zu begreifen, in welcher Gefahr er schwebt.«

»Würden Sie uns sagen, was Sie wissen?«

»Das werde ich. Aber warum soll er nicht herkommen und es Ihnen selber sagen?«

Yegey, der behutsam an einem Fingernagel knabberte, erwiderte:»Ich wüßte nichts, was dagegen spricht. Er hat um Einreiseerlaubnis in die Commensalität gebeten. Karhide erhebt keinen Widerspruch. Sein Gesuch wird in Erwägung gezogen…«

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