Es war ein warmer, leuchtender Juninachmittag des Jahres 1950,
_als der Tropenarzt und Toxikologe Dr. Peter Perthes die weiten
Anlagen der >Lindenburg< verließ, jener Stadt der Kranken inmitten der Stadt Köln. Einen Augenblick lang blieb er sinnend vor dem kleinen Gittertor stehen und schaute die stille Villenstraße hinunter.
Die Bäume in den Gärten und Parks der Häuser wiegten ihre weitausladenden Kronen im kühlen Wind, der über die Stadt hinwehte und den Rhein hinab zu kommen schien. Es wird ein schöner Abend werden, dachte der Arzt und knöpfte sein helles Jackett auf. Er atmete tief auf und löste den Hemdknopf am Kragen. Hier war es endlich nicht mehr so heiß und drückend wie in seinem Labor, wo er den Tag vor seinen Reagenzgläsern verbracht hatte, wo er giftigen Vipern das Gift abzog und seine Wirkung an treuherzig blik-kenden, unschuldigen Kaninchen erprobte.
Er war auf der Suche nach einem Tropengift, mit dem Eingeborenenstämme im Innern Brasiliens ihre Pfeile tränkten. So saß er stundenlang vor den großen Fenstern, mit Blick hinaus in den Krankenhausgarten, hinter dem Mikroskop und beobachtete mit Staunen, wie das Blut der infizierten Kaninchen sich auflöste, zu einer hellen, langsam farblos werdenden Flüssigkeit wurde, die den sofortigen, grauenhaften Erstickungstod der Tiere herbeiführte.
Peter Perthes wischte sich über die Augen. Es war, als wolle er damit seine Gedanken an des Tages Arbeit verscheuchen und ihnen eine andere Richtung geben.
Dieser Abendwind tat gut, das Rauschen der hohen Bäume war eine erholsame Melodie. Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Rocktasche und zündete sich eine an. Dann blieb er von neuem unschlüssig stehen und überlegte, wohin er gehen sollte.
Nach Hause? Nein, dazu war der Abend zu schön. Den ganzen Tag saß man in einer Zelle aus weißen Kacheln und atmete die Dün-
ste von Säuren und Basen ein.
In eine Wirtschaft, ein Cafe? Er verspürte keinen Appetit — er hatte nur Hunger nach Luft und Weite. Langsam ging er die Straße entlang, bog dann ab und spazierte mit langsamen Schritten dem Kölner Stadtwald zu. Dort war es schattig, kleine Weiher mit grünen Bänken an den Ufern luden zum Verweilen ein.
Er ging die Fürst-Pückler-Straße hinab und wollte auf der Kreuzung der Dürener Straße in den breiten Waldweg einbiegen, als er von der gegenüberliegenden Seite einen etwa siebenjährigen Jungen auf einem Tretroller kommen sah.
Der Kleine pfiff ein Liedchen vor sich hin, schien voller Freude und glücklich zu sein. Er lutschte aus der einen Hand ein Vanilleeis, während er mit der anderen die Lenkstange seines Rollers umklammert hielt. So bog er keck um die Ecke, fuhr auf die Fahrbahn und wollte gleichfalls in den Stadtwald einbiegen, als um die Kurve ein Personenauto knirschte und, eng an den rechten Bordstein gepreßt, in die Straße einbog.
Einen Augenblick stand Peter Perthes wie versteinert. Dann riß er die Arme hoch, stürzte vorwärts und schrie:»Zurück! Zurück!«Aber der Junge hatte den Wagen schon gesehen, ließ sein Eis auf die Straße fallen und riß den Roller herum. Dabei glitt er mit dem rechten Fuß auf dem Eis aus, stürzte und rollte mit einem kleinen, beinahe piepsenden Schrei vor die Räder des Autos.
Hell kreischten die Bremsen. Der Wagen schleuderte, krachte gegen den Bordstein und stand dann, unter seinen Rädern der Körper des Jungen. In einer Lache von geschmolzenem Eis lag der Roller.
Mit wenigen Sprüngen war Dr. Perthes an der Unglücksstelle und riß den zitternden Chauffeur zurück, der den verunglückten Jungen unter dem Auto hervorziehen wollte.»Nicht doch!«rief der Arzt.»Wenn er einen Bruch hat, ziehen Sie ihm ja die Knochen auseinander!«Er bückte sich und griff als erstes nach dem Handgelenk des Jungen.»Der Puls ist schwach«, sagte er dann.»Haben Sie einen Wagenheber?«
Der Chauffeur stand bebend daneben und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Sein Gesicht war totenblaß.»Ich habe keine Schuld!«stammelte er.»Mein Herr, wenn Sie den Unfall gesehen haben… Wirklich, der Junge ist in meinen Wagen hineingerollt! So schnell kann man nicht bremsen. Nie! Und jetzt das!«
Und plötzlich schrie er laut auf und rief:»Der Junge blutet ja!«
Da die Villenstraße an diesem Nachmittag nicht sehr belebt war, standen nur wenige Zuschauer um die Unglücksstelle herum. Sie halfen bereitwillig mit, die Vorderräder des Wagens zu heben, während der Arzt auf den Knien lag und den Jungen langsam und sehr vorsichtig hervorzog. Ein dünner, rhythmisch spritzender Blutstrahl sprang aus dem Arm des ohnmächtigen Jungen.
«Einen Strick! Einen Gürtel! Schnell!«rief Dr. Perthes und drückte seinen Daumen tief auf die Schlagader. Ein Spaziergänger schnallte seinen Gürtel von der Hose ab und reichte ihn dem Arzt.
Schnell und sicher band Dr. Perthes die Schlagader ab und erhob sich dann. Sein Hemd, sein Jackett, seine Hose waren mit Blutspritzern übersät. Er achtete nicht darauf, sondern wandte sich an die Umstehenden:
«Der Junge hat einen Schlagaderriß, er muß sofort versorgt werden! Wissen Sie, ob hier ein Arzt in der Nähe wohnt? Ich möchte ihn nicht eher in die Klinik bringen, bis die Ader sachgemäß abgebunden ist.«
«Gleich um die Ecke, da wohnt ein Arzt«, stammelte der Chauffeur und ließ seinen Blick nicht von dem Jungen, der totenblaß auf der Straße lag.»Wird er sterben.«
«Wenn Sie noch lange herumreden, bestimmt!«Damit hob Dr. Perthes das Kind auf und legte es in den Wagen.»Schnell, fahren Sie uns hin. Worauf warten Sie denn noch?«
«Es ist eine Kinderärztin«, sagte der Chauffeur noch und stieg ein.
«Na, wunderbar! Los, Mann!«
In rasender Fahrt bogen sie um die Ecke und fuhren ein Stück die Dürener Straße entlang. Vor einem neuen Haus hielten sie. Ein weißes Emailleschild leuchtete in der Sonne: >Dr. med. A. Bender,
Kinderärztin<.
Während Dr. Perthes den Jungen vorsichtig auf die Arme nahm und aus dem Auto trug, schellte der Chauffeur und riß die Tür auf. Dr. Perthes ging mit seiner Last die paar Stufen hinauf.
Dann stand er vor einer jungen, schlanken, schwarzlockigen Frau, die ihn und das Kind anblickte, und — ohne ein Wort zu reden — vor ihnen her in das Ordinationszimmer eilte. Dort deckte sie eine Gummilage über den Tisch und eilte zu dem Instrumentenschrank in der Ecke des großen Raumes.
«Schlagader?«fragte sie kurz.»Unfall?«
«Ja. Er ist unters Auto gekommen.«
«Ihr Wagen?«
«Nein. Ich ging gerade spazieren und sah den Unfall aus nächster Nähe! Der Junge war leichtsinnig, den Fahrer trifft keine Schuld.«
«Danke. «Der Chauffeur, der in der Tür stand, wischte sich den Schweiß von der Stirn.
«Ach, Sie sind noch da?«Dr. Perthes legte den Jungen auf dem Tisch zurecht und wandte sich dann um:»Geben Sie mir bitte Ihren Namen und für wen Sie den Wagen fahren. Sollte etwas kommen, so will ich gern als Zeuge aussagen. Ich werde auch anrufen, daß Sie keine Schuld trifft. Sie sehen, selbst als alter Hase kann man am Steuer nicht vorsichtig genug sein. «Er notierte sich die Namen; der Wagenbesitzer war ein Großkaufmann namens Franz Ehrwit-te. Dann verabschiedete er den Chauffeur.»Trinken Sie in der nächsten Kneipe einen Cognac«, sagte er zu ihm.»Sie sind jetzt nervös, in dieser Verfassung kann leicht ein neues Unglück geschehen. Aber nur einen…«
«Ich danke Ihnen. «Der Fahrer verbeugte sich. Sein Gesicht war noch immer weiß.»Wenn ich morgen früh nach dem Jungen sehen dürfte. Wo werden Sie ihn hinbringen?«
«In die Lindenburg. Dort können Sie alles erfahren.«
Unterdessen versorgte die Ärztin stumm und mit flinken Händen die gerissene Schlagader des Jungen und klammerte sie ab. Dann untersuchte sie ihn und schüttelte mehrmals mit dem Kopf. Peter
Perthes stand an der Tür und beobachtete sie. Dann zündete er sich eine Zigarette an.
«Gefällt er Ihnen nicht?«fragte er leise.
Die Ärztin blickte hoch.»Gehirnerschütterung«, sagte sie mit einem leichten Tadel in der Stimme.»Außer der Schlagader noch eine leichte Rippenquetschung und ein Muskelriß. Das genügt für so einen Jungen! Er muß sofort in die Klinik. «Sie rollte dabei den Gürtel zusammen, der um den Arm des Jungen geschnürt worden war.»Wer hat eigentlich den Arm abgebunden?«fragte sie dann.
«Warum? War es so schlecht?«
«Nein. Sehr gut sogar. Waren Sie es?«
«Ja.«
Dr. Bender sah ihr Gegenüber kritisch an.»Sie waren wohl im Krieg Sanitäter?«
Dr. Perthes lächelte.»Wie man's nimmt. «Sanitäter! Wenn der arme Junge nicht dort auf dem Tisch liegen würde, könnte das eine ganz charmante Unterhaltung werden, dachte er.»Ich habe ab und zu mal im Lazarett gelegen. Einmal hatte ich neben mir einen Kameraden, dem hatte ein russisches Explosivgeschoß den Arm weggerissen. Nun phantasierte er immer des Nachts und glaubte, der Russe wolle ihn mitnehmen. Dabei schlug er um sich, traf seinen Stumpf, die Naht platzte und die Ader riß. Da habe ich ihn abgebunden, so gut, wie ich dachte. Der Kamerad wurde gerettet. «Er lächelte wieder.
Die Ärztin beugte sich über das Kind.»Rufen Sie bitte den Krankenwagen der Lindenburg«, sagte sie.»Nebenan, auf meinem Schreibtisch, steht das Telefon. Sie kennen die Nummer?«
«Zufällig ja.«
Immer noch lächelnd eilte Dr. Perthes in den Nebenraum. Es war ein kleiner Salon mit Chippendalemöbeln, einem runden Tisch, einem Schreibtisch, einer gemütlichen Couchecke und weichen Sesseln.
Während er den Hörer abnahm, die Nummer wählte und wartete, bis der Apparat der Krankenhausaufnahme frei wurde, las er in einem zufällig auf dem Schreibtisch liegenden Paß die Angaben über die unbekannte Kollegin:
>Dr. med. Angela Bender, geb. 24.8.1920 in Würzburg — Haare: schwarz, Augen: braun, Größe: 1,68 m, Gewicht: 54 kg. Besondere Kennzeichen: kleine Narbe am linken Oberschenkel durch Bom-bensplitterverletzung.<
Mit einem zufriedenen Lächeln klappte Dr. Perthes den Paß wieder zu und bestellte dann über die inzwischen frei gewordene Leitung den Krankenwagen.
Als er zurück in das Behandlungszimmer kam, saß Dr. Bender neben dem Jungen und fühlte den Puls.
«Haben Sie eine Ahnung, wie der Junge heißt?«fragte sie.
«Keine Spur! Aber er muß aus dieser Gegend sein; er hatte einen Roller bei sich und ein Eis in der Hand.«
«Das besagt nicht viel.«
«Stimmt! Soll ich die Polizei rufen?«
«Es wäre vielleicht besser.«
Sie schaute zu ihm auf. Ihre Augen trafen sich für einen Augenblick. Er ist ein netter Kerl, dachte sie. Er ist geistesgegenwärtig und weiß sich zu helfen. Sein Anzug, sein neues, helles Jackett ist voller Blut, und er beachtet es gar nicht. Er wird die Flecken nie wieder herausbekommen. Ihre frauliche Seele regte sich.
«Ihr Jackett ist verdorben«, meinte sie.»Nichts geht schwerer aus einem solchen Stoff heraus wie eingetrocknetes Blut.«
«Wie recht hatte da Goethe, als er sagte: >Blut ist ein ganz besonderer Saft!<«Dr. Perthes sah an sich hinunter.»Total hinüber«, sagte er dann und blickte die Ärztin schelmisch blinzelnd an.»Wenn sich der Vater des Jungen meldet, müßte er mir als Lebensretter eigentlich einen neuen Anzug kaufen. Was meinen Sie?«
Dr. Angela Bender betrachtete den Jungen.»Zuerst will ich ihn durchbekommen. Lassen Sie Ihre Jacke hier, ich will es heute abend mit Benzin versuchen.«
«Und ich darf so lange warten?«fragte Dr. Perthes erfreut.
«Es wird ihnen ganz sicher langweilig werden.«»In Ihrer Gegenwart — nie!«
«Ich werde in der Klinik sein«, verwies sie ihn.»Mein Mädchen wird Ihren Rock säubern. «Angela Bender sah Dr. Perthes wieder mit jenem kritischen Blick an, als stünde er hinter dem Leuchtschirm eines Röntgenapparates.»Sie scheinen viel Zeit zu haben.«
«Glauben Sie?«Dr. Perthes setzte sich neben den Untersuchungstisch und befühlte den Brustkorb des Jungen.
«Lassen Sie das!«Die Ärztin schlug ihm leicht auf die Hand.»Solch eine Unvernunft! Der Junge hat eine Rippenquetschung, und Sie drücken daran herum!«Sie betrachtete seine Hände.»Sie haben Hände, die anscheinend noch nie gearbeitet haben.«
«Weil sie ohne Schwielen sind?«Er massierte den Handrücken, auf den sie geschlagen hatte.»Sie hätten Lehrerin statt Ärztin werden sollen. Sie haben einen wirklich guten Schlag.«
«Was sind Sie eigentlich?«Angela Bender richtete sich auf und wusch die Hände in einer sterilen Lösung. Es roch stark nach Karbol.»Nicht einmal vorgestellt haben Sie sich!«
«Was ist ein Name?«fragte Dr. Perthes.»Schall und Rauch — wenn kein vollwertiger Mensch dahintersteckt.«
«Da haben Sie recht. «Dr. Bender winkte ab.»Ich bin auf Ihren Namen auch nicht neugierig.«
Auf der Straße vor dem Haus hielt ein Auto. Dr. Perthes schob die Gardine zurück und blickte hinaus. Die Flurglocke schrillte.
«Das Krankenauto der Lindenburg ist da«, sagte er.
«Endlich!«
Sie lief zur Tür und öffnete. Zwei Krankenwärter mit einer Trage traten ein und hoben den Jungen vorsichtig auf die breiten Leinengurte. Die Ärztin deckte den kleinen Patienten mit einem sterilen Tuch zu.
«Ich fahre mit«, sagte sie nur. Dann gab sie Dr. Perthes zögernd die Hand und nickte ihm zu.»Haben Sie vielen Dank für ihre schnelle Hilfe. Wenn Sie wollen, lassen Sie Ihre Jacke in der Küche bei dem Mädchen. Auch Ihre Adresse. Ich schicke Ihnen das Jackett dann zu.«
«Ist es nicht besser, wenn ich es selbst abhole?«fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern.»Wie Sie wollen. Also dann — auf Wiedersehen!«
«Auf Wiedersehen. «Und als sie aus dem Zimmer war, sagte er noch leise:».Angela.«
Er trat ans Fenster und beobachtete durch die Gardine, wie sie hinter der Trage in den Krankenwagen stieg. Langsam fuhr das Auto an und entschwand rasch seinen Blicken.
In seinem blutbespritzten Anzug stand er allein in dem großen Ordinationsraum. Er betrachtete sich sinnend. Dann schoß ihm ein guter Gedanke durch den Kopf, und er eilte hinüber in den kleinen Salon.
«Ja, hier spricht Dr. Perthes«, sagte er.»Bitte Herrn Professor Dr. Window. «Er wartete einen Augenblick, dann richtete er sich plötzlich auf.
«Ja, hier Peter. Tag, Erhard! Du, ich habe eine große Bitte. Gleich wird ein Junge eingeliefert. Unfall. Schlagaderriß, Gehirnerschütterung, Rippenquetschung. Ein Fräulein Angela Bender., ja, Dr. Bender, begleitet ihn.«
«Kenne ich«, sagte eine schnarrende Stimme am Telefon.»Sie hat bei uns auf der Kinderstation ein paar Betten.«
«Ist ja wunderbar!«Dr. Perthes strahlte.»Sorge doch bitte dafür, daß der Junge nicht in die Kinderabteilung kommt, sondern in die Chirurgische Klinik. Zu Dr. Sacher. - Warum? Das erkläre ich dir später. Erfülle meinen Wunsch und wart's ab!«
Er legte den Hörer auf und rieb sich die Hände. Dr. Paul Sacher, der Chef der chirurgischen Abteilung, war sein bester Freund. Man nannte sie in der Lindenburg nur >Peter und Paul<. Wenn Professor Window den Jungen in Pauls Abteilung legte, sah er Angela Bender jeden Tag, denn sein toxikologisches Laboratorium lag im gleichen Gebäudeflügel wie die Chirurgie.
Eine jungenhafte Fröhlichkeit überkam ihn. So kann ein Unglück Glück bringen, dachte er. Da läuft man jahrelang als Tropenarzt und Giftfachmann in der Welt herum, fährt auf See rund um die Erde, mal in Bombay, mal in Bahia, mal auf Celebes und dann in Porto Rico. Man hat im Gran Chaco Schlangen gesucht und in Rio de Janeiro Vorträge gehalten. Dann kam der Krieg, der Hauptverbandsplatz, das Lazarett. Gräßliche Wunden mußte man flicken, sterbenden Soldaten Trost geben und Krüppeln die Lebensaussichten wieder hell und erstrebenswert machen. Dann war der Spuk zu Ende, man hungerte sich durch, lebte an der Münchner Klinik von dreimal trocken Brot am Tag und einem spendierten Würstchen vom Kollegen Moll, der ein Verhältnis mit einer Metzgerstochter hatte. Dann ging es nach Hamburg ans Tropeninstitut, nach Bremen an das Schifferkrankenhaus und schließlich nach Köln, wo er im Auftrag der Universität neue Tropengifte feststellen und unschädlich machen sollte.
Frauen? Sie spielten kaum eine Rolle in seinem Leben. Die Erlebnisse mit ihnen in den Tropen und auf den Schiffsfahrten, sie blieben ohne große Erinnerung. Was Liebe ist, wußte er nicht — man las es am besten in Romanen nach. Dort wurde sie in allen Varianten beschrieben. Die Schriftsteller mußten sie ganz genau kennen, denn sie kamen immer wieder auf sie zurück.
Im täglichen Leben kannte Dr. Perthes nur Reagenzgläser und Kolben; Giftschlangen, die auf Glasplatten bissen und dort ihr Gift abspritzten. Brutöfen und Nährböden mit Giftkulturen, kranke Meerschweinchen oder Kaninchen, die elend zugrunde gingen und denen man, noch halb lebend, das Blut abzapfte.
Wo blieb da die Liebe?
Wo hatte man da noch Zeit, sich unter die streichelnden Hände einer Frau zu begeben? Und wenn man einmal ein Mädchen sah, das so etwas wie Interesse erweckte, dann war bestimmt an dem Abend ein wichtiger Termin oder ein neuer Patient mit Gift im Körper, der einem alle Stimmung für einen romantischen Abend verdarb.
Und da geht man eines Nachmittags spazieren, rettet einem leichtsinnigen Jungen das Leben und lernt dabei eine Kollegin kennen, die einem auf den ersten Blick so etwas wie einen Schleier von der
Seele reißt!
Das ist dumm, aber wahr, dachte Peter Perthes. Ausgerechnet eine Kollegin! Wie sagte doch sein Freund Dr. Sacher einmal:»Der Mann, der eine Kollegin heiratet, leidet unter Minderwertigkeitskomplexen!«
Perthes mußte lachen. Er wollte sich eine Zigarette anzünden, als ihn ein Geräusch hinter sich herumfahren ließ. Ein junges Mädchen in einem kurzen Kleid mit einer buntgeblümten Schürze stand hinter ihm im Türrahmen und grüßte ihn freundlich durch Kopfnicken.
«Würden Sie bitte Ihr Jackett ausziehen?«fragte sie.
«Mein Jackett? Ach so — nein, danke.«
Dr. Perthes erhob sich und steckte die nicht angezündete Zigarette wieder ein.»Ich will doch lieber gehen. Ich will dem Fräulein Doktor keine Umstände machen und Ihnen auch nicht, liebes Fräulein. Vielleicht kann man das Jackett doch noch retten. Ich danke Ihnen jedenfalls herzlich.«
Er schaute sich noch einmal in dem gemütlichen Raum um, als wollte er das Bild nicht vergessen; dann nahm er einen Bleistift und schrieb auf den Notizblock:
«Auf Wiedersehen — haben Sie gesagt. Es soll ein wahres Wort werden. Und noch eines: Wenn wir nächste Woche zusammen im Stadion schwimmen gehen, brauchen Sie sich Ihrer Narbe am linken Oberschenkel vor mir nicht zu schämen. P.P.«
Vergnügt pfeifend stieg er die Treppe hinab und winkte auf der Straße einem Taxi.
«Lindenstraße 19«, sagte er und lachte, als ihn der Chauffeur von oben bis unten musterte.»Was, da staunen Sie, nicht wahr? Ich habe eben meine Braut umgebracht, weil sie mich betrogen hat. Schnell, fahren Sie, ehe die Polizei kommt!«Laut lachend stieg er ein.»Wenn Sie mich schnell fahren, erzähle ich Ihnen auch, wie ich sie erdolcht habe.«
Brummend fuhr der Wagen an. Verrückt, dachte der Chauffeur. Wenn der Bursche bloß bezahlt! Man lernt als Taxifahrer doch Typen kennen.
Noch am selben Abend wußte man, wer der verunglückte Junge war.
Es war ein Zufall, der so oft im Leben geschieht, wenn man die Lage als gänzlich unentwirrbar ansieht.
Eine Viertelstunde nach dem Unfall fuhr der Bankdirektor Wolf von Barthey die Fürst-Pückler-Straße entlang, um zu seiner Villa in die Rudolf-Schmitt-Straße zu kommen. Hinter der Ecke sah er mitten auf der Straße einen Roller liegen, den er an dem bunten Wimpel als denjenigen seines Jungen erkannte. Er hielt erschrocken an und erfuhr von den noch umherstehenden Passanten, daß hier vor einigen Minuten ein Junge überfahren worden sei. Man nehme an, daß er wohl inzwischen tot sein würde, denn die Schlagader sei völlig zerfetzt gewesen. Der Junge war schon halb tot, als der fremde Herr ihn in seinem Auto mitnahm, erklärte ein Mann.
Leichenblaß vernahm Wolf von Barthey die verworrenen und aufgebauschten Berichte. Mein Horst, dachte er nur, mein kleiner Horst! Mein Gott, ich darf es Helene nicht sagen. Sie wird einen Nervenzusammenbruch bekommen. Horst überfahren! Tot! Die Schlagader zerrissen. Er lehnte sich gegen die Tür seines Wagens, um nicht umzusinken. Seine Lippen waren blutleer.
«Wo… wo ist der Junge jetzt?«fragte er mühsam.
«Sicher in der Lindenburg«, antwortete einer.»Der Mann war Arzt und hat ihn gleich mitgenommen.«
Die Lindenburg! Wolf von Barthey sprang in seinen Wagen, raste die Straße hinab, brauste hupend um die Ecke und hielt schleudernd vor dem Haupteingang der Klinik. In der Anmeldung erfuhr er, daß tatsächlich ein Junge eingeliefert worden war. Er sei in die Chirurgische Klinik geschafft worden, zu Chefarzt Dr. Sacher.
Man rief dort an und erfuhr, daß der verletzte Junge das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt hatte; er bekäme gerade eine Bluttransfusion.
Wolf von Barthey rannte durch die Gänge des Gebäudes, ziellos. In dem großen Garten, in den er gelangte, setzte er sich auf eine weißgestrichene Bank und verbarg das Gesicht in beiden Händen.
Der Bankdirektor weinte.
Zitternd saß er da, ein großer starker Mann, ein Hüne von Gestalt, grauhaarig schon, elegant, gepflegt, reich, Besitzer einer Villa inmitten eines großen Parks, Chef eines bekannten Bankhauses mit vierzehn Filialen.
Und saß da und weinte. Und hätte alles hingegeben, hätte auf alles verzichtet, was bisher den Inhalt seines Lebens ausmachte, wenn er mit seinen Reichtümern das Leben seines Sohnes hätte erkaufen können.
Eine Schwester in Nonnentracht huschte durch den Garten.
«Sind Sie Herr von Barthey?«fragte sie.
«Ja!«Der Bankier schnellte hoch, seine Augen flackerten.»Lebt mein Junge? Ist er tot? Schwester, sagen Sie nicht, daß er tot ist — ich werde wahnsinnig!«Er sank zusammen und schlug wieder die Hände vors Gesicht.»Er ist unser einziges Kind«, stammelte er.
Die Schwester nickte. Sie wirkte hoheitsvoll in ihrer großen, weiten flatternden Haube.
«Ihr Sohn hat gerade das Bewußtsein wiedererlangt. «Sie sprach leise.»Aber er erkennt noch niemand. Wenn Sie ganz leise sind, können Sie ihn kurz sehen.«
Und dann stand Wolf von Barthey neben einer weißen Spannwand und betrachtete das blasse Gesicht seines Sohnes. Die Augen waren groß und gläsern, ohne Erkennen. Der Arm war dick verbunden. Über der schmalen Kinderbrust lag ein elastischer Verband. Kalter Schweiß bedeckte die Stirn des Jungen.
Starr blickte der Vater auf das Bett. Er hielt sich an der weißen Spannwand fest und biß die Lippen aufeinander. Blut tropfte von seinen Lippen, in die sich die Zähne eingruben. Das ist mein Kind, schrie es in ihm. Gezeichnet — ein lebloses Bündel, das mühsam atmet.
Er wandte sich ab, schwankte aus dem Zimmer und fiel auf dem Gang in einen Rohrsessel. Dr. Paul Sacher stand jetzt neben ihm und sah ihn voller Mitgefühl an.
«Es sieht schlimmer aus, als es ist«, sagte er leise und tröstend.»Die Gehirnerschütterung und die Quetschung sind von sekundärer Bedeutung. Mir macht vor allem der Aderriß Sorge. Jeder Kranke mit einer Gehirnerschütterung schläft unruhig. Und der Arm muß jetzt ganz ruhig liegen, sonst platzt die Ader von neuem auf. Wir müssen Tag und Nacht eine Wache zu Ihrem Sohn setzen.«
«Diese Nacht werde ich selbst dasein«, sagte der Bankier und richtete sich auf. In seinen Augen war etwas mehr Mut.»Sagen Sie ehrlich, Herr Doktor, kommt mein Sohn durch?«
«Aber sicher! Es war gut, daß zufällig ein Kollege an der Unfallstelle war und den Arm sofort abgebunden hat. Sonst — «, er stockte,»ich will ehrlich sein — sonst lebte Ihr Sohn bestimmt nicht mehr.«
«Wissen Sie die Adresse dieses Arztes?«Wolf von Barthey sah Dr. Sacher an und zog ein Notizbuch hervor.»Ich möchte diesem Herrn sehr gern meinen Dank aussprechen. Er hat nicht nur das Leben unseres Sohnes gerettet.«
«Der Kollege ist vielleicht sogar noch im Haus. Es ist Dr. Peter Perthes vom Tropeninstitut. Ich will versuchen, ihn zu erreichen.«
Eine schmale junge Frau kam den Gang entlang und grüßte. Dr. Sacher winkte sie heran.»Beste Kollegin, darf ich Sie mit dem Vater Ihres jungen Patienten bekannt machen: Herr von Barthey. «Und zu dem Bankier gewandt:»Das ist Dr. Angela Bender, die Ihren Sohn einlieferte und als erste betreute.«
Wolf von Barthey gab Angela Bender die Hand.»Ich stehe immer in Ihrer Schuld«, sagte er leise.»Darf ich Sie und Ihren Kollegen, der meinen Sohn rettete, in den nächsten Tagen als meine Gäste begrüßen?«
«Ein Kollege?«Die Ärztin schaute den Bankier verblüfft an.»Meinen Sie den Herrn, der Ihrem Sohn mit einem Hosengürtel den Arm abband?«
«Ja, ein Dr. Perthes.«
«Wer?«
Der Bankier wurde ein wenig verwirrt und sah sich um, als brauche er die Hilfe des davongegangenen Dr. Sacher.
«Sollten Sie gar nicht wissen, daß der Herr ein Kollege von Ihnen war? Dr. Perthes vom Tropeninstitut, wie mir Dr. Sacher sagte.«»Ach!«Angela Bender blickte zu Boden. Etwas verlegen spielte sie an den Knöpfen ihres weißen Kittels. Lazarett, dachte sie. Ein Kamerad von ihm hatte einen Armstumpf… Hände, die nicht nach Arbeit aussehen… Wie habe ich mich da blamiert! Und er hat es ausgekostet, hat mich bei dem Irrtum gelassen und sich noch diebisch darüber gefreut! Dr. Peter Perthes. Sie hatte den Namen schon manchmal in den medizinischen Wochenschriften gelesen, wenn die Rede von toxikologischen Erfahrungen war.
Ohne zu wissen warum, wurde Angela Bender plötzlich rot und wandte sich ab.
«Bleiben Sie noch ein wenig, Herr von Barthey?«fragte sie dann.»Ich will noch einmal nach Ihrem Jungen sehen.«
Sie verschwand in dem Krankenzimmer und setzte sich aufatmend an das Bett des Jungen. Er hatte die Augen wieder geschlossen, aber sein Atem ging jetzt regelmäßiger und tiefer. Er schlief.
Sie beugte sich über ihn und horchte mit dem Stethoskop die Herztöne ab. So überhörte sie, daß hinter ihr die Tür leise ins Schloß gedrückt wurde und jemand den Raum betrat. Erst als sie sich wieder aufrichtete, fühlte sie instinktiv, daß sie nicht mehr allein in dem Krankenzimmer war. Erschreckt fuhr sie herum. Hinter ihr stand, in einem langen weißen Arztkittel und weißen Klinikhosen, Dr. Peter Perthes.
«Guten Abend, Kollegin«, sagte er.»Herztöne in Ordnung?«
Angela Bender strich sich die Haare aus der Stirn. Die Bewegung ihres Kopfes wirkte kämpferisch.
«Ja«, antwortete sie schroff.»Verstehen Sie neben Giftmischen und Frauen zu ärgern auch noch etwas von internistischer Medizin?«
«Soweit sie sich auf Adernabklammern beschränkt, bestimmt!«Er trat näher und reichte ihr die Hand, die sie übersah.»Böse?«
«Ja.«
«Weil ich nicht gleich sagte, daß wir Kollegen sind?«
«Weil Sie in einem unpassenden Moment ein noch unpassenderes Spiel getrieben haben, jawohl. «Dr. Bender stand von dem Bett auf.»Haben Sie schon mit Herrn von Barthey gesprochen?«»Ja, eben. Ich habe ihn weggeschickt.«
«Er hat Sie eingeladen?«
«Ja.«
«Das ist ein Grund für mich, seine Einladung nicht anzunehmen.«
«Wie schade! Er hat allerlei mit uns vor. Er sagt zum Beispiel, daß wir sehr gut zusammenpassen.«
Angela Bender winkte ab. Es sollte lässig aussehen, aber ihre Hand zitterte ein wenig dabei, und das war ein Schönheitsfehler dieser Geste.
«Der Mann war durch den Schrecken nicht mehr klar bei Verstand. Das entschuldigt sein Verhalten — aber nicht das Ihre!«Sie wandte sich zur Tür.»Guten Abend, Herr. Kollege!«
Die Tür klappte. Erstaunt sah Dr. Perthes ihr nach. Eine kleine Kratzbürste, dachte er. Trägt ihren Stolz wie ein alter Professor, der Angst vor jungen Studenten hat. Leise verließ er das Krankenzimmer. Auf dem Flur traf er seinen Freund Dr. Sacher.
«Hast du Krach mit der Dame Bender?«fragte er und schüttelte den Kopf.»Sie rief mich eben an und meinte, daß sie alles versuchen will, den Jungen Horst aus der Chirurgischen hinüber in die Kinderklinik zu bekommen. Dort könne man besser unliebsame Besucher ausschalten, sagte sie. «Dr. Sacher klopfte den Freund auf den Rücken.»Du wirst bei Frauen niemals Glück haben.«
«Schon gut. «Dr. Perthes verabschiedete sich und ging den langen weißen Gang hinunter zu der Glastür, die den Flur vom Treppenhaus trennte. Jungenhaft stieß er mit einem Schwung die Pendeltür auf und ging, leise pfeifend, die Treppe hinab zum Ausgang der Klinik.
Aber dort stand noch immer Wolf von Barthey. Er hielt den Arzt am Ärmel fest.
«Ich kann mich darauf verlassen, Herr Doktor? Sie kommen am Samstagabend zu uns?«
«Bestimmt. Es sei denn, es kommt ein ganz schwerer Fall dazwischen. «Plötzlich fragte er:»Kommt Fräulein Dr. Bender denn auch an diesem Abend?«»Aber ja!«Der Bankier nickte.»Vor einer Minute, kurz bevor Sie die Treppe herunterkamen, hat sie zugesagt.«
Da ergriff Dr. Perthes die Hand des Herrn von Barthey und drückte sie fest und voller Freude.
«Ich danke Ihnen«, sagte er laut.»Diesmal danke ich Ihnen.«