Kapitel 9

In Villavicencio fand nach der Suchaktion eine Besichtigung durch Regierungsvertreter aus Bogota statt. Ein von Herrn von Barthey ernannter Vertreter der Außenhandelsbank aus Bogota fertigte ein Verzeichnis an. Es befanden sich darunter ein ganz neues Laboratorium, Brutschränke, Mikroskope, Nährböden und Giftkulturen jener angefangenen Forschungsreihen von Dr. Perthes. Die Tagebuchblätter, die in San Juan gefunden wurden, gaben Aufschluß über die Fahrt den Rio Guaviare hinab und über die Pläne, die die Expedition verfolgte. Das spurlose Verschwinden der Männer auf dem Wege zum Cuno Nacuri sprach deutlich dafür, daß es die Tarapas nicht duldeten, Weiße in ihre Wälder eindringen zu lassen. Die Regierung war machtlos, eine Strafexpedition schien völlig sinnlos. Es wurde lediglich ein Gesetz erlassen, das allen Fremden verbot, die Urwälder ohne ausreichenden Schutz zu betreten. Dazu gehörten eine gute Bewaffnung mit Maschinengewehren und Boote mit Motoren.

In Köln zog Bankier von Barthey einen dicken Strich unter das Konto >Forschung Dr. Perthes<. Professor Window und Dr. Sacher aber konnten den Gedanken nicht loswerden, daß Peter noch lebte und sich irgendwo in der grünen Hölle aufhielt, vielleicht auf der Spur nach etwas Unerforschtem, was eine Sensation zu werden versprach. Daß auch Dr. Cartogeno, der Dolmetscher und die Träger nicht wieder aufgetaucht waren, bestärkte nur den Verdacht, daß sich in den riesigen Urwäldern Amazoniens etwas Ungewöhnliches abgespielt haben mußte. Dafür sprachen auch die Briefe, die Dr. Perthes von Zapuare und San Juan aus an Dr. Sacher schrieb, in denen er mitteilte, daß er versuchen wolle, den Tarapas-Häuptling für sich zu gewinnen, um ungehindert in den Fiebergebieten arbeiten zu können. Wenn Peter das gelungen war, dann war er jetzt noch im Urwald und sammelte Material für seine großen Forschungen.

In Kolumbien hielt man das für unmöglich. Man kannte dort Sapolana. Man hatte zuviel von seinen Grausamkeiten gehört, seinen Kopfjägern, von seinen Gürteln voller Schrumpfköpfe. Man hielt die Vermutungen der Deutschen aus Köln, die ja keine Ahnung von der Wirklichkeit der Urwälder hatten, für völlig abwegig und behauptete, die Suchflugzeuge, die Motorboote und die Raupenwagen müßten etwas gehört oder gesehen haben, wenn es Überlebende der Expedition geben würde. Man müsse deshalb, so leid es der kolumbianischen Regierung tue, damit rechnen, daß die Expedition Dr. Perthes verloren sei.

Um dem deutschen Bankier und den Ärzten einen Gefallen zu tun, entschloß man sich, die sichergestellten Güter an Ort und Stelle zu belassen. Sollte Dr. Perthes doch noch zurückkommen — was nach Ansicht von Experten die größte Sensation seit Bestehen der Amazonas-Urwälder sein würde —, so könnte er sein Laboratorium sofort wieder in Betrieb nehmen. Dann ging das Leben weiter, wie es bisher gewesen war. In Zapuare und Pajarito, San Juan und Si-tio lungerten die Orchideenjäger herum, standen in den Bars finstere Gestalten und tranken Whisky zu sündhaft teuren Preisen, liefen den wenigen schmutzigen Küchenweibern nach und stießen sich ihretwegen den blanken Stahl zwischen die Rippen.

In Bogota war immer noch die >Untersuchungskommission< an der Arbeit, um das Verschwinden von >Dr. Perthes und Co.< amtlich zu klären. Die Akten versandeten in bürokratischer Kleinarbeit und gerieten nach dem Durchlaufen beim siebten Dezernenten in endgültige Vergessenheit.

So gingen über zwei Monate hin. Professor Dr. Window besuchte in dieser Zeit häufig den Bankier, den der Vorwurf, den er sich selbst machte, daß sein Geld der äußere Anlaß zu der Katastrophe gewesen war, sehr schmerzte. Er warf sich vor, einen Mann in den Tod gejagt zu haben, und nicht nur ihn allein.

Sosehr sich Herr von Barthey auch vorredete, daß Dr. Perthes die Expedition mit anderen Mitteln auch unternommen hätte — es blieb immer ein Stachel. Nichts sprach ihn bei seinen hohen Moralbegriffen frei von der Schuld, zu dem Unglück maßgebend beigetra-gen zu haben. Diese Erkenntnis verwandelte den bisher so vitalen Mann in einen in sich versponnenen Träumer, der sich mehr über die tiefen Dinge des Lebens Gedanken machte als über sein bisheriges Arbeitsgebiet. Schöllang am Nebelhorn lag unterdessen unter einer hohen, glitzernden Schneedecke. Angelas Alp war nur noch über einen schmalen Pfad, von einem Schneepflug freigeschaufelt, zu erreichen, und es kam vor, daß man manchmal sehr lange warten mußte, bis die Post zu ihnen kam.

Dr. Bender tat diese Einsamkeit gut. Sie unternahm in ihrem jetzt deutlich sichtbaren Zustand lange Schneewanderungen auf Skiern, besuchte Reichenbach und Oberstdorf; einmal fuhr sie sogar nach Sonthofen, um die nötigen Dinge für den kommenden Erdenbürger auszusuchen.

Zwei Briefe, die, von Dr. Sacher weitergeleitet, aus Zapuare und San Juan in Kolumbien stammten, gingen den Weg aller Briefe Peters. Sie wurden in dem großen Steinofen verbrannt, ohne gelesen worden zu sein. Die Briefmarken weichte Angela vorher gewissenhaft ab und gab sie dem Briefträger für seinen Buben. Für sie war die Zukunft wichtiger als die Vergangenheit und die Gegenwart. Sie wollte ihr Kind im vollsten seelischen Frieden zur Welt bringen, dem schönen Gefühl, eine Mutter zu werden, ganz hingegeben. Sie dachte oft an ihre Mutter, die schwer arbeiten mußte, um das tägliche Brot zu verdienen; sie dachte an den Vater, der als Offizier nach der Revolution 1918 entwurzelt nach Hause gekommen und dann, in der Inflation seelisch zerbrochen, gestorben war. Sie dachte an ihre Kindheit auf Hinterhöfen, an die schwere Schulzeit, schließlich an die Stipendien, die es ihr ermöglichten, das Abitur zu machen und zu studieren. Es war ein harter Weg gewesen — an die Sonne. Ihr Kind sollte es einmal besser haben.

Mit Professor Purr stand sie in netter brieflicher Verbindung. Er bat sie zum wiederholten Male, das Kind in seiner Erlanger Klinik zur Welt zu bringen. Doch davon wollte Angela nichts hören. So losgelöst vom Alltag und so ganz mit der Natur verbunden fühlte sie sich nur hier in Schöllang; und die Klinik von Oberstdorf, in der Nähe der Nebelhornbahn, würde sie in den schweren Stunden aufnehmen. Das Kind sollte seine ersten zaghaften Schritte über blühende Bergwiesen machen.

Nach Weihnachten löste Dr. Sacher sein Versprechen ein — er kam nach Schöllang. Gleich nach seiner Ankunft fuhr er in einem Pferdeschlitten auf die Alp, wo Angela auf einer Bank in der Sonne saß, braun, im Gesicht etwas voller geworden. Zuerst erkannte sie nicht den in einen dicken Kamelhaarmantel gehüllten Dr. Sacher, doch dann sprang sie auf und kam ihm winkend entgegengelaufen.

«Dr. Sacher!«rief sie außer Atem, als sie bei ihm stand und der Arzt die im festgetretenen Schnee Ausgleitende auffing.»Daß Sie wirklich kommen, ist wunderbar! Was macht Köln? Wie geht es dem Professor?«Und mit einem Seitenblick:»Bringen Sie viele Neuigkeiten?«

Paul Sacher legte den Arm um Angelas Schulter und ging mit ihr auf das Haus zu.»Wie immer — ein Wasserfall von Fragen!«Er lachte.»Sie sind die alte Angela geblieben.«

«Das Gegenteil wäre ja auch traurig«, meinte sie übermütig.

Sie gingen in Angelas Zimmer, wo Paul Sacher sich aus dem Mantel schälte. Er legte, von Professor Window, eine große Schachtel Pralinen auf den Tisch, packte dann ein halbes Dutzend Strampelhöschen aus und holte als letztes aus der Manteltasche eine Flasche Enzian, die schon halb ausgetrunken war.

«Ich habe die Höschen in Weiß genommen, weil man ja vorher nicht wissen kann, was es wird«, sagte Paul Sacher lachend und nahm einen Schluck aus der Flasche.»Der Enzian ist gegen die Bazillen!«

«So, so!«Angela deckte den Tisch mit einer hellen Decke und Kaffeegeschirr.»Ich wußte gar nicht, daß Sie neuerdings auch unter die Mikrobenjäger gegangen sind!«

«Aus Kummer, Angela, nur aus Kummer darüber, daß Sie nicht mehr bei uns sind! Ihre Nachfolgerin — «, er verzog sein Gesicht, als habe er Essig getrunken,»nein, Angela, da gehen wir lieber schnell dran vorbei. Tüchtig ist sie ja, aber auch so eine Männerhasserin wie Sie. Sie sieht aus wie eine Regierungsrätin vom Schulamt.«»Welch ein Vergleich!«Sie lachte hell.»Soll ich denn wieder nach Köln zurückkommen?«

Dr. Sacher sprang auf.»Angela, wenn Sie das tun würden! Ich würde die gesamte Lindenburg zur Begrüßung flaggen lassen!«

«Sie sind unverbesserlich, Dr. Sacher.«

Dann saßen sie sich gegenüber, tranken starken, heißen Kaffee und erzählten sich, was sie in Köln und Schöllang erlebt hatten. Angela berichtete von der Begegnung mit Professor Purr und der Möglichkeit, an der Erlanger Klinik arbeiten zu können. Ohne daß sie es wollten, über eine Brücke, die ein Gespräch über Kinderlähmung baute, kamen sie auf Peter zu sprechen. Dr. Sacher gedachte seines Versprechens, Angela von dem Unglück in Zapuare nichts zu sagen.»Neue Nachrichten von Peter?«fragte sie leise.

Paul Sacher schüttelte den Kopf.»Nein, er hat noch nicht wieder geschrieben. «Wie gut ich lügen kann, dachte er dabei. Kein Schwanken in der Stimme, kein Rotwerden, keine Unsicherheit. Der Mensch kann doch schlechter werden, als er von sich selbst glaubt.»Hat er Ihnen nichts Genaueres geschrieben?«

«Ich weiß es nicht. «Angela schwieg eine Weile.»Ich habe alle Briefe ungelesen verbrannt.«

«Das ist doch nicht möglich, Angela!«

«Doch!«

«Sie haben Peters Briefe einfach verbrannt. «Er schwieg entsetzt.

Angela verstand seine plötzliche Erregung nicht. Sie wußte ja nicht von der großen Hoffnung, die Professor Window und Dr. Sacher hatten. Window hatte noch bei Sachers Abfahrt gesagt:»Ich bin sicher, daß Peter etwas Genaueres über seine nächsten Pläne geschrieben hat. Vielleicht kannst du aus den Briefen sehen, daß unser Warten nicht vergeblich ist. «Und nun hatte Angela. Nun gab es überhaupt keinen Anhaltspunkt mehr, und die Regierung in Bogota hatte recht, wenn sie sagte:»Die Expedition muß als verloren betrachtet werden.«

«Was hat Peter denn an Sie geschrieben?«fragte Angela.

«Daß es ihm gutgeht«, sagte Dr. Sacher stockend. Er blickte dabei zu Boden, sein Gesicht war sehr blaß geworden.»Er habe schöne Erfolge und hoffe auf baldige Rückkehr.«

Baldige Rückkehr? Angela Bender stellte sich dieses Wiedersehen vor. Er würde sie suchen, durch ganz Deutschland. Dann würde er vor ihr stehen, groß und fröhlich wie immer, und würde ihr sagen, daß das vergangene Jahr aus ihrem Gedächtnis zu streichen sei. Und sie würde von neuem stolz sein und ihm antworten, daß sie ihr Leben allein durchstehen könne und keinen Mann brauche, der seine Familie verläßt und sich in Gefahr begibt, nur um ein dummes, unbekanntes Tropengift aus den Urwäldern zu holen. Sie aber wolle ein Heim haben, Ruhe, Geborgenheit. Paul Sacher schreckte sie aus ihren Gedanken auf.

«Haben Sie denn Peter auch nicht einmal geschrieben?«fragte er.

«Nein, und das werde ich auch nie tun.«

«Auch nicht, wenn er in großer Gefahr wäre?«

«Er hat sie gesucht!«Sie wollte hart sein, aber in ihren Augen flak-kerte es verräterisch.

«Und wenn er sich nach einer Zeile von Ihnen sehnt?«

«Hat er Ihnen das geschrieben?«

«Nein. «Dr. Sacher winkte ab.»Ich meine es rein theoretisch. Es könnte ja eintreten. Würden Sie sich dann immer noch gegen das tiefste Gefühl in Ihrem Herzen wehren?«

«Ja, Doktor Sacher.«

Der Arzt wischte sich über die Augen. Er tat dies immer, wenn er einer Situation hilflos gegenüberstand.»Frauen können doch härter als Männer sein«, sagte er in einem Anflug von Philosophie.»Ich habe es nie geglaubt.«

«Ich bin gar nicht so hart«, meinte Angela leise.»Ich war nur traurig, daß ihm das Gift mehr wert war als ich und meine Liebe. Von einer Frau, der man das so deutlich sagt, kann man nicht erwarten, daß sie weiterhin die Dulderin spielt. Mich hat das Leben gelehrt, auf eigenen Füßen zu stehen. Es ist mir nichts geschenkt worden — selbst meinem Kind muß ich unter Opfern das Leben geben. Ich habe immer die Zähne zusammenbeißen müssen, da kommt es auf einmal mehr oder weniger nicht an. Sie mögen es Härte nennen, Paul, aber war es nicht noch viel härter von Peter, meine Bitte, meine Sorge um sein Leben, meine Angst, ihn zu verlieren, mit einem Lachen abzutun und heimlich diese Expedition vorzubereiten?

Da gab es dann nur noch einen kleinen chirurgischen Schnitt, der mitten durch meine Seele ging: Trennung! Ich habe damals, als ich am Strand von Grömitz stand und viel weinte, nicht mehr gewußt, was ich tun sollte. Und er, dem diese Tränen galten, saß in Köln und vollendete die Vorbereitungen zur Fahrt in die Hölle. Als ich dann zurückkam, wußte ich, daß es keine Umkehr gab — nicht für ihn, nicht für mich. Meinen Sie nicht auch, daß das genügt, um eine Frau hart zu machen?«

In diesem Augenblick war Dr. Sacher versucht, ihr die volle Wahrheit über Peter zu sagen. Aber dann dachte er an ihren Zustand und biß sich auf die Lippen. Nein, sagte er sich, ich darf es trotzdem nicht. Es wäre kein Gewinn, sie wüßte auch keinen Rat. So lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung und unternahm nach dem Kaffee mit Angela einen Spaziergang über die Berge, er bewunderte das Nebelhorn, das wie eine mit Zucker übergossene Spitze in den fahlblauen Himmel ragte. Sie lachten viel und bewarfen sich schließlich mit Schneebällen.

Keuchend lehnte sich Angela an eine Krüppelkiefer.»Ich kann nicht mehr«, rief sie lachend,»man wird doch sehr ungelenkig. «Sie preßte die Hand auf ihren Leib und atmete schwer.»In einem Jahr geht alles wieder besser!«

Dr. Sacher wohnte in Schöllang in einem hübschen Hotel, wo er sich für zwölf Tage eingemietet hatte. Er nutzte die Zeit für Spaziergänge mit Angela, um mit dem Schlitten nach Oberstdorf oder sogar bis zum Alpsee zu fahren und ihr Fröhlichkeit zu schenken, die sie in ihrer Abgeschiedenheit vermißt haben mußte.

Es waren auch für Angela Bender schöne Tage. Paul Sacher las ihr jeden Wunsch von den Augen ab, jede Last zog er zu sich hinüber, ohne daß sie es merkte. Da die verpachtete Praxis nicht den erwarteten Gewinn abwarf und Erspartes schnell zur Neige ging, bezahlte Dr. Sacher ohne Angelas Wissen die Miete und die Verpflegung in der Alppension für ein halbes Jahr im voraus, kaufte in Kempten einen Kinderwagen und erstand im Auftrag von Professor Window ein schönes, größeres Kinderbett. Er gab genaue Termine an, wann alles an Frau Dr. Bender nach Schöllang geschickt werden sollte, und fuhr nach zwölf Tagen befriedigt nach Köln zurück.

Und Angela war wieder allein inmitten der Berge und Schneefelder, las oder schrieb an einem Buch über Kinderkrankheiten, zählte die Wochen und Tage bis zu dem Tag, an dem sie eine neue und schwere Pflicht vom Schicksal übernehmen würde.

Eine Woche nach der Abreise Dr. Sachers bekam sie einen Brief aus Kolumbien, von Köln aus umadressiert. Sie wollte ihn schon in den Ofen stecken, als sie plötzlich stutzte. In der Aufregung, von neuem Post aus Südamerika zu bekommen, hatte sie nicht beachtet, daß die Adresse mit Maschinenschrift geschrieben war. Das war sonst nicht Peters Art bei Privatbriefen. Jetzt fiel ihr das auf. Sie drehte den Umschlag um und las:»Puesta de policfa, Villavicencio, Columbia, Meta.«

Polizeistation? dachte Angela erschrocken. Der Brief ist gar nicht von Peter. Sie eilte an den Tisch zurück, unter das breite Fenster, setzte sich ans Licht und riß den Umschlag auf. Eine Fotopostkarte fiel auf den Tisch, eine Fotografie, die sie selbst in einem duftigen Sommerkleid zeigte, aufgenommen auf der Kölner Messe, mit Rhein und Domtürmen im Hintergrund. Dabei lag ein Brief, aus dem hervorging, daß man dieses Foto neben anderen Dingen in Zapuare gefunden habe. Da die Adresse auf dem Foto stünde, gehe es an den Besitzer zurück. Ihr Foto! In Zapuare gefunden? Zurück! Was bedeutete das alles? In Angelas Kopf schwirrten die Gedanken. Hatte Peter diese Fotografie nur verloren? Hatte er sie weggeworfen, weil sie ihm nicht schrieb? Oder war ihm etwas zugestoßen?

Eine schreckliche Unruhe packte sie. Sie ließ den Schlitten anspannen und fuhr hinunter zur Poststation. Dort meldete sie ein

Ferngespräch mit Köln an und hatte nach zwei Stunden Warten endlich Professor Window am Apparat. Ihre Stimme war von Angst undeutlich geworden.

«Ich habe eben einen Brief bekommen«, sagte sie,»aus Villavicencio, von der Polizeistation. Meine Fotografie war in dem Brief, ein Bild, das Peter mitgenommen hatte. Man habe es gefunden, schreibt die Polizei. Wissen Sie etwas davon? Auch andere Sachen sollen gefunden worden sein. «Und plötzlich rief sie voller Angst:»Herr Professor, ist Peter etwas zugestoßen?«

Der Professor zögerte mit der Antwort. Dr. Sacher, der am zweiten Apparat das Gespräch mithörte, schüttelte heftig den Kopf.»Nein, Angela«, antwortete Professor Window klar.»Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir haben gerade gestern Post aus Kolumbien bekommen. Peter geht es gut. Er wird das Bild verloren haben, die Polizei fand es, konnte es ihm nicht zustellen, weil er vielleicht gerade einen Urwaldtrip unternahm. So schickte man Ihnen das Foto der Einfachheit halber wieder zu. Also, keine Sorgen, liebste Angela!«

«Ich danke Ihnen sehr, ich danke Ihnen. «Angela Bender legte den Hörer auf und lehnte die Stirn gegen das kalte Glas der Telefonzelle. Nichts, dachte sie. Ihm geht es gut. Er hat geschrieben. Mein Gott, welche Angst hatte ich um ihn. Jetzt habe ich mich verraten. jetzt wissen sie es alle: ja, ich liebe ihn, ich liebe ihn noch immer. Wie glücklich bin ich, Peter, daß es dir nur gutgeht.

In Köln legte Professor Window ebenfalls den Hörer auf. Er sah dabei Dr. Sacher groß an.»Es war meine erste ganz bewußte Lüge«, sagte er leise.

«Warum haben Sie gesagt, Peter habe geschrieben?«

«Sie hätte es mir sonst nicht geglaubt!«Er steckte sich mit fahrigen Händen eine Zigarre an.»Es ist ekelhaft, Paul — den Freund gibt man verloren, und seine Braut belügt man! Wir Menschen sind doch eine feige Bande!«

Dr. Peter Perthes und Dr. Fernando Cartogeno standen vor der großen Palmhütte allein. Von innen hörte man die Schreie des Medizinmannes, das Rascheln des Röckchens aus trockenen Blättern und das rhythmische Zusammenschlagen der Fetischfiguren, die er in den Händen hielt. Sein wimmerndes Schreien klang furchterregend.»Er will die Dämonen austreiben, die den Häuptling überfallen haben«, meinte Cartogeno.»Bei den Indianern ist jeder außergewöhnliche Vorgang oder Anlaß das Werk böser Geister. Sie werden es schwer haben, lieber Kollege, den Medizinmann von Ihrer ärztlichen Kunst zu überzeugen.«

«Er hat mich doch selbst gerufen, weil er nicht mehr weiterkommt mit seinem Zauber.«

«Sapolana zuliebe! Sie wird er hassen, weil Sie seinen Nimbus zerstören.«

Dr. Cartogeno untersuchte seine Pistole. Dann ging er zu dem Bastvorhang, der den Eingang verschloß, und riß ihn zur Seite, die Waffe im Anschlag. Langsam trat Peter Perthes ein. Der Raum war groß und leer. Lediglich in einer Ecke war ein Palmblätterlager errichtet, bedeckt mit Jaguarfellen und Affenhäuten. Vor dem Lager stand ein großer geschliffener Stein, auf dem eine Geisterfigur thronte. Durch den weiten Raum der Hütte sprang der Zauberer Sapolara. Auf dem Kopf hatte er den Balg eines großen Trompetenvogels. Sein nackter Körper war mit grellroten Streifen bemalt, an und in den Ohrläppchen flatterten die Federn der Tukane und klapperten Muschelketten. Selbst seine Unterlippe war durchstochen — in dem Loch staken Knochensplitter und buntgefärbte, dicke Grashalme. An den Füßen trug er leichte Schuhe, aus Menschenhaar geflochten und verziert mit Menschenzähnen. Die wilden Schreie wurden beim Eintritt der Weißen noch schriller, die muskelstarken Arme wirbelten die Dämonenfiguren durch die dumpfe Luft der Hütte.

Dr. Perthes trat an das Fell-Lager, während Dr. Cartogeno an der Tür stehenblieb und seine Pistole schußbereit hielt. Eine gefährliche Bewegung des Medizinmannes oder des Mannes auf dem Lager — und er würde mit einer Rücksichtslosigkeit schießen, die in seinen Augen zu lesen war.

Auf dem Jaguarfell lag eine große, fast riesige Gestalt mit geschlossenen Augen. Dicker Schweiß stand auf seiner Stirn. Die Backen waren hohl, ausgezehrt. Um ihn herum auf dem festgetretenen Boden lagen die Trophäen, die er in seinem Leben erobert hatte: Schrumpfköpfe über Schrumpfköpfe, ekelerregend, grauenhaft. Blasrohr, Speer, ein langer Dolch, Pfeile und Bogen, eine große Keule aus schwarzem, eisenhartem Holz und eine Lianenschleuder lagen an der Hüttenwand — die Waffen des Großen Häuptlings Sapola-na.

Er schien den Eintritt der Weißen nicht bemerkt zu haben. Die Augen geschlossen, machte er den Eindruck, als sei er durch die Schreie des Zauberers in eine Art Hypnose versunken. Sein bloßer Körper glänzte von Schweiß. Perthes beugte sich über den Häuptling und erfaßte mit raschem Blick die Lage. Das linke Bein war oberhalb des Knies verletzt, hier mußte es ein Giftbolzen getroffen haben. Jetzt war das Bein bis zur Hüfte unnatürlich angeschwollen, rot, brandig, aufgedunsen. Das Fleisch sah glasig aus, leblos und starr. Sapolana mußte starke Schmerzen haben — aber er schwieg, auch als der Arzt das Bein leicht abtastete und ein wenig anhob. Nur in den Mundwinkeln konnte man sehen, wie Sapolana ein Schreien verbiß. Stumm lag er auf seinen Fellen, während der Medizinmann weiter schrill schreiend vor dem Lager tanzte.

Perthes stand auf und wandte sich zu Dr. Cartogeno um.»Sekundäre Blutvergiftung«, diagnostizierte er.»In Europa würde man das Bein in diesem Zustand sofort amputieren. Wenn ich das hier machte, wäre es mein Todesurteil.«

«Lassen Sie ihn verrecken«, meinte Cartogeno hart. Er hatte auch die Masse der Schrumpfköpfe gesehen und beherrschte sich nur mühsam, den Abzugshahn nicht durchzudrücken.

«Wir sind Ärzte, lieber Kollege«, sagte Perthes, wandte sich ab und ging dem Ausgang zu.»Bevor ich behandle, muß ich wissen, um welches Gift es sich handelt. Holen Sie bitte vom Boot das Mikroskop, den Gegengiftkasten und mein chirurgisches Besteck.«

«Ich soll Sie hier allein lassen?«fragte Cartogeno zweifelnd.

«Machen Sie nur!«Perthes winkte ab.»Die Kerle sind froh, daß wir hier sind. Uns geschieht nichts, solange der Häuptling lebt.«

Er trat wieder in die Hütte und sah jetzt den Zauberer vor dem Lager sitzen. Seine kleinen, blitzenden Augen sahen ihm entgegen. Plötzlich hob er wie beschwörend die Arme und strich mit ihnen über das geschwollene Bein. Aus Sapolaras Mund quoll dichter Tabaksqualm. Nun sprach er schnelle Worte, die sich fast überschlugen, und dann warf er sich mit einem wilden Ruck über den Kranken, preßte den Mund auf die Wunde, biß in das entzündete Fleisch und trank wie ein Vampir das hervorquellende schwarze, schlechte Blut. Der Kranke bäumte sich auf und stöhnte. Dann fiel er zurück auf das Jaguarfell und schloß die Augen. Er blieb stumm, eisern, leblos fast, während der Zauberer das Blut aussaugte.

Nicht dumm, dachte Perthes und wartete auf Cartogeno. Das macht man bei uns auch als Erste Hilfe. Bei Kreuzotterbissen Biß erweitern und Blut aussaugen. Aber in diesem fortgeschrittenen Zustand ist das sinnlos. Dieser Sapolana ist ein Wunder, dachte Perthes weiter, mit dem Gift im Körper wäre ein Europäer innerhalb einer Stunde gestorben. Und er lebt noch… nach über fünfWochen! Wie doch die Natur alle Schulweisheit mit einem einzigen Beweis über den Haufen wirft.

Dr. Cartogeno brachte keuchend zwei Kisten.»Die Bande will mir nicht helfen«, rief er,»sie betreten den Platz nicht, aus Angst vor den Dämonen. Draußen, auf dem Fluß und dem See, stehen über fünftausend Tarapas. Aber nicht einer wagt einen Schritt auf den Strand. «Er warf die Kisten mitten in den Raum und beobachtete den noch immer saugenden Sapolara.

«Fixer Junge«, meinte er anerkennend.»Weiß sich zu helfen. Aber nun los!«

Sie traten an das Lager und machten durch Zeichen klar, daß Sa-polara sich zurückziehen müsse. Gehorsam, aber mißtrauisch stand der Zauberer auf und stellte sich hinter den Kopf des Häuptlings. Scharf beobachtete er alle Handgriffe der beiden weißen Ärzte.

«Er will von uns lernen«, meinte Dr. Cartogeno schmunzelnd.

«Nicht nur ein fixer, auch ein gerissener Bursche!«

Sie gaben Sapolana eine Tetanusspritze und danach eine Narkose mit Evipan. Dann setzte Dr. Perthes das Skalpell an und trennte mit schnellen Schnitten die Gewebe und Muskeln durch. Dr. Car-togeno klammerte die Adern ab und arbeitete mit den Tupfern. Gleich oberhalb der Kniescheibe war der Bolzen eingedrungen. Er stak noch in den Muskeln — ein kleiner, schmaler, messerscharfer Knochensplitter, sorgsam zugefeilt und mit einem Schwerpunkt versehen, der ein richtiges Fliegen aus dem Blasrohr gewährleistete. Er stak noch mitten in dem brandigen Fleisch. Mit der Pinzette holte der Operateur den Splitter heraus und legte ihn auf eine Schüssel. Er brannte mit Höllenstein den ganzen Umkreis des Herdes aus, tamponierte die Wunde und begann dann, in die Blutbahn des vergifteten Beines ein Serum zu spritzen.

Dr. Cartogeno sah mit großen Augen zu. Zum erstenmal sah er seinen Kollegen Dr. Perthes praktizieren. Eine große Achtung vor dem jungen Arzt kam in ihm auf. Mit dem gehe ich durch die Hölle, dachte er, und etwas wie Stolz und Glück, dies alles miterleben zu dürfen, erfaßte ihn. Mit bebenden Händen reichte er die Instrumente an.

«Was injizieren Sie da?«fragte er flüsternd.

«Ein neues, von mir entwickeltes Serum. Es steht noch in der Erprobung. Ich habe in Köln damit Tierversuche gemacht, die alle zufriedenstellend verliefen. Dies aber ist mein erster Menschenversuch.«

«Mit einem unfertigen Präparat?«

«Ja, Sie haben recht, in einer zivilisierten Klinik wäre das unmöglich, strafbar, überhaupt undenkbar. Hier, im Urwald, kann es die letzte Rettung sein. Hier dürfen wir endlich einmal etwas wagen, was in der Alten Welt die Bürokratie verbietet. «Peter Perthes setzte die Spritze an, stach in die Hauptblutbahn und drückte etwa sechs Kubikzentimeter der wasserhellen Flüssigkeit in die Ader. Er beugte sich über Sapolana und fühlte dessen Puls.

«Er muß, wenn das Serum die gleiche Wirkung wie bei Tieren hat, innerhalb von zwölf Stunden fieberfrei sein. Dann muß das Gift seine zerstörende Wirkung verloren haben. «Er schüttelte von neuem den Kopf.»Es ist mir unverständlich, wie der Kerl jetzt noch leben kann.«

Der Medizinmann, der sah, daß die Ärzte vorläufig fertig mit ihrer Arbeit waren, trat aus der Ecke hervor. Sein altes, mit Runzeln wie eine Schuppenhaut überzogenes Gesicht schien zu lachen. Er sprach die Ärzte mit seiner hellen Stimme an und zeigte auf den Häuptling, der noch in tiefer Narkose lag. Er machte das Zeichen des Sterbens.

Dr. Cartogeno schüttelte den Kopf, dann gingen sie aus der Hütte und wollten zu ihrem Boot. Da aber stürzte ihnen der Medizinmann nach, rannte an den Strand und fiel an einer großen Baumtrommel auf die Knie. Mit beiden Händen, den Kopf schreiend gen Himmel gerichtet, bearbeitete er die Trommelfläche. Dumpf hallend klangen die Töne über die Bucht, den Fluß und den See. Die Tukanfedern in seinen Ohren wippten auf und nieder. Er riß sich den Lendenschurz aus trockenen Blättern ab und sprang nackt, in seiner wilden Bemalung, um die Trommel herum, mit den Händen den Takt schlagend. Schaurig klang es durch die Stille des Waldes, doppelt schrecklich durch die Wildheit, mit der der Zauberer in seinem Fetischgewand um den dröhnenden Baum sprang.

Jetzt schoß ein Kanu durch die Flußenge auf den Landeplatz zu. Umari stand darin, neben ihm der indianische Dolmetscher. Er grinste über das ganze Gesicht — in den Haaren trug er eine Orchideenkette, auf der Brust eine wertvolle Stickerei gegen den Dämon der Feindschaft. Vom See herüber erklang ein vielhundertfacher Jubelschrei. Lange Kriegsboote mit singenden Tarapas glitten Uma-ris Boot nach, in die Bucht hinein.

Gebannt von diesem Schauspiel, standen die beiden Ärzte am Ufer.

«Wir haben gesiegt«, sagte Dr. Perthes schlicht. In seiner Stimme klang Ergriffenheit mit.

«Ja, diese Schlacht haben wir gewonnen«, bestätigte Dr. Cartogeno.»Was aber wird, wenn Ihr Serum nicht wirkt? Wenn Sapolana stirbt?«

Perthes wandte sich um. Entschlossenheit machte sein Gesicht kan-tig.»Er wird nicht sterben!«sagte er leise.»Kollege Cartogeno, er darf nicht sterben.«

Was Dr. Perthes kaum zu hoffen gewagt hatte, trat mit überraschender Plötzlichkeit ein: Sapolana war bereits nach sieben Stunden fieberfrei! Perthes kniete an seinem Lager und fühlte den Puls, maß die Temperatur und wollte es nicht glauben. Bei sechs Kubikzentimeter Serum und akuter Pfeilvergiftung in dieser Zeit fieberfrei? Das übertraf alle Erwartungen, das eröffnete völlig neue, völlig andere Perspektiven in der Serumverwendung! Zwar war das Bein noch unförmig geschwollen, glasig und entzündet — aber die Macht des Giftes, das sah man deutlich, war gebrochen. Die akute Lebensgefahr bestand jetzt nur noch in der brandigen Wunde.

Jede halbe Stunde erneuerte Dr. Perthes oder Dr. Cartogeno den Tampon. Sie desinfizierten die ganze Hütte, wuschen den Häuptling mit antiseptischem Wasser und sorgten für eine gute Durchlüftung der Hütte. Am dritten Tag schüttelte Dr. Perthes den Kopf, nachdem er die Wunde untersucht hatte.

«Der Höllenstein war zu schwach«, sagte er.»Die Wunde bleibt brandig und greift sogar in die tieferen Gewebe über. Da wir keine klinischen Mittel hier haben, nützt nur eins: wie im Mittelalter ausbrennen!«

Dr. Cartogeno blickte zu Sapolana hinüber, der die Besinnung noch immer nicht wiedererlangt hatte. Der Zauberer Sapolara behandelte ihn mit Auflegen von feuchten, unbekannten Kräutern, Fußwaschungen mit einem giftgrünen Wasser, Kompressen auf die Stirn mit einer breiigen Masse, zu der er die Blätter, Wurzeln und widerlich stinkenden Blüten aus den Urwaldsümpfen holte. Dr. Perthes ließ ihn gewähren, denn er wußte, daß gerade die Wilden in der Wundbehandlung wahre Meister sind und mit primitiven Mitteln erstaunliche Erfolge erzielen.

Aus mitgebrachten Stahlinstrumenten ließ sich Perthes vom Schmied der Tarapas nach einer Zeichnung ein Glüheisen anferti-gen. Als es ihm gebracht wurde, narkotisierte er von neuem den Kranken und begann, mit dem glühenden Eisen das Fleisch und den Wundbrand wegzusengen.

Widerlicher Geruch zog durch die Hütte. Der Körper des Ohnmächtigen zuckte wild. Die Nerven drohten zu zerreißen; dann war das Brennen beendet. Die Wunde wurde mit antiseptischem Wundpulver und Penicillin ausgelegt und danach in Schichten zugenäht.

Während dieser Operation stand Sapolara wieder am Kopfende und beobachtete genau jeden Handgriff. Der alte Zauberer sah zum erstenmal in seinem Leben, wie ein menschlicher Körper schmerzlos operiert werden konnte, wie man Fleisch wegschneiden, ja wegbrennen konnte, ohne daß der Kranke schrie. Er erlebte erstmalig das Wunder der Narkose. Es war, als sei nach dieser radikalen Bekämpfung des Wundbrandes der Bann gebrochen. Das Serum zerstörte das Gift in der Blutbahn, die Entzündung ging zurück, die kühlen Umschläge des Zauberers bewirkten eine Erfrischung des Körpers und regten außerdem die natürlichen Widerstandskräfte, das wichtigste Hilfsmittel bei allen Heilungen, an. Das Bein verlor allmählich seine Unförmigkeit, es wurde wieder normal durchblutet, und eines Tages saß Sapolana auf seinem Lager und beobachtete selbst, wie Perthes die Wundnaht kontrollierte und ihm eine Spritze gab. Kein Wort kam über die Lippen des Häuptlings, kein Muskel seines Gesichts verzog sich, als die Nadel in sein Fleisch drang und eine juckende Flüssigkeit in die Muskeln gespritzt wurde.

Drei Wochen nach dem Kommen der weißen Ärzte trat Sapolana zum erstenmal wieder, an einem Bambusstock gehend, vor seine Krieger. Jubel und lautes Trommeln schlugen ihm entgegen — ein Heer von Kriegskanus vollführte eine wahre Schlacht. Mit Staunen sahen die beiden Ärzte, die neben Sapolana standen, daß die Ta-rapas nach strategischen Gesichtspunkten ausgebildet waren und ihre Kampfweise nicht undiszipliniert, sondern nach einem genauen Plan ausgerichtet war. Nun wurde ihnen auch klar, warum Sapolana als Herr des Urwaldes galt, warum es gegen ihn keinen Widerstand gab und die Völker Kolumbiens, Perus und Venezuelas ihn als ihren Ober-herrn anerkannten. Er verband mit der Wildheit des primitiven die Klugheit eines modernen Menschen, ein Naturtalent, wie es die Ärzte nie für möglich gehalten hätten, wenn es ihnen in Bogota oder in Köln erzählt worden wäre.

Mit dem Fortschritt der Genesung wurde der Ring um den Häuptling immer enger gezogen. Nur noch Sapolara durfte tagsüber in seiner Nähe sein — Dr. Perthes und Dr. Cartogeno wohnten mit ihrer Begleitung in vier Hütten, etwa 30 Meter außerhalb des Sperrkreises, den man um die Häuptlingshütte unsichtbar gezogen hatte.

Nur einmal am Tag durfte Dr. Perthes, und nur er allein, nach Sapolana sehen. Stumm saß er dann auf seinem Lager, ließ sich untersuchen und gab kein Zeichen irgendwelcher Regung ab. Stumm ließ er den Arzt wieder gehen, eine lebende Statue, ein Halbgott in den Augen seiner Völker. Ein Mann, der sich vor seiner eigenen Dankbarkeit fürchtete.

Es war in der Mitte der vierten Woche, als Perthes wie jeden Morgen aus seiner Hütte kroch und zum Strand hinunterlief, um sich zu waschen. Dr. Cartogeno schlief noch. Verwundert blickte Perthes um sich. Der Strand war leer, an der Biegung des Flusses, wo sonst die Kriegskanus lagen, schaukelten nur noch die drei Expeditionsboote im Wasser. Jetzt erst sah er auch, daß die große Palmhütte abgebrochen worden war. Kein Tarapa war mehr zu sehen! Die Bucht war verlassen.

Als habe er geträumt, wischte sich Peter Perthes über die Augen. Unmöglich, dachte er, gestern abend habe ich Sapolana noch gesehen, wie er am Feuer stand und zuschaute, wie seine Krieger einen Tapir brieten. Die Aschenreste und die verkohlten Baumstümpfe lagen noch im Ufersand. Perthes ging mit großen Schritten zu seiner Hütte zurück und riß den Vorhang zur Seite.

«Dr. Cartogeno!«schrie er.»Die Tarapas sind fort!«

Der kolumbianische Arzt fuhr schlaftrunken hoch und griff sofort nach seiner Pistole.»Unsere Boote?«brüllte er und sprang auf.»Sind unsere Boote noch da?«

«Alles ist da! Nichts fehlt! Nur die Tarapas haben in der Nacht das Lager geräumt. Sapolana ist fort. Ohne Abschied.«

«Traurig. «Dr. Cartogeno lachte schallend.»Und an wen sollen wir jetzt die Rechnung schicken? Lieber Herr Kollege — auch im Urwald gibt es Zechprellerei, wie man sieht!«

Sie traten hinaus ans Ufer und schauten sich unschlüssig um. Nichts, außer den Resten des Lagerfeuers, verriet, daß hier einmal diese Unmenge von Wilden gehaust hatte. Der Fluß war verwaist, der See lag leer, wie eine Scheibe Silber in der Frühsonne. Aber nein — da glitt doch ein Kanu durch die Flußenge! Perthes schirmte die Augen gegen die Sonne ab und schüttelte erstaunt den Kopf.»Sieh da, unser Dolmetscher!«sagte er verwundert.»Verstehen Sie das, Dr. Cartogeno?«

Das Kanu kam näher. Hinter dem Dolmetscher sahen die Ärzte jetzt eine große Baumtrommel liegen, verziert mit groben bunten Zeichen, die wie Runen aussahen. Knirschend fuhr das Boot in den Sand. Der Indianer stieg aus.»Herr!«sagte er.»Der Große Häuptling läßt Euch grüßen. Er läßt Euch sagen: >Nie hat ein Fremdling Sapolana in die Augen gesehen, ohne nachher zu sterben. Ihr seid die einzigen, die ihn sehen und sogar berühren durften. Ihr habt sein Leben gerettet; was auch immer Ihr nun tun werdet, Sapolana wird Euch helfen. Alle Wälder, Flüsse und Sümpfe, die ihm gehorchen, könnt Ihr frei betreten. Alle Völker werden Euch als Freunde empfangen. Krieger der Tarapas werden Eure Lasten tragen, sie werden Euch durch unbekannte Gebiete führen. Wenn diese Trommel hier spricht, werden sie kommen, Euch zu helfen. Das soll der Dank Sapolanas sein.<«

Dr. Cartogeno sah Dr. Perthes groß an.»Sie hatten recht: es ist ein Sieg«, sagte er laut.»Sie haben heute alles gewonnen!«Still blickte Peter Perthes über den Fluß. Ein Arzt an der Schwelle des Ruhmes… ein Herr über die grüne Hölle.

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