Kapitel 10

Der Schnee im Illertal schmolz langsam unter der wärmenden Frühlingssonne. Aus dem Waldboden lugten die ersten Schneeglöckchen, in den Sennhütten regte sich neues Leben: die Melker und Käser fegten den Winterschmutz aus den Hütten und bereiteten alles für den baldigen Auftrieb des Viehs vor. Plötzlich, wie sie gekommen waren, verschwanden die Wintersportler aus Schöllang — eine kurze Zeit gehörte das Dorf nur den Einheimischen, bis der neue Schwung der Sommergäste die Dorfgassen wieder beleben würde. Die Gebirgsbäche wurden reißend, sie schossen förmlich ins Tal, große Steine und Felsbrocken mit sich führend. Lawinen donnerten in die Schluchten; auch der Gipfelschnee lockerte sich und brachte riesige Eis- und Schneemassen in gleitende Bewegung. Tag und Nacht war die Bergwacht in Alarmbereitschaft, ganze Täler wurden von Lawinen abgeschnitten. In Schöllang begann man, die Häuser zu tünchen. Die Viehtränken wurden ausgebessert, beim Dorfschmied stauten sich die Pferde zum Beschlagen und die Pflugschare zum Nachschleifen. Auch auf der Alp bereiteten sich die Menschen vor, denn neben dem Frühling war nun auch die Zeit gekommen, in der Angela Bender nach Oberstdorf in die Klinik mußte. An einem warmen Vorfrühlingsabend brachte sie der Bauer mit dem Pferdekarren ins Dorf. Dort wartete ein Krankenwagen auf sie, und dann fuhr sie in schneller Fahrt das herrliche Illertal hinauf nach Oberstdorf. In der Klinik erwartete sie schon der Chefarzt und geleitete sie sofort in ihr Zimmer. Erst als sie in dem weißen Bett lag, kam ihr zum Bewußtsein, daß sie ihr Kind in völliger Einsamkeit zur Welt bringen würde. Nur fremde Menschen würden um sie sein. Ihre Eltern waren seit langem tot. Peter war irgendwo im kolumbianischen Urwald. Geschwister besaß sie nicht, ein Onkel, mit dem sie nur in loser Verbindung stand, lebte in Augsburg. Sie würde die ganzen Tage allein in diesem Bett liegen, auf den Gipfel des Nebelhorns blicken und dann auch allein das kleine lebende Bündel in den Armen halten, das Kind, das von dieser tödlichen Leere um sie noch keine Ahnung hatte.

Als ihr das alles klargeworden war, weinte sie seit Monaten zum erstenmal. Sie wollte es gar nicht… plötzlich fühlte sie, wie die Tränen über ihre Wangen rollten. Sie wunderte sich, daß sie weinte, aber es hörte nicht auf.

So traf sie der Chefarzt an, der sie hinauf in den Kreißsaal holen wollte. Er fragte nicht nach dem Grund ihres Schmerzes; er ahnte, was sie so tiefbewegte. Väterlich gütig faßte er sie unter und brachte sie mit dem Fahrstuhl nach oben, wo eine junge freundliche Schwester sie empfing und eine Hebamme auf sie wartete, die robust aussah, aber etwas ungemein Mutgebendes ausstrahlte.

In der Nacht vom 5. zum 6. April wurde Angela ein Sohn geboren. Blaß, erschöpft und schmal lag sie in den Kissen und hielt das kleine, schwarzhaarige Menschlein in ihren Armen. Ihre Augen leuchteten vor Glück. Ein Junge!

Dann wandte sie sich ab und weinte von neuem. Aber es waren keine bitteren Tränen mehr, es waren Tränen der Erlösung, die aus frohem Herzen kamen, aus der Freude, aus dem Gefühl unaussprechlicher Seligkeit.

Wenige Tage später wurde der Junge in der Krankenhauskapelle auf den Namen Peter getauft. Chefarzt Dr. Börner und Dr. Paul Sacher, der zu diesem Anlaß aus Köln gekommen war, waren die Paten. Er brachte als fürstliches Geschenk Dr. Windows, der als Professor die Lindenburg nicht verlassen konnte, für den kleinen Peter die von der ganzen Klinik gesammelten Mittel zum Besuch der höheren Schule und zum Studium nach eigener Wahl — auf einem langfristigen Sparbuch angelegt — mit.

Nach 12 Tagen konnte Angela entlassen werden. Sie kehrte mit dem Jungen auf die Alp zurück und schrieb an Professor Purr, daß sie in 4–5 Monaten wieder arbeiten wolle und daß sie sehr dankbar wäre, wenn er ihr eine Praxis oder gar einen Posten an seiner Klinik verschaffen könne.

Des Professors Antwort kam postwendend. Selbstverständlich, lautete sie, kommen Sie! Jederzeit stehen Ihnen bei uns alle Türen offen.

Genau sieben Wochen nach der Geburt des kleinen Peter geschah etwas, das den ganzen Lauf der Dinge verändern sollte.

Es kam so plötzlich, so ungeheuer schicksalhaft, daß es keinen anderen Ausweg gab als den, mitten hineinzuspringen und einen Teil der Geschehnisse mitzutragen.

In Köln bei Dr. Paul Sacher ging ein Brief aus Kolumbien ein. Der Arzt machte beinahe einen Luftsprung, als er den Absender las. Mit dem ungeöffneten Umschlag rannte er durch die Gänge der Chirurgischen Abteilung, riß beinahe zwei Assistenten um, stürmte in das Zimmer Professor Windows und schwenkte laut rufend den Brief in der erhobenen Hand.»Ein Brief aus Kolumbien!«

Professor Window schnellte aus seinem Sessel hoch.»Von Peter? Mensch, Paul, was schreibt er denn?«Er streckte beide Hände aus.»Gib doch her!«

«Noch gar nicht aufgemacht«, keuchte Dr. Sacher.»Und er ist auch nicht von Peter, sondern von Dr. Cartogeno. Begreifst du denn nicht, wenn Cartogeno lebt, ist die Expedition doch nicht vernichtet worden. Dann haben wir doch jetzt Gewißheit!«

«Aufmachen!«rief der Professor.»Quatsch doch nicht so viel, mach endlich den Umschlag auf!«

Sie schlitzten ihn mit fliegenden Händen auf, beugten sich beide über das engbeschriebene Papier, und je weiter sie lasen, desto stiller wurden sie. Mit großen Augen sahen sie sich am Ende des Briefes an und blickten dann wie beschämt zu Boden. Dr. Carto-geno schrieb sehr ausführlich von dem Abenteuer mit Sapolana. Der letzte Satz aber war wie ein Schrei in höchster Not:»Helft uns, helft Dr. Perthes… er liegt im Sterben.«

«Vergiftet«, sagte Professor Window leise.

«Und durch eine Spinne!«Dr. Sacher fuhr sich verzweifelt durch die Haare.»Und sie haben kein Gegengift mehr. «Er raffte sich auf und versuchte zu lächeln.»Aber er lebt wenigstens, sie haben ihn nicht erschlagen. Er ist wieder aufgetaucht aus dem Dschungel. Wir haben recht gehabt, Professor, warten — warten! Ich konnte einfach nicht daran glauben, daß Peter nicht wiederkäme.«

«Vielleicht kann er es nun wirklich nicht mehr. «Window bedeckte die Augen mit den Händen.»Einmal aus der grünen Hölle gerettet und nun — vergiftet! Das ist furchtbar.«

Paul Sacher stand schon am Telefon und meldete ein Gespräch mit dem Tropeninstitut in Hamburg an. Da es ein Blitzgespräch war, kam die Verbindung sofort zustande. Sacher berichtete, was Dr. Cartogeno schrieb, machte sich Notizen und legte dann auf.»Aussichtslos!«sagte er dumpf.»Man hat nur ein Mittel, aber das hilft nur bei sofortiger Injektion nach dem giftigen Biß — und wenn es ein Biß der berüchtigten >Schwarzen Witwe< ist, gibt es keine Rettung. «Er drehte sich zum Fenster und trommelte nervös gegen die Scheiben.»Der Brief kam per Luftpost, er war fünf Tage unterwegs. «Paul Sacher stockte und sagte dann kaum hörbar:»Peter muß seit drei Tagen von uns gegangen sein.«

Wortlos verließ Professor Window das Dienstzimmer, und man sah ihn an diesem Tag in der Lindenburg nicht mehr. Bleich und verbissen tat Dr. Sacher seinen Dienst. Er operierte, erledigte die Visiten, verband und untersuchte. Er stellte den Operationsplan für den nächsten Tag mit der Oberschwester zusammen und fuhr dann nach Hause. Dort setzte er sich unter die Tischlampe und holte sich sämtliche Werke über Toxikologie zusammen, die er besaß.

Die ganze Nacht hindurch saß er und las. Und je weiter er in das für ihn fremde Gebiet eindrang, um so größer wurde seine Achtung vor dem Freund, der sein Leben einsetzte für eine Wissenschaft, mit deren Umgang der Tod verbunden war. Als der Morgen ins Zimmer dämmerte, erhob er sich und knipste die Lampe aus. Jetzt muß ich es Angela sagen, dachte er. Jetzt gibt es keine andere Wahl. Jetzt wissen wir, daß er verloren ist. Und das Kind. Sie wird es ertragen müssen.

Er schlug sich an die Stirn, als könne er damit dem Lauf der Dinge eine andere Richtung geben.»Dieses Schicksal«, sagte er laut zu sich selbst.»Warum lebt man denn überhaupt, wenn man so grauenhaft sterben muß?«

Er setzte sich hin und schrieb Angela einen kurzen Brief. Er teilte ihr mit, daß von Peter wieder Nachricht gekommen sei, keine gute allerdings, und daß er nach Schöllang kommen wolle, um den Brief mit ihr zu besprechen. Ihr in diesem Brief schon die Wahrheit zu schreiben wagte er nicht.

Angela Bender aber wußte das Unglück bereits. Dr. Cartogeno hatte in seiner Not auch an sie geschrieben.

Einen Tag später war sie in Erlangen. Sie stand auf dem Bahnhofsplatz, das Kind dick eingewickelt im Arm. Ein Taxi brachte sie zu Professor Purr. Das Leben riß sie wieder in seinen Strudel.

Nachdem in den Urwäldern von Amorua die Tarapas mit ihrem Häuptling Sapolana so plötzlich aus dem Gesichtskreis der Expedition Dr. Perthes verschwunden waren, öffnete sich ihr die Weite der Urwälder. Nach einer Ruhepause von vier Tagen war Dr. Perthes mit seiner Gruppe zurück über den See gefahren. Sie hatten die Ausrüstung überholt, und die beiden Ärzte hatten die Blutproben des Häuptlings behelfsmäßig ausgewertet und dann konserviert. An einem Ufer, das durch Rauchzeichen kenntlich war, warteten 50 Krieger der Tarapas, die durch die Trommel herbeigerufen worden waren. Sie sollten als zusätzliche Träger den Zug mitmachen, während Sapolana einen seiner Unterhäuptlinge schickte, um die Expedition durch den Urwald zu führen.

Peter Perthes saß an diesem Abend über seine Karten gebeugt und studierte unter einer Petroleumlampe den Weg, den er am frühen Morgen beginnen wollte. Die Reise sollte quer durch den Urwald auf kleinen, schmalen Eingeborenenpfaden zum Quellgebiet des Cuno Mataveni gehen, einem Fleck Erde, der völlig unerforscht war. Von dort wollte man versuchen, abermals durch Neuland bis nach Ateimo am Rio Vichada vorzudringen, von wo aus man den Anschluß an Siedlungen von Weißen gewinnen konnte.

Dr. Cartogeno hatte die Mühe aufgegeben, Peters Pläne zu kritisieren. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte und die Expedition doch nach dem einmal gefaßten Entschluß Peters verlaufen würde. Bis jetzt hatte sich seine Übersicht ja auch immer als richtig erwiesen, und seine Freundschaft mit Sapolana war in Cartogenos Augen eine außerordentliche Leistung, die in die Geschichte des kolumbianischen Urwaldes eingehen würde. Wenn er jetzt noch Bedenken hatte, so waren es nur diese, daß das vor ihnen liegende Gebiet zu den unbekanntesten gehörte und man sich wahre Schauergeschichten über Bestien und Insekten erzählte, deren Gift alles bisher Bekannte weit übertraf. Cartogeno sagte das Peter nicht, denn er wußte, daß er ihn niemals davon abhalten konnte, in die Urwälder einzudringen.

«Wir haben unsere Tarapas«, pflegte Dr. Perthes auf derartige Vorhaltungen zu antworten,»sie kennen jeden Winkel der Wälder. Wir haben einen guten Führer und fünfzig Träger. Uns kann nichts geschehen.«

Am Morgen des fünften Tages brach die Expedition auf. Voran ging der Unterhäuptling mit 4 Kriegern, die mit großer, scharfgeschliffenen Macheten den verfilzten Pfad freihieben und vor Baumschlangen, Skorpionen und Wildkatzen warnten. Dann folgten Dr. Perthes, Dr. Cartogeno, der Dolmetscher mit den fünf Trägern, während die anderen Tarapas, mit den Lasten auf dem Rücken, in langer Reihe die Karawane abschlossen.

Sie zogen durch den unbekannten Wald, die ersten Weißen seit Tausenden von Jahren, mehrere hundert Meter lang, eine sich vorwärts arbeitende Riesenschlange unter urweltlichen Bäumen und Pflanzen.

Drei Wochen zogen sie so durch den Wald. Der Boden war weich, faulig, schwammig. Die Hitze staute sich unter dem Blätterdach, durchsetzt mit der Feuchtigkeit der täglichen, wolkenbruchartigen Regengüsse, die ebenso schnell wieder aufhörten, wie sie ausbrachen. Das zur Erde geschleuderte Wasser verdunstete in der brennenden Sonne mit widerlichen Gerüchen. In den Raststunden, die gegen elf Uhr abends eingelegt wurden, sammelten die beiden Ärzte giftige Würmer aus dem fauligen Sumpf oder erlegten mit Giftpfeilen Affen und Tukane, sie fertigten sofort Blutproben an, fingen eine Anakonda, die die Tarapas als Leckerbissen am Feuer verzehrten, und töteten bisher unbekannte Molche, die durch eine Giftdrüse im Gaumen ein ätzendes Gift bis zu einem Meter weit spritzen konnten und alles Lebende in diesem Umkreis töteten.

Die Ausbeute war reich. Dr. Perthes strahlte. Er hatte bereits jetzt genug Material für eine halbjährige Laborarbeit, wobei er dann die Gegengifte finden und kristallisieren mußte. In der vierten Woche näherte man sich einem Seitenarm des Cuno Supari. Das Quellgebiet des Mataveni war erreicht. Eine weiße Fläche auf der Landkarte konnte gestrichen werden. So gut sie es verstanden, fertigten die beiden Ärzte eine Skizze der Gegend an, fuhren auf Rindenbooten, die die Tarapas innerhalb von sechs Stunden aus den frischen Rinden eines Riesenbaumes anfertigten, den Oberlauf des Flusses ab und trugen in ein Meßtischblatt jede Biegung des Laufes ein; auch die Stelle, wo der Mataveni als dünner Wasserstreifen aus einem kleinen Sumpf sickerte, der von einer unterirdischen Quelle gespeist werden mußte.

Es war an einem Donnerstag, wie Dr. Cartogeno später in seinem Taschenkalender feststellte, als Peter und er auf dem Rindenboot den Oberlauf eines Nebenarmes des Cuno Supari befuhren. Der Fluß war nur schmal, die grüne Wand des Urwalds ragte zu beiden Seiten hoch auf — zwei wogende Mauern. 60, ja 70 Meter hohe Bäume waren ein Riegel, den die Natur vor ihre Unerforschtheit gezogen hatte. Nach einer scharfen Biegung des Flusses zeigte sich ein Streifen sandigen Strandes, der in der Sonne hell leuchtete. Schmale Tierpfade führten von ihm in den zurückstehenden Wald. Der nasse Boden war an vielen Stellen zertrampelt. Hier mußte eine Tränke sein, die von vielen Tieren benutzt wurde. Perthes hielt mit dem Boot hart am Ufer und ließ es auf den Sand auffahren.

«Mir scheint, daß uns hier eine Anzahl neuer Tiere begegnen wird«, meinte er zu Dr. Cartogeno, der die Spuren im Sand bereits un-tersuchte.»Dies ist ein Wasserschwein, hier eine Art Jaguar. Aber dort — diese langen, kratzigen Spuren! Es sieht so aus, als hätte das Tier neben Krallen Haar an den Füßen, die lang nachschleifen und die Spur verwischen.«

«Bestimmt ein scheußliches Biest!«Dr. Cartogeno sprang an Land, sie zogen das Boot heran und versteckten es in einem Schilfdickicht. Dann bauten sie ein einfaches Zeltbahnlager in einem Lianengestrüpp, von dem aus sie auch bei Nacht die Tränke beobachten konnten. Sie vermuteten, daß die Tiere entweder bei Einbruch der Dunkelheit oder in der Morgendämmerung an das Wasser kommen würden. Sie lagen über zwei Stunden und lauschten auf die Laute der Vögel, das Geschrei der Baumaffen und den schmetternden Ruf des Trompetervogels. Es war heiß und schwül, der Schweiß auf ihren Körpern klebte.

«Ich will versuchen, von der merkwürdigen Spur im Sand einen Abdruck zu machen. Kommen Sie mit, Doktor?«

«Hinaus in die Sonne? Nee! Ich bin froh, daß ich im Schatten liege. «Cartogeno drehte sich eine Zigarette.

Perthes erhob sich und ging hinunter zum Fluß. Im Flußwasser schöpfte er mit seinem Feldflaschenbecher, rührte dann etwas Gips an, den sie immer für solche Fälle in einem kleinen Sack mit sich führten, und goß vorsichtig die unbekannte Fährte aus. Er war mit der Arbeit gerade fertig geworden und wollte sich von den Knien erheben, als er hinter sich ein Rascheln hörte und gleichzeitig Dr. Cartogenos Schrei. Bruchteile einer Sekunde später krachte der erste Pistolenschuß. Perthes fuhr herum und starrte in die stechenden Augen einer großen, auf acht riesigen, langbehaarten Beinen stehenden Spinne. Ihr breiter, hoch gewölbter Vorderleib war aufgerichtet, der spitz zulaufende Hinterleib in die Erde gestemmt. Pechschwarz war der dicke Chitinpanzer des Rückens und ebenso schwarz die lange Behaarung. Kalt, feindlich, starr sah die Riesenspinne Peter Perthes an, ihre Doppelkiefer klappernd auf und zu schnappend.

Einen Augenblick lang war Perthes vor Schreck und Ekel wie gelähmt. Er sah Cartogeno aus dem Busch brechen, hörte den zwei-ten Schuß und sah die Spinne zusammenzucken. Weit stießen die Kiefer vor, ihr zähes Leben konnte eine Kugel unter dem Panzer gut vertragen.

«Zurück!«brüllte der kolumbianische Arzt wie von Sinnen und arbeitete an seiner Waffe, die eine Ladehemmung zu haben schien.»Retten Sie sich! Laufen Sie! Es ist eine >Black Widow

Die >Schwarze Witwe<, durchzuckte es Peter. Die sagenhafte, riesige Urwaldspinne, deren Biß giftig und unheilbar ist. Diese ekelhafte Bestie, von der Schauergeschichten um die ganze Welt gehen. Wie ein Wirbel durchraste es seinen Kopf: Schwarze Witwe, La-trodectus mactans, ein Mittelding zwischen Spinne und Krebs, Gegenmittel helfen nur sofort, sonst Tod oder lebenslange Lähmung. Er wollte zurückspringen und zu Cartogeno laufen, als die Spinne plötzlich vorschnellte, sich mit dem Hinterkörper abstieß und wie ein schwarzer, haariger Klumpen gegen den Arzt prallte. Laut schrie Dr. Cartogeno auf. Peter Perthes, von Ekel immer noch geschüttelt, spürte einen messerscharfen Schnitt an seinem Schenkel und hieb mit beiden Fäusten auf die glotzenden starren Augen. Die >Schwarze Witwe< ließ sich zu Boden fallen, klapperte noch mit den Kiefern — da war Dr. Cartogeno schon heran und schoß sein ganzes Magazin leer. Schwarzes Blut rann in den Sand, dann sank die Spinne zusammen.

Perthes wankte und hielt sich an Cartogeno fest. Vor seinen Augen flimmerte es, der Wald, der Fluß, das Ufer drehten sich wie in einem Karussell. Der Himmel schien auf ihn zuzukommen — jetzt fiel er hinab, erdrückte ihn… die Sonne wollte ihn verbrennen… das Bein… das Bein versengte sie schon… er schlug um sich, schrie, mit irren Augen glaubte er immer noch, das Firmament stürze ein — dann sank Perthes in den Sand und verlor augenblicklich das Bewußtsein.

Dr. Cartogeno riß ihm die Kleider vom Leib. Aus dem linken Oberschenkel sah er aus einer kleinen Bißwunde Blut quellen. Es gerann in der Luft sofort. Gift! Ohne zu zögern riß Cartogeno sein Messer aus der Tasche und schnitt tief in das strömende Blut. Fast eine halbe Stunde lang ließ er die Wunde bluten, verhinderte alle Gerinnung, indem er weiter schnitt, setzte dann ein Tampon ein und trug den Ohnmächtigen zu dem Rindenboot. Mit aller Kraft schleppte er es allein ins Wasser, legte den Bewußtlosen hinein und stieß dann in den Fluß hinaus. In rasender Fahrt ging es den Fluß abwärts, dem Lagerplatz entgegen. Dr. Cartogeno ruderte wie ein Irrer. Er bemerkte, wie das Gesicht seines Kameraden gelber wurde. Das Gift! schrie es in ihm. Es kommt in die Blutbahn, trotz allen Ausblutens. es geht weiter! Schneller — schneller! Warum ist solch ein Boot kein Pfeil? Cartogeno beugte sich vor, er lag fast über dem Bewußtlosen. Du darfst hier nicht sterben, schrie es in dem Kolumbianer. Nein, denn du bist mir zu einem Freund geworden, zu dem einzigen wirklichen Freund, den ich je hatte. Nie habe ich es dir gesagt, immer haben wir nebeneinanderher gelebt wie zwei Fremde. Aber in der Gefahr, da wurden wir zu Brüdern! Nein, viel mehr waren wir. waren Kameraden! Und jetzt sollst du sterben? So einfach sterben, weil dich so ein Biest gebissen hat? Das ist Feigheit, Peter, wenn du mich allein im Urwald zurückläßt! Das werde ich dir nie verzeihen.

Das Boot schoß den Fluß hinab. Dr. Cartogeno hatte Peters Kopf in seinen Schoß gelegt. Tränen standen ihm in den Augen. Seine Lippen zwischen dem struppigen, ungepflegten Bart zuckten. So kamen sie am Lagerplatz an. Ein Weinender und ein Sterbender.

Die Tarapas umstanden stumm das Kanu, als Peter herausgetragen wurde. Nur einer stand an der Baumtrommel und ließ sie durch den Wald dröhnen, und von fern antwortete eine andere Trommel und gab die Meldung durch den weiten Urwald weiter: Der weiße Zauberer ist krank. Er liegt im Sterben. Die >Schwarze Witwe< hat ihn angefallen.

Der Unterhäuptling, der die Expedition führen sollte, schickte seine Krieger in die Sümpfe. Sie kamen mit Blättern und Wurzeln zurück, aus denen sie einen Brei kochten, den sie Perthes auf den Biß schmierten. Dr. Cartogeno ließ sie gewähren. Er zog eine Spritze mit dem unerprobten Serum auf, das Sapolana gerettet hatte, und injizierte zehn Kubikzentimeter, den Rest des Serums, in Peters Blutbahn. Damit war sein Wissen erschöpft.

Den ganzen Tag und die folgende Nacht saß der Kolumbianer neben dem Deutschen im Zelt. Die Petroleumlampe blakte trübe. Draußen, um das Zelt herum, saßen an den Feuern die Tarapas und sangen leise ihre alten Sterbegesänge. Perthes' Gesicht fiel ein, auf der Haut zeigten sich braune Flecken, der Atem wurde rasselnd, Fieber schüttelte den Körper.

Dr. Cartogeno saß neben ihm und hielt die Hände gefaltet und versuchte zu beten. Zum erstenmal wieder nach sechzehn Jahren. Er wußte keinen Rat mehr, er rief Gott um Hilfe an. Die Macht der Menschen war erschöpft. Konnte die Macht des Himmels noch helfen?

In der Nacht wurde Perthes unruhig. Phantasierend warf er sich hin und her. Sein Schweiß roch schon faulig. Seine Lippen wurden ganz trocken, sprangen auf und bluteten. Die Haut zwischen den Fingern verfärbte sich schwarz. Das Gift! Mit knirschenden Zähnen saß Cartogeno vor dem Sterbenden. Seine Ohnmacht brachte ihn dem Wahnsinn nahe. Er stirbt, und keiner kann ihm helfen, dachte er immer wieder. Den kleinen, lächerlich kleinen Biß einer Spinne können wir nicht heilen! Der Mensch, der große Mensch, der Beherrscher der Welt, er stirbt am Biß eines niederen Gliederfüßers! Das ist lächerlich, gemein. Er drückte den Phantasierenden zurück auf das Kissen und tropfte ihm scharfen Cognac zwischen die blutenden Lippen.

Der Körper bäumte sich auf. Die Augen waren starr, gläsern, wie bei einer Wachspuppe. Röchelnd ging der Atem. Die Backenknochen stachen durch die Haut. Der nackte Leib wurde streifig und gelb. Das Gift!

Die Nacht ging nur langsam vorüber. Cartogeno flößte Peter noch ein Mittel gegen das Fieber ein, obgleich er wußte, daß es sinnlos war. Aber er wollte nicht tatenlos bei dem Sterbenden sitzen. Alles in ihm schrie auf gegen das unerbittliche Schicksal, dem er hier gegenübersaß.

Als die kurze Morgendämmerung hereinbrach und der Wald sich belebte, die ersten Kolibris neugierig um die Hütte flatterten und die Tukane schrien, war Dr. Perthes eingeschlafen. Sein Atem ging etwas ruhiger. An seinem wie Leder gewordenen Hals pochte das Blut in der Schlagader. Die Flecken zwischen den Fingern wurden trüber, die Fieberphantasien hörten auf. In Schweiß gebadet, lag Dr. Perthes auf seinem Blätterlager und schlief. Cartogeno wischte sich die Augen aus. Der ruhige Schlaf des Kameraden kam ihm wie ein Wunder vor. Peter lebte noch! Das Gift im Körper war gebrochen. Das unerprobte Serum, das Sapolana das Leben gerettet hatte, es zerstörte auch das Gift der >Schwarzen Witwe<. Es war wie ein Wunder. Wirklich, es mußte ein göttliches Wunder sein! Aber es war ja Wahrheit — dort lag der schon vom Tod gezeichnete Kamerad und schlief. Schlief ruhig, gelöst und tief.

Dr. Cartogeno erhob sich und ging mit steifen Beinen aus dem Zelt. Draußen starrten ihn die Tarapas an. Der Dolmetscher bekreuzigte sich.»Noch lebt er«, sagte Dr. Cartogeno leise.»Er schläft.«

Und wieder dröhnte die dumpfe Trommel und rief die neue Botschaft durch die grüne Hölle. Der weiße Zauberer lebt noch! Er schläft. Betet zu Nungüi, der Erdenmutter. Tanzt mit dem Fetisch und treibt den bösen Dämon aus! Der weiße Zauberer darf nicht sterben.

Cartogeno ließ Wasser holen. Mit Lysoform stellte er eine desinfizierende Lösung her und wusch damit Peters Körper. Viermal täglich erneuerte er den Tampon in der breit geschnittenen Wunde. Nach drei Tagen war auch das Fieber gesunken, nur Bewußtsein kehrte nicht zurück, das Gift mußte die Gehirnnerven angegriffen haben.

In diesem Stadium, als feststand, daß Peter Perthes nicht sterben würde, entschloß sich Dr. Cartogeno, den Freund nach Zapuare zurückzubringen. Die Tarapas flochten aus Lianen und zähen Gräsern eine weite Tragmatte, brannten aus Baumstämmen Kanus aus und fertigten aus frischen Rinden leichte Boote. An einem frühen Morgen brach die Karawane auf — achtzehn Boote stark — und ruderte den Cuno Supari hinab. Nach zwei Tagen erreichten sie unterhalb San Juans den Rio Guaviare, den breiten Strom, der von den riesigen Weideflächen der Llanos des San Martin kam. Hier trennten sich die Tarapas von Dr. Cartogeno und fuhren zurück in die Unendlichkeit der Wälder. Die Nähe der Weißen war ihnen verhaßt, sie scheuten die kleinste Siedlung und lebten nur im Halbdunkel der domhohen Blätterdächer. Mit zwei Booten und den alten Begleitern landete Dr. Cartogeno endlich in Zapuare.

Man bestaunte die Ankommenden wie Gespenster. Man wollte nicht glauben, daß sie noch lebten. Sie waren amtlich tot — ihre Sachen waren beschlagnahmt und nach Villavicencio geschafft worden. Das Haus, das sie bewohnt hatten, stand leer. Kein Gepäck, kein Laboratorium mehr — vor allem kein Gegengift.

Dr. Cartogeno war der Verzweiflung nahe. Er brüllte den Dorfvorsteher an, schickte einen Meldereiter nach Villavicencio und pflegte Peter mit den wenigen Medikamenten, die in der Hausapotheke der >Bar< vorhanden waren; sie war vor allem auf Schußverletzungen eingerichtet. Peter hatte das Bewußtsein für kurze Zeit auf der schnellen Fahrt den Rio Guaviare hinab wiedererlangt. Er sah Dr. Car-togeno groß und fragend an und bewegte mühsam die noch immer aufgesprungenen Lippen.

«Geht es zu Ende?«fragte er leise.

Der Kolumbianer schüttelte den Kopf.»Unsinn!«sagte er bewußt rauh.»So ein kleiner Spinnenbiß! Ich habe das Fleisch weggeschnitten und Ihnen zehn Kubik Ihres Gegengiftes injiziert.«

«Das war gut, Fernando. «Es war das erstemal, daß Perthes seinen Begleiter mit dem Vornamen anredete. Dr. Cartogeno begriff die Bedeutung dieses Wortes und drückte Peter stumm die Hand.

«Mehr konnte ich nicht tun«, sagte er nach einer Weile.»Wir haben kein Serum mehr.«

«In Zapuare sind noch sechzig Kubik«, sagte Peter mühsam.»Wir müssen nach Zapuare zurück.«

Dann fiel er von neuem in Bewußtlosigkeit. Fünf Tage wartete Dr. Cartogeno mit seinem Patienten auf das Serum. Als es endlich ein-traf, war es begleitet vom Distriktsgouverneur, einem Regierungsvertreter, einem Zug Polizei und drei Wissenschaftlern. Sie wollten Peter Perthes verhören, Protokolle aufnehmen, der Welt eine neue Sensation verschaffen: Dr. Perthes gerettet! Der grünen Hölle entronnen! Ein Weißer zum erstenmal ein Freund der grausamen Ta-rapas!

Dr. Cartogeno ließ keinen der Herren zu Perthes hinein. Er schloß die Türen des Hauses ab, nahm das Serum und dosierte es nach Peters Angaben, der blaß und schwach auf seinem Feldbett lag. In Abständen von fünf Stunden injizierte er das Serum.

Das Leben Peters wurde gerettet. Der Kopf arbeitete wieder, die von der Lähmung angegriffenen Lungenflügel dehnten sich wieder, die Hautflecken verschwanden. Am fünften Tag, drei Wochen nach dem Biß der >Schwarzen Witwe<, rann neue Lebenskraft durch den gemarterten Körper. Der Wille, die ersten Gehversuche zu machen, wuchs immer mehr.

Als an diesem Abend Dr. Cartogeno das Haus betrat und Peter berichten wollte, daß der größte Teil seines Labors auf dem Weg nach Zapuare sei, daß alle Zeitungen voll wären von seinem einmaligen Abenteuer, daß die großen Illustrierten Reporter per Flugzeug geschickt hatten, die draußen warteten, um den >Helden der grünen Hölle<, wie >Life< Dr. Perthes pathetisch tituliert hatte, zu fotografieren und zu interviewen, fand er Peter auf dem Feldbett sitzend vor. Zuerst merkte er nichts und sprudelte einen Teil der Nachrichten hervor, doch dann fiel ihm das Schweigen auf, und er stockte mitten in seinem Bericht.

Peter Perthes saß auf dem Bett. Seine Beine hingen auf die Erde, als gehörten sie nicht zu seinem Körper. In seinen Augen lag eine Dumpfheit, die Dr. Cartogeno erschreckte.»Was hast du, Peter?«fragte er stockend.»Kommt ein Rückfall?«

Perthes spielte mit einer Ampulle und hielt sie dann wie scherzhaft in die Luft. Mit eisigem Erschrecken sah Cartogeno, daß es eine der Ampullen mit Blausäure war, die sie zu Experimenten mitführten.

«Würdest du mir diese Spritze geben?«fragte Peter sehr betont.

In seiner Stimme lag eine wilde Entschlossenheit.

«Du bist verrückt!«meinte Dr. Cartogeno laut.

«Auch nicht, wenn ich dich darum bitte?«beharrte Dr. Perthes.

«Peter!«Der Kolumbianer lief auf seinen Freund zu und schlug ihm die Ampulle aus der Hand.»Bist du irrsinnig geworden?«

«Du hast einen großen Fehler begangen!«brüllte Peter auf einmal los. Er packte den Kolumbianer mit beiden Händen an der Schulter und riß ihn zu sich herüber.»Du!«schrie er, ihn wild schüttelnd.»Warum hast du mich nicht sterben lassen? Warum hast du mich gerettet? Warum hast du mir dieses entsetzliche Leben wiedergegeben?«Er stieß den Freund von sich. Entsetzt taumelte Dr. Cartogeno gegen die Hüttenwand.»Willst du es dir ansehen, wie schön ich laufen kann?«

Er sprang auf und wollte einen Schritt gehen. Als seien in den Beinen keine Knochen mehr, keine Sehnen, keine Muskeln — so knickten sie ein, weich, leblos, nur noch eine Masse Fleisch ohne Halt. Nach vornüber schlug Peter, auf das Gesicht, die Hände weit ausgebreitet. Ehe Dr. Cartogeno hinzuspringen konnte, wälzte sich Peter auf den Rücken und sah den Freund halb irre an.

«Weißt du, was das ist?«röchelte er.»Soll ich es dir sagen? Ich bin gelähmt! Meine Beine sind gelähmt, es sind keine Beine mehr… nur noch am Körper hängende Fleischstücke. Ich bin ein Krüppel… ein Krüppel… ein Krüppel.«

Er wälzte sich wieder aufs Gesicht und schluchzte. Sein Körper wurde geschüttelt von dieser furchtbaren Erkenntnis.

Dr. Cartogeno hob den Freund wie ein Kind auf und trug ihn zum Bett zurück. Willenlos ließ es Peter geschehen, er hatte die Augen geschlossen, aber unter den Lidern hervor rannen die Tränen.

Das war die Stunde, in der Dr. Cartogeno Hilferufe nach Köln und Schöllang sandte. In Peters Brieftasche hatte er die Adressen gefunden. Er fragte nicht viel — er schrieb an Angela Bender und Dr. Sacher, von dem er wußte, daß Peter ihm mehrmals geschrieben hatte.

Hilfe! schrieb er. Dr. Peter Perthes ist gelähmt. An beiden Beinen!

Er hat allen Lebensmut verloren und will nichts, als sich vergiften! Wir haben kein Mittel gegen diese Lähmung, es gibt wohl auch kein Mittel auf der ganzen Welt gegen das Gift der >Schwarzen Witwe<. Und doch müßt Ihr helfen! Sucht, forscht Tag und Nacht und gönnt Euch keine Ruhe. Peter ist gelähmt. Hilfe!

Aus Bogota kamen Spezialärzte nach Zapuare, untersuchten Dr. Perthes und schüttelten die Köpfe. >Life< schickte die beiden besten Tropenärzte aus New York und San Franzisko in Flugzeugen nach Kolumbien — sie nahmen Blutproben, untersuchten die Nerven der Beine und. schüttelten die Köpfe.

Rettungslos verloren! Auf Lebenszeit gelähmt. Zum Krüppel verurteilt.

Nach zwei Monaten hatte sich Peter gefaßt. In langen schlaflosen Nächten hatte er sich zu der Erkenntnis durchgerungen, daß sein Leben in Zapuare enden würde. Was wollte er noch in Europa, in Köln, an Angelas Seite? Sollte sie einen Gelähmten heiraten? Sollte er ein moralisches Recht ausnutzen und ihr ganzes Leben vernichten, mit ihrer Jugend an einen Greis gebunden, den sie im Rollstuhl durch die Zimmer fahren, ins Bett tragen mußte?

Es war undenkbar, das von Angela zu verlangen. Nein, es gab nur diesen einen Weg: alle Brücken abbrechen! Mit starrem Gesicht verbrannte er alles, was ihn an Angela erinnerte. Selbst ihre Geschenke an ihn, Brieftasche, Armbanduhr, einen Schal, ein Oberhemd, ließ er Dr. Cartogeno am Fluß vernichten. Nichts sollte zurückbleiben von ihr, nichts, was er greifen konnte. Nur die Erinnerung blieb — die Gedanken, die er nicht verbrennen konnte, sondern die seine Seele verbrannten. Europa sollte zur Vergangenheit werden — der Urwalddoktor, das wollte er in Zukunft sein. Der lahme weiße Zauberer. Der Krüppel von Zapuare.

Nach eigenen Zeichnungen ließ er sich Spezialkrücken anfertigen. Mit ihnen humpelte er, den Körper beim Gehen auf den Hölzern vorschleudernd, am Ufer des Rio Guaviare entlang. Die Einwohner von Zapuare gingen ihm aus dem Weg. Sie wollten ihn nicht grüßen, damit er in ihren Augen das Mitleid nicht sähe.

Mühsam schleppte er sich an seinen Krücken umher. Dr. Cartogeno versah nach Peters Angaben die Laborarbeiten. Ab und zu saß er in einem weichen Polstersessel selbst vor dem Tisch am Mikroskop und begann eine neue Versuchsreihe. Sein Material war unerschöpflich: es war sein eigenes Blut. Verbissen betrachtete er durch das Okular die unregelmäßigen Kristalle. Das waren seine Feinde! Das war der Tod. Das war… die Lähmung! Winzige, schillernde Kristalle. Sie konnten einen großen, starken Menschen fällen. Ach, was ist ein Mensch.

Dr. Perthes ließ sich in das Boot tragen und fuhr von neuem die Flüsse herab in die unergründlichen Urwälder. Wo sein Kanu anlegte, da standen seine Freunde, die Tarapas, am Ufer und trugen ihn auf Bastmatten oder auf den Schultern durch die Dschungel und Sümpfe. Die Baumtrommeln kündeten sein Kommen an. wo er auf seiner Karte den geplanten Weg bezeichnet hatte, war in den Wald ein Pfad gehauen. Riesenhafte Wilde rodeten die Lagerstätten, suchten in den Sümpfen nach giftigen Spinnen und Schlangen und brachten sie Dr. Cartogeno, der nicht von Peters Seite wich. Unermüdlich forschten sie. Peters Tatkraft hatte etwas Verzweifeltes an sich. Es war, als suche er Vergessen in der Arbeit, als wolle er seine gelähmten Beine nicht sehen, wenn er im Boot durch die Urwaldflüsse schoß. Er kannte kaum noch Schlaf. Eine dunkle Macht trieb ihn zu rastloser Arbeit. Wenn er auf seinen Krücken umherhumpelte, verbreitete er Schweigen um sich. Aber darauf achtete er nicht. Er kannte nur ein Ziel, dem er sein Leben opferte wie einem Moloch: Kampf den glitzernden Kristallen. Kampf dem Gift. Kampf dem Tod.

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