Auch in Köln war man in diesen Wochen nicht untätig geblieben. Bankier Wolf von Barthey rüstete sich, selbst nach Kolumbien zu fahren. Die Wiederkehr Dr. Perthes', auch wenn sie solch einen tragischen Hintergrund hatte, erfüllte ihn mit Freude. Es ging ihm dabei nicht um die Rettung seiner fünfzigtausend Mark, sondern mitfühlend und rein menschlich ergriff ihn die Rettung des jungen Arztes, der ihm so ans Herz gewachsen war.
Eine Lähmung, sagte er sich, ist zu ertragen. Es gab vom Krieg her ganz andere Verstümmelungen, mit denen die Menschen weiterlebten. Von Barthey ahnte aber, daß der sensible Arzt unter diesem Dasein litt, und hielt es daher für notwendig, selbst in Zapuare etwas von seinem Lebensmut an Dr. Perthes zu übertragen. Außerdem — und das war die geschäftliche Seite dieser Reise — interessierte ihn die bisherige wissenschaftliche Ausbeute der Expedition. Man hatte in Köln bereits mit Unterstützung seines Bankhauses eine im Augenblick noch kleine chemisch-pharmazeutische Fabrik gegründet und außerhalb der Stadt — nach Frechen zu — ein Fabrikgelände erworben und aus den Trümmern der Kriegszeit, die das Gelände noch bedeckten, eine vorerst einstöckige Halle mit den notwendigen Abteilungen und Verwaltungsräumen in Bau genommen.
Von Zapuare aus war — neben den Unglücksnachrichten und einigen allgemein gehaltenen Briefen — nichts Wesentliches nach Köln gedrungen. Man schwieg in Kolumbien über Erfolge; aber daß man Erfolge erzielt hatte, bewies doch die Tatsache, daß Dr. Perthes durch ein Serum gerettet wurde, das noch in der Erprobung stand.
Auch die wundersame Begegnung mit dem Häuptling Sapolana, die wochenlang die Spalten der Weltpresse füllte und zu den großen Zeitungssensationen gehörte, bewies, daß der junge deutsche Arzt eine Droge besaß, die es ihm ermögliche, bisher als unheilbar geltende Pfeil- und Tiergifte zu besiegen.
Das Schreiben Dr. Cartogenos, das der Bankier wohl zehnmal auf
merksam durchgelesen hatte, sagte aber noch mehr als die nüchterne Tatsache, daß Dr. Perthes vor dem Schlimmsten gerettet worden sei. Es standen nämlich Sätze darin, die Professor Window, Dr. Sacher und schließlich auch dem Bankier von Barthey zu denken gaben und den Plan des letzteren verstärkten, selbst nach Zapuare zu fahren.
«Dr. Perthes ist trotz seiner Lähmung«, hieß es da,»guten Mutes. Wir alle kennen ihn ja — er schont sich nicht, sitzt Tage und Nächte in seinem Rollstuhl und setzt die Versuchsreihen fort, die wir durch seine Erkrankung unterbrechen mußten. Die Erfolge sind noch nicht abzusehen. Vielleicht hegt er die stille Hoffnung, ein Antitoxin zu entwickeln, das seine Lähmung lindern oder gar aufheben kann, falls die bereits stark angegriffenen Nerven nicht eine neue Tätigkeit verweigern und resistent bleiben. - Vor ein paar Tagen haben wir drei Affen gefangen und sie infiziert. Sie zeigten nach drei Stunden Atemlähmungen und Gliederschmerzen, nach fünf Stunden Krämpfe und Koliken. Ein Affe starb an Herzinfarkt — zwei Affen konnten durch die Injektion von dreimal fünf Kubikzentimeter eines neuen Serums, das wir in der Retorte erzeugt hatten, vor dem Exitus gerettet werden. Allerdings blieb die Lähmung der Gliedmaßen bestehen, am nächsten Tag starb der eine der beiden Affen an Atemlähmung. Dr. Perthes versuchte nun, aus dem Blut dieses Affen die Gifte zu kristallisieren, um mit ihnen ein neues Antitoxin zu schaffen. Der Versuch mißlang aber leider, weil wir mit unseren mangelhaften Instrumenten nicht die einzelnen Toxine bestimmen konnten.«
Hier war der Brief unterbrochen worden. Dr. Cartogeno hatte ihn, wie das Datum besagte, erst zwei Tage später fortgesetzt.
«Gestern kamen«, schrieb Cartogeno weiter,»Abgesandte des Häuptlings Sapolana und brachten Dr. Perthes einen Trank des Medizinmannes der Tarapas. In einem ausgehöhlten Kürbis schwappte eine dunkle, dicke Brühe, die nach Zink roch. Wir bedankten uns bei Umari, einem Unterhäuptling, der selbst gekommen war, und begannen dann, den Saft zu analysieren. Das war aber nicht möglich, da die rein chemische Zusammensetzung keinen Aufschluß ge-ben konnte über die bei der Herstellung verwendeten Pflanzen- oder Wurzelsäfte. Nur soviel konnten wir erkennen: Es muß sich bei der Grundlage dieses Saftes um das Öl einer uns unbekannten Wurzel handeln, das die Wilden durch Auspressen der Wurzeln gewinnen. -Dr. Perthes nun flößte sofort von diesem Brei dem noch überlebenden Affen eine Dosis ein, und wir konnten zu unserer Freude beobachten, daß der Affe nach zehn Stunden die gelähmten Arme um zehn Zentimeter aufwärts bewegen konnte! — Obwohl ich ihn warnte, war Dr. Perthes daraufhin nicht aufzuhalten, selbst von dem Brei zu trinken. Um siebzehn Uhr trank er — bis heute ist aber noch keine Besserung zu erkennen. Wenn Dr. Perthes es auch nicht zeigt, so bemerke ich doch, daß er durch diesen neuerlichen Fehlschlag sehr gelitten hat. Er ist noch verbissener geworden, härter, noch zäher im Kampf gegen das Gift. Er will es nicht zeigen, aber dieser Fehlschlag hat ihm viel Mut geraubt. Wenn wir doch noch irgendeinen Erfolg mit den neuen Präparaten haben könnten.«
Als dieser Brief in der Lindenburg ankam und Dr. Sacher ihn las, verfärbte sich das Gesicht des Chirurgen. Er nahm das Schreiben und ging zu Professor Window, der gerade vor dem Röntgenschirmbetrachter stand und vor der erleuchteten Milchglasscheibe die Aufnahme eines komplizierten Aneurysma aortae betrachtete.
«Du kommst wie gerufen, Paul«, sagte er, ohne den Blick von dem Röntgenbild zu nehmen.»Ein seltener Fall! Sieh mal, ein Aneurysma der Bauchaorta! Sauerbruch hat einmal einen solchen Fall mit elektrischem Strom verödet und darüber geschrieben. Das können wir hier nicht. Es ist die Frage: Was tun?«
Paul Sacher warf einen kurzen Blick auf das erleuchtete Bild und setzte sich dann in einen Sessel, den Brief Dr. Cartogenos auf den Tisch werfend.
«Hast du das gelesen?«fragte er dann.
Der Professor blickte zur Seite.»Den Brief aus Zapuare? Natürlich. Armer Kerl, der Peter.«
«Armer Kerl! Armer Kerl!«Dr. Sacher war aufgesprungen.»Da sitzt er im Urwald und verkommt. Und keiner ist da, der ihm hilft!«
«Herr von Barthey wird zu ihm fahren.«
«Von Barthey?«fragte Sacher erstaunt und hielt ruckartig in seiner Wanderung durch das große Zimmer inne.»Was will ein Bankier bei Peter? Ein guter Arzt muß hin!«
«Wenn sich Peter nicht selbst helfen kann, wird es kaum ein anderer können. Am allerwenigsten wir, Paul, denn ich weiß, was du sagen willst: Ich fahre nach Zapuare! Laß den Unsinn, Paul, es hat überhaupt keinen Sinn! Hier wirst du nötiger gebraucht.«
Professor Window zeigte auf das Röntgenbild vor der erleuchteten Milchglasscheibe.»Hier — dieses Aneurysma, das wartet auf uns, nicht Peter Perthes! Die Patientin ist Mutter von fünf Kindern, und wenn wir sie retten, haben wir eine Familie erhalten. Diese Frau ist uns näher als unser Freund, muß uns näher sein, Paul, denn sie kam zu uns — voller Vertrauen, daß wir sie retten. Sie weiß nicht, wie krank sie ist, sie weiß auch nicht, wie gering die Aussichten sind, ihr Leben zu erhalten. Hier liegt unsere Aufgabe! Zwischen dieser Patientin und Peter Perthes liegen einige tausend Kilometer. sie nehmen dir die Verantwortung für Peter ab, aber nicht für diese Mutter von fünf Kindern.«
Dr. Sacher blickte zu Boden. Er schloß für einen Moment die Augen, dann trat er an den Ständer heran und stand neben dem Professor vor dem Röntgenbild.
Unter der Bauchdecke wölbte sich deutlich der Aneurysmasack.
«Wann?«fragte Dr. Sacher heiser.
«Heute nachmittag, OP 1«, antwortete der Professor und nickte.»Ich wußte, daß du vernünftig bist, Paul.«
Als Dr. Sacher das Zimmer des Chefarztes verlassen hatte, blieb er kurze Zeit vor der Tür auf dem Flur stehen. Er wischte sich die Augen aus und dachte wieder an den Brief, der auf des Professors Schreibtisch lag.
Ich werde zu von Barthey gehen, dachte Paul Sacher. Ich werde ihn bitten, mich mitzunehmen. Ich bin es schon Angela schuldig, daß alles für Peter getan wird. Für sie tue ich es, ich kann sie nicht unglücklich sehen. Und ich weiß doch, daß sie nur glücklich wird,
wenn Peter endlich lebend zurückkommt.
Am Abend nach der schweren Operation fuhr Dr. Sacher in die Villa des Bankiers. Es wurde eine lange Unterredung, in der er um seinen Plan mit der Kraft eines Fanatikers kämpfte. Sosehr Dr. Sacher auch bat und bettelte — Bankier von Barthey lehnte eine Begleitung ab. Er wollte allein fahren.»Nicht, daß ich Sie, lieber Herr Sacher, nicht bei mir haben wollte«, sagte er und hoffte auf Verständnis,»aber bedenken Sie die nervliche Belastung für Ihren Freund, wenn er Sie groß und rüstig vor sich sieht und muß Ihnen auf seinen Krücken entgegenhumpeln! Der ganze Schmerz über das, was er verloren hat, wird in ihm wieder wach werden. Ich bin ein alter Mann, ich kann als Vater zu ihm reden — keine Konkurrenz seiner Generation, verstehen Sie? Glauben Sie mir, es ist besser, wenn ich allein fahre.«
Professor Window, als er davon hörte, sah es sofort ein. Bei Sacher dauerte es länger. Sein stiller Plan blieb es, mit nach Zapuare zu fahren und dann, unter Außerachtlassung seines Kölner Klinikvertrages, einfach bei Peter im Urwald zu bleiben. Ein Toxikologe, ein Internist und ein Chirurg. so wollten sie sich den Gefahren der grünen Hölle entgegenstemmen.
Der Professor ahnte es und unterstützte die Auffassung des Bankiers.»Paul, es wäre eine ausgesprochene Dummheit, Peter in seiner jetzigen Verfassung aufzusuchen. Wenn er in Zapuare bleiben will, haben wir später immer noch die Möglichkeit, ihn aufzusuchen. «Und dann fuhr er noch ein schweres Geschütz seiner Überredungskunst auf:»Hast du von Peter seit seinem Unfall eigentlich eine Nachricht bekommen?«
«Nein«, antwortete Dr. Sacher stockend.»Nur von Dr. Cartoge-no.«
«Und beweist dir das nicht deutlich genug, daß Peter mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hat? Daß er nicht mehr erinnert werden will an Köln, an unsere Klinik, an dich und mich? Er lebt in seinem Leid verbissen in der Gegenwart und für die Zukunft — aber die Vergangenheit ist tot für ihn, ein Zurückblicken würde ihn schwach werden lassen. «Energisch schüttelte er den Kopf.»Ich möchte den armen Jungen auch sehr gern trösten… aber er braucht keinen Trost durch Worte, sein großer Trost ist seine Aufgabe!«
An einem sonnigen Junitag fuhr Wolf von Barthey nach England und drei Tage später, von Southampton aus, mit einem der großen Überseedampfer nach Südamerika. Die Fahrt sollte eineinhalb Monate dauern.
An Dr. Cartogeno hatte er nichts von seiner Ankunft geschrieben. Er wollte plötzlich vor Dr. Perthes' Tür stehen. Die Überraschung sollte wirken. Nur an seinen Geschäftsfreund in Bogota und die Filiale seiner Außenhandelsbank gab er kurze Nachrichten mit dem Ankunftsdatum im Hafen von Buenaventura.
Der Bankier befand sich mitten auf dem Ozean, als in Köln die Nachricht von der schweren Erkrankung Angelas eintraf. Dr. Sacher zögerte keinen Augenblick und fuhr die Nacht durch mit dem nächsten Zug nach Erlangen. Am Morgen schon traf er in der Universitätsklinik ein.
Angela Bender hatte das Bewußtsein wiedererlangt. Aber sie war zu geschwächt, um auf die vorsichtigen Fragen, die Professor Purr stellte, eine Antwort zu geben. Sie schüttelte nur den Kopf auf alle Fragen, was man deuten konnte, sie wolle nichts sagen — was man sie auch fragen würde.
Achselzuckend verließ der Professor das Krankenzimmer. Zu dem Kollegen Professor Heines, der die Behandlung übernommen hatte, meinte er:»Ich stehe vor einem Rätsel. Ich weiß keine Erklärung mehr. Hier können wohl Sie und ich als Ärzte kaum helfen, hier scheint ein Meister am Werk zu sein, der uns über ist.«
Dr. Sacher, der an diesem Morgen vom Bahnhof gleich in die Klinik fuhr, erkundigte sich zuvor bei den Erlanger Kollegen nach Angelas Zustand und ließ sich die Krankengeschichte, soweit sie bekannt war, genau erklären. Auch er stand vor dem Rätsel der drei Tage, an denen Angela verschwunden gewesen war. Es war wie ein
Dunkel, aus dem sie mit einem schweren Nervenfieber zurückkehrte. Angela Bender, Dr. med., die vielleicht nie wieder den weißen Ordinationskittel einer Ärztin anziehen konnte.
«Sie zu fragen hat keinen Zweck, Herr Kollege«, sagte Professor Purr zu Dr. Sacher.»Sie gibt keine Antworten. Sie reagiert auf alle Vorstöße in dieser Richtung mit einer geradezu verbissenen Abweisung. Wären wir Kriminalisten, hätten wir jetzt die undankbare Aufgabe, drei verlorengegangene Tage aufzuklären. Wir aber begnügen uns mit der medizinischen Seite und halten Dr. Bender zunächst unter strenger Bewachung. Es ist zu fürchten, daß sie an einem Komplex leidet, eventuell in der Nacht versuchen wird, die Klinik heimlich zu verlassen. Kollege Dr. Heines, ein Spezialist, ist sich auch noch nicht ganz klar über diesen komplizierten Fall.«
«Sie haben auch gar keine Andeutungen, wo sie gewesen sein könnte?«Dr. Sacher las noch einmal die Krankengeschichte aufmerksam durch.»Dr. Heines meint doch, daß das Nervenfieber durch eine außergewöhnliche Überanstrengung, eine Überreizung oder eine Überarbeitung ausgelöst wurde. Hatte sie in der Klinik einen so großen Aufgabenbereich?«
«Ganz im Gegenteil! Dr. Bender hatte nur die Visiten, den Verbandssaal und ab und zu die Assistenz bei einer Operation. Ich habe sie wegen der schweren Zeit, die hinter ihr liegt, wegen des Kindes, besonders geschont. Nein, hier ist nichts zu finden. Sie muß die freie Zeit, die ihr reichlich zur Verfügung stand, dazu benutzt haben, sich anderweitig zu beschäftigen und sich dadurch gesundheitlich zu ruinieren. Ein Zusammenbruch des zentralen Nervensystems kann innerhalb weniger Tage stattfinden! Das wissen Sie ja, Herr Kollege.«
Nach dieser Aussprache vermied es Dr. Sacher, Angela in ihrem Zimmer zu besuchen.
Eine lange Zeit stand er vor der weißen Tür und hörte sich den Bericht der Stationsschwester an. Apathisch, müde, interesselos sei die Patientin. Ihr einziger Wunsch sei Lektüre. Man habe ihr einige leichtere Romane gegeben, in denen sie aber nur herumblätterte, ohne zu lesen. Die Besuche der Ärzte lasse sie mit unbewegter
Miene über sich ergehen — auf Fragen drehe sie sich auf die Seite und schließe die Augen.
Am Abend begab sich Dr. Paul Sacher in Angelas Wohnung. Der kleine Peter schlief schon, gut betreut von dem Mädchen. Es saß jetzt am Fenster und stopfte Strümpfe. Ein Korb mit Flickwäsche stand daneben auf dem Fußboden. Die junge Frau gab bereitwillig Auskunft, sie wiederholte aber nur das, was sie schon den anderen Ärzten gesagt hatte und was sie wußte: Dr. Bender war in der letzten Zeit jeden Abend außer Haus gewesen und erst gegen Morgen gekommen. Die letzten drei Tage vor der Erkrankung war sie ganz fort — nach Köln, wie sie gesagt hatte. Sie kam dann zurück, ging ins Schlafzimmer, wo sie ohnmächtig vor dem Bett umsank. Sie, die Haushälterin, habe Dr. Bender dann zu Bett gebracht und wollte gerade die Klinik anrufen, als ihr Professor Purrs Telefongespräch zuvorkam. Weiter sagte sie aus, daß Frau Doktor, bevor sie die Nächte über fortblieb, Wochen vorher bis zum Morgengrauen gelesen habe. Lauter medizinisches Zeug, wie sie meinte, von dem sie nichts verstünde.
Paul Sacher bat um die Genehmigung, den Schreibtisch inspizieren zu dürfen. Er fand aber wenig, ein paar Notizen aus dem Klinikbetrieb, ein Buch über Kinderlähmung und Tuberkulose, einige Zeitschriften, ein Notizbuch, dessen Seiten leer waren, und ein im Papierkorb liegender Fetzen Schreibpapier, auf dem als Anschrift — sonst nichts — zu lesen war: An das Tropeninstitut in Hamburg. Der Bogen war anscheinend danach aus der Maschine gerissen worden.
Tropeninstitut! Dr. Sacher steckte den Papierfetzen ein. Man konnte ja dort einmal anfragen, was Dr. Bender gewollt hatte.
«Hat man Dr. Bender in den letzten Tagen mit irgendwelchen Leuten zusammen gesehen?«fragte er die Haushälterin. Sie schüttelte den Kopf.
«Nein, Frau Doktor war nie in Begleitung. Einmal sah ich sie beim Einkaufen mit Fritz Benischek zusammen stehen, aber — «, sie lachte,»das hat ja wohl nichts zu sagen!«
«Fritz Benischek? Wer ist der Herr?«
«Herr!«Die Haushälterin kicherte.»Fritz ist der Labordiener vom Universitätslaboratorium. In Erlangen kennt ihn jeder. Er ist ein wenig komisch hier oben!«Sie tippte sich an die Stirn und lachte von neuem.»Frau Doktor kennt Fritze, so nennt ihn jeder, noch von ihrer Studienzeit her.«
Paul Sacher sah sich noch einmal in Angelas Arbeitszimmer um. Er fand nichts, was einen Anhaltspunkt geben konnte, nichts, was das Rätsel lichtete. Etwas unwillig und unzufrieden mit dieser ersten Niederlage seiner Detektivtätigkeit verabschiedete er sich und fuhr in einem Taxi zur Klinik zurück. In der Nürnberger Straße stieg er aus und trank in einem altdeutsch eingerichteten Lokal zwei Schnäpse. Dann kaufte er noch eine halbe Flasche Cognac und ging durch die Straßen bis zu den Laboratorien der Universität. Dort schellte er an der Tür, wo neben einem Klingelknopf auf einem Schild der Name >F. Benischek< stand.
Es dauerte lange, bis die Tür geöffnet wurde. Das bei Fremden stets mürrische Gesicht des langen Mannes wurde noch länger, als der Besucher bat, ihn privat sprechen zu können.
«Ick brauch keene Versicherung«, sagte er abweisend.»Wenn Sie von 'ner Staubsaugerfirma kommen, det rejelt alles det Verwaltungsamt von der Universität!«Er nahm die Türklinke wieder in die Hand.»Un im übrijen — ick hab jetzt Dienst. Sprechzeit für Benischek erst nach achtzehn Uhr!«
Dr. Sacher nickte. Wirklich ein Original, dachte er. Wenn er tatsächlich etwas weiß, könnte man es ihm vielleicht mit einer halben Flasche Cognac herauslocken. Leute mit einem beengten Horizont reagieren frappant auf geistige Genüsse.
«Ich weiß, lieber Herr Benischek«, meinte er jovial.»Ich komme auch nicht von der Versicherung oder einer Staubsaugerfirma — ich bin Arzt!«
«Ich bin nicht krank.«
«Ich bin ein Freund von Dr. Angela Bender.«
«Wat Se nich sagen! Davon hat se mir aba nischt erzählt.«
Benischek sah den Fremden komisch an.
«Mein Name ist Dr. Paul Sacher; ich komme aus Köln.«
«Nie jehört! Wat soll's denn sin? Fräulein Doktor wohnt in der Virchowstraße. «Sein Gesicht wurde noch abweisender. Was aus Köln kam, konnte nichts Gutes sein. In Köln, das wußte Benischek, lebte einmal der Mann, der Angela verlassen hatte.
Sein primitiver Verstand ließ ihn sofort gegen Dr. Sacher voreingenommen sein. Er schirmte sich gegen alles aus Köln ab und bot dem Arzt einen Widerstand, wie ihn dieser nicht erwartet hatte.
Dr. Sacher nickte.»Ich weiß. Ich komme aus der Wohnung. Ich wollte mich mit Ihnen unterhalten!«
«Nach achtzehn Uhr! Ick bin Anjestellter der Universität und damit des Staates. Ick bekomme mein Jehalt für jute Pflichterfüllung. Bis achtzehn Uhr habe ick meine Pflicht zu tun. Wenn Sie mir sprechen wollen — bitte, nach dem Dienst!«
Damit schlug er Dr. Sacher die Tür vor der Nase zu und entfernte sich brummend.
Paul Sacher zuckte mit den Schultern und sah auf die Uhr. 14 Uhr! Noch vier Stunden. Sie wollten ausgefüllt sein, wenn sein Erlanger Aufenthalt von Erfolg sein sollte. Der Gedanke, in der Zwischenzeit doch einmal mit Angela zu sprechen, ließ ihn nicht los. Vielleicht gab seine Gegenwart ihr die Möglichkeit, Schweres von ihrer Seele zu lösen? Oft braucht der Mensch nur einen Anstoß, um die aufgestaute Tragik seines Schicksals herauszusprudeln und sein Herz zu befreien von dem Druck und der Angst, dieses Leben allein ertragen zu müssen.
Aber dann entschloß er sich doch, Angela vorläufig nicht über ihr Geheimnis zu befragen. Er kannte sie; er wußte, daß sie von selbst zu ihm kommen würde, wenn sie die Unmöglichkeit eingesehen hatte, selbst mit der Last des zerrissenen Gewissens fertig zu werden. In sie zu dringen würde vergeblich sein.
Sein eigener innerer Zwiespalt beunruhigte ihn. Er setzte sich in ein Cafe und vertrieb sich die Zeit mit der Lektüre von Illustrierten und Tageszeitungen. Langsam nur vergingen die Stunden.
15 Uhr — 16 Uhr — 17 Uhr.
Die vierte Portion Kaffee wurde serviert. Sein Herz begann stärker zu schlagen. Der ungewohnte Coffeinstoß strengte ihn an, und als es 17.30 Uhr war, bezahlte Sacher und ging in die Nähe der sich bereits leerenden Laboratorien. Im Schatten einer Haustür stehend, beobachtete er, wie die Chemiker und Physiker — viele Damen darunter — das große Gebäude verließen. Professor Dr. Heines trat heraus — sein Bild war Dr. Sacher aus vielen Zeitschriften vertraut —, dann der Chemiker Professor Dr. Dr. Krahn, Nobelpreisträger und Experte für Teerforschung. Kurz nach 18 Uhr — von der nahen Kirche verklang noch der Glockenschlag — schloß der Laboratoriumsdiener Benischek das Gebäude ab. Paul Sacher sah ihn, wie er in der Tür erschien, noch einmal nach rechts und nach links blickte, ein zusammengeknülltes Papier, das vor dem Eingang lag, aufhob und dann wieder hinter der dicken Eichentür verschwand.
Mit schnellen Schritten eilte nun Dr. Sacher um das Haus herum zu dem Privateingang und schellte wieder. Dieses Mal dauerte es nicht so lange. Die schlurfenden Schritte näherten sich, und Fritz Benischek schloß auf.»Herr Doktor Sacher.«, sagte er. Er hatte ein gutes Namensgedächtnis und war auch stolz darauf.»Woll'n Se immer noch wat?«
«Allerdings! Ihr Dienst als Angestellter des Staates ist vorüber, jetzt sind Sie Privatmann. Und als solcher möchte ich Sie sprechen, Herr Benischek.«
Der alte Mann musterte den Arzt von neuem. Er war sich nicht ganz schlüssig, ob der Besucher da seinen Spaß mit ihm trieb oder ob er es ernst meinte. Zu Dr. Sachers Glück entschloß er sich für das letztere und schob die Tür ein wenig auf.
«Kommen Se!«
Sie gingen durch verwaiste Gänge, vorbei an offenstehenden Türen der einzelnen Labors, in den Teil des Gebäudes, wo sich Benischek häuslich niedergelassen hatte. Das Zimmer, in dem Dr. Bender nächtelang gearbeitet hatte, war wieder ausgeräumt und als Wohnzimmer eingerichtet worden. Ohne zu ahnen, in welchem Raum er sich jetzt befand, ließ sich Paul Sacher auf das Sofa nieder, auf dem Angela — vor Erschöpfung zusammengebrochen — den Triumph ihres Sieges über das Gift der >Schwarzen Witwe< genossen hatte.
Dr. Sacher holte die halbe Flasche Cognac aus der Tasche und stellte sie auf den alten Ausziehtisch.»Bitte!«meinte er freundlich.»Unter Männern spricht es sich leichter, wenn der Leib auch zu seinem Recht kommt.«
Fritz Benischek starrte die Flasche an. Die drei Sterne am Flaschenhals lockten ihn sehr, andererseits machte ihn diese unerwartete Spende vorsichtig. Wie kommt dieser fremde Arzt dazu, ihm eine Pulle zu spendieren? Er will doch etwas! Und es muß etwas Wichtiges sein, was er will. Umsonst bringt man doch Benischek nicht so viel Cognac mit.
Er holte zwei Gläser und stellte die Flasche auf einen Nebentisch. Dann setzte er sich in einen alten Korbsessel und blickte Dr. Sacher an, als wollte er sagen: Nun fang schon an, sag, was du auf dem Herzen hast. Ick warte druff!
Paul Sacher zog eine Zigarettenschachtel aus der Tasche, bot Benischek an und steckte seine Zigarette umständlich in Brand. Dabei meinte er wie nebensächlich:
«Sie kennen Fräulein Dr. Bender gut?«
«Se hat während ihres Studiums oft bei mir jearbeitet. «Wenn er von den Laboratorien sprach, sagte er immer >bei mir<. Es waren eben seine Räume — er war der Herr über Retorten und Kolben.
«Und in der letzten Zeit?«
Benischek horchte auf. Aha! dachte er. Dahinaus geht's also! Was sagte doch Angela immer: Keinem etwas sagen, was auch kommen mag! Und er hatte es ihr in die Hand versprochen. Das war ein Schwur gewesen.»In der letzten Zeit?«fragte er gedehnt und stellte sich dumm, was gut zu ihm paßte.»Ab und zu.«
«Abends?«
Benischek witterte die Gefahr, in die er gedrängt wurde, und begann mit dem Mut der Verzweiflung und eingedenk seines Versprechens tapfer zu lügen:»Nee!«Er lachte breit.»Ick bin woll nich
der Typ fürs Frollein Doktor!«
Paul Sacher lachte pflichtschuldigst mit, auch wenn er die Bemerkung als ziemlich taktlos ansah. Im sozusagen höheren Interesse schwieg er und setzte seine Unterhaltung höflich fort:
«Es liegt mir sehr viel daran, lieber Herr Benischek, zu erfahren, wo Angela die letzte Zeit war. Verstehen Sie — es ist keine Neugier, auch kein Herumspionieren. Es geht hier nur allein um die Gesundheit Dr. Benders. Sie wissen doch wohl, daß sie sehr krank ist?«
Fritz Benischek riß beide Augen auf. Diese Mitteilung warf ihn aus dem Gleichgewicht. Angela Bender krank? Sogar sehr krank? Er sprang auf und ging zum Nebentisch, um die Flasche Cognac zu holen. Während er die Gläser füllte, zitterten seine Hände. Dann prostete er Dr. Sacher zu und trank das Glas in einem Zug leer. Mit der Zunge wischte er sich danach über die Lippen.
«Ja, sie hat ein schweres Nervenfieber — ich dachte, das sei Ihnen bekannt? Sie war nächtelang außer Haus, sie muß sich dabei irgendwo und irgendwie die Nerven zerrüttet haben. Überarbeitung oder sonst etwas. Wir wissen es nicht! Wir dachten nun, Sie hätten sie vielleicht des Abends gesehen oder könnten uns einen Fingerzeig geben.«
Benischek goß sich sein Glas wieder voll. Schweigen — was auch kommen mag —, das hatte er versprochen. Aber jetzt lag sie krank in der Klinik. Eigentlich war es ja verständlich, eine solche Belastung konnte kein Körper ertragen, am wenigsten der einer zarten jungen Frau. Er hatte ja selbst dieses Wunder bestaunt, er hatte schlappgemacht, er war eingeschlafen, hatte sich mit Kaffee mühsam auf den Beinen gehalten. Er verspürte jetzt noch einen Druck im Kopf, wenn er nur daran dachte. Und sie hatte immer am Tisch gesessen, hatte in das Mikroskop gestarrt, gemischt, gekocht, destilliert, probiert, abgekühlt, geimpft, wieder probiert. ohne Aufhören, ohne Pause. Es war doch wirklich ein Wunder.
«Ick kann Ihnen nischt sagen«, meinte Benischek zweideutig und gewann mit dieser Antwort sein inneres Gleichgewicht wieder.
«Sie wissen auch nicht, wo Fräulein Dr. Bender gewesen sein könn-te?«
«Nee, Herr Doktor. Ick bin doch keen Kindermädchen.«
«Also, schönsten Dank!«Dr. Sacher erhob sich. Er war enttäuscht, zum zweitenmal an diesem Tag. Er gab Benischek die Hand und ging zur Klinik zurück, ein wenig bedrückt von der Unmöglichkeit, Angelas Geheimnis zu erhellen.
Fritz Benischek blickte ihm lange nach. Er hätte so viel sagen können.er hätte alles aufklären können! Aber er durfte es nicht. Schnell schloß er die Tür ab und schwor sich, in den nächsten Stunden taub gegen alles Türklingeln zu sein. Wenn dieser Arzt zurückkäme — er würde ihn nicht hören!
Denn Dr. Sacher hatte die Flasche stehen lassen.
Wie ein Magnet zogen die drei Sterne Fritz Benischek an. Der Cognac war ein Genuß, wie er ihn seit Jahren nicht in der Kehle brennen gespürt hatte.
In der Klinik stand Dr. Sacher den Professoren Purr und Heines gegenüber.»Nichts«, sagte er.»Ich fand keine Anhaltspunkte. Es gibt überhaupt kein Schlüsselloch, durch das ein winziger Lichtstrahl in das Dunkel um Angela Bender fallen könnte. Es ist zum Verzweifeln! Wenn sie selbst nicht sprechen will — wir erfahren nie den Grund dieses Zusammenbruchs!«
Dr. Paul Sacher blieb vier Tage in Erlangen. Erst am dritten Tag besuchte er Angela in ihrem Krankenzimmer. Er fand sie blaß, aber für ihren Zustand erstaunlich froh. Sie saß im Bett und las. Den alten Freund begrüßte sie mit echter Herzlichkeit, und nichts hätte auf eine akute Nervenkrise hingedeutet, wenn nicht in den weißen, schmalen Händen ein immerwährendes Zittern gewesen wäre, ein Flackern in den Augen und ein leichtes Zucken der Mundwinkel.
Nun erzählte Paul Sacher fröhlich von Köln, von dem Klinikchef Professor Window, der sie herzlich grüßen ließ, von der Lindenburg; er berichtete auch einige neue Witze, die im Ärztekasino kursierten und die nicht ganz stubenrein waren, er plauderte mit ihr, als säße er mit seiner schönen Kollegin auf irgendeiner Rheinterrasse oder in einem exklusiven Cafe der Kölner Innenstadt.
Mitten im angeregtesten Gespräch wischte Angela Bender plötzlich mit der Hand durch die Luft.»Wie geht es Peter?«fragte sie unvermittelt.
«Peter?«Dr. Sacher fiel es wie Schuppen von den Augen.»Haben Sie sich über meinen Brief so aufgeregt? Ich hätte es Ihnen nicht schreiben dürfen!«Sein Herz begann in der Erkenntnis des Selbstvorwurfes rascher zu schlagen.
«Ihr Brief?«Sie lächelte schwach.»Als der eintraf, wußte ich es schon einige Tage. Dr. Cartogeno hatte mir auch geschrieben.«
«Sie wußten schon von dem Unglück im Urwald von Amorua?«
«Ja, und ich war sehr unglücklich. «Sie sagte es, als spiele sie eine Rolle in einem Bühnenstück. Fast klang es einstudiert.»Aber dann habe ich mich gefaßt und mir gesagt: Gott weiß, was er tut. Gott verteilt nicht wahllos Leid und Freud. Es muß einen Sinn haben, so sagte ich mir, daß Peter Perthes dieses Schicksal zu tragen auferlegt bekam.«
«Vielleicht. «Paul Sacher blickte auf seine Hände, die in seinem Schoß ruhten.»Herr von Barthey ist übrigens unterwegs nach Za-puare. Er will Peter vielleicht zurück nach Köln bringen.«
«Das wäre sehr schön für Peter«, sagte sie mit gesenktem Blick leise.
«Und Sie kämen doch dann auch nach Köln, Angela?«
«Ich? Nein!«Es klang so fest, als gäbe es über diese Frage keine Diskussion.»Mein Weg ist vorgezeichnet. er führt nicht mehr mit Peter auf einer Straße.«
«Und wenn er Sie braucht, Angela?«
«Wenn ich es recht überdenke«, sagte die Kranke und strich mit der weißen Hand die Bettdecke glatt,»so glaube ich nicht, daß er nach Deutschland zurückkehrt. Er wird in seinen Wäldern bleiben. der Urwalddoktor!«
«Sie sprechen hart, Angela. «Paul Sacher schüttelte leicht mahnend den Kopf.»Peter ist am Ende.«
«Das bin ich auch. «Sie sah ihn groß an.
«Durch ihn, Angela?«
Sie zuckte mit den Schultern, legte sich, drehte sich auf die Seite und schloß die Augen.»Ich weiß es nicht«, sagte sie leise. Dann legte sie die Hände vors Gesicht und schwieg.
Auf Zehenspitzen verließ Dr. Sacher vorsichtig das Krankenzimmer.