Kapitel 4

Am übernächsten Tag, an dem Angela Bender morgens in ihrer Praxis, nachmittags in der Lindenburg zu tun hatte, besprach Dr. Perthes mit Wolf von Barthey die näheren Dinge der geplanten Expedition. Sie saßen in dem großen, mit schweren Renaissancemöbeln ausgestatteten Herrenzimmer, dem sich ein herrlicher, gläserner Wintergarten mit einem Blick auf den weiten Park anschloß. Hier saß man wie in einem riesigen Gewächshaus, der Garten schien bis an den Schreibtisch zu wachsen und zu blühen.

Wolf von Barthey blätterte in einem Stapel Papiere.»Ich habe schon heute morgen mit meinen Direktoren gesprochen«, sagte er.»Ich bin erfreut, Herr Dr. Perthes, Ihnen mitteilen zu können, daß meine Bank Ihnen ausreichende Mittel für die Forschung zur Verfügung stellen wird. Nur-«, er blickte hoch, und plötzlich hatten seine Augen einen Ausdruck, der ahnen ließ, wie eisern dieser Bankier in geschäftlichen Verhandlungen sein konnte, wie bedacht auf seinen Vorteil,»hätten wir eine kleine Einschränkung in dem — sagen wir — Vertrag, den meine Bank und ich mit Ihnen abschließen wollen.«

«Und das wäre?«Peter Perthes beugte sich vor. Einschränkung? dachte er. Was mag das sein? Was mochte dieser Bankdirektor ihm auferlegen? Ihm, der ja von Finanzierungsdingen keine Ahnung hatte?

«Zunächst eine Frage, Herr Doktor: Sind Sie frei?«

«Wie meinen Sie das, Herr von Barthey?«Er mußte sofort an Angela Bender denken, und eine unbekannte Angst stieg in ihm auf.

«Ich meine das so: Sind Sie vertraglich an irgendein Institut, an eine pharmazeutische Gesellschaft, an eine Fabrik oder einen Konzern gebunden?«

«Ja und nein. «Dr. Perthes lehnte sich aufatmend zurück.»Ich betreibe meine Forschung an der Lindenburg im Auftrag der toxikologischen Abteilung der Universität Köln. Außerdem stehe ich als Tropenarzt der Klinik in besonderen Fällen beratend und ordinierend zur Seite.«

«Aber Sie haben keine Verpflichtung unterschrieben, die Ihre Forschungen in die Hand einer bestimmten Konzerngruppe überleitet?«

«Nein. Solange ich im Rahmen der Universität arbeite, gehört auch mein Ergebnis ihr. Trete ich aus dem Verband aus, bin ich frei. «Er lachte.»Dann liege ich gewissermaßen auf der Straße.«

«Das wäre wie immer, denn auch das Geld liegt bekanntlich auf der Straße! Man muß es nur aufheben. «Wolf von Barthey ging auf den leichten Ton ein.»Gut, daß ich verstehe, es aufzusammeln, lieber Doktor Perthes.«

Er klappte einen Aktendeckel auf und entnahm ihm mehrere, eng mit Maschine beschriebene Bogen aus feinem, handgeschöpftem Büttenpapier. Doch bevor er die Blätter dem jungen Arzt hinüberreichte, legte er beide Hände auf die Papiere.

«Dies hier, lieber Doktor, ist ein Vertrag«, erklärte der Bankier mit einer leicht nach Feierlichkeit klingenden Stimme.»Ein Vertrag zwischen Ihnen und mir als Vertreter meiner Bank. Darf ich Ihnen, bevor ich Ihnen den Text überreiche, kurz den Inhalt des Vertrages erklären. «Er blickte auf seine Hände. Ein großer goldener Siegelring mit einer schweren Onyxplatte schillerte im Sonnenlicht, das, durch die Zweige gebrochen, in den weiten Raum flutete.»Wir stellen Ihnen alle Mittel zur Verfügung, um eine Expedition nach Kolumbien zur Erforschung unbekannter Gifte auszurüsten. Die Höhe der Kosten spielt keine entscheidende Rolle. Veranschlagt sind fünfzigtausend Mark; werden es mehr, sind wir auch einverstanden. Sie, Herr Dr. Perthes, als Leiter und Auswerter der Expedition, verpflichten sich, als Gegenleistung Ihre sämtlichen sich aus dieser Expedition ergebenden Forschungen und Resultate, wie neue Gifte, Gegengifte, pharmazeutische Neuerungen, neue Medizinen und dergleichen, allein und ausschließlich einer Gruppe von Leuten zu übergeben, die wir Ihnen namentlich in diesem Vertrag nennen. Sie stammen alle aus der chemischen Branche. Mit anderen Worten gesagt: Wir beabsichtigen, Ihre Forschungsergebnisse fabrikationsmäßig und kom-merziell auszuwerten und mit den Mitteln unserer Bank einen Herstellungsbetrieb Ihrer neuen Serien zu gründen. An dem Reingewinn dieses Unternehmens sollen Sie später mit zehn Prozent beteiligt werden, und zwar in der Form einer jährlichen Abrechnung durch einen vereidigten Buchprüfer.«

Wolf von Barthey blickte auf und sah in das leuchtende Gesicht von Dr. Perthes.»Wollen Sie einen solchen Vertrag mit uns unterzeichnen, Herr Dr. Perthes?«

«Ich bin im Augenblick wie betäubt. «Peter Perthes wischte sich über die Augen.»Dieser Vertrag bedeutet ja, daß ich das große Ziel meines Lebens erreicht habe! Herr von Barthey. Verzeihen Sie mir, aber ich kann es immer noch nicht ganz fassen.«

«Überlegen Sie gut, lieber Doktor. «Der Bankier erhob sich und holte aus einer in die getäfelte Wand eingebauten Hausbar eine Flasche Cognac.»Bedenken Sie auch, daß Sie sich mit diesem Vertrag ganz in meine Hand geben!«

«Ich vertraue Ihnen vollauf und blindlings!«

«Dann sind wir uns ja einig. «Er goß in zwei Cognacschwenker ein und schob einen Peter Perthes zu.»Stoßen wir an — auf den Kampf gegen das Gift!«Er hob das Glas.»Ich bin sehr glücklich, Ihnen damit einen Teil von der großen Schuld, in der ich bei Ihnen wegen der Rettung unseres Jungen stehe, abzugelten.«

«Aber Herr von Barthey.«

«Kein Wort mehr darüber!«Er faßte Peter Perthes unterm Arm und ging mit ihm in den großen Wintergarten, wo sie sich in bequemen Liegestühlen aus Peddigrohr niederließen. Ein Syphon mit eiskaltem Wasser, eine Whiskyflasche, Gläser und ein Kistchen bester Importzigarren standen auf einem schmalen Tisch inmitten weitausladender Palmen in runden, grünen Holzkübeln.

«Nehmen Sie es mir übel, wenn ich nun noch privat zu Ihnen spreche?«fragte Herr von Barthey und schnitt sich umständlich die Spitze einer Zigarre ab.

«Aber ganz und gar nicht, Herr von Barthey!«

«Es handelt sich um Ihre charmante Kollegin, Herr Dr. Perthes.«»Um Dr. Angela Bender?«Perthes beugte sich vor.»Da bin ich ehrlich gespannt.«

«Um es kurz zu machen — die Dame liebt Sie.«

Peter Perthes wurde ein wenig rot. Er fühlte, wie ihm das Blut im Halse klopfte, und das ärgerte ihn. Eine Unsicherheit überfiel ihn, von der er nicht wußte, wie er sie wieder loswerden konnte.

«Wie kommen Sie zu dieser Annahme?«fragte er. Es sollte eine matte Abwehr sein, aber Wolf von Barthey lächelte weise.

«Sie macht sich Sorgen um Sie, wegen Kolumbien. Sie will Sie nicht verlieren. Wie jede liebende Frau wird sie zu einer Egoistin, wenn es um ihr Glück geht. Ich habe Ihr Gespräch vorgestern abend gehört, auch wenn ich so tat, als hörte ich es nicht. Die junge Dame will Sie davon abhalten, in die Tropen zu fahren.«

«Ja, das stimmt.«

«Und wie stellen Sie sich dazu?«

«Ich werde selbstverständlich trotzdem gehen!«

«So selbstverständlich ist das nicht. Die Liebe stellt eine der stärksten Bande dar, junger Freund. Es gibt kein Stahlseil, das stärker wäre! Wenn Könige ganze Völker einer Frau wegen aufgaben, so ist es leicht, eine Fahrt über den Teich nicht zu wagen.«

Wolf von Barthey sah den Arzt mit kalt gewordenen Augen scharf an.»Sie lieben doch Fräulein Dr. Bender auch?«

«Ja. «Peter Perthes spielte mit einem fiederigen Palmenblatt.»Ich hätte es zwar bei meiner angeborenen Nüchternheit nicht für möglich gehalten, aber es ist so etwas wie ein Elementarereignis, gegen das es keinen Widerstand gibt.«

Er ließ das Palmenblatt los, stand auf und trat an die Glasbrüstung. Er schaute hinaus in den sonnendurchfluteten Park mit den geschnittenen Taxushecken und dem wunderbaren, tiefgrünen englischen Rasen, auf dem sich Rasensprenger drehten.»Nur — ich lasse mich durch diese Liebe nicht von meinem Weg abbringen, den ich ja nicht nur für mich, sondern für Tausende, vielleicht für Millionen Menschen gehe!«

«Bravo!«Wolf von Barthey klatschte in die Hände.»Und darauf trinken wir noch zusammen einen Whisky!«Dann schob er den mitgenommenen Vertrag vor Peter Perthes hin und machte eine leichte Verbeugung.»Bitte — die Vertragsformulare! Lesen Sie die Bedingungen zu Hause in Ruhe durch. «Er ergriff des jungen Doktors Hand und drückte sie in herzlicher Freude.

«Lassen Sie mich Ihnen als erster gratulieren!«rief er.»Ich wünsche Ihnen einen Weg, der steil emporführt bis zu jener olympischen Höhe, auf der Sie dereinst in Stockholm den Nobelpreis erhalten!«

Sie lachten beide über diese Aussicht, die jetzt, in diesem Raum gesprochen, eine Utopie war. Doch dann wurden sie wieder ernst, denn aus dem Scherz schälte sich die Wahrheit: Drüben, in Kolumbien, auf den noch weißen Flächen der Landkarte, den riesigen Urwald- und Sumpfgebieten, die noch kein Mensch betreten hatte, lebten die Vipern und Giftspinnen, lauerte der vielfältige Tod durch Giftpfeile und winzige Tierbisse. Dort lag die Realität aller Pläne und Hoffnungen, dort würde sich in absehbarer Zeit ein Forscherschicksal vollenden, würde sich das Leben eines Mannes runden, der allein, unbeachtet von der übrigen Welt, durch verseuchtes Land zog, um der Menschheit zu dienen.

«Ich bewundere Sie«, sagte Wolf von Barthey leise, als sich Dr. Perthes verabschiedete.»Sie haben Mut; und das ist etwas, was man heute so selten findet. Mut vor den Konsequenzen, die einmal kommen werden. Ich sehe erst heute, welch ein gleichförmiges Leben ich dagegen führe.«

Er blickte Peter Perthes nach, während dessen Wagen durch den Stadtwald davonrollte. Dann ging er ins Haus zurück und setzte sich still zu seiner Frau ins Musikzimmer.

«Ich glaube, Helene«, sagte er nach einer Weile des Schweigens, das auch Frau von Barthey nicht unterbrach,»ich glaube, wir stehen heute am Anfang einer neuen großen Entdeckung. Wir haben ein Genie entdeckt.«

In der Klinik war es jetzt ein offenes Geheimnis, daß die nette Kinderärztin Dr. Bender und der große, immer so stille Tropenarzt zusammengehörten und demnächst wohl heiraten würden. Man hatte beobachtet, wie sie gemeinsam Wäsche kauften, sich Möbel ansahen, einen Teppich aussuchten und mehr als einmal vor Reisebüros standen, um anscheinend Pläne für eine Hochzeitsreise zu schmieden.

In der Stille aber, wenn Peter Perthes in seinem Labor arbeitete und Angela Bender ihre Kinderpraxis zu versorgen hatte, schwirrten Telefongespräche durch den Äther, wurden hinter verschlossenen Türen Verhandlungen geführt, saßen Professor Window und Chefarzt Dr. Sacher bei Dr. Perthes und stellten gemeinsam eine wissenschaftliche Ausrüstung für die Expedition zusammen.

In Hamburg, im Tropeninstitut, wo man sich noch sehr gut an Dr. Perthes erinnerte, wurden die feinen Apparate bestellt, ein Ausrüstungshaus stellte eine Liste der notwendigen Geräte auf und lieferte alles, vom einfachen Klappzelt bis zum schlangenbißsicheren Schnürschuh. Von den Arzneifabriken wurden Proben aller bisher in den Handel gebrachten oder noch in der Fertigung befindlichen Medikamente gegen alle tropischen Gifte angefordert; und so wuchs von Tag zu Tag, ohne Wissen Dr. Benders, der Plan der Expedition mehr in die Wirklichkeit hinein.

Eines Tages forderte man das Gutachten eines Forschers an, der vor drei Wochen nach Bogota, der Hauptstadt Kolumbiens, zurückgekehrt war. Er hatte in den Gebieten an der brasilianisch-vene-zuelischen Grenze Jagd auf botanische Seltenheiten gemacht. Seine Auskunft, in einer dicken Luftpostsendung enthalten, war niederschmetternd.

In den Gebieten der Orinokoquellen, des Rio Negro, in den unerforschten Urwäldern von Tariano, Tucano, Yapua, Macu, in der Mesa de Yambi und in dem Gebiet von Desana sollten Stämme leben, die, trotz der riesigen Entfernung, miteinander in Verbindung standen und unter Führung der Tarapas, eines völlig wilden, im Urzustand der Menschheit lebenden Indianerstammes und Kopfjägervolkes, ein strenges Regiment aufgezogen hatten. Sie würden jeden Versuch von Weißen, diese Urwälder zu durchdringen, unmöglich machen, und ihren gefährlichen Giftpfeilen hätten selbst die Abenteurer, die als Orchideenjäger oder Schatzsucher alles auf eine Karte zu setzen gewöhnt waren, auf die Dauer nicht widerstehen können.

Der Häuptling der Tarapas, ein gewisser Sapolana, ein riesenhafter Mensch, den bisher noch kein Weißer zu Gesicht bekommen hatte, dessen Macht aber in den Dörfern und Siedlungen rund um dieses Gebiet gefürchtet wurde, hatte einen furchtbaren Haß auf alle Fremden. Dieses Haßgefühl entstamme, so erzählte man sich, der Zeit da es einem spanischen Abenteurer gelungen war, bis zu seiner mitten im unzugänglichsten Urwald gelegenen Siedlung vorzudringen. Dort habe, durch Handel mit bunten Glasperlen, dieser Spanier erhebliche Unruhe unter das Volk Sapolanas gebracht.

Damals seien Kriegstruppen der Tarapas sogar bis nach Caparro am Rio Ipanunari vorgedrungen, bis zu einer Siedlung, deren Bewohner friedlich Ebenholz und Orchideensamen sammelten und an die nächste Stadt weitergaben. Die Toten, die man fand, seien alle durch Giftpfeile getötet worden — sie lagen in einer seltsam verkrampften Haltung auf dem Boden, mit roten Augäpfeln und gelbem Schaum vor dem Mund. Eine Sektion im Regierungskrankenhaus ergab die Vergiftung durch ein vollkommen unbekanntes Gift, das neben Starrkrampf und Lähmung der Brustmuskeln auch eine geradezu unheimliche Strukturveränderung des Blutes herbeiführte.

«Toll!«sagte Professor Window und schob den Bericht weg.»Und in diese ungemütliche Gegend willst du ziehen?«Er sah Dr. Perthes zweifelnd an.»Laß die Finger davon, mein Knabe! Verzichte auf den Mammon und bleib bei uns. Hier kannst du sieden und kochen, spalten und abzapfen, laborieren nach Herzenslust — und kein Tarapas brennt dir einen Pfeil auf den Pelz! Die Menschheit dankt es dir doch nicht, wenn du irgendwo am Rio Chamusiqueni unter ei-ner Orchidee liegst oder als Schrumpfkopf am Gürtel des netten Häuptlings Sapolana eine zweifelhafte Unsterblichkeit erhältst!«

«Aber einer muß es doch wagen!«rief Dr. Perthes, und in seiner Stimme war eine Entschlossenheit, die man mit Worten nicht mehr entkräften konnte.»Einer muß doch den Mut haben, diese Gifte zu entdecken und ihnen entgegenzuwirken!«

«Aber dieser eine mußt nicht gerade du sein!«Auch Dr. Paul Sacher schüttelte den Kopf.»Siehst du denn nicht, Peter, daß diese Fahrt zu den Tarapas dein sicherer Tod ist? Oder glaubst du, dieser kolumbianische Forscher übertreibt in seinem Bericht! Er war dort, er hat die Erfahrung — alles, was dir noch fehlt! Ich würde bestimmt nicht fahren.«

«Du nicht, das glaube ich!«Peter Perthes ging erregt im Zimmer des Klinikchefs auf und ab.»Ihr seid Ärzte, gute Ärzte sogar, bestimmt. Aber ihr wagt nichts! Ihr habt eure Schulmedizin, eure klinische Erfahrung, und wenn ihr dreihundertsiebzigmal den Bauch aufgeschnitten habt, dann klappt es auch beim dreihundertein-undsiebzigstenmal! Ob es auch anders geht, das kümmert euch nicht. Nur wenn dann einer kommt, der es wagt, einmal etwas anderes zu machen, und wenn dieser Mann euch beweist, daß es auch so geht, dann hört ihr zu, nicht verständig, versucht es an dreißig Leichen und führt die neue Technik ein, als hätte es sie schon lange gegeben! Was würdet ihr tun, wenn dieser eine Mann nicht gekommen wäre? Wenn nie ein Mann aufgetaucht wäre, der etwas wagte? Ihr würdet heute noch wie weiland Dr. Eisenbart Rizinus verschreiben und gegen Bandwürmer mit Essig gurgeln!«Er blieb stehen.»Was würdet ihr sagen, wenn es mir gelänge, aus dem Gift der Tarapas ein Serum zu entwickeln, das — sagen wir — den Krebs heilt? Wenn es ein Mittel wäre, das die multiple Sklerose bekämpft oder die spinale Kinderlähmung aussterben läßt?«

«Das wäre einfach wunderbar!«antwortete Professor Window.

«Aha! Das wäre wunderbar! Aber bloß kein Einsatz, um dieses Wunder, wenn nötig, zu erzwingen! Es soll von selbst kommen, über Nacht. Eben ein richtiges Wunder!«Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch.»Aber es gibt keine Wunder mehr, meine Herren! Es gibt nur noch Einsatz und Gewinn!«

«Warte doch, bis wir nähere Auskunft über die Gebiete haben, die du dir ausgesucht hast. Vielleicht kannst du mit einer militärischen Begleitung in den Dschungel fahren. Vielleicht sollte man zuerst mit der kolumbianischen Regierung verhandeln«, riet Dr. Sacher vorsichtig.

«Truppen! Womöglich Panzer, Flammenwerfer, Raupenschlepper und mit Flugzeugunterstützung… gegen Wilde, die mit Bambusblasrohren aus dem Hinterhalt gegen die Eindringlinge in ihr Gebiet kämpfen! Ich will zu den Tarapas als Freund, nicht als Eroberer kommen!«

«Du bist ein Phantast!«sagte Window laut.

«Alle Männer, die hinauszogen, wurden so genannt. Alle, die etwas wagten, Koch, Pasteur, Semmelweis, Pettenkofer. sie suchten Neues und waren deshalb Phantasten! Verrückte! Jetzt setzt man ihnen Denkmäler und nennt sie Retter der Menschheit!«Peter Perthes winkte ab und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Glaswand des großen Bücherschrankes.

Professor Window steckte beide Hände in die Tasche. Es sah aus, als wolle er die Fäuste verbergen, die er ballte.»Und du willst ohne jede Sicherungsmaßnahme gehen?«

«Ja!«

«Dann werde ich beim Auswärtigen Amt in Bonn veranlassen, deine Ausreise zu verbieten!«

«Das wirst du nicht tun!«

«Doch! Ich werde erklären, daß der Plan, mit dem du an eine wirklich große Aufgabe herangehen willst, dir den Blick für gegebene Wirklichkeiten trübt! Willst du etwa allein in die Urwälder gehen?«

Dr. Perthes antwortete nicht gleich. Es sah aus, als wolle er sagen: Was versteht ihr schon davon? Ihr wart noch nie in den Tropen, ihr diskutiert nur hier am runden Tisch. Aber ich habe schon andere Abenteuer erlebt, damals, auf Celebes. Da stand ich allein, ohne Gewehr, nur mit einer kleinen Pistole im Gürtel, im Dschungel-dickicht einem ausgewachsenen Orang-Utan gegenüber. Der riesige Menschenaffe bleckte mit den Zähnen, und seine Arme mit den Muskeln, die wie unter die Haut geschobene Brote aussahen, trommelten wütend auf der breiten Brust. Meine Träger waren davongelaufen! Sie hatten die Lasten weggeworfen und waren in den sumpfigen Wald geflüchtet. Und ich? Ich lebe noch immer, denn der Menschenaffe sah mich kleinen Menschen an, der still dastand und ihm unverwandt in die Augen blickte. Und dann redete ich, gütig, zärtlich, der Ton meiner Stimme war ganz mild. Und da wurde der Affe ruhig, trommelte nicht mehr, drehte sich plötzlich um und trottete, die Zweige unter sich zerstampfend, in den Dschungel zurück.

«Ich werde mir Träger mieten«, antwortete Perthes endlich.»Eingeborene, die die Gegend kennen. Vielleicht kommt auch noch ein kolumbianischer Arzt mit, man kann das alles hier noch nicht wissen. Es wird sich in Bogota alles ergeben.«

«Und was soll aus Angela werden? Sie ahnt doch nichts von alledem?«Das hatte Paul Sacher gefragt.

Peter Perthes schüttelte verbissen den Kopf.»Wir haben seit jenem Abend bei von Bartheys nie wieder dieses Thema berührt. Ich glaube, sie ahnt nicht einmal, wie weit die Vorbereitungen gediehen sind und daß ich in zwei Wochen startklar sein kann.«

«Du willst sie allein zurücklassen?«

«Mitnehmen kann ich sie auf keinen Fall!«

«Wenn du Angela Bender jetzt verläßt, wäre sie vollkommen kompromittiert! Sie wäre doch in der Klinik unmöglich. Hast du dir das gar nicht überlegt?«

Peter Perthes nickte, dann sagte er leise:»Ich werde Angela vor meiner Abreise heiraten.«

«Und die Hochzeitsreise machst du allein — und zwar in den sicheren Tod!«Dr. Sacher lachte schrill.»Mein lieber Peter, dafür ist mir unsere Angela zu schade! Ich habe sie immer verehrt, das weißt du, und ich bin zurückgetreten, weil ich sah, daß sie nur dich liebte. Aber jetzt werde ich mich dazwischenstellen und Angelas Rechte verteidigen!«

Auch Professor Window schüttelte den Kopf. Dann nahm er noch einmal den Bericht aus Kolumbien in die Hand.

«Wir können so viel reden, wie wir wollen, es bleibt doch immer die Tatsache bestehen, daß diese Expedition äußerst gefährlich ist. Sie ist mit Sicherheit gefährlicher als das Experiment Professor Piccards, in einer Kugel in die Tiefsee zu tauchen. Wir müssen dich ernsthaft fragen, Peter: Lohnt das ungewisse Ergebnis diesen ungeheuren Einsatz?«

«Wenn ich einen Erfolg habe — ja!«

«Wenn.«

«So darf man nicht denken. «Dr. Perthes entfaltete einen Papierbogen, den er aus der Tasche zog.»Hier ist mein Konzept. Von Bogota aus werde ich mich zunächst nach Zapuare begeben, von dort nach Pajarito. In dem Gebiet von Guaipu Navo sollen die ersten Fänge stattfinden, die ich in Pajarito auswerte. - Ich will also von einem festen Platz aus sternförmig in den Dschungel vorstoßen und jeweils immer wieder in das Lager zurückkehren. Die einzelnen Fangreisen lege ich auf etwa acht bis zehn Tage fest. Ich werde vor allem in einem Kanu die einzelnen Flüsse hinauffahren und an geeigneten Lagerstellen seitlich in den Urwald eindringen. Gelingt es mir, die Freundschaft der Tarapas zu erringen, habe ich vier Fünftel meines Zieles erreicht! Dann steht mir der gesamte Urwald vom Orinoko bis zum Rio Negro offen!«

«Und wenn du sie nicht bekommst, diese Freundschaft?«fragte Paul Sacher.

«Wenn! Wenn! Ihr mit euren ewigen Wenns!«Dr. Perthes faltete seine Skizze zusammen und schob sie in die Tasche zurück. Dieser Widerspruch regte ihn auf. Mit nichts als der Angst, es könne etwas anders laufen, war er begründet. Wenn man das Leben in eine Skala von >Wenns< aufteilen würde, bliebe nichts mehr übrig, was man wagen oder tun dürfte. Man kann über die Straße gehen — aber >wenn< ein Auto kommt, bei dem die Bremsen versagen, geschieht ein Unglück. Oder >wenn< ein Dachziegel von einem Haus herunterfällt. Es kann ja auch sein, daß ein Erdbeben kommt. Man dürfte auch nicht mehr schlafen, denn >wenn< das Haus brennen würde, merkte man es nicht. Selbst Mahlzeiten einzunehmen wäre gefährlich, denn >wenn< Bakterien in dem Essen wäre, könnte man an einem Kotelett sterben.

«So geht es nicht«, schloß Peter Perthes.»Der Prozentsatz zwischen Erfolg und Mißerfolg der Expedition liegt etwa bei fünfzig zu fünfzig! Eine reelle Chance für mich.«

Professor Dr. Window hob verzweifelt beide Arme und ließ sie dann resignierend wieder fallen.»Sacher, hören Sie auf, vernünftig zu sprechen — wir überzeugen ihn doch nicht. Lassen wir ihn also ziehen. «Und mit Sarkasmus, hinter dem aber bitterer Ernst stand, meinte er:»Suchen Sie schon einmal eine Kranzschleife aus mit der Aufschrift: >Dem lieben Kollegen von seinen Kollegen!««Und zu Peter gewandt:»Bevorzugst du Rosen, oder hättest du lieber bunte Astern?«

«Je nach Jahreszeit!«Perthes ging zur Tür.»Ist nun alles klar? Ich will gleich in Hamburg anrufen, daß man auf der >Argentinia< einen Platz für mich bucht. Das Schiff läuft in sieben Wochen von Bremerhaven aus.«

«Tu, was du nicht lassen kannst«, entgegnete der Professor.»Mir ist nun alles egal.«

An diesem Tag setzte Dr. Perthes den Termin seiner Abreise fest. Er besorgte sich die Pässe und Visen. Wegen der Devisen schaltete sich Direktor von Barthey ein. Durch einen seiner Direktoren schuf er eine Verbindung zur Bank Deutscher Länder, er fuhr selbst nach Bonn und verhandelte mit dem Finanzministerium, um die Freigabe von 50.000 DM in kolumbianischen Devisen auf dem Verrechnungsweg mit Export und Import zu erwirken, er gab schließlich die Anweisung an die Staatsbank in Bogota telegrafisch durch. Peter Perthes konferierte unterdessen mit dem Chefredakteur einer großen Illustrierten wegen der Alleinrechte seiner Berichte, die nicht nur streng wissenschaftlich, sondern ein wenig sensationell und publikumswirksam aufgemacht werden sollten.

Das alles geschah in der Stille; Angela Bender merkte nichts da-von. Sie versorgte weiterhin in der Lindenburg ihre Kinderstation, sie hielt die Sprechstunde in ihrer Praxis ab, ging des Abends mit Peter spazieren oder bereitete für sie beide einen Mokka in einer Mokkamaschine, die Peter ihr vor einigen Tagen geschenkt hatte. Sie lebten glücklich zusammen in der Erwartung, in wenigen Wochen ein Ehepaar zu sein, sie schmiedeten Zukunftspläne und saßen stundenlang über Zeichnungen, die Angela angefertigt hatte und die die Einrichtung ihrer neuen Wohnung zeigten. Sie wollten sich in Köln-Lindenthal — vielleicht durch von Bartheys Vermittlung — eine hübsche Wohnung ausbauen lassen. Ein großer Balkon oder ein Dachgarten schwebte ihnen vor, mit einem großen Mittelzimmer, das Arbeitszimmer, Diele und Speiseraum in einem war.

Manchmal kam sich Peter Perthes elend und schlecht vor, wenn er mit Angela auf der Couch lag und Pläne studierte, hier und da etwas verbesserte und sich lustig mit ihr darüber stritt, wo und welche Bilder man aufhängen wollte. Er wußte ja genau, daß dieser ganze Traum in wenigen Wochen verflogen sein würde, daß Angela Bender zwar seine Frau wurde, daß aber aus dem Plan der gemeinsamen Wohnung zumindest für ein Jahr nichts werden würde. Während sie schon in Gedanken durch die neuen Räume schritt, die sie an ihren Abenden auf den Skizzen einrichteten, fuhr er bereits im Geist auf einem Rindenboot den Rio Inirida hinauf und suchte in den unheimlichen Wäldern von Puin Ave neue Arten von Giftschlangen.

Wenn ihn diese Vorstellungen überfielen, wagte er es nicht, Angela anzusehen. Er gestand sich zum wiederholten Male, daß es pure Feigheit sei, der Wahrheit auszuweichen und Angela nicht zu gestehen, wie weit die Vorbereitungen für die Expedition in der Stille gediehen waren. Er war dann besonders zärtlich zu ihr, kaufte ihr große Blumensträuße oder Schachteln erlesener Pralinen. Er führte sie ins Theater und versuchte, durch eine verkrampfte Lustigkeit in exklusiven Nachtlokalen seine Bedenken zu unterdrücken.

Es war an einem schönen, warmen Sommerabend, als Angela von sich aus, ohne eine Einleitung oder Begründung, das Gespräch auf die Expedition brachte. Sie saßen sich am runden Tisch gegenüber und tranken eine Flasche Moselwein, als Angela plötzlich ihr Glas abstellte und Peter groß ansah.

«Wann fährst du?«

Sie fragte es mit einem Beben in der Stimme. Erschrocken blickte Peter hoch und starrte Angela an.

«Wie… wie meinst du das?«fragte er stockend. Paul Sacher hat es ihr gesagt, durchfuhr es ihn während seiner Frage. Er hat sein Wort nicht gehalten. Das ist gemein, das ist hundsgemein!

«Ich meine es so, wie ich dich fragte«, antwortete Angela.»Nach Südamerika.«

«Wir haben nie mehr davon gesprochen.«

«Eben! Ich wollte es nicht. Aber jetzt… jetzt. «Plötzlich waren ihre Augen von Tränen verschleiert. Sie beugte sich vor, legte den Kopf auf die Arme und sah Peter mit einem Blick an, der ihn an ein gehetztes Tier erinnerte, ein Tier, das man gefangen hat.

«Peter! Ich ahne etwas. du sagst mir nicht die Wahrheit. Ich fühle das! Sag mir… wann fährst du?«

«Aber Angela. «Er war aufgestanden, wollte sie streicheln. Die Locken fielen ihr über das schmale blasse Gesicht. Sie zuckte zurück, als habe er Gift an den Händen.

«Nein, weiche mir jetzt nicht aus. Ich habe plötzlich so große Angst, daß ich dich verliere… dich nie wiedersehe! Ich habe gestern nacht etwas Schreckliches geträumt. Du warst irgendwo in einem großen wilden Wald. Du warst müde… todmüde. Du schlepptest dich förmlich durch den Wald, stolpertest über jede Wurzel und bliebst schließlich unter einem Baum liegen. Dort schliefst du ein. Aber der Baum war giftig, seine Blüten hatten einen herben, aber tödlichen Geruch… so schliefst du ein… wachtest nicht mehr auf. ich sah dich zerfallen, vor meinen Augen wurdest du zu einem Skelett! Da schrie ich laut auf und erwachte. «Sie bedeckte die Augen mit beiden Händen, als sähe sie das grauenhafte Traumbild wieder vor sich.»Sag mir die Wahrheit, Peter«, stammelte sie.»Fährst du wirklich?«

Er sah stumm zu Boden. Auch er war blaß geworden. Sein Atem ging stoßweise.»Ja«, sagte er endlich leise.

«Und wann?«In ihrer Stimme war ein schwacher Aufschrei.

«Genau… heute in sechs Wochen.«

Sie sank zusammen, fiel nach hinten in den Sessel und schloß die Augen.»Warum hast du die ganze Zeit über geschwiegen?«fragte sie. Es war nur noch ein Hauch, der zu Peter drang.

«Ich wollte dich nicht ängstigen!«Er kniete nieder, nahm sie in die Arme und vergrub seinen Kopf in ihren Schoß.»Nein, nein!«rief er dann verzweifelt.»Ich belüge dich ja schon wieder! Ich hatte Angst, gemeine Angst, es dir zu sagen. Ich wollte fahren, ohne vorher mit dir darüber zu sprechen. Eines Morgens wäre ich fort gewesen, auf See, in Richtung Südamerika. So feige war ich… so gemein feige.«

Sie richtete sich auf. In ihrem Gesicht bewegte sich nichts. Es war wie eine Maske. Er geht. weiter konnte sie nichts denken. Er liebt mich, aber er will mich verlassen.

Sie stand auf und sagte mit leiser, zögernder Stimme:»Ich liebe dich. aber du fährst! Ich weine um dich, aber du fährst. Ich möchte dir zu Füßen fallen und dich anflehen. aber was nützt es? Du wirst trotzdem fahren. Wozu also noch Worte?«Sie blickte sich um.»Eine neue Wohnung, mit Dachgarten, mit einem breiten Balkon. Neue Möbel, neue Bilder, Teppiche. eine Reise in den Süden. und das Glück der Zweisamkeit, ein wirkliches Glück. und dann wird ein Kind kommen, es wird dir ähnlich sehen, immer mehr Züge werde ich an ihm entdecken, die von dir stammen. träumten wir einmal davon? Haben wir einmal hier auf der Couch gelegen und auf einem Blatt Papier geübt, wie anders meine Unterschrift aussehen würde: Dr. Angela Perthes. >Du mußt den Abstrichbogen von dem a hinüberziehen zu dem großen P<, sagtest du. Ich tat es, und wir lachten darüber, wie komisch das aussah!«

Angela lachte schrill auf und bog sich nach hinten.»Das waren alles nur Einbildungen, das haben wir alles nicht gesagt, das ist alles vergessen! Nun warten die Wilden mit Curare an den Pfeilen, es warten die Schlangen und Spinnen mit ihren Giftzähnen und Stacheln! Und es wartet der Ruhm des Jahrhunderts, Herr Dr. Peter Perthes, der zweite Robert Koch. Dr. Perthes bekommt den Nobelpreis, Dr. Perthes fährt im Triumphzug durch New York — Dr. Perthes, der Retter der Menschheit. Hörst du nicht schon die Zeitungsjungen die Schlagzeilen ausrufen? Siehst du nicht schon die rot unterstrichenen, zentimeterdicken Überschriften? Dr. Perthes! Überall Dr. Perthes. Dr. Perthes. Dr. Perthes!«Sie schrie es fast:»Ich kann diesen Namen nicht mehr hören! Geh! Bitte Geh!«

Sie wandte sich ab. Peter stand im Zimmer, die Haare hingen ihm ins Gesicht. Mit einer müden Bewegung nahm er sein Jackett auf, zog es über und verließ stumm das Zimmer.

Als die Tür der Wohnung hinter ihm ins Schloß fiel, verspürte Angela den rasenden Wunsch, ihn zurückzurufen. Aber sie klammerte sich an der Sessellehne fest, biß die Lippen aufeinander, bis sie bluteten, und sank dann auf die Erde, wo sie wie eine heruntergestürzte Porzellanpuppe auf dem roten Teppich lag, weiß, starr, zerbrechlich.

Sie erwachte erst tief in der Nacht und stellte mit grenzenlosem Erstaunen fest, daß sie in den letzten Stunden ein anderer Mensch geworden war.

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