Die Urwälder von Azaneni hat noch kein Weißer betreten. Die Gebiete, die rechts und links vom Cuno Nacuri, dem Rio Pa-davida und dem Rio Chamusiqueni liegen, gehören zu den wenigen Landstrichen dieser Erde, die auf allen Karten noch weiß sind. Unbewohnt, unerforscht, nur aus der Luft gesehen. Ein riesiges Land mit undurchdringbaren Wäldern, Lianenhecken, giftigen Blumen, Sümpfen und mit Tieren, die noch in keinem Buch beschrieben wurden.
Nur die Indios, Stämme unter der Oberherrschaft der Tarapas, Urmenschen im Aussehen, in der Entwicklung des Geistes und der Kultur weit zurück, durchstreiften auf geheimnisvollen Pfaden diese Fieberhölle. Sie waren die unumstrittenen Herren von Ländern, deren Bodenreichtum sagenhaft sein soll. Die Höhenzüge Raudal Alto, in denen der Cuno Nacuri entspringt, sehen wie ein moosiger Rücken inmitten eines wogenden grünen Teppichs aus, wenn man sie überfliegt.
An einer Biegung, geschützt durch überhängende Felsen, lagen im Cuno Nacuri drei Boote, eng an das steinige Ufer gepreßt. Dr. Car-togeno, noch braungebrannter als zuvor, mit einem struppigen Spitzbart unter den schmalen Lippen, lag am Bug des kleinen Rindenkanus und hielt das Gewehr im Anschlag. Er visierte das etwa fünfzig Meter entfernte andere Ufer an, wo der Wald bis in das Flußwasser reichte und Hecken, die im Wasser wuchsen, den Beginn des eigentlichen Erdufers verdeckten.
Dr. Perthes lag am Heck des Bootes und gab leise Anweisungen an die Träger, die ebenfalls in den großen Booten auf dem Boden lagen und Schutz hinter Kisten gesucht hatten. Der indianische Dolmetscher war der einzige, der aufrecht stand. Zitternd schwenkte er ein weißes Tuch und rief in einer merkwürdig guttural klingenden Sprache immer wiederkehrende Worte zu dem anderen Flußufer hinüber.
Auf der anderen Flußseite aber war keine Bewegung zu sehen, jedoch Dr. Cartogeno wußte, daß dort in den Dickichten die Krieger der Tarapas saßen und jede Bewegung in den Booten beobachteten. Vor einer Viertelstunde war die Expedition an dieser Stelle angelangt, und hier war es, daß ein roter Pfeil Peter Perthes nur um Millimeter verfehlte und in die Bootswand eindrang.
«Sapolana!«schrie der Dolmetscher und warf sich zu Boden, das Ruder fallen lassend. Auch Perthes und Cartogeno suchten Deckung hinter zwei kleinen Kisten, doch da dem Pfeil kein zweiter folgte, ließen sie das Boot gegen den überhängenden Felsen treiben und dirigierten die beiden Packboote gleichfalls dorthin.
So bildeten sie, im Rücken gegen einen Überfall geschützt, eine kleine Festung, die nur vom Ufer oder von der Wasserseite aus anzugreifen war, von den Verteidigern aber gut übersehen werden konnte. Dr. Perthes kroch über den Boden des Bootes zu Dr. Cartogeno hin und legte sich neben ihn. Auch er trug jetzt einen dichten, blonden Bart und war von der Sonne verbrannt. Sein weißer Tropenanzug war gelb geworden, fleckig und an einigen Stellen zerrissen. Er trug kein Hemd, sondern nur die Jacke über der bloßen Brust.
«Sehen Sie etwas?«fragte der Deutsche den kolumbianischen Arzt.»Mir scheint, der Pfeil sollte nur eine Warnung sein, darum traf er auch nicht.«
«Möglich!«Dr. Cartogeno zerkaute einen Fluch.»Verlassen Sie sich darauf: Die nächsten Giftstachel sitzen besser!«
«Sie denken an einen regelrechten Überfall?«
«Das ganze Ufer sitzt voller Indios. Weil man nichts hört und sieht, ist es doppelt gefährlich. Es würde mich nicht wundern, wenn sie gleich kämen. Bricht erst die Dunkelheit herein, so sind wir sicher. Die Angst der Indios vor ihren Nachtgeistern verhindert, daß sie bei Dunkelheit angreifen. Das ist wenigstens ein schwacher Trost.«
«Dann werden wir in der Nacht ablegen und weiterrudern. «Peter Perthes schaute durch einen Feldstecher und suchte das Ufer ab.»Ich sehe keinen Zweig, der sich bewegt.«
«Verlassen Sie sich darauf, sie sind da!«Dr. Cartogeno hüstelte.»Wir hätten in San Juan bleiben sollen oder umkehren! Unser Dolmetscher hatte recht, die Trommeln sind der Sammelruf für die umliegend hausenden Stämme. Jetzt ist der ganze Urwald in Aufruhr; jetzt stecken wir mitten drin!«Er blickte Peter Perthes an.»Können Sie schwimmen?«
«Ja.«
«Sind Sie schon einmal in einen Strudel gekommen?«
«Nein!«
«Dann seien Sie froh! So ein Strudel ist jetzt um uns herum. Da gibt es kein Zurück mehr. Hören Sie?«
Der dumpfe Ton einer Baumtrommel erklang ganz nah. Sie klang so nah, daß Dr. Cartogeno vermutete, daß sie hinter den Uferbäumen stehen mußte. Sie klang rhythmisch, beängstigend, beklemmend mit ihrem hohlen Ton.
Dr. Perthes hob sein Gewehr auf den Bootsrand.»Wir werden bis zur letzten Patrone schießen«, sagte er hart. In seinen Augen brannte wilde Entschlossenheit.
Jetzt lachte Dr. Cartogeno leise.»Die deutsche Heldennatur«, sagte er sarkastisch.»Gebt Raum, ihr Völker, unserm Schritt, wir sind die letzten Goten. Lieber Herr Kollege, wir verrecken hier ohne Eichenlaub um die Stirn.«
Peter Perthes stieß ihn kräftig in die Rippen.»Daß Sie faule Witze machen können«, sagte er lachend,»das wissen wir!«Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht, der in kleinen Bächen hinunter bis in den Bart lief.»Am scheußlichsten ist das Warten«, fuhr er fort,»wenn sie jetzt kämen, könnte man sich wehren! Aber dieses Warten zermürbt.«
Dann lagen sie wieder stumm nebeneinander im Boot. Der Dolmetscher schwieg auch. Er hatte sich gleichfalls hinter eine Kiste fallen lassen und machte seine Pistole feuerbereit. Auch er schien jetzt zu wissen, daß es keine Verhandlungen geben würde. Ein Kampf um das nackte Leben stand ihnen bevor.
Sie lagen über eine Stunde. Die Sonne brannte auf den Fluß und die Boote. Träge Alligatoren tauchten auf, und pfeilschnelle Piranhas zischten durchs Wasser. Ein Rochen, seinen gefährlichen Stachelschwanz nachziehend, schwamm mit listigen Augen vorüber.
Plötzlich regten sich einige Zweige am Ufer. Dr. Cartogeno schob das Gewehr nach vorn und visierte die Stelle an. Auch Peter Perthes hielt sein Gewehr schußbereit.
«Schießen Sie erst, wenn Sie einen Wilden sehen«, sagte er leise.»Jede Patrone ist wertvoll. Jeder Schuß muß ein Treffer sein. «Er blickte sich um, wo die Munitionskisten lagen.»Wieviel Schuß haben wir eigentlich mit?«
«Zweitausend!«Dr. Cartogeno lachte.»Wenn jeder sitzt, gibt es keine Tarapas mehr.«
Die Bewegung in den Zweigen nahm zu. Dann schoß plötzlich, als sei es von einer Sehne geschnellt worden, ein schmales Ein-Mann-Kanu unter den überhängenden Büschen hervor.
Ein Indio stand aufrecht in dem Boot. Dr. Cartogeno riß das Gewehr an die Wange, aber Dr. Perthes hieb auf den Lauf, der Schuß peitschte ins Wasser.
«Sind Sie verrückt geworden?«schrie Cartogeno und lud mit fliegenden Händen durch. Die Haare hingen ihm ins Gesicht, etwas wie ein Rausch irrte in seinen Augen.
«Der Indio ist doch ohne Waffen!«schrie Perthes ihn an.»Er winkt uns zu! Mann, lassen Sie diesen Unsinn! Wir schießen doch nicht auf Wehrlose!«Er entriß dem Kolumbianer das Gewehr und warf es hinter sich ins Boot.
Der Indianer stand in seinem kleinen Kanu und winkte mit beiden Armen. Sein nackter brauner Körper glänzte in der Sonne, als sei er mit Fett eingerieben.
«Mein Gewehr her!«tobte Dr. Cartogeno.»So ein dreckiger Indio. «Er wollte die Flinte aufheben, aber Perthes hinderte ihn dar-an.
«Nehmen Sie doch Vernunft an!«schrie er.»Wenn Sie schießen, werfe ich Sie in den Fluß.«
Diese Drohung wirkte augenblicklich. Dr. Cartogeno blickte auf die Alligatoren und die Piranhas und trat zurück. Seine Züge waren verzerrt. Sie wirkten doppelt abstoßend durch den wilden Bart, der das Gesicht umrahmte.
Der Wilde in dem Kanu rief einige Worte über den Fluß. Sie klangen wie der Schrei eines Vogels. Der Dolmetscher stand auf und antwortete in dem gleichen Tonfall. Dann wandte er sich an die Ärzte.
«Sapolana kommt in Frieden«, sagte er.»Er will die Männer sprechen.«
«Glauben Sie kein Wort!«brüllte Dr. Cartogeno.»Erst erschießen sie uns einen Träger, dann zielen sie auf Sie, und wo die Kerle jetzt sehen, daß wir unangreifbar sind, wollen sie uns überlisten! Dr. Perthes, Sie kennen die Wilden nicht. Die Kerle stecken voller Hinterlist! Brennen Sie ihm eins auf das braune Fell!«
Peter Perthes sah sich nach dem Dolmetscher um.»Sag dem Indio, er soll seinem Häuptling bestellen: Erst wenn Sapolana selbst mir gegenübersteht, will ich mit ihm sprechen!«
Wieder flogen die gutturalen Laute vom Boot zum Kanu und zurück. Dann bückte sich der Wilde in dem Kanu, nahm ein Paddel aus Rohrgeflecht vom Boden des Kanus und verschwand mit verblüffender Eile unter den überhängenden Büschen.
Dr. Cartogeno schimpfte, daß es über den Fluß hallte.»Ich fahre nie wieder mit Ihnen!«schrie er.»Anstatt den Halbaffen zu zeigen, was eine gute Büchse ist, macht man Konversation wie mit gebildeten Leuten! Dr. Perthes — Sie sind ein Idiot!«
«Mag sein. «Peter setzte sich auf eine Kiste und brannte sich eine Zigarette an. Merkwürdigerweise hatte sich seine Angst vor einem Überfall völlig verloren. Er saß, eine lebendige Zielscheibe, mitten im Boot. Dr. Cartogeno stand mißmutig hinter ihm und hatte sein Gewehr wieder in der Hand. Er traute dem Frieden nicht. Die Köp-fe der Träger lugten über den Bootsrändern hervor, aber die Eingeborenen wagten es immer noch nicht, sich aufzurichten. Wieder verging eine Stunde. Die Sonne brannte unbarmherzig.
«Wir backen hier zu Brezeln, ehe Ihr Sapolana kommt«, brummte Dr. Cartogeno.»An alles haben wir bei der Ausrüstung gedacht, nur nicht an einen Außenbordmotor. Solch ein knatterndes Ding am Heck und heidi — wären wir den Indios auf und davon!«Er brannte sich das fünfte Zigarillo an diesem Tag an.»Ich möchte wissen, was dieser Häuptling will, außer uns den Hals abschneiden? Glauben Sie, er lädt uns zu einer Partie Schach ein?«
«Ihren Sarkasmus können Sie endlich für sich behalten«, meinte Dr. Perthes. Er war dabei, den Giftpfeil, der noch in der Bootswand stak, mit einer Zange aus dem Holz zu lösen und in einen sterilen, länglichen Aluminiumkasten zu legen. Vorher betrachtete er die Knochenspitze durch ein Vergrößerungsglas und schüttelte den Kopf.»Man sieht nichts«, sagte er dann enttäuscht.»Ich habe geglaubt, daß das Gift eine Färbung besitzt, aber es ist farblos und dem bloßen Auge unsichtbar. «Vorsichtig faßte er den Pfeil mit einem Lappen an und beugte sich über den Bootsrand zum Wasser hinab. Ein träger, dicker Fisch, der neugierig um die Boote schwamm, sah ihn mit glotzenden Augen an. Blitzschnell stach Perthes mit dem Pfeil ins Wasser und ritzte dem flüchtenden Fisch die Haut mit der Pfeilspitze. Mit größtem Staunen beobachtete nun Dr. Perthes, wie der Fisch sich aufbäumte und in wenigen Sekunden mit der Bauchseite nach oben leblos aus dem Wasser ragte.
«Tot«, meinte Dr. Cartogeno sachlich.»Das Gift muß wirklich außerordentlich gefährlich sein.«
«Ich nehme an, daß man mit einem halben Pfund dieses Giftes in der Lage ist, zehn Millionen Menschen umzubringen. «Dr. Perthes sah mit leisem Grauen in seinen Augen auf die Knochenspitze des Pfeils.»So primitiv diese Menschen sind — im Töten stehen anscheinend alle Menschen auf einer hohen Stufe.«
Der Klang der Baumtrommel ließ sie wieder zusammenschrecken. Dieses Mal war es nicht eine, dieses Mal waren es viele. Die Indios schienen am Ufer des Flusses hinauf und hinunter zu stehen, denn von allen Seiten klang jetzt der dumpfe, unheilvolle Ton auf. In den Zweigen der Bäume am Flußufer raschelte es. Vögel, vor allem Kolibris, flatterten aufgeregt über den Strom. Dr. Cartogeno fluchte.
Nun schoß unter den hängenden Zweigen abermals ein Kanu hervor. Dieses Mal stand ein anderer Krieger darin. Sein Gesicht war mit hellen Farbtönen ringförmig bemalt, in den Ohrläppchen, die durchstoßen waren, trug er als Schmuck weiße Stäbchen; Troddeln aus Baumwolle und bunte Tukanfedern zierten die große, schlanke Gestalt. Noch schreckhafter wurde sein Anblick durch rote Punkte, die er sich auf die Brust gemalt hatte. Mit starken Armen ruderte der Krieger das Boot über den Strom und legte zum Beweis seiner Friedfertigkeit ein großes, fast drei Meter langes Bambusrohr vor sich in das Kanu. Peter Perthes erkannte mit Staunen, daß dieses Blasrohr ein kunstvolles Mundstück aus dem Röhrenknochen des Weißbart-Pekari besaß und ein Visier aus gehärtetem Harz.
Der Dolmetscher sprach den Krieger an, der wartend vor den drei Booten der Ärzte hielt. Die Kehlkopflaute schwirrten von neuem hin und her. Der Dolmetscher nickte.
«Herr«, sagte er zu Peter,»dort steht Umari, der zweite Häuptling der Tarapas. Er sendet dir einen Gruß von Sapolara, dem großen Zauberer. Er bittet dich, zum Lager der Tarapas mitzukommen. Der große Häuptling Sapolana ist sehr krank.«
«Fauler Zauber!«rief Dr. Cartogeno.»Sagen Sie dem Indio, ihr sauberer Häuptling kann verrecken!«
Umari verstand nicht die Worte, aber er achtete auf den Tonfall und sah Peter Perthes mit großen schwarzen Augen an, in denen eine Frage stand. Seine straff geschnittenen Haare waren durch ein geflochtenes Band und eine Muschelkette verziert. Plötzlich bückte er sich und reichte mit beiden Händen einige flache Holzschüsseln in das Boot der Ärzte hinüber. In den Schüsseln lagen ein gerupftes Huhn, ein unbekannter schillernder Fisch, Mais, Maniok (ein Mehl aus einer Wurzelknolle), Erdnüsse, Süßkartoffeln und weiße, zarte Yamswurzeln. Schließlich gab er eine Holzflasche mit schar-fem, unbekanntem Schnaps hinüber. Dr. Cartogeno riß den Mund auf und kratze sich am Kopf.
«Sie bieten Ihnen Essen an«, sagte er.»Bei allen Kolibris, sie meinen es ernst mit der Freundschaft! Nie hat ein Indianer den Gast getötet, dem er einmal sein Essen anbot! Auch Sapolana nicht.«
Umari stand vor Peter Perthes und sah ihn groß an. Mit freundlichem Nicken griff der Deutsche zu, nahm gleich eine der Yamswurzeln und biß hinein. Sie schmeckte wie eine Kartoffel, nur mehliger und zäher. Dann nahm er auch einen kleinen Schluck von dem scharfen Schnaps.
In Umaris Augen stand jetzt die Freude. Er redete, mit beiden Armen durch die Luft fahrend, über den Dolmetscher auf Dr. Perthes ein, der jetzt sah, daß Umari um den Leib einen schmalen Gürtel aus geflochtenem Menschenhaar trug. An diesem Gürtel hingen drei Schrumpfköpfe, faustgroß, braunrot, mit platten Nasen und wulstigen Lippen, und schaukelten hin und her. Als Umari jetzt lachte, sah man, daß er jeden zweiten Zahn gewaltsam herausgebrochen haben mußte. Die Lücken entstellten sein Gesicht sehr. Peter Perthes besann sich, einmal gelesen zu haben, daß sich die Indianer am Amazonas diese Zahnlücken beibringen, weil sie glauben, damit die Dämonen, die zentralen Figuren ihrer Religion, verscheuchen zu können.
Der Dolmetscher nickte.»Herr«, sagte er übersetzend,»Sapola-na ist vergiftet. Seit drei Monaten stehen die Tarapas im Kampf gegen die Jfvaros am oberen Maranon. Bei einem Kriegszug gegen die Unterstämme Aguaruna, Makas, Atschual und Uambisa traf ihn ein Blasrohrpfeil in den Oberschenkel. Jetzt liegt er in seiner Hütte, und Sapolara, der Medizinmann, weiß keinen Rat. Die Götter schweigen, und auch Nungüi, die Erdmutter, hat sich abgewendet. Es regieren nur die Dämonen. Sapolana ruft Euch, ihm zu helfen!«
Dr. Cartogeno murmelte etwas in seinen Bart. Auch Perthes sah Umari kritisch an.»Wo liegt Sapolana denn?«fragte er vorsichtig.
«In den Wäldern von Amorua. «Dr. Cartogeno suchte auf der Karte und blickte erstaunt auf.
«Das sind vier Tagereisen«, meinte er zweifelnd.»Wenn Sapolana wirklich von einem Giftpfeil getroffen wurde, ist er längst bei seinen Dämonen, ehe wir kommen.«
Umari schien den Sinn dieser Worte verstanden zu haben. Er sprach wieder mit dem Dolmetscher, und dieser wandte sich dann an Peter Perthes.
«Der Große Häuptling ist seit Wochen krank. Er ist mit seinem dicken Fuß drei Wochen lang vom Maranon bis nach Amorua gezogen. Seine Krieger sind seit einer Woche schon unterwegs, um Euch zu suchen. Der Große Häuptling hat erfahren, daß Ihr ein großer Medizinmann seid.«
Dr. Perthes zögerte noch. Auch Dr. Cartogeno war der Ansicht, daß man der Menschheit einen größeren Gefallen erweise, Sapolana an seinem Giftpfeil sterben zu lassen, als ihn zu retten und damit die Möglichkeit zu geben, weiterhin das gesamte Urwaldgebiet zu tyrannisieren.
Peter Perthes faltete die Karte zusammen, auf der er den Weg nach Amorua überprüft hatte.»Dr. Cartogeno«, sagte er schließlich,»wir sind Ärzte. Es ist unsere Pflicht, einem Kranken, der uns ruft, zu helfen — ohne zu fragen, wer er ist! Ein Mensch in Not gilt hier nur, und es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sie zu lindern. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob der Kranke in einem Daunenbett auf der fünften Avenue oder auf einem Palmblätterlager unter einem Lianendach liegt.«
Und zu dem Dolmetscher gewandt, sagte er:»Ich lasse Sapolana grüßen. Sage Umari, daß wir sofort zu ihm fahren.«
Kaum hatte der Dolmetscher diese Antwort übersetzt, als Uma-ri einen lauten, schrillen Schrei ausstieß, der vom Ufer erwidert wurde.
Aus der grünen Blätterwand brachen plötzlich über hundert Ta-rapas und schwenkten, sich wie Affen an Lianen und Wurzelgestrüpp festklammernd, ihre Speere, Blasrohre und die mit Tukanfedern verzierten Pfeilköcher. Von allen Seiten dröhnten erneut die Baumtrommeln, und es schien, als wandere ihr Klang weiter, durch die
Wälder, über die Flüsse. mit Windeseile über Gebiete von der Größe Deutschlands.
«Sie geben die Nachricht weiter«, erklärte Dr. Cartogeno.»In wenigen Stunden weiß Sapolana, daß wir kommen.«
Über den Fluß kamen einige Kriegskanus gerudert. Mit sechs bis zehn Kriegern bemannt, glitten sie schnell über das Wasser und legten bei den drei Ärzte-Booten an. Mit freundlichem Winken sprangen die kräftigen nackten Männer hinüber, verbanden die drei Boote mit den ihren und stießen, ehe Dr. Perthes und Dr. Cartogeno wußten, wie ihnen geschah, von dem Felsen ab. Schnell waren sie mitten im Fluß, Umari in seinem Ein-Mann-Kanu bildete die Spitze, dann folgte ein Kriegsboot, ihm die aneinandergekoppelten Ärz-te-Kanus, gezogen von zwei großen Tarapas-Booten. Den Schluß bildeten einige Boote, in denen die Krieger hockten. Mit ihren Flechtpaddeln erhöhten sie die Geschwindigkeit flußabwärts.
Dr. Cartogeno stand am Bug des Ärztebootes und schaute auf die leichten Wellen des Cuno Nacuri.»Schöne Schweinerei«, schimpfte er.»Eingekreist, zusammengebunden, wehrlos! Die Burschen können jetzt mit uns machen, was sie wollen. Nur gut, daß sie wieder in den Rio Inirida hineinmüssen. Dort werden wir auf Orchideenjäger treffen.«
Aber des Doktors Rechnung ging nicht auf. Kurz vor der Mündung des Cuno Nacuri zweigten die Boote in einen kleinen Nebenfluß ab und fuhren in den dunklen Dschungel von Azaneni hinein. Dort legten sie an einer kleinen Ausbuchtung an, entluden die Boote und versteckten die Kanus an Land unter hohen Lianendickichten und in Erdhöhlen, die schräg in den fauligen Urwaldboden getrieben worden waren. Sämtliche Kisten und Ballen der Expedition wurden an die Tarapas verteilt, und dann zog eine lange Kolonne über den schmalen Tierpfad mitten durch den unbekannten, unerforschten, nie gesehenen Wald.
An der Spitze schritten Dr. Perthes und Dr. Cartogeno mit Uma-ri. Ihnen folgten die Träger, während der Dolmetscher am Ende der Karawane ging und darauf achtete, daß keine Kiste zurückblieb. Zwei
Tage lang wanderten sie durch den dichten Urwald. Rechts und links des Pfades sah man ein undurchdringliches Gestrüpp von Dornenhecken, Lianen, Orchideenstauden und verfilzten Riesenpalmen. Einmal am Tag jagten einige Krieger das Essen zusammen, vor allem Tapire und Wildschweine. Als Nachtisch gab es Palmbohrkäferlarven und große Schüsseln voll Treiberameisen.
Einmal hörten sie weit über dem geschlossenen Blätterdach ein Rauschen und Rattern. Dr. Cartogeno hob den Kopf und erkannte kleine Flecke am Himmel, die durch das Blätterdach leuchteten.»Die Zivilisation!«sagte er bitter.»Ein Flugzeug, Herr Kollege!«
Sie lauschten dem Klang der Maschine, die anscheinend Kreise über dem Urwald zog. Daß es einer der Hubschrauber war, dessen Insasse nach der verschollenen Expedition Dr. Perthes' suchte, kam ihnen nicht in den Sinn. Nach einem kurzen Aufenthalt zog die Karawane weiter, durch ein feuchtes, moderndes Gebiet, das von Herden von Schlangen, den riesenhaften Anakondas, bewohnt war.
Endlich traten sie hinaus auf eine Lichtung, durch die sich ein Fluß wand. Es war der Cuno Ahota. dessen Oberlauf tief in das Gebiet von Amorua ragt. Hier ließ Umari einen ganzen Tag lang halten. Und wieder dröhnten die Baumtrommeln eine ganz Nacht lang durch den stillen Wald. Während Dr. Perthes und Dr. Cartogeno das Gift der Leguminosenpflanzen untersuchten, mit denen die Tarapas ihre Fische fingen, kamen in pfeilschneller Fahrt neue Boote den Fluß hinabgeschossen und lagen am Morgen am Ufer, als seien sie vom Himmel gefallen. Wieder wurde die Karawane in Boote verladen. Dann stieß die schwimmende Kolonne ab und wurde von unbe-malten, aber riesenhaften Indianern den Strom hinaufgerudert bis zu einem kleinen See, in dem sie anhielten und eine weitere Nacht, diesmal in den Booten, verbrachten.
In einer Entfernung von vielen Kilometern sahen die Ärzte Leuchtkugeln in den Himmel steigen und langsam an Fallschirmen auf den Urwald hinabschweben. Sie konnten sich nicht vorstellen, was das zu bedeuten hatte, und wunderten sich über diese Zeichen der Zivilisation inmitten einer unerforschten Wildnis. Es waren die Män-ner in den Motorbooten der Regierungstruppen, die auch bei Nacht die Flüsse absuchten und durch die Leuchtkugeln versuchten, Versprengten der verlorenen Expedition einen Weg zu weisen.
Am Morgen sahen Perthes und Cartogeno mit Staunen, daß der See von Booten nur so wimmelte. Der ganze Stamm der Tarapas schien auf dem Wasser zu sein. Umari kam zum Ärzteboot gerudert und überreichte ihnen einen großen, ausgestopften Vogelbalg — ein Trompetervogel — verziert mit bunten Muscheln und unbekannten Steinen: das Begrüßungsgeschenk Sapolanas.
Langsam setzten die Ruderer das Ärzteboot in Bewegung. Es glitt durch ein Spalier von waffenlosen, aber grellbemalten Kriegern zu einem Ufer, von dem aus ein tiefer Einschnitt in den Urwald führte. Am Eingang dieser Schneise standen vier riesige Krieger, mit Tukanfedern und Ketten aus Menschenhaar fast völlig bedeckt. Sie hoben grüßend die Speere, als das Kanu mit den beiden Ärzten in die Urwaldschlucht hineinglitt. Ein ausgehauener Strand öffnete sich vor ihnen. Auf ihm sah man spitze Baumrindenhütten und ein größeres Haus aus geflochtenen Palmfasern und Blättern. Ein großer Tarapas, bunte Fetische in den Händen und ein raschelndes Röck-chen aus trockenen Blättern um die Hüfte, sprang vor dem Haus in wilden, ekstatischen Bewegungen hin und her und stieß schrille, unmenschliche Laute aus.
Als er das Boot mit den beiden Weißen erblickte, rannte er in das Haus, dumpf klang sein Geheul durch die Wände. Dr. Perthes und Dr. Cartogeno stiegen an Land. Ihre Hände ruhten auf ihren Pistolen. Allein standen sie vor den Hütten, die Ruderer waren in den Booten geblieben. Die Rindenhütten schienen verlassen zu sein, nur das Geheul des Medizinmannes klang schaurig durch die Stille. Mit großen Schritten gingen die beiden Ärzte auf das Palmhaus zu.