Wenn man die Kordilleren bei Bogota hinter sich läßt und hinabsteigt in die Niederungen von Meta, die Savannen und Wälder zu beiden Seiten des mächtigen Rio Guaviare, wenn man den breiten Fluß hinunterfahrt und die Höhenzüge des Mesa de Ma-ripän rechts vor sich liegen sieht, wird man nach Zapuare kommen, einem kleinen Ort aus Blockhütten und Palmenhäusern im Fiebergebiet von Piapoco. Hier leben seltsame Gestalten, finstere Gesellen, Trinker und Glückssucher, die in den unerforschten Urwäldern von Guaipu Navo bis hinunter zum Rio Negro Orchideen sammeln, wertvolle Hölzer schlagen, Tiere mit seltenen Pelzen jagen und in dem Traum leben, einmal inmitten des dumpfen, faulenden Urwaldes die geheimnisvolle Stadt eines versunkenen Stammes zu finden, Schätze, Gold und Edelsteine, wie sie die Tempel der Mayas auf Yuka-tan und die Höhlen der Azteken bargen.
Die Menschen in dieser aus dem Wald geschlagenen Siedlung an einem Fluß, in dem es von Alligatoren und Mörderfischen wimmelt, leben in einem steten Wechsel von Trübsinn und überschäumender Lust. Wenn sie in den >Bars<, den großen Blockhütten, hocken und widerlich scharfen, süßen Schnaps in sich hineinschütten, ist das Ganze ein Irrenhaus von bärtigen, entwurzelten Existenzen, denen das Leben in den Tropen keine andere Wahl mehr ließ, als auf diese menschenunwürdige Weise zugrunde zu gehen.
Ab und zu kommt von Villavicencio, der Kreisstadt, ein Inspektor der Staatspolizei nach Zapuare, um nach dem Rechten zu sehen. Dann gibt es zur Abwechslung eine kleine Schießerei, und die Leute von Zapuare erfahren zu ihrem Erstaunen, daß der gute Jim und der trinkfeste Johnny, die immer so nett zu allen waren, zwei von sechs Staaten der USA gesuchte Schwerverbrecher sind.
Das Klima ist heiß, feucht und schwül. Das Hemd klebt einem auf dem schwitzenden Körper fest, das Atmen ist Schwerarbeit, und jede weitere Anstrengung legt sich wie eine Eisenfaust auf die Brust.
Am Stadtrand von Zapuare, inmitten eines Gartens aus Gummibäumen und wilden Bananen, liegt ein Holzhaus mit einem Bootssteg hinunter zum Rio Guaviare. Unter den Gummibäumen stehen runde, weiße Zelte, einige Klapptische und verschiedene große Kartentafeln, die in Einzeldarstellungen die Gebiete von Piapoco bis Macueni und Guahibo an der bolivianischen Grenze zeigen. An einem Fahnenmast aus weißgestrichenem Holz hängt schlaff die Fahne der Bundesrepublik. An dem Holztor ist ein kleines Schild befestigt: >Expedition Dr. Perthes<.
In dem Innern des Holzhauses, das nur einen großen Raum und an Möbeln zwei Feldbetten mit großen Moskitonetzen, einen Berg Kisten, drei aneinandergeschobene Klapptische mit Mikroskopen, Retorten, Spirituskochern und Reagenzgläsern sowie einen Brutschrank für Nährböden und kleine, unterteilige Käfige mit Meerschweinchen und widerlich großen Ratten aufweist, saß Peter Perthes auf einer der Kisten. Ihm gegenüber, gleichfalls auf einer Kiste, saß ein stämmiger, braungebrannter Mann mit schwarzen Locken. Sie tranken aus falschen Tassen Mate, das Nationalgetränk der Südamerikaner. Ein Boy wirtschaftete in einer Ecke, die durch den Speiseschrank den Anschein einer Küche erhielt.
Der Mann bei Dr. Perthes war Dr. Fernando Cartogeno, ein kolumbianischer Arzt. Sie hatten sich auf merkwürdige Art kennen-gelernt. Pünktlich war Peter Perthes in Buenaventura angekommen und wurde dort von den Herren des Direktor von Barthey in Empfang genommen. Auf einer schrecklich langweiligen Bahnfahrt durch die Kordilleren brachte man ihn nach Bogota und begann in der Hauptstadt, die Expedition aufzubauen. Dr. Perthes besuchte den kolumbianischen Gesundheitsminister, der bei seinem Plan den Kopf schüttelte und meinte:»Um das Gift zu bekämpfen, müßten Sie ganz Südamerika in Flammen aufgehen lassen«, aber ihm wohlwollend jegliche Unterstützung seitens der Regierung, Nachschub mit Hubschraubern, falls Perthes auf einer Exkursion in den Urwald festhing und nicht mehr zurück konnte, versprach.
Dann besichtigte Peter Perthes die staatlichen Krankenhäuser, moderne Bauten nach amerikanischem Vorbild, weit, hell, luftig — aber mit dem großen Nachteil behaftet, von Ärzten geleitet zu werden, die nicht im entferntesten an die medizinischen Kenntnisse ihrer europäischen Kollegen heranreichten. Sie waren sämtlich aufTropenmedizin spezialisiert und standen allen Krankheiten, die über diese Kenntnisse hinausgingen, ziemlich hilflos gegenüber. Im Garten einer der Kliniken traf Peter Perthes dann auf diesen Dr. Car-togeno. Er hielt den Deutschen an, stellte sich vor und sagte:
«Ich höre, daß Sie in die Wälder an der kolumbianischen Grenze wollen, um toxikologische Forschungen zu betreiben. Ich halte das für verrückt.«
«Ihre Meinung ehrt mich«, antwortete Dr. Perthes schlagfertig.»Aber es muß auf der Welt auch Verrückte geben, sonst wäre sie zu langweilig.«
So kam man ins Gespräch, in dessen Verlauf sich Dr. Cartogeno als noch verrückter erwies, denn er bat Peter Perthes, ihn begleiten zu dürfen.
«Ich möchte weiterkommen«, hatte Dr. Cartogeno gesagt.»Was ich hier vollbringe, ist eine rein mechanische Arbeit. Ich verbinde, ich schneide, ich setze Spritzen. Und alles auf Anordnung, denn wir Assistenten sind in der Klinik Nullen, und der Chef ist ein Halbgott. Hier kann man nichts lernen, weil jeder Angst hat, der eine könnte mehr wissen als der andere und ihm den Posten des Oberarztes wegschnappen, der jedes vierte Jahr neu besetzt wird. «Er holte ein langes Zigarillo aus seiner Tasche und steckte das schwarze Kraut in Brand.»Ich weiß, daß Ihre Expedition in die völlig unbekannten Gebiete ein Irrsinn ist. Ihr erster Schritt auf den weißen Flecken der Landkarte wird Ihr Todesurteil sein. Aber es reizt mich, einmal eine Tat zu tun, die nicht jeder unternehmen würde. «Er blickte Peter aus seinen fast schwarzen Augen an.»Wissen Sie, daß an den Quellseen des Rio Ameira der gefürchtetste Mann des ganzen Urwaldes sitzt?«
«Sapolana?«
«Der König der Tarapas. Richtig! Man will sein Lager vor zwei Monaten zwischen dem Ameira und dem Rio Tomo gesehen haben. Heute ist es vielleicht ganz in unserer Nähe, am Cuno Mataveni.«
«Von mir aus kann der gute Häuptling im Nebenzimmer schlafen. Er stört mich nicht.«
«Aber Sie ihn! Das ist ein großer Unterschied. Wir haben von Bogota aus vier Expeditionen nach Amorua geschickt. Sie kamen nicht wieder aus den Wäldern heraus. Ein amerikanischer Suchtrupp in die völlig unbekannten Wälder des Rio Muco verscholl. Es gelang uns nicht, die weißen Flecken auf den Landkarten zu beseitigen. Nur Luftbilder geben uns einen gewissen Anhalt — über den Urwaldboden ist noch kein Schritt eines Weißen gegangen.«
«Dann werden wir die ersten sein. «Dr. Perthes blickte auf seine Armbanduhr.»Ich muß zurück. In vier Tagen breche ich auf. Wenn Sie sich anschließen wollen — was Sie zur Ausrüstung benötigen, wissen Sie ja —, dann seien Sie in vier Tagen in Caqueza. Ich bekomme dort meine Träger bis Zapuare.«
Damit ließ er Dr. Cartogeno stehen und verließ den Klinikgarten.
Am Morgen, als die Expedition von Caqueza aufbrach, stand Dr. Cartogeno am Ortsausgang neben seinem alten Ford. Die beiden
Ärzte drückten sich wortlos die Hand, als würden sie sich schon seit Jahren kennen, dann reihte sich Dr. Cartogeno in seinem Wagen in die Kolonne ein. Sie klapperten über die ausgefahrene, staubige Höhenstraße, die sich von Bogota ziemlich steil durch die Kordilleren windet, um dann zu der Kreisstadt Villavicencio hin abzufallen und sich in den Weiten der Llanos de San Martin zu verlieren.
Man hielt in Villavicencio zwei Tage, um einen Dolmetscher zu suchen, der die Dialekte der Eingeborenenstämme beherrschte. Es meldete sich ein begabter Indianer, der auf einer Missionsstation in Barabaca erzogen worden war, fast alle Idiome der Urwaldvölker im weiten Umkreis kannte und verstand.
Von der Kreisstadt aus wurde der Weg beschwerlicher. Bald wurden die Lastwagen entladen, und auf leichteren Karren fuhr die Expedition nach Pto. Espana. Dort kauften sie ein ganzes Geschwader von Baum- und Rindenbooten und fuhren den Rio Ariari hinab — hinein in den mächtigen Rio Guaviare. Nach fünftägiger Bootsfahrt legten die 49 Kähne in Zapuare an. Sie hatten insgesamt 105 Flußwindungen und — schleifen durchfahren.
Am Ufer standen die Einwohner, johlten und schwenkten bunte Tücher. Jedoch sie wurden enttäuscht. Nicht neue Abenteurer und Saufkumpane stiegen an Land, sondern zwei Männer in weißen Tropenanzügen und eine Kompanie von Trägern, Halbindianern, Mischlingen, Kreolen, Mulatten — ein Wirrwarr von Rassen.
Es begann umgehend ein großes Ausladen, die Boote wurden am Ufer vertäut, ein abseits liegendes Haus in ein Behelfslabor verwandelt. Als erstes ließ Dr. Cartogeno, der seine Umgebung kannte, in den >Bars< verkünden:»Wer sich dem Haus nähert, die Boote anfaßt und sonst etwas stiehlt, wird ohne Warnung erschossen!«
Die Eingeborenen krochen zusammen, mieden das Haus am Waldrand und sahen den beiden Ärzten scheel nach, wenn sie in ihren weißen Anzügen, sauber und gepflegt inmitten des Schmutzes ringsum, auf leichten Kanus den Rio Uva oder den Rio Maneciare hinaufruderten, um das Gelände an den Ufern zu erkunden.
Das ganze Gebiet schwirrte von den sagenhaften Taten des Ta-rapashäuptling Sapolana. Man erzählt sich, daß er sich in das Fell eines Leoparden kleide und seinen Feinden mit Krallen das Fleisch vom lebenden Körper reiße. Am Oberlauf des Rio Padavi-da habe man einen Priester gefunden, dem die Kutte und das Käppi mit giftigen Dornen ins Fleisch und in die Kopfhaut gespießt worden waren. Indianer, die einem der freundlicheren Stämme angehörten, berichteten, daß Sapolana durch den ganzen Urwald eine Botschaft geschickt habe: Kampf den weißen Eindringlingen! In Zapuare waren alle sehr froh, daß die Haupthandelszeit vorüber war und sie sich ein paar Monate lang erholen konnten, ehe die Jagd nach Orchideensamen und wertvollen Hölzern die Menschen ohne Moral wieder in die Wirrnisse der Lianen und Sümpfe trieb.
Peter Perthes und Dr. Cartogeno saßen auf zwei Kisten beieinander und tranken Mate. Der kolumbianische Arzt wischte sich den Schweiß von der Stirn.»Eine blöde Hitze!«stöhnte er.»Sie haben sich mit dem November den dümmsten Monat ausgesucht, Kollege Perthes. Bei Ihnen in Deutschland fällt jetzt schon Schnee. Ich habe es in den Illustrierten gesehen. In den Alpen, meldete man eineinhalb Meter Schnee! Und während Ihre Landsleute in dicken Pelzen herumlaufen, beginnt bei uns die Treibhaushitze. Prost!«
Er stand von seiner Kiste auf und ging zu dem Mikroskop, das am Fenster stand. Ein feinmaschiges Netz schützte in der Fensteröffnung vor Moskitos und Fliegen.»Das ist also Ihre Kanone — und mit der wollen Sie die Menschheit retten?«
Peter Perthes lachte und trat an die Seite des Gefährten. Er drehte ein wenig an dem Okular des Mikroskops und nickte dann Fernando Cartogeno zu.»Blicken Sie einmal hinein! Ich habe gestern am Rio Maneciare einen toten Tapir seziert.«
«Erinnern Sie mich nicht daran!«Dr. Cartogeno verzog den Mund vor Ekel.»Das Vieh stank drei Kilometer gegen den Wind! War mindestens schon sechs Tage tot. Ich bewundere Ihre Nerven, an diesem Aas herumzuschnippeln!«
«Es lohnt sich, verehrter Herr Kollege. «Perthes deutete noch einmal auf das Mikroskop.»Sehen Sie hindurch! Sie erkennen genau in einer hellen Flüssigkeit, dem zersetzten Tapirblut, eine Ansammlung von kleinen, sternförmigen Kristallen.«
Dr. Cartogeno nickte, als er sich über das Okular gebeugt hatte, und war nun auch interessiert.»Diese Kristalle«, erklärte er eifrig,»stammen aus einem Pfeilgift, das uns noch unbekannt ist. Der Tapir wurde von dem Giftpfeil eines Indianers aus einem Blasrohr getroffen, aber aus irgendeinem Grund wurde der Indianer daran gehindert, seine Beute in den Wald zu ziehen. Daß die Indianer die Tiere mit Pfeilgift erlegen, beweist uns, daß.«
Peter Perthes winkte ab.». daß das Gift im Magen unschädlich ist oder durch Erhitzung seine Wirksamkeit verliert, das meinten Sie doch? Es ist nur tödlich in der Blutbahn. Das ist eine alte Weisheit und eine Eigenschaft, die auch das Curare hat.«
«Curare kennen wir, aber dieses Gift ist ein unbekanntes. Es ist ein Alkaloid von geradezu verblüffender Bestimmbarkeit im Blut.
— Der erste Erfolg, Herr Kollege!«
Dr. Cartogeno schob das Mikroskop zur Seite und setzte sich an den Klapptisch.»Aber — was haben wir davon? Wir sehen das Gift, und wir kennen seine Wirkung nicht.«
«Ich werde mit dem infizierten Blut meine Ratten impfen.«
«Und das Gegenmittel?«
«Um das zu finden, sind wir hier!«Dr. Perthes schob einen Nährboden mit dem Tapirblut in den Blutschrank.»Ich habe vor, morgen unsere erste Reise in das Innere zu starten.«
«Prost Mahlzeit!«Dr. Cartogeno sprang auf.»Ich besitze als einzige Verwandte zwar nur eine alte Tante, aber dann möchte ich doch heute abend noch mein Testament machen. «Peter Perthes lachte und nahm seinen Gürtel mit der Pistole von einem Wandhaken. Er schnallte ihn um und griff nach dem weißen Tropenhelm.»Kommen Sie mit?«fragte er.»Ich will mir aus unserer Flottille drei schöne, schnelle und stabile Boote aussuchen. Beim Morgengrauen brechen wir auf. Wir fahren zuerst, dachte ich mir, den Rio Guaviare hinab bis Sitio, dann hinein in den Rio Inirida bis zum Höhenzug von Raudal Alto, und dann querab den Cuno Nacuri hinauf. Dort machen wir Station.«
«.und suchen uns unsere Gräber aus. «Dr. Cartogeno schüttelte den Kopf.»Ich habe es mir in den wenigen Wochen des Zusammenseins mit Ihnen abgewöhnt, mich über Sie zu wundern. Erst dachte ich, Sie seien ein Phantast, dann hielt ich Sie für ungeheuer mutig. Jetzt weiß ich, daß Sie einfach nicht wissen, was Sie tun. Dort, wo Sie jetzt hinwollen, ist die Hölle los!«
Peter winkte ab, stieß die Tür auf und trat ins Freie. Eine Hitzewelle und feuchte, nach Verfaultem riechende Luft schlug ihm entgegen.»Sie sind ein Hasenfuß, Kollege«, sagte er über die Schulter.»Kommen Sie, lassen Sie uns die Boote auswählen.«
Am Flußufer waren die Blätterhütten der Träger und Führer aufgerichtet worden. Die Männer bewachten die Boote, verpflegten sich durch Jagd und Fischfang, saßen, der Raubtiere wegen, an offenen Feuern, und hatten im Umkreis Warner aufgestellt, die vor allem die Schlangen beim Eintritt in den Lagerkreis töteten. Es waren in diesen Tagen nur zwei Riesenschlangen, eine Boa und eine besonders schwere Anakonda, die durch den Feuerschein aus dem Wasser gelockt wurden. Die Träger erschlugen sie, zogen die wunderbar gefärbte, geschuppte Haut ab und brieten das saftige Fleisch über dem Feuer.
Die beiden Ärzte wählten aus der Masse der Boote zwei besonders lange, breite und doch wendige Baumkanus aus, die als Packboote gedacht waren. Für sich selbst und den Dolmetscher nahmen sie ein kleineres, schmales und wieselflinkes Rindenboot, das über etwaige Stromschnellen oder Wasserfälle leicht zu tragen sein würde.
Beim Morgengrauen weckte Dr. Cartogeno den Gefährten.»Auf, Sie Idealist!«rief er und stieß Peter Perthes in die Seite.»Unsere Karawane ist bereits auf dem Wasser und harrt ihres Herrn!«
Eine halbe Stunde später stießen sie auf den Fluß hinaus und ließen sich von der Strömung treiben. Die Bewohner von Zapuare, die von dem Vorhaben der beiden Ärzte gehört hatten, standen am Flußufer und blickten den drei Booten stumm nach. Sie waren sicher, diese Karawane und die Ärzte nicht wiederzusehen. Als die drei Boote um eine Biegung des Flusses den Blicken entschwunden waren, standen die Bewohner von Zapuare noch lange am Ufer zusammen und beredeten das Ereignis.
«Sie kommen nicht weiter als bis zum Managuare«, prophezeite ein alter Orchideenjäger.»Dann hat Sapoläna sie verspeist!«
Die drei Boote schossen durch den Strom. An schwimmenden Inseln vorbei, gebildet aus vermorschten Baumstämmen, die in den Fluß stürzten, sich mit Lianen verfilzten und mit der Zeit zu Inseln wurden, vorbei an Kolonien von Alligatoren und auseinanderstiebenden Rudeln von Wasserschweinen trieben sie an einer grünen, undurchdringlichen Wand aus Bäumen, Schlingenpflanzen und großdornigen Büschen entlang. Der Fluß wurde breiter, und Schwärme von schillernden Fischen begleiteten die Boote. Es roch über den Strom hinweg nach Verwesung, vermischt mit dem starken Duft großblütiger Blumen, die am Uferrand üppig wucherten und die schwarze, feindliche Baumwand etwas belebten. Drückende Hitze lag über dem Fluß. Der Urwald schien jeden Luftzug zu ersticken. Feucht und flimmernd bewegte sich die Luft auf und nieder, als brodele sie wie kochendes Wasser.
Peter Perthes saß am Bug des schnellen Rindenbootes und hatte sein Gewehr über die Knie gelegt. In der Bootsmitte hockte Dr. Cartogeno, einen Blätterfächer in der Hand. Er fächelte sich stöhnend Luft zu. Hinten, am Steuer, saß der indianische Dolmetscher, der durch schrille Zurufe die beiden großen Packboote dirigierte. Sie folgten in Kiellinie und waren neben den Lasten mit je drei Trägern besetzt.
«Wie lange rechnen Sie für unseren Ausflug in die Hölle?«fragte Dr. Cartogeno sarkastisch und brannte sich eine seiner langen, widerlich riechenden Zigarillos an, von denen Dr. Perthes behauptete, er lege sie zur Fermentierung in frischen Kuhmist.
«Drei Wochen!«rief Peter Perthes zurück und schoß auf einen Alligator, der auf das Ruderboot zugeschnellt kam. Getroffen drehte das Tier ab und hinterließ im Wasser einen roten Streifen. Dann wurde es in einen Wirbel von peitschenden Schwänzen und hornigen Panzern gezogen, die bis zu einem Meter hoch aus den Flußwellen stießen. Mit Schrecken sah Perthes, wie der angeschossene Alligator von seinen Artgenossen in Stücke zerrissen wurde. Nach einigen Sekunden trieb nur noch ein blutiger Rückenpanzer auf dem trüben Fluß.
«Bravo!«rief Dr. Cartogeno vergnügt.»Sie sorgen ja gut für die netten Viecher! Wenn sie erst Blut gerochen haben, kennen sie kein Erbarmen.«
Nach stundenlangem Abwärtstreiben steuerten sie gegen Mittag eine Sandbank im Strom an und schoben die Kiele der drei Boote auf den Sand. Die Träger säuberten den Boden von Spinnen und Wassernattern, die mit schillerndem Leib ins Wasser sprangen und pfeilschnell in schwimmenden Lianen verschwanden.
Als Dr. Cartogeno an den Strand watete, trat er auf einen Käfer, der sich sofort im Leder der Stiefel festbiß.
«Sieh einer dieses freche Biest an!«rief der Arzt, nahm sein langes Buschmesser und löste das Insekt ab.»Hier scheint jeder Wurm in kriegerischer Stimmung zu sein!«Er zertrat den Käfer und half mit, einen Pflock in den Sand zu schlagen, um die Boote daran zu vertäuen. Der indianische Dolmetscher saß unterdessen an einem Busch in der Mitte der Sandbank und zerlegte einen Stapel Fische, die die Träger in den Lastbooten während der Fahrt mit dünnen Schleppangeln gefangen hatten. Über einem offenen Feuer wurden sie an kleinen Holzspießen gebraten.
Peter Perthes und Fernando Cartogeno aßen aus einer Büchse Kekse und kaltes Schweinefleisch und tranken bitteren, kalten Mate dazu. Die Sonne brannte unbarmherzig. An die heraufgezogenen Boote klatschten die Schuppenschwänze der Alligatoren. Von der fast greifbar nahen Baummauer des Urwaldes herüber zog eine satte, übelriechende Schwüle.
Einer der Träger, der Führer des zweiten Packbootes, erhob sich. Er ging hinunter zu seinem Boot und holte aus einer Blechbüchse einige dunkle Zigarillos. Da warf er plötzlich die Arme in die Luft, stieß einen grellen Schrei aus und sank nach vorn in die Knie. Noch einmal schlug er mit den Armen um sich, dann blieb er im Sand liegen und rollte stumm an die Bootswand.
Schon beim Aufschrei waren die beiden Ärzte aufgesprungen. Sie hielten ihre Pistolen schußbereit in den Händen. Jetzt stürzten sie an den Rand der Sandbank und sahen die glasigen Augen des Trägers. Vor seinen Lippen stand Schaum. In seiner Brust federte ein langer, dünner Pfeil. Ein Pfeil, mit roter Farbe bestrichen.
Der Dolmetscher, der als erster nach den Ärzten bei dem Toten erschien, stieß beim Anblick des roten Pfeils einen hellen, kurzen Schrei aus und warf sich zu Boden. Er kroch hinter die Bootswand des am nächsten liegenden Kahnes und blieb dort, an allen Gliedern zitternd, liegen.
«Sapoläna«, stammelte er, als Perthes zu ihm trat.»Der Pfeil… der rote Pfeil… er wird uns alle töten.«
Die Pistole in der Hand, blickte Peter Perthes um sich. Starr, undurchdringlich, feindlich standen zu beiden Seiten des Flusses die Urwaldriesen. Nirgends zeigte sich eine Stelle, von der aus ein Schütze gezielt haben konnte. Der Mörder mußte in einer der mächtigen, weit über den Fluß ragenden Baumkronen sitzen. Dr. Carto-geno suchte bereits mit einem Fernglas die dichten Wipfel ab.
«Was bedeutet der rote Pfeil?«fragte Dr. Perthes den Eingeborenen. Er blickte hinüber zu dem Toten, der sich schon verfärbte und wächsern wurde. Der Pfeil hat Gift, durchzuckte ihn die Erkenntnis.
«Er wird uns alle töten«, rief der Indianer wieder und blieb hinter dem Boot liegen.»Keiner, der den roten Pfeil sah, kommt lebend aus den Wäldern zurück! Das weiß das ganze Land. Herr. oh, wir sind verloren. «Er sank mit dem Kopf in den Sand und begann, ein Vaterunser nach dem anderen zu beten. Dazwischen stammelte er indianische Brocken, die Gebete zu seinen alten Göt-tern, den Götzen, sein mochten.
Dr. Perthes blickte sich um.»Hier können wir nicht bleiben, Dr. Cartogeno«, sagte er.»Wir präsentieren uns hier wie auf dem Schießplatz als Zielscheibe. Nirgendwo ein Schutz! Sie können uns abknallen, ohne daß wir uns wehren können. «Und den Trägern rief er zu:»Alle Boote sofort wieder in den Fluß! Wir müssen das Ufer erreichen!«
Sie rannten zu dem Lagerfeuer zurück, während Dr. Cartogeno mit zwei Pistolen den Aufbruch sicherte. Die wenigen abgeladenen Gegenstände wurden rasch in die Boote zurückgeworfen. Dann stießen die Träger und der immer um sich blickende Dolmetscher die Kanus in den Strom und steuerten in die Flußmitte. Dort erst steckte der kolumbianische Arzt seine Pistolen ein, während Dr. Perthes von neuem am Bug hockte und sein Gewehr geladen und entsichert auf den Knien wiegte.
«Mich wundert es eigentlich, daß Sapolana uns nicht alle auf der Sandbank weggeblasen hat«, meinte Dr. Cartogeno.»Eine solche Freundlichkeit ist nicht sein alltäglicher Charakterzug. «Er hatte den toten Träger vor sich liegen und schnitt mit einem Skalpell den tief in den Brustkorb eingedrungenen Pfeil aus dem Körper.»Er ist tatsächlich vergiftet«, rief er und zeigte Dr. Perthes die Spitze mit den drei Widerhaken aus Tierknochen.»Ihr zweiter Erfolg, Herr Kollege! Allerdings teuer erkauft.«
Sie glitten in schneller Fahrt den Fluß hinab, vorbei an Orchideengärten und Bäumen mit den sonderbarsten Blüten. Auf einem flachen Uferstreifen lag ein ganzes Rudel Alligatoren in der Sonne und schlief. Etwas weiter unterhalb brach flüchtend ein Tapir in den Urwald zurück, als er die Boote kommen sah. Er hatte vorher am Ufer gestanden und mit äußerster Vorsicht blitzschnell getrunken. Die kleinen Mörderfische bissen sich leicht in seiner Schnauze fest.
Schweigsam saßen die Männer in den Kanus. Dr. Perthes schoß hin und wieder auf gepanzerte Rücken, Dr. Cartogeno beobachtete das Ufer und begann, trotz der Unruhe im Boot, des Schaukelns und Hüpfens, seelenruhig, wie in der Anatomie einer Universität, den toten Träger zu sezieren. Er schnitt kunstgerecht Gewebestücke aus den vergifteten Stellen, entnahm Teile des geronnenen Blutes und war mit seiner Arbeit gerade fertig, als die Urwaldsiedlung San Juan im großen Bogen des Rio Guaviare zwischen der Baumwand auftauchte. Hier hielten die Boote an, und die Träger begruben ihren toten Kameraden am Rande des Urwalds.
Am Abend noch, beim Schein von drei Petroleumlampen und einer starken Akkubirne, saß Peter Perthes hinter dem Mikroskop und beobachtete die Wirkung des Pfeilgiftes bei Zusätzen bestimmter Säuren.
«Es ist eine Art Urari«, sagte er, nachdem er bis tief in die Nacht seine Versuchsreihen probiert hatte, zu Dr. Cartogeno.»Aber seine Wirkung ist anders! Der Tod tritt nicht durch Lähmung, sondern durch plötzliche, unheimliche Blutstrukturveränderung ein. Es ist das gleiche Gift wie bei dem Tapir, das wir in Zapuare fanden. «Er stand von seinem Stuhl auf und reckte sich, die Arme weit ausbreitend.»Kollege Cartogeno, unsere Aufgabe beginnt interessant zu werden.«
In diesem Augenblick stürzte aufgeregt der Dolmetscher ins Zelt. Sein Gesicht war mit kaltem Schweiß bedeckt.
«Hören Sie es?«schrie er.»Hören Sie es nicht? Baumtrommeln.«
Auch die beiden Ärzte hörten jetzt weit entfernt einen dunklen, rhythmischen Trommelton, der anschwoll und wieder abklang. Er wirkte unheimlich in der stillen Nacht. Der Dolmetscher bekreuzigte sich.
«Sapoläna gibt uns Nachricht«, stammelte er.»Seine Trommeln sagen: Kehrt um! Oder ihr kommt nie zurück!«
Dr. Cartogeno sah Dr. Perthes groß an und nickte.»Wirklich interessant«, sagte er in seinem sarkastischen Tonfall.»Wir werden über Mangel an Gift nicht zu klagen haben.«