Die Rückkehr des Dr. Perthes aus der grünen Hölle Kolumbiens löste in Köln große Freude aus. Professor Window fuhr selbst nach Bremerhaven, um den Freund zu empfangen. Die Kunde seiner wundersamen Errettung und Heilung flog ihm voraus.
Vertreter von Presse und Rundfunk standen am Hafen, um den berühmten Arzt zu interviewen. Eine Abordnung des Hamburger Tropeninstituts war erschienen, um ihm die Ehrendoktorwürde zu verleihen.
Sie alle wurden sehr enttäuscht. Sosehr Wolf von Barthey auch bettelte, den Beleidigten spielte und mit dem Entzug seiner
Freundschaft drohte, Dr. Perthes ließ sich nicht davon abhalten, bereits in Southampton an Land zu gehen und das Schiff mit dem Bankier allein nach Deutschland fahren zu lassen.
Er wollte nur Stille. Keine Ehrungen, keine Reden, keine Preisverleihungen und sonstiges, selbst nicht ein Wiedersehen mit alten Freunden konnte ihn reizen. Allein, im Zwiegespräch mit sich selbst, wollte er den Heimatboden betreten. Ganz wollte er für sich das herrliche Gefühl auskosten, wieder zu Hause zu sein.
Aber es sollte keine besinnliche Ruhe werden, die Suche nach dem Unbekannten, der das heilende Serum entdeckt und nach Zapuare geschickt hatte, stand im Mittelpunkt allen Denkens. An einem regnerischen Abend landete er in Hamburg. Unbekannt, unerkannt, einer der vielen Menschen, die jede Woche von England herüberkommen. Er ging, trotz des Regens, zu Fuß durch den dunklen, naßglänzenden Hafen, vorbei an den alten Fischerkneipen und modernen Bars, in denen rasch verdientes Geld noch rascher ausgegeben wurde. Er ging, seinen Koffer in der Hand, auf einen Stock gestützt, langsam die Reeperbahn entlang, den Jungfernstieg und dann das Alsterufer.
In tiefen Atemzügen trank er die Luft. Deutsche Luft, dachte er. Herb, kühl und rein. Er dachte an die heißen feuchten Tage von Amorua, an die brennende Sonne und den faulenden Urwald. Während er an einer Brücke lehnte, die die Seitenarme des Hafens miteinander verbinden, mußte er plötzlich an Dr. Cartogeno denken.
Allein fuhr der jetzt den Rio Guaviare hinab zur Impfstation am Lago Jiro. Ihm mußte der Abschied besonders schwer geworden sein. Er war zu einem Freund geworden, wie er selten zu finden ist. Ein Wort des Aristoteles fiel Dr. Perthes ein: Ein Freund ist eine Seele in zwei Körpern. Ob ihm Fernando seine Rückkehr in die Heimat verübelt hatte?
Im Hafen gellten die Sirenen. Das Tuten der Schleppkähne durchriß die Nacht. Hellerleuchtete Boote furchten durch das brackige, ölige Wasser. Wie Totenfinger stachen die Stahlleiber der Riesenkräne in den Sternenlosen Himmel.
Zu Hause! Und ihn fröstelte.
Er zog seinen Wettermantel fester um die Schultern und knöpfte den obersten Knopf zu. Dann wandte er sich ab und stieg in eine Straßenbahn, die ihn zum Bahnhof brachte.
Er studierte die Fahrpläne nach Süddeutschland: Hannover — Kassel — Frankfurt/Main — Würzburg — Bamberg — Erlangen! Eine Fahrt durch ganz Deutschland, von Norden nach Süden, lag vor ihm.
In einem kleinen Studentenhotel in einer Nebengasse des Hauptbahnhofs übernachtete er. Mit dem Fernschnellzug — um sieben Uhr morgens ab Hamburg — fuhr er mitten hinein ins deutsche Land.
Er saß am Fenster und las in Illustrierten, die er gekauft hatte. Nach einem Jahr wieder deutsche Zeitungen! Berichte über die Sorgen, über die Freuden seiner Landsleute.
Es las über Politik, die ihm ganz fremd geworden war. Ihn kümmerte das Bonner Parlament nicht, nicht die kleinlichen Streitigkeiten über Ausschüsse und Gesetze. Im Urwald galt als einziges Gesetz die Kraft des eigenen Willens. Hier galt noch der Mann — und nicht ein Fetzen monatelang durchgekauten, beschriebenen Papiers.
Er blätterte die Seiten um — Schönheitskonkurrenzen!
Miß Badestrand wird gewählt. Miß Rheinwein. Miß Ferienfreude… Mädchen mit gefrorenem Lächeln, in knappen Bikinis. Fleischschau unter dem Motto der Schönheit.
Er schüttelte den Kopf und dachte an die nackten Tarapasfrau-en, die er gesehen hatte. Bunt bemalt, mit durchstochener Unterlippe und Federn in den entstandenen Löchern — groß, kräftig, gesund, natürlich! Wenn sie lachten, war es, als ob der uralte Wald mitkicherte. Es waren noch Kinder Gottes — hier auf den Fotos lachten Kinder eines zivilisierten Geschäfts.
Er blätterte um. Butterpreise steigen. Trinkt mehr Milch! Warum sind die Eier noch so teuer? Er mußte lächeln. Die alten Sorgen, es änderte sich nichts. Sie bleiben immer die gleichen, die deutschen Brüder. Einigkeit und Recht und Freiheit.
Er legte die Blätter beiseite und sah aus dem Fenster. Die Sonne brach durch die Regenwolken, in langen Streifen irrte das Licht über die Felder.
Bauern, mit Ochsen an holzachsigen Wagen, fuhren durch die aufgeweichten Wege. Auf einer glatten Autostraße rasten Kolonnen von chromblitzenden, eleganten Wagen mit dem Zug um die Wette.
Als sich Schiene und Straße näherten, winkten sie Peter zu — frohe, gesunde Menschen, in Lederpolstern sitzend, umgaukelt von den Klängen aus dem Autoradio.
Das ist meine neue Welt, dachte Peter Perthes. Er winkte nur zaghaft zurück. Ich lebte auch einmal in ihr — damals! Ich habe selbst ein Auto besessen und bin so wie sie durch die Welt gefahren.
Dann aber kam der Urwald, und ich wurde wieder zu nichts als einem Menschen, der sein nacktes Leben beschützen muß. Und ich fühlte mich freier, wohler, menschlicher.
Hannover: ein Babel aus Trümmern und weißen Neubauten! Der Bahnhof ein Riesengerippe aus Stahl. Servicewagen wurden den Bahnsteig entlanggefahren und Erfrischungen angeboten.
Dr. Perthes trank eine Tasse Kaffee. Vor den Zugtüren stauten sich die Menschen. Sie hatten keine Zeit, sie stießen sich, traten, schimpften, schoben, boxten und drängten. Eine Frauenstimme schrie. Eine laute Männerstimme bewies einen erklecklichen Wortschatz an unflätigen Ausdrücken.
Deutsche Brüder, deutsche Schwestern.
Im Urwald hätten sie Zeit, dachte Peter. Wenn die Regenzeit kommt, könnten sie wochenlang unter einem Blätterdach sitzen und von Wurzeln leben. Sie würden das Regenwasser in Zeltplanen auffangen und trinken.
Zeit? Eine Uhr? Wer achtet darauf?
Es regnet — tagelang, wochenlang. und man kann warten, man hat Zeit.
Der Zug ruckt wieder an. Keuchend rollt er aus Hannover hinaus. Er fuhr Göttingen, der alten Universitätsstadt, entgegen. Saubere schmucke Bauernhäuser flogen vorbei, gepflegte Felder, kräftiges buntes Vieh. Durch kleine verschlafene Bahnhöfe raste der Schnellzug. Ab und zu winkte ein Mann in der blauen Uniform der
Bundesbahn.
Durch die Gänge des Wagens lief ein Kellner der Mitropa und bot Reiselektüre und Sprudel an. Die Sonne schien jetzt grell in den Wagen. Es wurde warm.
Göttingen. Der Zug hielt hier nur kurz. Auch hier Trümmer.
Mein Gott, dachte Peter Perthes, ich habe gar nicht mehr gewußt, wie zerstört meine Heimat ist. Ich habe drüben in Kolumbien in Bogota nur weiße Paläste gesehen. Und in Zapuare Blockhütten unter Riesenbäumen, strotzend von Kraft und Gesundheit. Aber Trümmer?
Er preßte den Kopf an die Scheibe, während der Zug weiterrollte.
Die Dörfer wurden lichter, auch hier sah man wiederaufgebaute Häuser.
Dann Kassel: eine einzige Anklage. Schwarze, ausgebrannte Hausruinen. Straßen und ganze Stadtteile eingeebnet. Überwuchert von Unkraut, von Brennesseln, wilden Möhren und struppigem Gras.
Durch den Staub der Straßen liefen die Menschen, und sie sahen die Ruinen nicht mehr. Der Blick eines Menschen gewöhnt sich schnell an seine Umgebung.
Aber er kam von draußen wieder, er sah die Trümmer der Heimat überscharf. Und das Herz krampfte sich ihm zusammen.
Hinter Kassel schlief er ein, übermüdet, niedergedrückt vom Schauen. Erst in Frankfurt schrak er wieder hoch.
Der Zug fuhr in den Sackbahnhof ein und wurde in Kurswagen eingeteilt. Perthes stieg aus und bummelte an den Läden in der Bahnhofshalle vorbei. Er bestaunte die bunte, reichhaltige Auslage. Ein Jahr kann einen Menschen völlig entwöhnen, dachte er plötzlich erschreckt. Er stand vor einem Parfümerieladen und starrte lange die verschiedenen Cremes, Seifen und Parfüms an. Lavendel, Kölnisch Wasser, Juchten.
Mit Suprana rasiert — der halbe Tag gewonnen. Am Rio Guavia-re trug er einen langen, blonden Vollbart — dann rasierte ihn Fernando mit einem alten Rasiermesser, eingeseift mit einfacher Kern-seife. Wunde Haut? Ach was, sie mußte sich daran gewöhnen!
Ich gehöre ja gar nicht mehr hierher, durchzuckte es ihn. Bei allem, was ich sehe, was ich lese, muß ich an den Urwald denken! Alles hier kommt mir so fad, so dumm, so hochgezüchtet vor. Ist das denn noch der Mensch, von dem Gott sagte, er solle nach seinem Ebenbild sein? So verweichlicht, so im Treibhaus lebend, so bar aller Natur.?
Perthes setzte sich in den Wartesaal zweiter Klasse und trank ein Pilsner. Auf den Gleisen rangierten lärmend die Wagen. Er hatte noch eine Stunde Aufenthalt.
Mit einem Spaziergang durch die Geschäftsstraßen Frankfurts füllte er sie aus. Im letzten Augenblick erreichte er noch seinen Zug. Dann ratterte er weiter.
Am späten Abend traf er in Erlangen ein. In einem Hotel am Bahnhof mietete er sich ein und ließ sich vom Kellner einen genauen Stadtplan geben. Auf ihm kreuzte er die Straßen und Gebäude an, die er besuchen wollte:
Universität — Universitätsklinik — die Laboratorien — Polizeipräsidium — Einwohnermeldeamt — die Privatwohnung des Rektors der Universität.
Er legte sich dann sofort ins Bett und schlief traumlos bis in den nächsten Morgen hinein.
Mit dieser Reise begann der große Fehler von Dr. Perthes' Rückkehr in die Heimat.
Durch seine heimliche Einreise von England aus verpaßte er eine Aussprache mit Professor Window und Dr. Paul Sacher in Köln. Da hätte er erfahren, daß Angela nicht mehr in Erlangen war. Er wußte ja überhaupt nicht, daß sie einmal in dieser Stadt gelebt hatte. Er kannte ja Erlangen vor allem von dem Deckel eines kleinen Paketes.
Wolf von Barthey hatte ihm gesagt, daß er und die Kölner Freunde nicht wüßten, wohin Dr. Angela Bender gegangen sei — diese Aus-kunft war für Peter maßgebend.
Angela Bender aber war, nach der Ausheilung ihres Nervenfiebers, zu einer kleinen Nachkur in die Alpen gefahren und hatte von Schöllang aus ihren Dienst in der Erlanger Klinik gekündigt.
Als Professor Purr, außer sich und vor neuen Rätseln stehend, mit dem nächsten Zug am Nebelhorn eintraf, war Angela bereits aus ihrer Pension ausgezogen und hatte nicht hinterlassen, wohin sie gefahren war. Die kleine Wohnung in Erlangen hatte sie mit allem Mobiliar verkauft. Den kleinen Peter hatte sie überall mitgenommen.
Nun stand Professor Purr verwirrt auf dem Marktplatz von Schöllang. Wieder breitete sich ein Dunkel um Angela Bender. Auch Dr. Sacher in Köln, dem Purr sofort diese neue Situation mitteilte, schüttelte den Kopf. Zu Professor Window meinte er:»Seit Peter fort ist, stimmt etwas mit Angela nicht mehr. Ich mache mir große Sorgen um sie. Sie scheint nicht zu wissen, was sie eigentlich will. Sie ist nirgends mehr so recht zu Hause. Sie irrt umher und sucht sich selbst. Sie scheint völlig aus der Bahn des täglichen Lebens geworfen worden zu sein. Ein armes Mädchen, das man nicht allein lassen sollte.«
Aber die Tatsachen sprachen eine andere Sprache. Angela Bender wußte sehr wohl was sie wollte. Sie tauchte unter, entzog sich den Blicken und Nachfragen ihrer Freunde und lebte in der Stille ein Leben der Beschränkung — nur für das Kind und sich.
Und diese Stille suchte sie nicht auf dem Land, wie man hätte meinen können, sondern mitten in der Großstadt, wo der einzelne Mensch einsamer ist als auf einer Insel im Meer. In einem großen, hohen Haus, in einer Enge von wenigen Zimmern, grau in der Grau-heit der Masse Mensch ist er nichts als ein Punkt unter der Sonne.
Angela Bender zog nach München.
Zuerst wohnte sie in der Kaufinger Straße, mit einem Blick auf die hohen Zwiebeltürme der Frauenkirche, und Tag und Nacht brandete der Großstadtverkehr vor ihren Fenstern vorbei.
Autokolonnen von der Sendlinger zur Theatinerstraße, vom Marienplatz zum Karlsplatz. Eingebaut in Türme, starrte sie aus dem Fenster. Die Türme der Frauenkirche, der Turm des alten Rathauses, der Turm der Peterskirche, der hohe Giebel der Michaelskirche. Steine, Asphalt, Teer, Lärm, Staub, Gedränge von schwitzenden Menschen, Auspuffgase, Schreien, Hupen, Johlen.
Nach einem Monat zog sie um, nach Gauting, in ein schönes, mitten im Garten liegendes Häuschen, zu dessen Tür drei breite Stufen hinaufführten. Ein Weg durch Blumenbeete und weißen, schillernden Kies.
Hier fand sie drei Zimmer; die Besitzerin des Hauses war eine Landgerichtsratswitwe, die glücklich war, daß junges Leben in ihre stillen Räume zog, und die lange gesucht hatte, bis sie eine ihr angenehme Mieterin gefunden hatte.
Wenn auch der Atem der Großstadt bis hierhin wehte, Angela lag im Garten im Liegestuhl, Blumen rings um sich, und las in einem Buch, den Kinderwagen mit dem krähenden Peter neben sich. Hier atmete sie nur den Blütenduft und den Geruch der in der Sonne schwitzenden Bäume und dachte nicht an die Autos, die vor dem weißen Tor brummend über den Asphalt rollten.
Hier, in Gautin vor München, am Rande der brodelnden Großstadt, begründete sie eine neue Praxis. Da im Umkreis noch eine Kollegin praktizierte, bekam sie keine Krankenkassenzulassung, sondern war nur auf den recht spärlichen Besuch von Privatpatienten angewiesen.
Aber es reichte fürs tägliche Leben, sie ernährte sich und das Kind und war es zufrieden, daß sie manchmal an einem Tag nur zwei oder drei Kinder zu behandeln hatte, meist leichte Fälle von Mandelentzündung oder Windpocken.
So erholte sich Angela, blühte von neuem auf, bekam vollere Wangen, und die Blässe ihres Gesichts wich einer zarten Röte der Gesundung.
Das Leben ging weiter. Ohne Köln. Ohne Erlangen.
Und auch ohne Peter Perthes.
Und der konnte das alles nicht wissen, als er in seinem Hotelzimmer in Erlangen saß und seine Pläne zur Auffindung des geheimnisvollen Absenders der zehn rettenden Ampullen entwickelte.
Seine Besuche in der Universität, bei dem Rektor, in der Klinik waren ergebnislos. Mit Professor Dr. Purr sprach er gar nicht, weil der als Chef einer Kinderklinik außerhalb des Personenkreises lag, den Peter vorgesehen hatte. So machte er Fehler über Fehler — Unterlassungen über Unterlassungen, die er aber nicht verbessern konnte, weil er in Unkenntnis handelte.
Notgedrungen traf er bei seinen Rundreisen durch die alte Universitätsstadt auch auf den Diener der Laboratorien, auf Fritz Be-nischek.
Dieser wiederholte sein Spiel der bis 18 Uhr gebundenen Pflichterfüllung — wie seinerzeit bei Dr. Paul Sacher.
Nur mit dem Unterschied, daß Perthes sich nicht abwimmeln ließ, sondern einen Ausweis des Rektors vorzeigte. Benischek kniff die Augen zusammen, setzte umständlich seine Brille auf und las den Ausweis langsam durch.»Herrn Dr. Perthes ist jede Unterstützung bei der Erforschung eines dringenden Falles zu gewähren.«
So stand da zu lesen.»Hm!«machte Benischek und gab den Ausweis zurück.»Denn kommse mal rin!«
Er tappte voraus in das Zimmer, in dem Angela das Serum entwickelt hatte. Peter Perthes setzte sich auf das Sofa. Er war am Ziel seiner Suche — und ahnte es nicht!
Dr. Perthes blickte sich um, es war ein Wohnzimmer wie alle Wohnzimmer eines alten Junggesellen, ein wenig staubig, durcheinander, unpersönlich.
«Ich möchte gern von Ihnen wissen, Herr Benischek«, sagte er, jedes Wort betonend,»ob hier in den Labors von einem der Herren ein Serum entwickelt worden ist, das den Biß der >Schwarzen
Witwe<, einer sehr giftigen Spinnenart, heilt.«
Siedend heiß schoß es in Benischek hoch. So direkt war er lange nicht gefragt worden. Dr. Bender! dachte er. Und ich darf nichts verraten. Was will der fremde Arzt von ihr? Will man ihr etwas? Hat sie vielleicht einen Mißerfolg mit dem Serum gehabt?
Er kapselte sich innerlich ab und sah Dr. Perthes dumm an.
«Wat?«fragte er.»'ne schwarze Witwe?«Er lachte affektiert.»Seit wann sin denn Witwen jiftig?«
Peter Perthes sah an die Decke. Ruhig, sagte er sich, nur ruhig bleiben. Nicht die Geduld verlieren. Fehlschlag auf Fehlschlag hast du heute einstecken müssen, nun mußt du hart bleiben.»Es ist, ich sagte es schon, eine giftige Spinne der Tropen. Ihr Gift ist absolut tödlich. Nun kam aus Erlangen nach Südamerika ein Päckchen mit zehn Ampullen eines Serums, das dieses Gift unwirksam macht. Aber das Päckchen war anonym. Ich möchte gern, verstehen Sie, Herr Benischek, den Absender wissen, um ihm zu danken.«
Det is gelogen, dachte Benischek im Berliner Dialekt. Da ist wat schiefjeloofen. Der will mir fangen, aber so dumm is der olle Fritz nich, dat er uff den süßen Leim kriecht wie ne Flieje!
«Nee«, meinte er dann nach einer Pause und schüttelte den greisen Kopf.»Nee, bei uns? Nee! Da müssen Se mal den ollen Professor Kratz fragen. Der is hier Hausherr.«
«Ich war schon bei Professor Dr. Kratz! Er weiß von nichts. Seine Chemiker, seine Physiker, die Serologen und Toxikologen haben ganz andere Versuchsreihen in den Labors. Es muß sich bei meinem Serum um heimliche Versuche gehandelt haben, um Versuche, die vielleicht nach der Dienstzeit stattfanden. Und von denen müßten Sie, Herr Benischek, eigentlich wissen, denn ohne Ihr Wissen und ohne Ihre Erlaubnis arbeitet doch nach Feierabend niemand hier in den Sälen.«
«Ick weeß aber nischt!«Benischek wurde lauter.»Ich lasse mir ooch nich an de Ehre packen! Ooch nich von nem Doktor med.«
Dr. Perthes erhob sich und zuckte mit den Schultern.
«Dann eben nicht! Es gibt in Erlangen kein Privatlabor, das die
Möglichkeiten hätte, ein solches Serum zu entwickeln. Vor allem haben sie nicht die Gifte vorrätig — und erhalten sie auch nicht. Diese tropischen Gifte stehen unter staatlicher Kontrolle, müssen Sie wissen. Es muß also unbedingt hier gewesen sein!«
«Himmel, Kreuz und Wolkenbruch!«Benischek wurde rot im Gesicht.»Ick bin seit dreißig Jahren Labordiener! Ick habe imma meine Pflicht jetan! Ick habe nie jekohlt! Ick habe als Anjestellter des Staates imma jewußt, wat ick zu tun hatte! Wenn ick nun sage: Nee — dann is det nee! Vastanden?«Er sah Peter beinahe lauernd an.»Vielleicht hat eener det Mittel woanders erfunden, aber zur Irreführung der Behörden in Erlangen uff de Post jejeben?«
«Möglich!«Peter nahm seinen Hut und verließ die Universitätslaboratorien. Auf der Straße schüttelte er den Kopf, ging dann durch die Stadt, ziellos, in Gedanken versunken, und nun mußte er sich eingestehen, daß er geschlagen war.
Die Polizei benachrichtigen?
Ein Detektivbüro einschalten?
Er schüttelte wieder den Kopf, ging zurück zum Bahnhof und betrat sein Hotelzimmer.
Es hat keinen Zweck, gestand er sich. Ich laufe mich tot dabei.
In dieser Nacht schrieb er an den Bankier von Barthey einen Brief:»In vierzehn Tagen werde ich in Köln sein. Noch will ich mich ein wenig erholen von den Abenteuern meiner fremden Welt, die ich jetzt erst in ihrem ganzen Ausmaß zu begreifen beginne. In Köln werde ich dann mit Ihrer freundlichen Unterstützung an die Auswertung meiner Forschungen gehen. Ich hoffe sehr, daß alle Schmerzen nicht umsonst waren und wir ein neues Serum serienmäßig produzieren können.
Wenn ich Sie, verehrter Herr von Barthey, der mir bald zum zweiten Vater geworden ist, um etwas bitten dürfte — so ist es die Bitte um Diskretion. Wenn ich zu Ihnen zurückkehre, so möchte ich keine Presse sehen, keine Modenschau — nur die alten, vertrauten Freunde. Denken Sie bitte nicht, ich sei in der Hölle des Urwaldes menschenscheu geworden oder mein Leid wäre so groß, daß ich mich schämen müßte, mit ihm unter Menschen zu gehen. Nein, so ist es nicht! Aber ich will in Köln keine Sensation sein, sondern ich möchte mich still in meine Aufgaben zurückziehen — ich will arbeiten, nichts als arbeiten! Ich habe eine große Verpflichtung übernommen, als ich ein völlig unbekanntes Serum in einem Selbstversuch erprobte und meine Beine mir wieder gehorchten. Ich habe mir damals geschworen, dieses Serum der ganzen Menschheit zugänglich zu machen, wenn ich auch immer noch nicht weiß, wer der geniale Forscher war, der es fand. Es ist ein Wunder, dieses Serum, das zunächst nur in meine Hand gegeben wurde — durch ein unbekanntes, anonymes Paket!
Ich glaube, daß Sie mich verstehen, verehrter Herr von Barthey, und ich weiß, daß mir Ihre liebenswürdige Fürsorge und die Mithilfe meiner Kölner Freunde die Kraft geben werden, dieses große Werk zu vollbringen.«
Als er dieses Schreiben noch einmal überlas, kamen ihm die Worte hohl und dumm vor.
Die Tatsache, daß das Serum in Erlangen entstanden war, aber keiner wußte, wer es entwickelt und hergestellt hatte, war für ihn niederschmetternder als die Ergebnislosigkeit einer ganzen Versuchsreihe. Hier, in Deutschland, gab es einen Mann, der den Schlüssel zu vielen Krankheiten in der Hand hielt, der mehr konnte als er, Dr. Peter Perthes der Toxikologe. Einen Mann, der die >Schwarze Witwe< besiegte mit einer lächerlich laienhaften Ampulle, mit Wachs verschlossen.
Aber er ließ den Brief so, wie er war. Er faltete ihn, steckte ihn in einen Umschlag und trug ihn zur Post.
Dann stand er auf dem Bahnhofsvorplatz und ließ die Haare im Wind flattern, die Haare, die in Zapuare weiß geworden waren, ein Opfer der sengenden Hitze.
Arbeiten, dachte er. Nur noch arbeiten!
Ich werde nach Köln fahren, noch bevor die vierzehn Tage um sind. Ich habe keine Ruhe mehr.
Und wieder hatte es das Schicksal anders bestimmt.
Vier Tage später erhielt Dr. Perthes einen Brief aus München. Der Rektor der Erlanger Universität hatte seinem Kollegen und Freund, dem Rektor der Münchener Universität, berichtet, daß der bekannte Toxikologe Dr. Perthes, der Entdecker eines Curare-Serums, zur Zeit in Erlangen sei und nicht an eine Klinik gebunden wäre. Er wolle den Münchnern einen Wink geben, sich diesen Mann, der zu den größten Hoffnungen berechtigte, zu sichern.
Am nächsten Tag reiste Dr. Perthes von Erlangen ab. In München empfing man ihn wie ein Weltwunder. Man stellte ihm alle Labors zur Verfügung, geldliche Mittel nach Belieben, eine Klinik für Versuche, die Poliklinik, die Chirurgische Abteilung. Es gab kein Wenn und Aber mehr — es gab nur Zusicherungen in einem Umfang, wie sie ein Wissenschaftler bisher kaum erhalten hatte.
Und man gab ihm die Möglichkeit, seine Pläne sofort in die Tat umzusetzen. In der Nacht noch unterschrieb er den Vertrag.