Kapitel 5

Zwei Wochen lang sahen sich Angela und Peter nicht.

_In dieser Zeit schloß er seine Vorbereitungen für die Expedition ab. Die Transportlisten für die Schiffslasten waren geschrieben, die empfindlichen Instrumente und Medikamente, die mit dem Flugzeug nach Bogota vorausgeschickt wurden, überprüfte er zum letztenmal zusammen mit Dr. Sacher. Es fehlte nichts. Bis ins kleinste durchdacht waren alle Pläne, selbst die Waffen fehlten nicht, die Peter mit in den unbekannten Urwald nehmen wollte: eine gute englische Büchse, zwei Pistolen, zwei Schrotgewehre, einen Drilling und eine Kiste mit Munition.»Ich hoffe, die Büchsen nie zu brauchen«, sagte Perthes zu Dr. Sacher, während er die Waffen auf den Listen abhakte.»Ich will kommen, um den Menschen zu helfen, nicht, um sie zu töten.«

«Sie werden dich danach nicht fragen!«Paul Sacher klappte den Schnellhefter zu und legte die Listen beiseite.»Es genügt, daß du ein Weißer bist, ein Weißer, der in ihr Land eindringt! Du bist ein Feind, schon deiner Hautfarbe wegen.«

«Jetzt redest du wie Angela. «Dr. Perthes wischte mit der Hand durch die Luft.»Als ob die Menschheit nur aus Mördern bestände!«

Paul Sacher setzte sich und schlug die Beine übereinander. Als er sprach, vermied er es, den Freund anzusehen.

«Was macht denn Angela?«

«Ich weiß es nicht.«

«Findest du, daß du dich ihr gegenüber richtig verhältst?«

«War es vielleicht richtig von ihr, mich einen Narren zu nennen und zu schreien: >Ich kann den Namen Dr. Perthes nicht mehr hö-ren!

Paul Sacher schüttelte den Kopf.»Peter, du bist doch Arzt und kein Kind! Du weißt wie ich, wie lieb sie dich hat und daß ihr an jenem Abend einfach die Nerven durchgingen… aus Liebe zu dir! Aus Sorge, wenn du so willst, aus purer, nackter Angst, dich zu verlieren. In ihren Augen bist du eben ein Narr, weil du ein wildes, gefahrvolles Leben dem Glück an ihrer Seite vorziehst. In meinen Augen bist du das auch!«

«Danke!«Es klang hart, dieses Wort, und Dr. Sacher gab es auf, weiter darüber mit dem Freund zu sprechen. Er hatte eingesehen, daß es für Peter kein Zurück mehr gab, auch wenn er es jetzt noch plötzlich gewollt hätte. Die Schiffskarten, die Ausrüstung, die Flugkarten, die Behörden — alles war organisiert. Direktor von Barthey zählte die Tage bis zur Abfahrt, man suchte schon ein Gelände am Kölner Stadtrand, wo einmal die Fabrikationswerkstätte stehen sollte, 50.000 DM waren mit höchster Genehmigung in Devisen umgewechselt worden, die kolumbianische Ärzteschaft erwartete ihn

— es gab freilich kein Zurück mehr. Dr. Perthes hatte dem Schicksal die Hand gereicht, und es hatte den ganzen Menschen genommen.

Drei Tage später fuhr Peter Perthes nach Hamburg. Im Tropeninstitut ließ er sich untersuchen, obwohl er wußte, daß er tropentauglich war. Sein Herz war gut, die Lungen ohne Befund, Magen, Galle, Leber, die Zähne — alles war gesund. Er ließ sich gegen Cholera, Fleckfieber, Typhus und Malaria impfen; in kleinen Tropenpackungen nahm er die wertvollen Impfstoffe gegen Pocken, Pest und Lepra mit und versprach dem Chef des Tropeninstituts, einige neue Sera auszuprobieren. Er nahm aus den einzelnen Labors die Erprobungspräparate mit, hatte Konferenzen mit den verschiedensten Forschern und kehrte nach Köln zurück mit einem großen Koffer und einer noch größeren Tropenkiste aus Aluminium, voller Ampullen, Salben, Tropfen und Suppositorien, müde, abgespannt, aber vollgestopft mit Aufträgen und ehrenden Worten.

Von alledem erfuhr Angela Bender nichts. Sie hörte wohl hier und da im Gespräch mit Kollegen, daß Dr. Perthes in Hamburg sei, sie verließ aber sofort die Runde, wenn Näheres über Peter gesprochen wurde. Sie wollte nichts wissen, wollte nichts hören — nichts von dem, was ihr nachts den Schlaf raubte und was sie innerlich ausbrannte wie durch ein unlöschbares Feuer. Er fährt, dachte sie immer wieder, er fährt in die schrecklichen, tödlichen Wälder, und ich werde ihn ganz sicher nie, nie mehr wiedersehen.

Der einzige Trost war ihre Arbeit. An ihr riß sie sich empor, in ihr fand sie die Kraft, so zu sein, als wäre nichts in ihrem Leben auseinandergebrochen.

Dr. Bender verrichtete ihren ärztlichen Dienst in der Kinderstation der Lindenburg, äußerlich wie früher, freundlich, hübsch, eine nette Kollegin und eine gute Ärztin.

An den großen Laborfenstern ging sie nicht mehr vorbei. Und Paul Sacher besuchte sie nur, wenn Peter aus dem Hause war, aber wenn der Chirurg auch etwas ahnte, sie schwieg über das Vorgefallene und unterhielt sich mit ihm über dienstliche Fragen. Sie nahm sogar einen Teil ihres Jahresurlaubs und fuhr für vierzehn Tage an die Ostsee.

Peter Perthes litt sehr unter dieser Trennung, wenn er sich äußerlich auch nichts anmerken ließ und wie immer den frohen, geselligen Kollegen spielte. Es fiel zwar auf, daß er jetzt am Abend wieder genug Zeit hatte, den Ärzteskat zu besuchen — was er früher nie tat, mit der Ausrede, er müsse noch ins Labor und eine Versuchsreihe vollenden. Man merkte auch, daß er jetzt häufig mit Dr. Sacher und dem Chef zusammen war, man war aber so gut erzogen, nicht zu fragen; und auch selbst dann, als es sich nicht vermeiden ließ und sich Angela und Peter auf dem Flur der Chirurgischen Abteilung trafen und mit einem genickten Gruß aneinander vorbeigingen, übersah man dies schicklich und entschuldigte es mit einer jener Auseinandersetzungen, wie sie wohl in jeder Braut- und Ehezeit einmal vorkommen.

Die zwei Wochen, in denen Angela Bender im weißen Seesand von Grömitz lag und sich bräunen ließ, sogar im Kurhaus tanzte und sich alle Mühe auferlegte, das Erlebnis mit Peter Perthes zu vergessen, verbrachte er damit, seine Nährböden und Gifte tropenfest zu verpacken, einen Spezialkocher zu konstruieren, mit dem er Bakterien in kürzester Zeit vermehren konnte, und eine Destillationsanlage zu erfinden, die es ihm ermöglichte, Gifte in Sekundenschnelle in bestimmte Substanzen zu zerlegen. So war alles auf das beste und bis ins kleinste geordnet, als der Tag der Abreise immer näher rückte.

Angela Bender kam nach zehn Tagen schon aus Grömitz zurück. Es hielt sie nicht mehr unter lauter fröhlichen, unbeschwerten Menschen. Jeden Abend, wenn sie den Kalender betrachtete und die Wochen zählte bis zu jenem roten Strich, der den Tag der Abreise Peters bezeichnete, stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und sie weinte, bis sie vor Erschöpfung einschlief Morgens lag sie dann wieder am Strand, baute sich eine kleine Sandburg, schwamm in die See hinaus und spielte Augenblicke lang mit dem wahnwitzigen Gedanken, sich einfach absinken zu lassen, unterzugehen in den schäumenden Wellen, und damit alles zu vergessen, was das Leben so schwer machte.

Aber dann riß sie sich empor, ließ sich mit der Brandung ans flache Ufer tragen und lag wieder in der Sonne, braun, schmal und schön — eine Frau, die das Leben liebte, weil sie trotz allem noch einen Funken Hoffnung hatte, daß einmal alles gut werden könnte.

Aber irgendeine Empfindung, ein Gedanke in ihr verstand, was ihre Liebe nicht begreifen wollte oder konnte. Sie fuhr nach Lübeck und kaufte sich alle Bücher über Toxikologie, deren sie habhaft werden konnte, sie schrieb an das Tropeninstitut und ließ sich eine Literaturaufstellung schicken, nach der sie bei Fachverlagen die Werke bestellte. Plötzlich war ein unbändiges Interesse in ihr erwacht, in diese geheimnisvolle Welt der Gifte einzudringen, der sich Peter verschrieben hatte und für die er sein persönliches Glück zu opfern bereit war.

So las sie in den warmen Grömitzer Nächten viel über die Zauberwelt der Kristalle und Alkaloide, der chemischen Gifte und der Toxika der Natur. Sie studierte mit heißen Wangen die Berichte der Forscher aus allen Gegenden der Welt, wo das Gift im Kampf gegen den Feind noch eine Rolle spielte… aus Südamerika, aus Borneo, aus Sumatra, aus dem Kongobecken, aus Birma und Thailand. Und Angela Bender empfand zum erstenmal, welch ein großes Vorhaben Peter hinaus in die Welt und fort von ihrer Liebe trieb.

Mit diesen Gedanken und Empfindungen fuhr sie nach Köln zurück, ein wenig nach innen gekehrt, ein wenig reuevoll. Nur der Haß gegenüber dem Schicksal überlagerte ihre einsichtigen Gedanken, der Haß, der ihr kurzes Glück zerstören wollte.

Niemand wußte von ihrer Rückkehr. Sie verbarg sich in ihrer Wohnung, ging nur des Abends kurz aus und öffnete ihre Praxis erst nach vierzehn Tagen. In den vier einsamen Nächten in der stillen Wohnung — auch das Mädchen hatte Urlaub bekommen — überfiel sie das Bewußtsein der Verlassenheit mit doppelter Deutlichkeit.

Sie fühlte, daß sie etwas Grundlegendes falsch gemacht hatte, als sie Peter aus der Wohnung wies, daß sie anders hätte handeln müssen, um ihn zu halten. Sie versuchte an den langen einsamen Abenden selbstquälerisch, allein unter der Tischlampe sitzend, lesend oder in eine dunkle Ecke starrend, Verständnis für Peters Lage zu gewinnen.

Er ist ein Mann, der eine große Tat vor sich hat, sagte sie sich. Er hat ein Ziel, das größer ist als ich, der kleine Mensch an seiner Seite. Er gehört allen — und ich wollte ihn für mich allein haben. Ich war eine Egoistin. aber welche liebende Frau wäre das nicht? Ich hätte zu ihm sagen sollen: Ja, Peter, es ist gut, daß du fährst. Du willst hinaus in die Gefahr, gut, ich gehöre zu dir, also nimm mich mit! Ich will mit in den Urwald, oder ich will in Bogota auf dich warten, aber ich will dabeisein, bei dir sein, in der Nähe sein, wenn du mich brauchen solltest.

Sie stand auf und wanderte erregt im Zimmer auf und ab. Das wäre ein Weg, grübelte sie. Ich müßte mit ihm fahren — und wenn er nicht will, heimlich!

Sie warf die Locken aus der Stirn und ging zum Telefon. Herr von Barthey war nicht wenig erstaunt, als Angela Bender ihn anrief. Ihr Verlangen aber brachte ihn völlig aus seiner Ruhe.

«Unmöglich«, sagte er dann fest.»Ganz abgesehen davon, daß das Wahnsinn wäre, Sie in diese Fieberhölle zu schicken. Es geht auch technisch nicht. Sie brauchen einen Paß, Sie brauchen Visa, was mindestens vier bis sechs Wochen dauert! Dann eine Tropentauglichkeitsuntersuchung, Impfungen, Ausreiseerlaubnisse, Einreiseerlaubnisse, Devisengenehmigungen. beste Frau Doktor, es ist ganz aussichtslos!«

Sie legte den Hörer wort- und grußlos auf und sank in ihren Sessel zurück.

Soll ich zu ihm gehen und ihn um Verzeihung bitten? überlegte sie. Aber was nützt das alles! Er wird mir verzeihen, wir werden ei-nen schönen Abend verleben — und er wird doch fahren! Dort im Kalender ist der rote Strich, der Strich, der mein Leben vernichtet. An diesem Tag wird in Bremerhaven eine Schiffssirene heulen, eine Bordkapelle wird >Muß i denn.< oder >In der Heimat, da gibt's ein Wiedersehn< spielen, und dann wird der Schiffskiel durch das Wasser rauschen — die Glocken werden läuten — volle Fahrt voraus — nach Südamerika! Hinweg aus meinem Leben, mein lieber, lieber Peter.

Ich muß es ertragen, das war ihr einziger Entschluß nach allen Überlegungen. Fänden wir jetzt, kurz vor dem Abschied, wieder zusammen, dann würde die Trennung noch schwerer sein. So haben wir beide die Bitterkeit des Streites noch in uns und können leichter vergessen.

Vergessen? Gab es das überhaupt? Kann eine Liebe vergessen werden? Kann man einen Menschen einfach aus seinem Gedächtnis streichen, einen Menschen, der einmal dieses Gedächtnis mit seinem Ich so vollkommen ausfüllte, daß es nichts außer ihm gab?

Sie ging zu Bett — vier Nächte lang — und fand keinen Ausweg. Sie zermarterte sich, sie rang mit ihrem Stolz und ihrem Gefühl, mit ihrer Vernunft und ihrer Pflicht.

Als sie nach zwei Wochen, äußerlich erholt, erfrischt und braungebrannt, wieder in der Lindenburg erschien und Dr. Sacher begrüßte, war alles so, wie es vor der Reise an die Ostsee gewesen war. Sie ging Peter Perthes immer noch aus dem Weg, er arbeitete in seinem Labor oder saß des Abends bei Professor Window und spielte Schach, bis er vor Müdigkeit den Bauern mit dem Springer verwechselte.

Am 7. August 1950, es war ein Montag, bekam Peter Perthes seine Schiffskarten aus Hamburg. Die Ausreise war auf Mittwoch, den 16. August, morgens um 5.30 Uhr, festgesetzt. Die Würfel waren gefallen. Es gab kein Zurück mehr.

Herr von Barthey verständigte telegrafisch seine Geschäftsfreunde in Bogota, damit sie Dr. Perthes nach seiner Fahrt durch den Panamakanal in dem Hafen von Buenaventura erwarteten, dem einzigen Hafen in Kolumbien, von dem eine Eisenbahn quer durch die Cordillera zur Hauptstadt Bogota führt.

Professor Window reiste nach Bonn und besprach dort einen staatlichen Auftrag für Dr. Perthes, vom Kaiser-Wilhelm-Institut lief eine Anfrage ein, das Tropenkrankenhaus in Hamburg schickte eine Liste von Tropengiftfällen, die man zur Zeit noch nicht klären konnte. Eine kurze Pressenotiz unterrichtete die Welt darüber, daß ein Dr. Perthes aus Köln zur Erforschung neuer medizinischer Wege in die Urwälder Kolumbiens fahre. Die Meldung ging im politischen Geschehen unter, man las sie kaum oder vergaß sie sofort.

In diesen Tagen erlebte Angela Bender eine neue Beschämung. Dr. Perthes schickte seinen Labordiener zu ihr und bat um Herausgabe seiner Wäsche, seiner Anzüge. Er schickte keine Zeile mit, nicht einen Gruß, nichts. Er ließ seinen Wunsch mündlich bestellen, als wolle er damit ausdrücken, daß das Band nun endgültig gerissen und nie mehr zu flicken sei.

Mit unbewegter Miene packte Frau Dr. Bender Peters Sachen ein. Auch sie legte keinen Gruß bei. Nicht einen Wunsch für die Fahrt, nicht die Bitte: Komm gesund wieder, gesund und erfolgreich.

Als der Labordiener mit dem Paket für Peter Perthes wegging, wußte sie, daß sie eine Zukunft begraben und verloren hatte. Und es war nichts in ihr als Bitterkeit, als Traurigkeit über die eigene Feigheit und den dummen Stolz, einen Mann nicht um Verzeihung bitten zu können.

In der Frühe des 16. August 1950 lief die >Argentinia< aus Bremerhaven aus. Die kleinen Schlepper ließen zum Abschied ihre grellen Sirenen ertönen, die >Argentinia< antwortete dumpf, am Pier standen Menschen und winkten dem scheidenden Ozeanriesen nach. Die weißen Tücher flatterten, und es sah aus der Ferne aus, als schneie es dicke Flocken auf den Hafenkai. Die großen Schrauben des Dampfers wühlten das brackige Hafenwasser auf und schoben den Eisenkoloß ins freie Meer hinaus. Unermüdlich spielte die Bordkapelle, laut und ab und zu falsch.

An der Reling stand Dr. Peter Perthes und blickte zurück auf die langsam im Frühsonnenglast versinkende Heimat. Die hohen Kräne des Hafens wurden zu Spielzeugen, die Trockendocks zu schwimmenden Seifenschalen, die Kais versanken in einem Flimmern der Luft, durch die nur noch das Flattern der Taschentücher wie irrende Punkte herüberleuchtete.

Im freien Wasser verließ dann der Lotse den Dampfer und stieg über auf einen der kleinen Schlepper. Die Stahltrossen wurden gehievt, noch einmal tönte das Sirenenkonzert über das rauschende Meer — dann zog die >Argentinia< ihren schlanken weißen Leib durch das in der Sonne leuchtende Meer, dem Süden entgegen.

Dr. Perthes lehnte noch immer an der Reling und blickte auf die versinkende Küste Deutschlands. Auf einmal kam er sich verlassen und ausgestoßen vor, einsam wie ein Flüchtender, der eine schlechte Tat begangen hat und die Heimat zurückläßt. Ich komme wieder, dachte er dann, und stand immer noch an der Reling, bis der allerletzte helle, kaum noch wahrnehmbare Streifen der Küste am Horizont versank. Ich komme bestimmt zurück und löse mein Wort ein, dachte er immer wieder.

Kreischende Möwen umgaukelten das Schiff und hofften auf zugeworfenes Futter. Über die Küchenabfälle, die am Heck ins Meer geschüttet wurden, fielen sie her und rissen sich gegenseitig die Beute aus den Schnäbeln.

Langsam wandte sich Dr. Perthes ab und ging im Schaukelgang zu seiner Kabine. Ein Steward, der ihm mit einem Tablett entgegeneilte, bot hohe Gläser mit Orangensaft an. Er nahm ein Glas und setzte sich in einen der herumstehenden Liegestühle. Ein kühler Wind wehte jetzt von der offenen See her. Die Schraube des Ozeanriesen wühlte die Wellen zu weißer Gischt auf, die hoch am Heck emporgeiferten. Aus den Gesellschaftsräumen drang leises Stimmengewirr.

Kurs Südwest! Dort hinten, zwei Monate entfernt, lag Südamerika. Kolumbien! Die Urwälder von Azaneni.

Peter Perthes schloß die Augen. Er lauschte hingegeben auf das Rauschen des Meeres.

An diesem Tag, am 16. August 1950, dem Tag der Abfahrt des Dr. Peter Perthes, meldete sich Dr. Angela Bender krank. Die Kinderstation übernahm eine ältere, etwas mufflige Kollegin aus einer ber-gischen Kleinstadt. An Professor Window schrieb sie, daß er sie bis auf weiteres von ihren Verpflichtungen in der Lindenburg entbinden möchte, selbstredend ohne Gehaltsansprüche. Sie fühle sich unwohl und wolle zu Freunden nach Bayern fahren.

Es wurde das Ende von Angela Benders Kölner Praxis, denn sie kam nicht mehr zurück. Die Kollegin übernahm auch die Privatpraxis, die Wohnung, das Mädchen. es wurde alles brieflich geregelt.

Sosehr sich auch Dr. Paul Sacher um sie bemühte, sie in Hof in Bayern besuchte, ihr sogar den ersten Kartengruß Peters in die Hand spielte — eine Ansicht des Hafens von Las Palmas bei einem Landgang auf den Kanarischen Inseln: >Versuche auch, Angela von mir zu grüßen< —, sie blieb bei ihrem festen Entschluß, nicht mehr an den Ort zurückzukehren, an dem sie einmal glücklich gewesen war. Alles — ob in der Lindenburg, in der Praxis am Stadtwald, in den Lokalen oder Theatern — erinnerte sie an Peter — es wäre ein ewiges Erinnern gewesen, ein beständiger Schmerz, dem sie sich nicht gewachsen fühlte. So zog sie sich zurück, weit weg von den ragenden Domtürmen am Rhein, und versuchte, sich ein Leben aufzubauen, in dem es keinen Dr. Perthes gab.

Natürlich blieb ein kleiner Stachel in ihrem Herzen zurück. Über ihn kam sie nicht hinweg, denn sie fühlte wohl, daß sie damals in ihrer Erregung einen großen Fehler gemacht hatte.

Als Peter von Bremerhaven abfuhr, fand sie in ihrer Wohnung, vom Labordiener gebracht, einen Brief vor. Sie erkannte auf dem Umschlag Peters steile Handschrift. Sie nahm den Brief von ihrem Schreibtisch auf, als sei er etwas, was man kaum anfassen dürfe. Sie ging damit in die Küche, zündete den Gasherd an und ließ den Brief ungelesen aufflammen. Dann legte sie das brennende Papier auf die Emailplatte des Herdes und beobachtete, wie das Schreiben zu einem Häuflein grauweißer Asche verbrannte. Diese kehrte sie säu-

berlich zusammen und warf sie in den Aschenkasten, mit einer Geste, die ein Abschluß war.

Heute, in der Stille des bayerischen Landhauses, auf dem Holzbalkon sitzend und auf die Wiesen hinabblickend, hätte sie gern gewußt, was seine letzten Worte waren. Ob sie Verzeihen suchten? Ob sie um Verständnis warben oder bloß eine Höflichkeit darstellten, an der man bei einem solchen Abschied nicht vorbeikommt? Ihre übereilte Handlung kam ihr jetzt dumm und kindisch vor. Aber sie war nun einmal geschehen, das Band, von dem sie glaubte, es sei aus Gold und könne nie im Sturm des Lebens zerschleißen, war gerissen. Immer aber, trotz der aufbrausenden Enttäuschung, fand sie an den Abenden zurück zu ihren Büchern, die sie aus Lübeck mitgebracht hatte. Dann saß sie unter der kleinen Tischlampe und studierte Toxikologie, stellte Formelgleichungen an und entwickelte theoretisch nach einem Handbuch Antitoxika, die schon vorhanden waren. Regelrechte Übungen waren das, Studien bekannter Gifte, ein Vertiefen in die Rätsel der winzigen Kristalle, die einen Menschen in kürzester Zeit zu Boden werfen können.

Schaudernd hatte sie oft die Wirkung der Gifte erlebt. Sie konnte es oft nicht verstehen, daß so etwas möglich war, sie rang um ihr Verstehen, wie klein der Mensch doch ist, wenn er durch mikroskopisch große Kristalle das Leben lassen muß. Und sie fand den Weg, den sie im Innern suchte, aber den der äußere Frauenstolz verdeckt hatte: Sie erkannte nun die Größe dieser Forschung und die Notwendigkeit, ihr Opfer zu bringen.

Sie lebte gerade einen Monat lang in Hof, als sie die Gewißheit bekam, daß sie Peter Perthes nie verlieren konnte, daß ein Vergessen unmöglich wurde. Der alte Landarzt, der Angela gründlich und väterlich untersuchte, klopfte ihr danach begütigend auf die Schulter und sah sie über die Brillengläser an. Dann stellte er seine Diagnose.

«Sie werden nicht die letzte sein, die vor einer solch schweren Prüfung steht«, sagte er leise.»Die Liebe kommt von Gott. Und der Kollege Dr. Perthes wird einmal stolz sein, wenn er nach Hause zurückkehrt und den Sinn seines Lebens vermehrt sieht. «Er schob die Brille hoch.»Nur, beste Frau Kollegin, Sie müssen es ihm schreiben.«

Angela Bender schüttelte den Kopf. Jetzt gerade nicht, dachte sie und erschrak zugleich innerlich über diesen Trotz. Jetzt werde ich beweisen, daß die Liebe einer Frau größer, reiner und duldender ist als die eines Mannes. Ich werde mein Kind großziehen, ich werde aus ihm einen ganzen Menschen machen, ich ganz allein. Und ich werde ihm die Unrast seines Vaters nehmen, vom ersten Lallen an werde ich ihm den Haß auf die Fremde lehren. Es wird mein Kind sein.

Sie schloß die Augen. Der alte Landarzt schien zu ahnen, was in der jungen Frau vorging, und schwieg. Er schrieb weiter auf seiner Karteikarte und vermied es, die Kollegin anzusehen oder gar anzusprechen.

Als Dr. Bender aufstand und sich verabschiedete, drückte er ihr fest die Hand.»Wenn Sie Hilfe brauchen — ich bin immer für Sie da. «Und als er spürte, daß sie zögerte, meinte er noch:»Bei jedem Menschen kommt einmal die Stunde, wo er glaubt, er könne eine Last nicht mehr weiter ertragen. Dann ist die Stunde gekommen, wo er einen anderen Menschen braucht, der ihn zurück auf den rechten Weg führt, der ihn stützt und leitet.«

Er sah ihr nach, wie sie über die Wiese, die vor seinem Haus lag, ging: federnd, leicht, schmal und ein wenig nach vorn gebeugt. Sie überquerte den Feldweg und wandte sich dem Wald zu, der gleich einer dunklen Wand die Felder begrenzte. Die Sonne sank.

Ich werde nach Köln schreiben, dachte der alte Arzt und schüttelte den Kopf, als könne er die heutige Jugend nicht mehr verstehen. Dort wird man wissen, was man zu tun hat.

Um die gleiche Zeit fuhr Dr. Peter Perthes in den Hafen von New York ein. Ein Sirenen- und Pfeifkonzert begrüßte die weiße >Ar-gentinia<. Das schmutzige Hafenwasser schäumte fettig. Drüben, von Brooklyn und Manhattan, grüßten die Steinriesen herüber. Die Spitzen der Wolkenkratzer schienen in den blauen Himmel zu stoßen, es sah aus, als trügen sie das Himmelsgewölbe.

Unter dem ausgestreckten Arm der Freiheitsstatue zog das weiße Schiff in den Hafen. Gewaltig reckte sich die steinerne Fackel der Sonne entgegen. Freiheit!

Dr. Perthes stand an der Reling und sah den großen Piers entgegen. Eine neue Welt eröffnete sich ihm, Station eines anderen Lebens. Der Schatten der Freiheitsstatue fiel über sein Gesicht. Er lächelte glücklich.

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