Kapitel 14

Die plötzliche Heilung des weißen Zauberers wurde in den Urwäldern Kolumbiens rasch bekannt. Tag und Nacht dröhnten die Baumtrommeln und riefen das Wunder in alle Winde. Die Tarapas starrten auf ihre Arme, viele hatten Narben, aufgequollen und groß. Sie waren stolz darauf und verachteten diejenigen, bei denen die Impfung keine Zeichen hinterlassen hatte. Ihre Freude war groß, daß er seine Beine von den Göttern wiedergeschenkt bekommen hatte. Vier Tage lang loderten die Feuer an den geheimen Lagerplätzen mitten im Urwald.

Dann dröhnte aber die Trommel Sapolanas. Und der Kreis schloß sich wieder um Peter Perthes.

Er durfte Zapuare nicht verlassen.

Die Medizinmänner umtanzten die Fetischsäulen. Ihre wunderlich bemalten Körper glänzten im Feuerschein.

Einmal, in der Nacht, ließ der alte Sapolana vor Peters Haus den mit Muscheln und Tukanfedern geschmückten Balg eines riesenhaften Trompetervogels legen.

Ein Symbol des besiegten Dämons.

Aber der Ring wurde immer enger. Selbst der Bankier merkte es, als er mit Peter und Cartogeno den Rio Guaviare hinabfuhr, um sich das Tor zu den unerforschten Wäldern zeigen zu lassen, die Mündung des Cuno Supari.

Wo auch immer sie anlegten, überall staken in den Uferbäumen die langen, gefiederten Pfeile — die roten Pfeile! Sie warnten stumm. Im Holz der Bäume zitterten sie leicht.

Von Barthey sah sie mit Grausen und wandte sich an Peter:»Ich fahre wohl doch lieber allein nach Deutschland zurück«, sagte er leise.»Ich möchte ja nicht Ihr Leben in Gefahr bringen. Kommen Sie nach, wenn man Sie fahren läßt.«

Peter schüttelte nur den Kopf und schwieg. Er riß die Pfeile aus den Bäumen und warf sie weit hinaus in den Fluß. Sie trieben den

Strom hinab, wurden von den Tarapas aufgefischt und zitterten, noch naß und triefend, wieder an den Baumstämmen, wenn das Boot in kleinen Buchten anlegte.

Dem Bankier wurde das unheimlich. Er weigerte sich am Schluß, überhaupt noch an Land zu gehen, und atmete erst auf, als sie wieder in Zapuare anlegten, unterhalb des Hauses, wo die Indios einige Bootsstege in den Fluß gezimmert hatten. Peter kniff die Augen zusammen; auch Dr. Cartogeno war wütend.

In dem Holz des Stegs stak ein langer, mit geheimnisvollen Runen verzierter Speer. Unter seiner langen, vergifteten Knochenspitze hing an einem Faden aus Menschenhaar ein kleiner weißer Schrumpfkopf.

Wolf von Barthey verfärbte sich. Sein Gesicht wurde grün. Er wandte sich ab und verspürte den Drang, zu erbrechen. Mit abgewandtem Gesicht stieg er aus dem Boot und rannte, an dem Speer vorbei, durch den Garten ins Haus. Dr. Cartogeno riß den Speer aus dem Bootssteg und schleuderte ihn mitsamt dem Schrumpfkopf weit in den Fluß hinaus.

«Das bedeutet bereits Kampf«, sagte er leise zu Peter, der in das strömende Wasser schaute.»Sapolanas letzte, eindringliche Warnung! Du wirst hierbleiben müssen.«

«Ich lasse mich von einem Wilden nicht zwingen!«

«Er ist stärker als du. Er hat alle Vorteile auf seiner Seite. Die Wälder, die Flüsse, das Gift, zweitausend Krieger, die Angst der Menschen in diesem Gebiet. Du hättest ihn damals nicht retten dürfen!«

«Dann lebten wir auch nicht mehr!«Perthes ging zum Haus zurück und stieß auf der Veranda zu Herrn von Barthey, der bereits seine Sachen zusammenpackte.

«Keine Stunde bleibe ich in dieser Hölle!«rief er.»Man hatte recht in Bogota: Hier leben keine Menschen, hier leben Teufel!«Keuchend lehnte er sich an die Wand.»Haben Sie das gesehen, Dr. Perthes? Der Kopf eines Weißen! Grauenhaft!«

«Sapolana hat davon eine ganze Sammlung.«

«Und so ein Untier retten Sie vom Tod? Ich hätte ihm noch Gift

in die Adern gespritzt!«

«Das meinte Fernando auch. Aber ich bin Arzt. Ich bin zu ihm gerufen worden. Wir sehen nicht darauf, wer unser Patient ist. Wir heilen Heilige genauso wie Sünder und Mörder! Wir kennen da keinen Unterschied. Für uns ist jeder Kranke nur ein Mensch, ohne Namen, ohne Rang, ohne das Schuldbuch seines Lebens! Er kommt zu uns in seiner Not, und wir nehmen sie ihm, wenn wir die Kraft und die Mittel dazu haben. Ein Mörder, Herr von Barthey, empfindet genauso Schmerzen wie ein Bankier, um einmal diesen Vergleich zu gebrauchen. Sein Vertrauen zu unserem ärztlichen Ethos verpflichtet uns, ihm zu helfen. Wie der Priester seine Absolution erteilt, den Gerechten und Ungerechten, das Geheimnis jener Seelen in seiner eigenen Seele vergräbt, so stehen wir am Bett eines jeden Kranken und tun die Pflicht, die uns Gott auferlegte.«

«Und der Geheilte, der Ihnen Verpflichtete, warnt Sie dann mit einem weißen Schrumpfkopf, sein Land nicht zu verlassen! Eine billige Logik — meinen Sie nicht?«

Der Bankier packte erregt weiter.»Ich bleibe nicht eine Stunde länger! Ich bewundere Ihren Mut, Dr. Perthes, und noch mehr bewundere ich Ihre reine, idealistische ärztliche Berufsmoral — aber ich glaube, daß sie in diesem Fall übersteigert ist!«

Peter schwieg. Er ging ins Haus und packte in eine Tropenkiste aus Leichtmetall die bisher gewonnenen Präparate, den Blutkuchen aus konzentriertem Gift, seine Tagebücher und die genauen Arbeitsangaben seiner Versuche. Er schrieb noch auf der kleinen Kofferschreibmaschine seine Ansichten über die Fortentwicklung des Serums nieder und gab theoretische Anweisungen zur Erforschung einer Giftart, die eine Suffusion verursacht, den Blutaustritt unter die Haut.

Wolf von Barthey trat in das Zimmer. Draußen warteten schon vier Träger, die Dr. Cartogeno in aller Eile gemietet hatte.

«Sie kommen nicht mit?«fragte der Bankier kurz.

«Heute nicht. «Peter erhob sich und überreichte dem Bankier die blinkende Kiste und den dicken Brief.»Wenn ich mit Ihnen fah-ren würde, so würde das meinen und höchstwahrscheinlich auch Ihren Tod bedeuten. Sie allein kommen durch — meine Reise wird eine weniger gemütliche sein. Auf jeden Fall treffen wir uns im Hafen von Buenaventura, vielleicht auch noch in Bogota. Und geben sie acht auf die Kiste und auf dieses Schreiben. Mit dem Inhalt der Kiste können Sie halb Deutschland vergiften, in dem Brief ist der Grundstock Ihrer chemischen Fabrik begründet!«Er drückte Wolf von Barthey die Hand.»Ihr Besuch hat mir wieder Lebensmut gegeben. Ich bekenne es, unter uns, Herr von Barthey.: Ich hatte keine Lust mehr. Ich wollte einfach nicht mehr. Gelähmt, verurteilt, mein Leben unter giftigen Blüten zu beenden. Nein! Oft stand ich abends am Ufer und sah den Piranhas zu, wie sie mit ihren messerscharfen Zähnchen einen Körper in wenigen Sekunden bis zum Gerippe abnagen. Ein wenig Schlafpulver, am Ufer eingenommen, und sich betäubt in den Fluß fallen lassen. Man hätte nie gewußt, wo Dr. Perthes geblieben ist.«

«Das ist doch Irrsinn!«Herr von Barthey starrte Peter an.»Wie konnten Sie nur so denken?«

«Sie können wohl nicht nachempfinden, was es heißt, durch den Biß einer lächerlichen Spinne nicht nur gelähmt, sondern innerlich vollkommen verseucht zu sein. Wir wissen doch nicht, wie das Blut reagiert — in einem Jahr, in zwei oder drei Jahren. Vielleicht erst in zwanzig? Es war ein ständiges Warten, ein quälendes, tägliches Selbstbeobachten: Breche ich zusammen? Ist es jetzt vorbei? Oder läßt mich das Gift noch gnädigst die morgige Sonne sehen? Ich war einfach am Ende! — Und da kam dieses geheimnisvolle Päckchen! Es kam aus Deutschland. Anonym! Und die zehn Ampullen mit der milchigweißen Flüßigkeit, mit diesem Serum aller Sera, brachten die Wende! Mein Blut wurde gereinigt, das Serum gab mir mein Leben zurück. Sie haben es ja selbst gesehen. meine ersten Schritte… das neue kindliche Tasten meiner Beine. Und ich begriff es nicht.«

«Es war wie ein Wunder«, sagte Wolf von Barthey leise und erschüttert.

«Und es war ein Triumpf der Wissenschaft! Der einmalige Sieg eines Forschers, der sich im Hintergrund hält, den noch keiner kennt. Darum muß ich nach Deutschland, nur darum! Ich muß diesen Mann finden! Ich will ihm danken, und ich werde keine Ruhe haben, bis ich vor ihm stehe! Sie verlassen nun Zapuare — und mich werden dreitausend Tarapas jagen, wenn ich Ihnen folge! Ich habe aber wieder neuen Mut, ich habe in Ihnen die Heimat wiedergesehen… und ich werde Ihnen folgen!«Er hielt Wolf von Bartheys Hand fest.»Warten Sie auf mich in Bogota — ich komme bestimmt!«

«Ich warte, Dr. Perthes«, sagte der Bankier fest.

Sie gaben sich noch einmal die Hand und blickten sich in die Augen. Es war ein Versprechen unter Männern, das nie gebrochen werden würde. Dann wandte sich der Bankier ab, ging hinaus auf die Veranda, verabschiedete sich von Dr. Cartogeno und bestieg sein Pferd.

Peter Perthes stand am Fenster und blickte der weißen Gestalt nach, bis sie sich im dunklen Grün der Ferne auflöste. Der Kolumbianer stand hinter ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter.

«Du bleibst, Peter?«fragte er.

Der Freund schwieg. Dr. Cartogeno verstand diese Antwort und wandte sich ab. Er packte das Nötigste zusammen, Konserven, Hartkekse, zwei Revolver, Munition, Feldflaschen mit Tee, Spritzenkästen mit Gegengiften, ein Arztbesteck, einen leichten Regenmantel aus Ölhaut.

«Ich werde in der Nacht den Rio Guaviare hinabrudern«, sagte Cartogeno, während Peter noch immer am Fenster stand und hinausblickte auf den Wald, in dem Wolf von Barthey verschwunden war. Dort liegt meine Heimat, dachte er wehmütig. Deutschland! Er lehnte den Kopf an den Fensterrahmen.

Ich habe Heimweh, dachte er. Plötzlich habe ich Heimweh nach dem Rhein, nach den duftenden Tannenwäldern, den alten Eichen mit den breiten Kronen, den schlanken, zierlichen Birken und den flimmernden Sternen am dunkelblauen Himmel. In wenigen Monaten wird es schneien.

Weiß ich denn überhaupt noch, so gingen seine Gedanken weiter, wie Schnee aussieht? Weiße, leichte Flocken schweben aus dem blaugrauen Himmel, man fängt sie auf, und in der Hand werden sie zu wunderlichen Kristallen, die dann zu Wasser schmelzen. Rosen des Himmels sind es, weiß und so zart, daß sie die menschliche Berührung nicht ertragen.

Die Heimat! Die Heide, weit, unendlich fast, ein violetter Teppich! Die Berge, Felsenspitzen, die in den ziehenden Wolken verschwinden. Die See. Weißer, weicher Sand, an den die Wellen rollen und die Füße umspülen, als wollten sie ein Kuß der Ewigkeit sein.

Mein Gott, habe ich Heimweh.

Die Stimme des Freundes riß ihn aus seinen Gedanken.

«Vor mich ins Boot werde ich eine Puppe setzen, in einem deiner Anzüge. Der Dolmetscher will sie mir aus Leinen flechten. In der Nacht kann man das nicht so genau erkennen. So werden wir die Tarapas täuschen. Ich fahre den Rio hinab. Und du kannst versuchen, entgegengesetzt nach San Pablo zu gelangen und durch die Llanos de San Martin nach Villavicencio. Ich werde fünf Tage unterwegs sein, immer mitten im Strom, damit niemand die Puppe erkennen kann. Dieser Vorsprung muß dir genügen!«

Peter drehte sich dem Freund zu.»Das geht nicht, Fernando. Wenn Sapolana den Betrug merkt, bist du ein toter Mann.«

«Und du bist gerettet, Peter.«

«Nein! Dieses Opfer nehme ich nie und nimmer an! Wir müssen einen anderen Weg finden.«

An diesem Tag sprachen sie nicht mehr davon. Heimlich ließ Dr. Cartogeno die Puppe anfertigen und versteckte sie in den folgenden zwei Tagen in einem Schuppen in der Nähe des Hauses.

Wieder einmal erklang von fern das dumpfe Dröhnen der Baumtrommeln. Sie begleiteten den Weg Herrn von Bartheys, der unangefochten die Wälder passierte und ziemlich erschöpft von der ausgestandenen Angst in Villavicencio eintraf.

Er gönnte sich nur wenige Stunden Erholung. Dann suchte er den

Polizeichef auf, führte Blitzgespräche mit der Regierung in Bogota und bat um Hilfe. Hilfe für Dr. Peter Perthes.

Dreitausend Tarapas bewachten ihn. Curare ist heilbar! Der deutsche Arzt hat das Gegengift gefunden! Aber er ist in den Händen Sapolanas, des Teufels von Amorua. Die Regierung Kolumbiens hat die Pflicht, den Arzt und sein Serum zu retten! Es geht jetzt nicht um den Mann allein, es geht um das Ansehen eines Staates in der Welt!

Von Bogota, von Neiva, von Tunja aus rückten die Regierungstruppen nach Villavicencio. Wieder erschienen auf den staubigen Straßen die Raupenschlepper, die Panzerwagen, die Flammenwerfer. Drei Hubschrauber kreisten darüber. Motorisierte Truppen sammelten sich am Rande der Llanos de San Martin. Die kleine Stadt Villavicencio glich einem mittelalterlichen Heerlager. Überall sah man nur Uniformen und Waffen, Wagen und Geräte, Feldgeschütze und Zeltstädte.

Wolf von Barthey saß bei dem Oberst, der die Truppen befehligte. Die ersten Bildberichte der amerikanischen Zeitungen und Illustrierten tauchten auf.

Kampf den Tarapas!

Ein Mann muß aus der grünen Hölle geholt werden!

Tag und Nacht dröhnten jetzt in den riesigen Wäldern die Baumtrommeln. Von Amorua bis Cobeuo, von Churrues bis Macueni an der bolivianischen Grenze hämmerten die braunen Finger auf den ausgehöhlten Stämmen.

Sapolana ruft euch! Die Weißen greifen an!

Schützt die Wälder! Umstellt den weißen Zauberer, der für uns Leben bedeutet. Er darf unsere Wälder nicht verlassen, wenn ihr weiterleben wollt. In seiner Hand ist das Wundermittel, das alle Feinde des Körpers besiegt! Nehmt die Speere und die giftigen Blasrohre, klettert auf die Bäume und legt einen Gürtel von Giften um Zapuare!

Die Trommeln dröhnten, Tag und Nacht.

Dreitausend Tarapas saßen in den Büschen.

Zweitausend Tucanos zogen vom Amazonas nach Norden zu Sa-polana.

Eintausend Gadupinapos ruderten auf Kriegskanus vom Orinoko nach dem Süden.

Um die Fetischsäule tanzten wie besessen die Medizinmänner. Die Schrumpfköpfe hüpften um die nackten Lenden, und die schrillen, tierischen Schreie erschütterten die Wälder.

Sapolana trat zum erstenmal seit vielen Jahren unter seine Krieger.

«Rettet euer Leben!«rief er grell.»Behaltet den weißen Zauberer hier!«Er zeigte auf seine Impfnarben!» Hier hat er uns in das Leben hineingeschnitten! Unsere Kinder sollen es auch haben! Vernichtet die anderen Weißen! Wir lassen uns den weißen Zauberer nicht nehmen!«

An einem frühen Morgen, bei strömendem Regen, setzten sich die Panzerwagen von Villavicencio aus in Marsch. Ihnen folgten die Raupenschlepper, die die Straße, die die Panzer in den Wald gebrochen hatten, erweiterten. Dicht aufgeschlossen ratterten die Maschinen der motorisierten Truppe. Der Spitze voraus kreisten die Helikopter und warfen Markierungszeichen und Bomben in die dichten Wälder.

Auf den Bäumen, in der Erde, hinter den Büschen, im Schlamm der Sümpfe warteten die Krieger Sapolanas. Sie bildeten eine Kette rund um Zapuare bis nach Guacamo hinein. Stumm sahen sie der auf sie zurollenden Vernichtung entgegen.

Namenlose braune Helden — mit Tukanfedern in den gespaltenen Ohren und Muschelketten auf der Brust.

Bei Sabana am Rio Cada flammte der Urwald auf. Die Flammenwerfer spritzten den Tod mit brennendem Öl in die Büsche. In ihnen verbrannten die ersten Tarapas — still, ohne Schreie, verbissen. Sie verkohlten in ihren Erdlöchern, die Giftpfeile noch in der Hand. Sapolana ballte die Faust, als die Trommel ihm das meldete.

Er schickte neue Krieger an den Rio Cada. Sie liefen in die Maschinengewehre der Weißen.

Langsam bewegte sich die Truppensäule durch den Urwald, dem Rio Uva entgegen.

In einem Panzerwagen an der Spitze saß der Kölner Bankier von Barthey.

Nacht lag über Zapuare. Der Rio Guaviare rauschte durch die Stille. An dem dünnen Draht, der, auf einen Rahmen gespannt, vor den Fenstern stand, klebten Schwärme von Moskitos und Mücken. Es war kühl. Ein starker Blumenduft durchzog das nächtliche Zimmer.

Mit offenen Augen lag Peter Perthes unter seiner Decke auf dem Feldbett. Er hatte seinen Anzug anbehalten und schaute in längeren Abständen auf seine schwach in der Dunkelheit blinkende Armbanduhr mit den Phosphorzeigern.

Zwei Uhr morgens!

Leise richtete er sich auf und blickte hinüber zu Dr. Cartogeno, der auf der Seite lag und ruhig atmete. Sein Bett war in der Dunkelheit nicht zu sehen, nur sein tiefer Atem füllte die Ecke aus, in der sein Lager stand.

Vorsichtig, jedes Geräusch vermeidend, erhob sich Peter. Er tastete sich durch den Raum, auf Zehenspitzen, sogar den Atem anhaltend. Auf einem kleinen Tisch neben der Tür lag der Rucksack, den ihm Dr. Cartogeno vor einigen Tagen gepackt hatte. Man hatte seitdem nicht wieder von einer Abreise gesprochen. Es war, als bliebe Peter wirklich in Zapuare und ließe Herrn von Barthey allein nach Deutschland fahren. Im Inneren aber wußten die Freunde, daß die Stunde der Trennung greifbar nahe gekommen war. Daß sie nicht darüber sprachen, bewies nur, wie schwer ihnen der Abschied wurde — wenn auch ein klein wenig Hoffnung auf ein Wiedersehen immer da war.

Leise nahm Peter den Rucksack vom Tisch und schlich zur Tür. Zentimeter um Zentimeter öffnete er sie, damit sie nicht knarre, schlüpfte dann auf die Veranda und eilte die Holzstufen hinab in den Garten.

Dort blieb er stehen und umfaßte noch einmal mit dem Blick die wie ein schwarzer Fleck in der Dunkelheit liegende Blockhütte. In seinem Rücken wiegten sich die Kanus im Fluß. Die Taue knarrten. An die Bootswände klatschten die trägen Wellen. Vom Wald herüber tönte das Greinen eines aus dem Schlaf aufgeschreckten Affen.

Peter setzte sich auf einen Baumstamm und packte aus dem Rucksack die beiden Revolver aus. In jede Tasche steckte er eine Waffe, eine zusammengefaltete Karte schob er unter das Hemd auf die nackte Brust.

Dann wechselte er die Schuhe, warf die leichten Schuhe fort und zog die schweren, dicken Lederschuhe an, die allen Schlangenbissen trotzten.

Er lächelte wehmütig. Fernando hatte an alles gedacht. Er wollte ihm den Abschied wirklich schwer machen.

Noch einmal trat er an die Veranda heran. Abschiednehmend grüßte er das Haus mit der erhobenen Hand — das Haus mit dem schlafenden Freund.

Dann wandte er sich rasch ab und rannte, so gut es seine noch immer ungelenken Beine vermochten, das Ufer entlang, dem schweigenden schwarzen Wald zu.

Hinter dem Moskitodraht stand Dr. Fernando Cartogeno am Fenster. Er blickte Peter nach. Er sah ihn auch zurückkommen, das Haus grüßen — und ihn dann fortrennen. Ein Stich ging durch seine Brust, ein Schmerz, den er noch nie empfunden hatte.

«Gute Reise«, murmelte er und starrte in das Dunkel, das Peter aufgesaugt hatte.»Ich warte auf dich, Peter. Ich werde die Station im Urwald ausbauen. Komm bald zurück.«

Und er wußte schon, als er es noch leise aussprach, daß es ein Selbstbetrug war. Ein Betrug, um sich zu beruhigen. Er riß sich vom Fenster los, warf sich auf das Feldbett, rollte sich in eine Ecke und zwang sich zu schlafen. Da sein Wille allein dafür nicht ausreichte, nahm er ein Schlafpulver und kroch dann unter die Decke.

Jetzt werde ich erfahren, was Einsamkeit ist, dachte er noch. Und ich hatte doch immer solche Angst, allein zu sein.

Dr. Peter Perthes ging durch den Wald. Zapuare lag knapp hinter ihm. Im Schatten der Bäume ging er die Straße entlang bis zu der Stelle, wo sie in den Urwald mündet. Dort zweigte er ab und kroch auf allen vieren in das Unterholz, durch zentimeterhohe, verfaulte Blätter und über morsche, von Lianen erdrückte und gefällte Bäume.

Nach einer knappen Stunde traf er auf einen Tierpfad und lief die enge Gasse durch die grüne, wogende Schlucht hinab. Der Leuchtkompaß zeigte ihm die Richtung. Der Pfad lief auf Raya zu, einer Siedlung östlich des Rio Cada.

Noch hatte er keinen Tarapa gesehen.

Zwei Tage lang hatten die Trommeln in den Wäldern ununterbrochen getönt. Die alten Sammler und Händler von Zapuare machten ernste Mienen. Krieg sollte das bedeuten, meinte man. Die Ta-rapas sammelten sich. Irgend etwas mußte geschehen sein. Eine Stammesfehde oder ein Angriff von außen? Selbst die Indios weigerten sich, zum Kautschukstamm in die Wildplantagen zu gehen.

Jetzt schwieg der Wald. Stolpernd ging Perthes über den Pfad. Seine Beine wurden rasch müde, sie zitterten wieder, wurden weich in den Knien. Er rastete ein wenig, schnitt sich mit der Machete einen dicken Ast ab und gebrauchte ihn als Stock. Auf ihn gestützt ging er weiter… schwankend, mehr tastend als gehend. Schweiß brach trotz der Nachtkühle aus seinen Poren — er achtete nicht darauf, sondern riß sich das Hemd über der Brust auf. Die Karte, naß von Schweiß, knüllte er in die Hosentasche neben einen von seinen Revolvern.

Gegen Morgen, seine Uhr zeigte gerade auf fünf, brach die Sonne plötzlich durch die Wolken, fast ohne Dämmerung. Er stand in einer Schneise, überragt von turmhohen Bäumen, deren Kronen sich wie ein Domdach über ihm wölbten. Unter ihm schwappte fauliger Boden.

Eine Baumtrommel, ganz in der Nähe, dröhnte auf. Mit einem Ruck warf er sich seitwärts in die Lianen, kroch durch schimmeligen, mit Pilzen überwucherten Boden in die Tiefe des Waldes und legte sich hinter einen dicken Baumstamm auf die Blätter. Über ihm lärmten lustige Kolibris und wunderliche, kleine grellbunte Papageie. Kreischend umflatterten sie ihn und retteten sich dann ängstlich auf einen Wipfel.

Den ganzen Tag über lag Peter Perthes hinter dem Baumstamm. Mit zitterndem Herzen hörte er die Kehlkopflaute der Tarapas. Sie liefen kaum hörbar über den schmalen Pfad, den er die Nacht hindurch entlanggezogen war. Auf der Schneise blieben sie stehen, unterhielten sich laut und liefen dann den Pfad weiter, auf Raya zu. Es mußten über 50 Krieger sein. Das Klappern der Pfeile in den Köchern war sehr deutlich zu hören.

Hinter ihm, irgendwo im Dickicht, klang wieder eine Trommel auf. Ihr dumpfer Ton schwang über ihn hinweg. Eng preßte er sich in seinem Versteck an den Boden und wartete, den Revolver in der Hand.

Es geschah nichts. Offenbar hatten sie seine Spur nicht entdeckt. Sie dachten gar nicht daran, ihn zu suchen, weil sie glaubten, er sei noch in Zapuare. Er wußte nicht, daß in dem letzten Abschnitt der Nacht Dr. Cartogeno noch einmal aufgestanden war, die Puppe aus dem Schuppen geholt und mit Peters Anzug bekleidet hatte. Dann war er, mit der Puppe vorn im Boot, hinaus auf den Fluß gerudert.

Wie erwartet meldeten die Trommeln die Abfahrt des weißen Zauberers, den Rio Guaviare hinunter. Befriedigt beorderte Sapolana die Mehrzahl seiner Krieger an den Rio Uva, um die Weißen aufzuhalten. Solange der weiße Zauberer auf dem Strom war, war er dem Großen Häuptling sicher.

Der Tag ging langsam vorüber.

Gegen vier Uhr nachmittags hörte Perthes über dem Blätterdom ein Rauschen und Brummen — ein Flugzeug! Verwundert blickte er empor. Durch die Blätter und Äste konnte er nur ein kleines Stück Himmel sehen. Das Motorendonnern verklang schnell. Über den Pfad rannten andere Tarapas. Die Trommel in seinem Rücken dröhnte wieder.

Krieg! Sie hatten recht in Zapuare. Das Flugzeug, die Trommeln,

Tag und Nacht die rennenden Krieger. Sollten Regierungstruppen die Urwälder durchkämmen? War Wolf von Barthey vermißt oder gar erschlagen worden? Eine heiße Angst kroch in Peter Perthes hoch.

Krieg der Regierungstruppen gegen die Tarapas? Und er allein mitten unter ihnen, gehetzt wie ein Wild, eingekreist mit versagenden Beinen, ohne Kenntnis der Wälder, durch die er flüchten wollte, ausgeliefert den Gefahren der grünen Hölle. So lag er und lauschte.

Wieder das Flugzeug! Es kreiste. Ein unheimliches Krachen erschütterte plötzlich den Urwaldboden. Die Kolibris und Papageie schwirrten kreischend davon. Affenherden flüchteten mit lauten Schreien. Durch das Unterholz brach schnaubend ein Tapir.

Bomben! Bomben auf den Urwald! Bomben auf die Tarapas! Peter Perthes drückte sich an den schützenden Baumstamm. Das Flugzeug kreiste wieder. Sein Motorengeräusch war lauter, surrender geworden. Es flog jetzt tiefer und schwebte dicht über den Baumkronen. Maschinengewehrfeuer erfüllte den grünen Dom.

Über den Pfad liefen wieder Tarapas. Perthes hörte nur ihre Rufe. Die Trommeln in seinem Rücken schlugen wie toll. Weit weg, es war schwer zu schätzen, hörte er die Abschüsse und Einschläge von Artillerie.

Dort schossen die Panzer mit ihren Langrohrgeschützen in die Schneisen und in die Baumkronen, auf denen die Tarapas mit ihren Blasrohren saßen. Krachend zerplatzten die Granaten in den Wipfeln und rissen die Krieger auseinander.

Sapolana war am Cuno Managuare eingetroffen. Sein Gesicht war verschlossen, seelenlos. Er ließ durch seine Trommeln verkünden: Jeder, der mir einen weißen Kopf bringt, erhält von Sapolara, dem Medizinmann, einen Fetisch gegen die nächtlichen Dämonen.

Jubelnd stürzten die Krieger vor, verblutend im rasenden Feuer der Maschinengewehre. Hundert — zweihundert — fünfhundert Ta-rapas fielen.

Der Bankier sah durch den Sehschlitz seines Panzers auf das Morden.»Sie sind wahnsinnig«, sagte er erschüttert.»Ein ganzer Stamm opfert sich für einen einzigen weißen Arzt.«

Und wieder brachen die Panzer vor, und das Feuer der Flammenwerfer schob sich vor ihnen her.

Peter Perthes lag den ganzen Tag über, ohne sich zu rühren. Er trank aus seinen Feldflaschen, aß die harten Kekse und wartete auf die Nacht.

In der Ferne ebbte das Feuer ab. Die Tarapas und die verbündeten Stämme zogen sich zurück. In der Nacht kämpften sie nicht. Die Dämonen der Dunkelheit würden sie vernichten. Wie alle Naturvölker hatten sie eine heilige Scheu vor dem Dunkel. Sie schlugen sich seitwärts in die Wälder und zogen sich an geschützten Stellen in kleinen Lagern zusammen. Kein Feuer verriet sie. Sie schliefen auf der Erde oder in den Bäumen wie Jaguare.

Gegen zwölf Uhr nachts brach Peter auf. Er schlich auf den Pfad zurück und humpelte ihn, auf seinen Stock gestützt, weiter. In seinen Gliedern lag es wie Blei. Sein Puls klopfte, als wollten die Adern zerreißen.

Weiter, nur weiter! Dem Schießen entgegen! Den Leuchtkugeln, die über den Bäumen standen.

In der Rechten den Stock, in der Linken einen Revolver, so stolperte er durch den Wald. Hinter einer Biegung des Pfades hörte er Gemurmel. Er warf sich zu Boden und kroch in das Unterholz, unter armdicken Lianen hindurch. So umging er ein kleines Lager, und so traf er nach drei Stunden mühseliger Kriecherei, zerschunden, zerkratzt, am Ende seiner Kräfte, wieder auf den schmalen Pfad.

Die Trommeln im weiten Umkreis begannen von neuem ihr dumpfes, schauriges Konzert. Sie verkündeten Sapolana und den kämpfenden Tarapas die Freudenbotschaft: Der weiße Zauberer ist in der Nacht den Rio Inirida hinaufgefahren. Umari hat ihn gesehen. Er saß vorn im Boot und fing eifrig Nachtfische. Der weiße Zauberer wird in den Wäldern bleiben. Haltet nun die Weißen auf..

Peter hetzte durch den Wald. Im Rücken wußte er die Lager der Tarapas. Vor sich sah er die Leuchtkugeln der Regierungstruppen. Ein Hubschrauber warf Leuchtschirme, die langsam zur Erde schwebten und zischend in den feuchten Kronen der Urwaldriesen verlöschten.

Die Beine wurden schwerer und schwerer. Sie schleppten beim Gehen nach. Der dicke Stock wurde erneut zur Krücke. Ächzend blieb Perthes in kürzeren Abständen stehen und lehnte sich haltsuchend an die glatten, harzigen Stämme. Seine Brust hob sich in schweren Stößen auf und nieder.

Durchhalten! rief er sich zu. Nur jetzt nicht liegen bleiben. Dort kommen sie. die Freunde, die Befreier, die Retter. Nicht hinlegen, Peter, nicht schlafen… es würde dein Tod sein.

Weiter, nur weiter. wenn auch die Beine brennen, wenn das Blut auch kocht, wenn es vor den Augen flimmert. Morgen oder übermorgen kannst du schlafen… eine Woche lang, zwei Wochen… solange du willst! In einem weißen Bett unter weichen Federn, die sich an die gequälte Haut schmiegen werden. Kühl und doch wärmend.

Weiter.

Er kroch auf allen vieren durch den Wald. Er fiel in vermodernde Blätterberge, wälzte sich über Baumstämme und mannsdicke Lianen. Luftwurzeln hemmten seinen Weg, tückische Querwurzeln, flach und kaum sichtbar über dem Boden liegend, stellten ihm ein Bein.

Er fiel aufs Gesicht, schlug sich die rechte Wange auf, das Blut rann den Hals hinunter über die keuchende Brust.

Weiter. weiter.

Wie ein Tier kroch er, vorwärts schnellend, Raum gewinnend, kräftesparend. Den dicken Stock schleifte er hinter sich her. Wenn er dann wieder gehen konnte, richtete er sich an ihm auf und taumelte weiter über den schmalen Weg, verbissen, mit glasigen Augen, die beinahe schon leblos geradeaus starrten.

Plötzlich stellte sich ihm eine Schlange in den Weg. Auf ihrem Schwanzstück sitzend, züngelte sie und wiegte mordlustig den Kopf hin und her. Er wagte nicht zu schießen. Er griff seinen Knüppel fester und hieb auf den flachen, scheußlichen Kopf..

Er hieb noch, als die Schlange zermalmt am Boden lag und der Leib sich sterbend aufbäumte. Tot! schrie es in ihm. Tot — alles, was sich mir entgegenstellt. Und er hieb und hieb auf die Schlange, bis

sie unkenntlich am Urwaldboden lag.

Dann taumelte er weiter, den Stock mit dem Schlangenblut in der Hand. Die aufgerissene Wange schmerzte, der Rucksack auf dem Rücken wurde zentnerschwer. Nicht wegwerfen, sagte er sich vor, und wenn er noch so schwer wird — nicht wegwerfen! Die Medikamente sind darin, das Essen, die Feldflaschen. Er lehnte wieder an den Bäumen und verschnaufte. Seine Beine waren gefühllos. Blut tropfte jetzt auch aus den aufgesprungenen Wunden beider Füße.

Weiter. weiter. weiter.

Wieder ein Lager der Tarapas. Von neuem mußte er auf dem Bauch durch den dichten Busch kriechen, durch faulige Blätter und das Aas krepierter Tiere. Seine Handflächen riß er an den Dornen wund, sein Körper wurde zu einem Brand blutender Haut. Er riß sich das Hemd von der Brust und umwickelte seine Hände mit den Fetzen. Dann packte er wieder den Knüppel fest und hetzte vorwärts.

Die Leuchtkugeln kommen näher. Das Gewehrfeuer wird lauter.

Nicht anhalten — nicht müde werden!

Im Rücken folgt dir der Tod!

So kam der Morgen. Peter Perthes lag in einer Erdmulde unter Lianen und Blättern, zugedeckt mit den Rinden verschimmelnder Bäume. Er war der Erde gleich geworden. Erschöpft, am Ende aller Kräfte schlief er ein.

Geweckt wurde er durch die Dunkelheit. Um ihn war wieder einmal das rasende Konzert der Baumtrommeln. Er achtete schon nicht mehr darauf, kroch aus seinem Versteck und schwankte an seinem Stock weiter.

Ein Fluß trennte seinen Weg. Er warf einen leichten Baumstamm ins Wasser, zerrte ihn mit der Kraft der Verzweiflung ans Ufer und klammerte sich daran fest. Er dachte nicht an die Piranhas, an die Giftrochen. Er schwamm, an den Stamm geklammert, durch den schmalen Fluß.

Unverletzt kam er am anderen Ufer an und kletterte die Böschung hinauf. Er wusch sich das Gesicht, die Hände — umwickelte sie von neuem mit den Hemdfetzen und stolperte weiter.

Es geht nicht mehr! schrie es in ihm. Wirklich, es geht nicht mehr. Mein Gott, hab Erbarmen mit mir, hilf mir. hilf mir.

Nun versagten seine Beine endgültig. Der Stock war eben doch keine Krücke, er konnte den Körper nicht aufrecht halten. Da warf er ihn fort und kroch auf allen vieren durch den Wald. Tierhaft stemmte er sich vorwärts, seine Kraftreserven waren unheimlich, sein Lebenswille stark wie je.

Und er kam vorwärts… Meter um Meter… jeder krallende Griff in den feuchten Boden brachte ihn der Freiheit, der Erlösung näher.

Immer noch dröhnten um ihn die Trommeln. Er lag seitlich in dem Lianengestrüpp, wenn die Tarapas vorüberliefen. Er hielt den Atem an, den Revolver immer noch in den blutenden, umwickelten Händen.

Man entdeckte ihn nicht. Die Krieger liefen jetzt in entgegengesetzter Richtung. Sie kamen ihm entgegen. Dann war es still um ihn… er war allein im Wald mit Kolibris, Trompetervögeln, Papageien und Affen.

Und wieder ging es weiter. Kriechend, keuchend, an den Boden gedrückt, als fände er bei jedem Tasten neue Kraft. Urkraft, das Ziel zu erreichen.

Der Tag kam. Er sah die Sonne durch die hohen Baumkronen brechen, und er kroch weiter. Ein kleiner Mensch in dem riesigen Wald — im Rücken die Tarapas, vor sich die Freunde —, ein kleiner Mensch an der Grenze seines Willens, seiner Kraft.

Die Uferstraße des Rio Cada, ein Pfad nur, lag plötzlich vor ihm. Mit einem Aufschrei erreichte er den Weg und kroch ihn entlang. Die Heimat! hämmerte es in ihm. Die Straße nach Deutschland! Helft mir, Freunde, helft mir… ich kann nicht mehr.

Weinend preßte er das Gesicht in das dichte Gras. Die Nerven versagten, Schluchzen schüttelte ihn. aber der Körper kroch weiter. Kroch weiter. ein blutendes Tier, das Rettung wittert.

Den Rio Cada entlang donnerten die Panzer. Sie zermalmten die Sperren der Natur, schossen Störfeuer voraus, um die Wilden zu

verjagen.

Wolf von Barthey, am Sehschlitz des Turmes, hatte die Tarapas tapfer sterben sehen, und jetzt zitterte er um den Freund, der allein der Rache der Wilden ausgeliefert war.

«Halt!«rief da der Panzerführer durch das Kehlkopfmikrofon. Das Maschinengewehrfeuer schwenkte ein, vor ihnen auf dem Weg lag ein Mensch!

Er rührte sich nicht. Langsam fuhr der Panzer näher. Und plötzlich schrie der Bankier auf, riß die Luke auf und sprang, alle Vorsicht vergessend, auf die Erde. Er stürzte auf den liegenden Körper zu, nahm ihn in seine Arme und trug ihn den Soldaten zu, die ihm entgegengerannt kamen.

«Dr. Perthes!«schrie er.»Er ist es! Peter, mein Junge.«

Wolf von Barthey drückte den Kopf des Ohnmächtigen fest an sich, den blutenden, menschenunkenntlichen Kopf.

Schon raste ein Sanitätswagen heran; Ärzte, in weißen Kitteln über den Uniformen, beugten sich über den zerschundenen Körper.

Auf weißen Tüchern, über das hohe Ufergras gebreitet, zogen sie Dr. Perthes die zerfetzten Kleidungsstücke aus und wuschen die Wunden. Sie gaben Spritzen und legten Verbände an. Dann wurde der deutsche Kollege auf eine Bahre gebettet und in den Wagen geschoben.

Wolf von Barthey wich nicht von seiner Seite — er kletterte mit in den Wagen und hielt die verbundene Hand des Ohnmächtigen.

Die Panzerwagen drehten um und deckten den Rückzug der anderen Truppen — ihre Aufgabe war erfüllt.

Fern, ganz fern, dröhnten die Trommeln.

Dr. Cartogeno ruderte nach Zapuare zurück, vor sich im Kanu immer noch die Puppe.

Und Umari meldete seinem Häuptling: Der weiße Zauberer kehrt nach Zapuare zurück! Wir haben unseren Kampf gewonnen! Er bleibt bei uns.

Als Sapolana die Wahrheit erfuhr, war Peter Perthes schon in Bogota und lag in einem weißen Klinikbett.

Grell schrie der Große Häuptling auf und riß sich die Fetische vom Körper.

In einer hellen Nacht starb stumm, an einem Pfahl lebendig über einem Feuer röstend, Umari für seinen Irrtum.

Dann schwieg der Urwald. Riesenhaft, unerforscht, ein Meer von wogenden Wipfeln lag er unter der sengenden Sonne.

Die Tukane pfiffen, Kolibris gaukelten graziös über die Flüsse. Der Tapir brach in die Ufer und trank das klare Wasser. Orchideen öffneten ihre Kelche und zeigten die Wunderpracht der eingefangenen Sonnenstrahlen.

Die Urzeit lebte wieder. Wie eine Sage wog es um den Wald: Die Sage von der Erdenmutter Nungüi.

In seinem Haus in Zapuare saß Dr. Cartogeno und wartete auf die Rache Sapolanas. Die Gewehre lagen schußbereit unter den Fenstern des Hauses.

Aber der kolumbianische Arzt hörte nie mehr etwas von dem Großen Häuptling.

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