Kapitel 3

Am Abend des Samstags stand dann Peter Perthes vor seinem Spiegel und band sich die Smokingschleife. Ihn reizte die Einladung bei dem Bankier von Barthey — nicht allein, weil Angela auch kommen würde, sondern auch, weil Wolf von Barthey ihm versprochen hatte, sich für seine Forschungen zu interessieren.

Mit größter Sorgfalt bügelte er, noch im Slip seine Smokinghose, rief noch einmal die Klinik an, um sich nach dem gegenwärtigen Befinden des kleinen Patienten zu erkundigen. Dann zog er sich fertig an, kletterte in seinen kleinen Sportwagen und fuhr hinaus nach Lindenthal zur von Bartheyschen Villa.

Als er in die Straße einbog, sah er schon die schmiedeeisernen Laternen am Eingangstor brennen. Sie warfen einen milden Schein auf den weichen Kies, mit dem der Weg zur Villa bestreut war. Durch Büsche und eine kleine Pappelallee führte er vor die Freitreppe des Hauses.

Als der Wagen knirschend hielt, trat Wolf von Barthey selbst auf die Treppe hinaus und empfing seinen Gast.

«Daß Sie trotz Ihrer Arbeitsüberlastung kommen, finde ich großartig!«sagte er. Er faßte Dr. Perthes unter und schien bester Laune zu sein.»Ihre charmante Kollegin ist auch schon da!«

«Das ist schön. «Peter Perthes hielt vor der großen Flügeltür, die in den eleganten Wohnraum führte, an.»Ich habe eben noch einmal angerufen, es geht Ihrem Horst bestens. Er erholt sich zusehends!«

«Das ist eine Freudenbotschaft, die meiner Frau über viele Sorgen hinweghelfen wird!«

Der Bankier schob seinen Gast in das geräumige Wohnzimmer, wo in der Kaminecke vor einem alten, geschnitzten Tisch in tiefen Gobelinsesseln Angela Bender und Helene von Barthey saßen.

Die Dame des Hauses erhob sich bei dem Eintritt des jungen Arztes und kam auf ihn zu. Sie war eine sehr schöne, hochgewachsene Frau Mitte der Dreißig, mit einem schmalen, nordischen Gesicht und sehr hellen Augen. Sie waren jetzt voller Tränen. Helene von Bartheys schmale Lippen bewegten sich, sie wollte etwas sagen — aber dann schwieg sie, vielleicht aus Angst, daß sie schluchzen müsse. Stumm drückte sie Peter Perthes die Hand und nickte ihm zu. Sie wissen, was ich sagen will, sollte das wohl heißen.

Und Dr. Perthes wußte es. Er beugte sich über die blasse Hand und küßte sie. Dann ging er zu Dr. Bender, die ihn kaum ansah. Sie trug ein enges, sehr helles Seidenkleid und hatte ihre schwarzen Locken im Nacken zu einem Lockenwirbel mit einem hellroten Samtband zusammengehalten. Ihr Profil wirkte wie ein altitalienisches Gemälde, zart, zerbrechlich, hoheitsvoll, stolz und unnahbar.

Sie nickte Peter ebenfalls zu, gab ihm lässig die Hand und zog sie rasch zurück, als er sie küssen wollte. Sie beschäftigte sich intensiv mit einer Schale voll Konfekt, die auf der dicken Tischplatte stand.

Ein Mädchen erschien und brachte dem Hausherrn eine Karaffe mit bestem französischem Cognac. Der Bankier schenkte ein und ließ Dr. Perthes hochleben. Dann saß man in den tiefen Sesseln und versuchte, eine Unterhaltung in Gang zu bringen.

«Reden wir heute abend nicht von Horst und dem Unfall«, meinte Wolf von Barthey mit einem Blick auf seine Frau, die — bleichen Angesichts — dafür sorgte, daß es ihren Gästen an nichts mangelte.»Erzählen Sie aus Ihrem Leben, lieber Doktor!«

«Das ist uninteressant«, erwiderte Peter Perthes und blickte zur

Seite auf Angela Bender.»Es ist außerdem langweilig und eintönig. Die Tretmühle der täglichen Pflichten ist der Motor aller meiner Handlungen, leider. Ein Privatleben kenne ich kaum. «Er machte eine Pause und wiederholte dann:»Leider!«

«Aber, aber!«Wolf von Barthey lachte laut und goß die Cognacschwenker noch einmal voll.»Sie haben doch die ganze Welt gesehen!«

«Die Welt? Nein! Ich habe in der Welt nur die Gifte gesehen! Ich habe Kobras auf Celebes gefangen, Klapperschlangen am Fuße des Kilimandscharo, Brillenschlangen am Kongo, Korallenottern auf Tahiti, nochmals Klapperschlangen in Abessinien und Baumschlangen am Gran Chaco!«

«Und Sie wurden nie gebissen?«Helene von Barthey beugte sich vor.»Der Biß einer dieser Giftschlangen ist doch absolut tödlich?«

«Um der Menschheit diese Furcht zu nehmen, stelle ich ja meine Forschungen an! Ich bin auf der Jagt nach neuen Sera gegen alle Gifte, die die Natur für den Menschen bereithält. Ich habe mich vor zwei Jahren dreimal von einer Kreuzotter beißen lassen, um ein von mir entwickeltes Serum nachzuweisen. Wie Sie sehen — mit Erfolg, denn ich lebe. Aber wir haben in der Serumforschung und gerade in der tropischen Toxikologie nur ein kleines Teilgebiet lichten und erobern können. Noch gibt es Hunderte von Giften, die wir nicht kennen und also auch nicht bekämpfen können. Denken Sie zum Beispiel an Curare, das Lähmungspfeilgift der südamerikanischen Indianer. Wir haben dagegen noch kein Mittel. Die Indianer am oberen Maranon, einem Quellfluß des Amazonenstroms, die Tikuna-Indianer, haben ein Gift, das wir Ticunas nennen. Es wirkt augenblicklich tödlich. Gegenmittel — keines! In Ostindien kennt man das sogenannte Fürstengift, das Upas Radja. Es erzeugt augenblicklich Starrkrampf. Und als Gegenmittel haben wir bis jetzt nur Chlor, das selten hilft. Denken Sie an die bestialischen Gifte der Südsee, Upas Antier, Pohon Upas und das chinesische Gift Tsau-rou. Das sind pflanzliche Gifte, gegen die unsere Mittel und Drogen fast gar nichts nützen! Die Buschmänner haben ein Gift aus dem Saft der Giftschlangen, das sie mit einem Wurzelextrakt vermischen. Es gibt nicht weniger als tausend Arten von Schlangen! Ein Forschungsgebiet also, so unendlich groß und verantwortungsvoll, und doch ein Gebiet, das die wenigsten Menschen kennen und kaum beachten. Dabei baut gerade die Medizin und die Pharmazie wesentlich auf den Erkenntnissen unserer Toxikologie auf; wir sind gleichsam die Unbekannten im Hintergrund, die die Wege ebnen, auf denen dann ein Siegeszug beginnen kann, dem die Massen zujubeln.«

«Ein schöner Beruf!«Wolf von Barthey brannte sich eine Zigarre an, während Peter Perthes und Angela Bender sich Zigaretten nahmen.»Sie können doch stolz auf Ihre Erfolge sein!«

«Teilerfolge! Um einen vollen Erfolg zu haben, müßte man Geld besitzen. Forschung kostet nun einmal Unsummen, die nur selten wieder durch die Erfolge eingenommen werden. «Peter Perthes lehnte sich in seinem Sessel zurück und rauchte in tiefen Zügen. Dann nahm er aus der Brusttasche seiner Smokingjacke eine Karte. Sie zeigte einen Ausschnitt aus dem Inneren Kolumbiens, hart an der Grenze des Amazonas. Unendliche, unerforschte Wälder, durchzogen von unbekannten Flüssen und Seen, Sümpfen und Bächen zeigte das Kartenbild, das nach einer Luftaufnahme hergestellt worden war.

«Sehen Sie hier — Kolumbien. Ein Staat, der seine Grenze am Amazonas hat, ein Land, das durch abertausend Bäche, Flüsse und Sümpfe eine ideale Brutstätte unbekannter Giftschlangen ist.«

Er legte seinen Zeigefinger auf einen Punkt der Karte und blickte den Bankier, der sich voller Interesse über die Karte beugte, an.

«Hier liegt ein Nest, Zapuare genannt. Es liegt am Rio Guaviare in der Provinz Piapoco. Südöstlich liegt Pajarito, und noch weiter südlich sehen Sie hier den Zipfel von Majabo. Dieses ganze Gebiet wimmelt von Giftschlangen und noch nicht erforschten Indianerstämmen, deren Pfeilgifte sofort töten, die aber, haben wir sie erforscht, vielleicht in der Pharmazeutik eine Revolution herbeiführen wie seinerzeit das Penicillin oder andere Wundermittel. Denn

— Gift in der Blutbahn ist tödlich; aber Gift, das gleiche Gift zum Beispiel im Magen, kann heilend sein! Nur — man kann diese For-schungen nicht betreiben, weil der Staat kein Geld besitzt, um eine Expedition nach Kolumbien auszurüsten.«

«Der Staat hat kein Interesse an diesen wunderbaren Forschungen?«fragte Wolf von Barthey erstaunt und ein wenig ungläubig.

«Interesse schon — aber kein Geld! Die privaten Gesellschaften, die Universitäten müssen sich allein helfen. Man rechnet uns — und das vielleicht zu Recht — vor, daß wir in Deutschland noch über eineinhalb Millionen Wohnungen zu bauen haben, daß gegenwärtig noch über siebenhunderttausend Menschen in Bunkern, Baracken und Kellern von Trümmergrundstücken leben, daß die soziale Not so riesengroß ist, daß es den Staat wirklich nicht interessieren kann, ob wir in Südamerika in einem halben Jahr zwei neue Giftschlangen fangen oder nicht. An diesem Natternfang hängt im Augenblick nicht das Leben von Tausenden. Ich sage, im Augenblick, denn wer kann garantieren, daß nicht eine neue Seuche über die Menschheit hereinbricht, unbekannt — wie heute noch der Krebs oder die multiple Sklerose? Und dann gibt es kein Mittel dagegen, das vielleicht gerade aus jenen Giften gewonnen werden könnte, die wir auf Grund von Geldmangel nicht erforschen oder auch nur beschaffen konnten!«

Wolf von Barthey nahm die Karte und studierte sie genau unter der Stehlampe. Sein Gesicht zeigte einen energischen, entschlossenen Ausdruck. Ein Plan schien in seinem Kopf zu reifen, ein Plan, dessen Tragweite seine Gesichtszüge schon ausdrückten.

«Was bedeuten die roten Kreise auf der Karte?«fragte er plötzlich in die Stille hinein, die den Worten des jungen Arztes gefolgt war.

«Das sind die einzelnen Stationen einer geplanten, aber fiktiven Expedition. An diesen Stellen, an den Flüssen und Indianersiedlungen, sollen jeweils für Wochen oder, wenn nötig, für Monate Lager aufgeschlagen werden. Dort werden die einzelnen Fänge ausgewertet und an geeigneten Tieren die Gifte der einzelnen Phasen ausprobiert. Von diesen Lagern aus können wir dann Räume erschließen, die heute noch auf den Landkarten weiß sind und die noch kein Europäer betreten hat.«»Hm. «Wolf von Barthey schaute sich die Karte noch immer an. Er schien aber nicht mit seinen Gedanken bei den geschilderten Plätzen zu sein, sondern er schien vielmehr zu denken. Die Karte betrachtete er nur noch, um Zeit zu gewinnen.

«Wie hoch schätzen Sie die Kosten einer solchen Expedition?«fragte endlich der Bankier.

Dr. Perthes zuckte zusammen. Sein Gesicht war gerötet. In seinen Augen flammte eine wunderbare Hoffnung auf.

«Ich schätze sie auf vierzigtausend Mark für ein Jahr. Es kann sein, daß es auch etwas weniger wird.«

«Oder mehr.«

«Das kommt darauf an, was wir finden. Ist der Zug erfolgreich, brechen wir schneller ab. Haben wir dagegen lange Fahrten zu unternehmen, verteuert sich selbstverständlich das ganze Unternehmen.«

Wolf von Barthey blickte kurz zu seiner Frau hinüber. Er sah, wie sie ihm leicht zunickte. Auch Angela Bender sah es und wurde plötzlich blaß.

Nur Dr. Peter Perthes starrte weiterhin auf die kolumbianische Karte.

«Es ist gut«, sagte der Bankier und gab die Karte an den Arzt zurück.»Kommen Sie morgen zu mir, Doktor. Wir wollen das alles besprechen. Sie haben meinem Horst das Leben gerettet — das ist mit Geld nicht zu bezahlen. Das Leben meines Kindes ist keine Summe. Aber ich stehe bei Ihnen in einer großen Schuld, von der ich einen winzig kleinen Teil abtragen möchte. «Er blickte Peter Perthes groß an.»Ich gebe Ihnen fünfzigtausend Mark für eine Forschungsreise nach Kolumbien!«

Dr. Perthes schnellte aus seinem Sessel hoch.

«Herr von Barthey — das kann ich nicht annehmen. Das ist unmöglich. Fünfzigtausend Mark! Unmöglich.«

«Aber warum denn? Es ist eine Spende aus meinem privaten Vermögen. «Der Bankier stand auf und trat auf Peter Perthes zu. Er legte ihm die Hand auf die Schulter, und es sah aus, als wollte er ihn umarmen.»Sie haben ein Leben gerettet, das mich angeht. Retten Sie nun durch mich das Leben von Tausenden!«Er zog mit der Hand einen scharfen Strich durch die Luft, als Dr. Perthes antworten wollte.»Schluß! Ich möchte dieses Thema für heute beenden. Kommen Sie morgen zu mir mit einem genauen Zeitplan!«

Er wandte sich ab und schellte dem Mädchen. Eine würzige Ananasbowle wurde hereingebracht, vom Hausherrn eigenhändig angesetzt, wie Frau von Barthey verriet. Während der Bankier plaudernd die Gläser füllte, kümmerte sich die Dame des Hauses um Gebäck und appetitliche Schnitten.

Dr. Perthes hatte sich zu Angela Bender gewandt, die still in ihrem Sessel saß und auf ihre Hände schaute. Sie lagen in ihrem Schoß und waren seltsam ineinander verkrampft.

Ihr Gesicht war blaß, blasser noch in der Beleuchtung und durch ihre zurückgekämmten Locken.

«Ein neues Leben, grollende Kollegin«, sagte Perthes leise.»Sie sollten mich beglückwünschen!«

Sie schnellte mit dem Kopf herum und blickte ihn jetzt aus ihren großen braunen Augen an.

«Ich gratuliere keinem Menschen, der in den sicheren Tod rennt!«

«Sie haben Angst?«Peter Perthes fühlte, wie sein Herz schneller schlug.»Um mich? Es kann Ihnen doch völlig gleichgültig sein, was mit mir in Südamerika geschieht.«

«Nein!«Ihre Stimme klang schroff.»Sie setzten einen sehr hohen Preis für einen noch nicht erwiesenen, sehr zweifelhaften Erfolg ein.«

«Das tun alle Forscher! Nur durch Einsatz kommt man zu einem Gewinn! Das Leben ist nun mal kein Klubsessel, in den man sich setzt, um sechzig oder siebzig Jahre lang sein gemütliches Pfeifchen zu rauchen!«

«Es ist aber auch kein dauerndes Spiel!«

Wolf und Helene von Barthey boten ihre Köstlichkeiten an, und so brachen sie das Gespräch ab. Sie unterhielten sich nun gemeinsam über Theater, Film und Modefragen, wobei sogar Peter Perthes eine ganz gesunde Kritik vorbrachte.

Dann, gegen 23.30 Uhr, verabschiedete man sich auf dem Kiesweg von den Gastgebern, und es ergab sich zwangsläufig, daß Dr. Perthes Angela Bender anbot, in seinem Wagen mitzufahren. Sie war die kurze Strecke zu Fuß gekommen.

Ohne ihn anzublicken, setzte sie sich neben Dr. Perthes in den Wagen und ließ sich in die Lederpolster fallen. Sie winkten noch einmal zurück zu Frau und Herrn von Barthey, die untergefaßt an dem eisernen Tor standen und ihnen nachschauten.

Dann fuhren sie in die stille Fürst-Pückler-Straße hinein, vorbei an den hohen Bäumen des Stadtrandwaldes. Längere Zeit fuhren sie stumm durch die helle Sommernacht. Peter Perthes drehte das Radio an, schaltete es aber sofort wieder aus, als die Spätnachrichten durchgegeben wurden. Plötzlich hielt er den Wagen an und wandte sich an seine Begleiterin:

«Nach Cognac und Bowle dürstet es mich nach frischer Luft! Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir noch ein wenig durch den Stadtwald fahren? Die Nacht ist so warm, die Luft ist voller Blütenduft.«

Sie nickte, und er lenkte den Wagen über die breiten Sandwege, die in den Wald hineinführen.»Ich vermisse frische Luft immer sehr«, sprach er weiter.»Immer im Labor zwischen stinkenden Flüssigkeiten da lernt man den reinen Atem der Natur schätzen!«

Sie fuhren langsam auf stillen Wegen, vorbei an einem Weiher, auf dem inmitten einer kleinen Insel ein Schwanenhaus träumte. Die Tische und Stühle des Lokals am Ufer waren zusammengeschoben oder schräggestellt. Es war still und einsam, nur ab und zu bummelte ein verspätetes Liebespaar eng umschlungen durch den Wald und achtete nicht auf den langsam fahrenden Wagen. Die hohen Bäume, Ulmen, Eichen und Buchen, warfen lange Schatten über das Wasser, in dem sich der Mondschein wie Silber spiegelte.

Peter Perthes hielt an, stieg aus dem Wagen und reichte Angela stumm die Hand.

«Ich muß heute noch einmal ein wenig romantisch werden«, meinte er dann, und es kam einer Entschuldigung gleich.»Es ist zuviel, was auf mich einstürmt und worüber ich mir jetzt klarwerden muß.

Das Geld, das völlig neue Leben, das dann für mich beginnen würde. Pläne und Forschungen. Träume, die endlich Wirklichkeit werden können, der Sieg über die Gifte, von dem ich jahrelang träumte… alles, alles ist vorläufig noch wie ein Druck auf meinem Herzen.«

Er ergriff ihre Hand und zog sie zu einem der Tische, kippte ihn in die richtige Lage und zog zwei Stühle heran.»Setzen wir uns«, sagte er.»Ich bin so froh, daß Sie gerade jetzt bei mir sind. Das klingt vielleicht dumm, kindisch, pathetisch, so ganz nach Schmalzroman — aber das Leben ist manchmal so, wie man es nicht sehen möchte. «Er ließ ihre Hand los und setzte sich.»Da hat man sein Leben lang geschuftet für ein Ziel — und plötzlich ist es durch einen dummen Zufall erfüllbar! Man hat doch eigentlich in dem Bewußtsein geschuftet, das Ziel nie zu erreichen, weil es zu hoch war. Aber gerade weil es so unerreichbar schien, hatte man einen Ansporn. Jetzt, wo es greifbar nahe gerückt ist, habe ich ein wenig Angst davor.«

«Angst vor dem eignen Mut?«Angela Bender schüttelte den Kopf.»Sie sollten besser Angst um Ihr Leben haben!«

«Das Leben eines Menschen kann nur einem Zweck dienen!«Peter Perthes holte sein Zigarettenetui hervor und bot Angela an. Als die Zigaretten brannten, sprach er weiter.»Wir alle haben doch von Gott mit unserer Geburt eine Aufgabe gestellt bekommen. Der eine eine kleine, der andere eine größere. Wir kennen sie nicht, diese Aufgabe, nur, wenn wir am Ende des Lebens auf unsere vergangenen Jahre zurückblicken, können wir den Weg ahnen. Den Weg, der trotz aller Windungen und Kurven doch zu einem Ziel führte, das wir vorher nie erkannten. «Er blickte Angela groß an.»Sie haben Angst vor dem Tod.«

«Ja!«Sie schüttelte ihre Locken.»Ich begegne ihm täglich in der Klinik in vielerlei Gestalt. Es ist grauenhaft!«

«Aber unaufhaltsam! Unser Leben währt nur eine Sekunde im Vergleich zur Ewigkeit nach dem Tod. Und wir haben deshalb die Verpflichtung, diese Sekunde zu nutzen, sie aufzuteilen in die kleinen täglichen Pflichten, aus denen wir allmählich das Mosaik zimmern, nach dem uns Gott einst bewerten wird. «Er blickte auf seine Armbanduhr und zeigte sie dann seiner Begleiterin.»Sehen Sie, wie der Sekundenzeiger springt? Er springt der Ewigkeit entgegen! Sehen Sie auch, wie der Minutenzeiger schleicht? So schleicht die Zeit dahin, ohne daß wir es merken, und wenn wir sie verfolgen wollen, sind wir alt und verbraucht.«

Peter Perthes stand auf und trat an das Eisengitter, mit dem das Ufer des Weihers umrandet war.»Ein Frosch in diesem Teich«, fuhr er versonnen fort,»weiß nicht, daß es außerhalb seines Lebensbereiches, dieses Wassers, eine Stadt Köln gibt. Und Amerika und Indien kennt er gar nicht. Sind wir nicht auch Frösche? Wissen wir, was außerhalb unserer Denksphäre liegt? Sehen Sie, liebe Kollegin, so ist es in meinen Augen des Menschen sittliche Verpflichtung, sein Leben einzuzahlen auf der großen Bank der Schicksale. Wenn man so weit gekommen ist, hat man auch keine Angst vor dem Tod mehr.«

Angela Bender trat neben ihn und griff nach seinem Jackenärmel.»Kommen Sie«, sagte sie leise,»bringen Sie mich bitte nach Hause. Ich friere.«

Er führte sie zum Wagen zurück, zog seine Smokingjacke aus und hängte sie ihr um und fuhr langsam aus dem dunklen Stadtwald hinaus auf die helle Straße. Sie fuhren über den erleuchteten Asphalt und hielten — er immer noch hemdsärmelig — vor dem Haus mit dem blanken Emailleschild.

«Da sind wir«, sagte er.

Angela Bender erschrak. Sie war mit ihren Gedanken weit weg gewesen, irgendwo im südamerikanischen Urwald, wo ein bärtiger Mann mit Fieberaugen durch einen Sumpf watete und unter einem Baum niedersank, um zu sterben. Seine Stimme riß sie aus diesem Bild zurück in die Wirklichkeit dieser Sommernacht, und sie sah den Mann neben sich sitzen, blond, lächelnd, voller Leben.

Sie stieg aus, trat auf den Gehsteig und hielt die Tür in der Hand.»Kommen Sie noch zu mir herauf«, sagte sie und wandte sich dann ab.»Ich habe noch Appetit auf eine Tasse Tee. Sie auch?«

Sie stiegen die Treppen empor, ohne zu sprechen.

Sie betraten die Wohnung. Es roch noch immer — oder schon wieder — nach Karbol. Dazwischen mischte sich aber der Duft frischer Blumen.

Angela Bender schlüpfte aus dem Jackett und hielt es Peter hin.»Bitte, Ihr Smoking! Ich werde in der Küche den Tee bereiten. Machen Sie es sich schon im Zimmer bequem. «Und, als müsse sie sich entschuldigen, fügte sie hinzu:»Das Mädchen ist nur am Tage da. Bis acht Uhr abends.«

Peter zog sein Jackett wieder an und ging ins Wohnzimmer. Er schaltete die Deckenlampen aus und knipste eine Tischlampe an, dann suchte er im Radio einen Sender mit gemäßigter Tanzmusik. Er ließ sich in einen Sessel sinken, um in den wenigen Zeitungen zu blättern, die auf dem Tisch lagen.

Aus der Küche vernahm er das Summen des Samowars. Tassen und Teller klapperten, eine Schraubbüchse wurde geschlossen. Ob sie wirklich nur eine Tasse Tee mit mir trinken will? dachte er plötzlich. Sie hat Angst vor dem Sterben — vor meinem Sterben —, ist das nicht merkwürdig? Ich kenne sie kaum, sie kennt mich noch weniger, und doch sitze ich hier, als seien wir schon seit Jahren beste Freunde.

Es scheint wohl eines der Geheimnisse unseres Lebens zu sein, dachte Peter Perthes weiter, daß sich zwei Menschen, die sich nie gesehen hatten, gegenüberstehen und plötzlich beide wissen, daß ein weiteres Leben ohne den anderen unmöglich geworden ist. Ist es jener Funke, durch dessen Dasein Menschenfreunde die Seele beweisen wollen? Ist es schon Liebe, wenn in einem fremden Herzen ohne Willen und Erkennen jene geheimnisvolle Sehnsucht nach dem anderen brennt?

Unschlüssig mit sich selbst und verwundert über seine Gedanken, blätterte er in den Zeitungen und stieß auf einen mit Rotstift angestrichenen Artikel. Es war eine kurze, ziemlich volkstümlich geschriebene Abhandlung über Krankheitserreger, die er vor einigen Tagen veröffentlicht hatte. An den Rand der Zeitung war mit Rot-stift >Peter — Peter — Peter< geschrieben. Dreimal Peter — sonst nichts.

Er legte die Zeitung mit dem angestrichenen Artikel nach oben auf den Tisch und mußte sich bezwingen, nicht in die Küche zu laufen. Er hörte ihre Schritte, immer noch das gemütliche Summen des Samowars und endlich das leise Klirren eines Tabletts, das sie mit dem Teegeschirr, den Löffeln und dem Samowar belud.

Sie kam herein und setzte, kaum am Tisch, das Tablett mit einem Ruck hin.»Warum haben Sie das getan?«fragte sie.

«Was, liebe Kollegin?«

«Den Artikel nach oben gelegt. Wollen Sie mich beschämen?«

Er schüttelte den Kopf und zog sie an den Händen zu sich heran.»Ich wollte es Ihnen leichter machen. Ihnen und mir, Angela!«

Sie riß sich los und stellte die Teemaschine, das Geschirr, eine Schale mit Keksen, eine Zuckerdose und ein Sahnekännchen auf den Tisch. Dann drehte sie das Radio lauter und setzte sich an der anderen Tischseite in einen der tiefen Sessel.»Mögen Sie den Tee stark, oder kann ich jetzt schon eingießen?«fragte sie betont laut.

«Bitte, recht stark!«Er beugte sich vor und schob ein Etui über die Tischplatte.»Denken Sie bitte nichts Falsches, Angela«, begann er.»Ich bin keiner jener Männer, die mit solchen an einen Zeitungsrand geschriebenen Wahrheiten ein verfängliches Spiel aufführen. Ich kenne Sie besser, als Sie vielleicht mich! Ich habe oft im Schatten der Büsche gestanden, draußen, im Garten der Lindenburg, wenn Sie heimlich an meinen Laborfenstern vorbeigingen und versuchten, mich von dem Sandkasten aus bei meiner Arbeit zu beobachten. Ich habe nichts davon gesagt, ich habe Sie nicht schockiert. Ich habe mich gefreut, ehrlich gefreut auf den heutigen Abend, der einfach in unserer Beziehung zueinander kommen mußte!«

«Er wäre nie gekommen, wenn Ihnen Herr von Barthey nicht die fünfzigtausend Mark angeboten hätte, mit denen Sie in den Tod fahren. Und ich hätte Sie auch nie zum Tee eingeladen, wenn ich Sie nicht so gut kennen würde. Nun haben Sie diese Einladung ange-nommen.«

Angela saß steif in ihrem Sessel und rührte unentwegt in ihrer Teetasse herum, obgleich sie noch gar keinen Zucker genommen hatte.»Ich möchte Ihnen nur etwas sagen, Dr. Perthes, was Ihnen vielleicht noch niemand gesagt hat: Sie sind mir zu schade für das Abenteuer, das Sie planen!«

«Ich bin Ihnen zu schade?«

«Ja.«

Peter sah dem Rauch seiner Zigarette nach, der sich blau bis zur Decke des Zimmers kräuselte. Wie ein Rauchopfer sieht das aus, dachte er.

«Ich möchte Sie für dieses >Ja< küssen, Angela«, sagte er leise.

«Tun Sie es nicht! Es würde alles verderben. Ich sage Ihnen das alles nicht, um einen Kuß zu bekommen. Was ich will, das ist, Ihnen das Leben für das Leben zu erhalten. «Sie sah ihn von der Seite an und trank einen kleinen Schluck von dem Tee.»Haben Sie denn noch nie eine Frau geliebt, um derentwillen es sich lohnte, etwas Großes aufzugeben?«

«Nein. Ich habe mein Leben immer allein gelebt und war also auch nur mir selbst Rechenschaft schuldig.«

«Und damit waren Sie immer zufrieden?«

«Immer! Weil ich selbstbezogen dachte und handelte. Vielleicht hätte ich durch die Liebe einer Frau gelernt, anders zu denken.«

Dr. Bender setzte die Tasse ab und nahm einen Keks. Das Knabbern ihrer Zähne an dem harten Gebäck klang wie ein leiser Trommelwirbel zu der Radiomusik.

«Fällt es Ihnen nicht auf, daß wir von der Liebe sprechen können, ohne an uns selbst zu denken? Und das in einer Sommernacht um halb eins? Es ist doch, als sei der Begriff Liebe für uns etwas Wesenloses.«

Peter Perthes nickte ihr zu. Dann schob er die Zeitungen beiseite und trank seinen Tee.»Das kommt, weil wir sie rein theoretisch behandeln! Weil Sie und ich Laien sind in diesem Spiel der Herzen! Sie können es ruhig verneinen, aber ich glaube Ihnen kein Lie-beserlebnis. Nein, ich glaube es Ihnen nicht!«

Plötzlich stand er auf, so brüsk, daß Angela erschrak, und trat vor sie hin. Seine hohe Gestalt verdeckte die Tischlampe. Der Raum schien dunkel zu sein.

«Wollen wir tanzen?«fragte Peter.

Sie nickte und stand auf. Als sie in seinen Armen lag, war sie klein und zerbrechlich. Zierlich wie eine Puppe, die man nach der Musik hin und her wiegt, schien sie zu schweben; sie berührte den Boden kaum. Die Augen waren geschlossen, ihre langen gebogenen Wimpern waren wie schwarze Striche auf einem weißen Blatt.

«Eine Tasse Tee, dann ein Tanz, dann ein Kuß — und am Morgen ein nüchternes Erwachen. Ist das Programm so richtig?«fragte sie. Sie zog ihre Lippen bei diesen Worten kraus, sie sollten Spott ausdrücken — aber in Wahrheit zitterten sie.

Er ließ sie mitten im Tanz stehen und drehte schroff das Radio ab. Die plötzliche Stille tat weh. Erschrocken sah Angela Peter Perthes an.

«Ich soll nicht mit Ihnen tanzen — «, sagte er bitter,»Sie wollen nicht geküßt werden. Mein Gott, wie soll ich Ihnen dann sagen, daß ich Sie liebe.?«

«Liebe?«Sie sah in groß an, dann lehnte sie wie erschöpft den Kopf an seine Schulter und legte den Arm um seinen Hals.»Wie können wir von Liebe sprechen und wissen doch beide nicht, was sie ist.«

Da küßte er sie. Und sie nahm den Kuß entgegen wie ein Geschenk, nach dem sie sich jahrelang gesehnt hatte. In der Traurigkeit, einen Menschen zu lieben, der ihr wieder entgleiten würde, war sie dennoch glücklich.

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