14. KAPITEL

»Ich rate dir, sonstige Aufgaben in den kommenden Tagen ruhen zu lassen«, sagte Kriminalpolizist þórólfur eindringlich am anderen Ende der Leitung in Reykjavík. »Das heißt, falls du in Betracht ziehst, deinen Mandanten zu verteidigen.«

»Puh«, entfuhr es Dóra, »ich weiß wirklich nicht, ob sich das organisieren lässt. Ich müsste heute zurück in die Stadt fahren.«

»Tja, dann tu das«, entgegnete þórólfur missmutig. »Ich wollte dich lediglich darüber informieren, dass wir in den nächsten Tagen vor Ort sein und Aussagen der Leute protokollieren werden, vor allem von den Gästen, die wir später schlecht erreichen können. Ich gehe fest davon aus, dass wir auch ausgiebig mit Jónas sprechen werden. Du hast dich als seine Anwältin vorgestellt, daher wollten wir dir das mitteilen. Dir steht natürlich frei, zu tun, was du für richtig hältst.«

»Was du nicht sagst«, antwortete sie schnippisch. Wenn Dóra etwas gegen den Strich ging, dann war es, wenn man sie von oben herab behandelte. Andererseits musste sie wegen Jónas ein gutes Verhältnis zur Polizei pflegen, also mäßigte sie sich. »Vielen Dank für die Information. Ich werde sehen, was sich machen lässt.« Sie verabschiedeten sich, und Dóra wählte Vigdís’ Nummer, denn Jónas hatte sich ihr Handy geliehen, da die Polizei seines inzwischen beschlagnahmt hatte. Jónas hatte Dóra ein uraltes Handy besorgt, das aussah wie eine Videokassette, und sie hatte ihre SIM-Karte eingesetzt. Dóra hatte den berechtigten Verdacht, dass die Polizei es nach den jüngsten Vorkommnissen nicht eilig haben würde, ihr Handy zurückzugeben.

Nach mehrmaligem Klingeln antwortete Jónas. Er klang, als säße er im Auto. Dóra erzählte ihm, dass die Polizei vorhatte, nächste Woche mit ihm zu sprechen und auch die Aussagen der Gäste zu Protokoll zu nehmen.

»Mit mir sprechen?« Jónas klang wirklich erstaunt.

»Ja, mit dir«, antwortete Dóra. »Hast du die SMS schon vergessen? Du stehst natürlich unter Verdacht.«

»Aber ich hab sie nicht geschickt. Das hab ich dir doch gesagt.« Jónas klang verstimmt.

»Ich weiß genau, was du mir gesagt hast. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass du höchst verdächtig bist.« Dóra hörte eine Hupe im Hintergrund. »Möchtest du, dass ich bei deiner Aussage dabei bin oder kommst du allein zurecht?«

»Ich kann das nicht allein«, sagte Jónas. Seine Stimme klang verzweifelt. »Ich schaffe das nicht. Du musst mir helfen.« Etwas entspannter fügte er hinzu: »Am besten findest du den Mörder, damit sie mich nicht länger verdächtigen. Ich bezahle dich auch dafür.«

Dóra musste lächeln. »Die Polizei findet den Mörder, Jónas. Mach dir keine Sorgen. Wenn du unschuldig bist, dann wirst du nicht weiter behelligt.«

»Ich weiß nicht«, entgegnete Jónas skeptisch. »Jedenfalls möchte ich, dass du bei der Vernehmung dabei bist.«

»Gut«, sagte Dóra. »Dann muss ich wohl verlängern: Ist denn noch ein Zimmer frei?«

»Ja, ganz sicher. Wir sind erst im Juli ausgebucht.«

»Dann bleibe ich noch, falls ich die Kinder unterbringen kann«, erklärte Dóra. »Gerade war ein Papa-Wochenende, aber heute ist Sonntag, und sie sollen eigentlich wieder nach Hause fahren.«

»Aber meine Liebe, lass sie doch einfach nach Snæfellsnes kommen«, sagte Jónas beschwingt, »Kinder lieben die Natur und können am Strand spielen.«

Dóra lächelte im Stillen. Gylfi könnte prima am Strand spielen, wenn es da einen Computer mit Internetzugang gäbe. »So weit muss es hoffentlich nicht kommen. Ich sage dir Bescheid.« Sie verabschiedeten sich, und Dóra drehte sich zu Matthias und stöhnte.

»Was?«, fragte er neugierig. »Dein Stöhnen lässt nichts Gutes vermuten.«

»Nein«, sagte Dóra und spielte mit dem schweren Handy. »Jónas möchte, dass ich ihm bei der bevorstehenden Vernehmung mit Rat und Tat zur Seite stehe.«

Matthias grinste über das ganze Gesicht. »Aber ist das nicht großartig? Ich habe es nicht eilig.«

Dóra erwiderte sein Lächeln nur halbherzig. »Doch, doch. Es wäre großartig, wenn ich keine Probleme mit den Kindern hätte. Sie sind bei ihrem Vater, aber ich muss sie heute abholen.«

»Aha. Kannst du ihn nicht anrufen und fragen, ob sie länger bleiben dürfen?«

»Doch, mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, sagte Dóra griesgrämig. Sie konnte es nicht ausstehen, Hannes um einen Gefallen zu bitten, denn sie wusste nur zu gut, wie sehr er es genoss, sich bitten zu lassen — nur, weil sie sich bei solchen Gelegenheiten ihm gegenüber ganz genauso verhielt.

Nach großem Hin und Her am Telefon einigten sich Dóra und Hannes darauf, dass die Kinder noch eine weitere Nacht bei ihm bleiben würden. Aber nicht länger. Hannes musste ins Fitnessstudio und allerlei Dinge erledigen, die er wegen der Kinder aufgeschoben hatte. Dóra ließ es sich nicht nehmen, anzumerken, sie verstünde das gut, sie hätte auch schon darüber nachgedacht, ob er nicht ein wenig zugenommen hätte. Dann legte sie auf, wünschte sich, er würde auf dem Laufband explodieren und streckte dem Telefon die Zunge heraus, bevor sie es weglegte.

»Schön zu sehen, wie erwachsen du dich in Bezug auf deine Scheidung verhältst«, sagte Matthias. »Nicht alle können sich glücklich schätzen, so tolle Exfrauen zu haben.«

Dóra schnitt eine Grimasse. »Sprichst du aus Erfahrung?«, sagte sie, fügte dann aber in einem versöhnlichen Ton hinzu: »Die Kinder dürfen noch eine Nacht bleiben. Danach muss ich was anderes organisieren oder nach Hause fahren.«

»Ich bin nicht geschieden — ich hatte immer Schwierigkeiten, eine Frau zu finden, die mir gefällt«, sagte Matthias. »Aber da hat sich inzwischen einiges geändert.« Er sah Dóra an, dass für solche Themen nicht der richtige Zeitpunkt war, und klatschte in die Hände. »Also dann. Wenn wir schon nicht viel Zeit haben, sollten wir versuchen, sie gut zu nutzen. Dieser Spaziergang dauert sowieso schon viel zu lange. Was möchtest du tun?«

»Wir sollten versuchen, noch mehr Gäste zu treffen, oder diesen Eiríkur, den Hellseher, aufzutreiben, der die Spukgeschichten losgetreten hat.«

Matthias machte ein enttäuschtes Gesicht. »Darauf wollte ich nicht unbedingt hinaus. Und andere Hotelgäste oder Hellseher möchte ich auch nicht dabeihaben.«

Dóra errötete, ignorierte seine Worte jedoch. »Komm, beeilen wir uns.«


Eiríkur starrte die Tarotkarten an, die er vor sich ausgelegt hatte. Geld — gut. Der Tod — schlecht. Er strich mit dem Zeigefinger am Rand der Karte mit dem Sensenmann entlang und ließ seine Gedanken schweifen. Er hatte dieselbe Karte schon zweimal gelegt, und obwohl er keineswegs Tarotspezialist war, wusste er, dass die Chance für eine solche Wiederholung sehr gering war. Was wollten die Karten ihm sagen? Er überlegte, ob er jemanden zu Rate ziehen sollte, der mehr über Tarot wusste, entschied dann aber, dass das zu umständlich wäre. Dann müsste er aus seinem gemütlichen Mitarbeiterhäuschen ins Hotel hinübergehen, und dazu hatte er einfach keine Lust. Hier gab es keinen Telefonanschluss, und der Handyempfang war wie überall schlecht. Allerdings benutzte Eiríkur sowieso kein Handy. Als Hellseher wusste er, dass die Wellen dieser Geräte einen schlechten Einfluss auf die Aura haben, daher war das für ihn kein Thema. Lieber würde er zum nächsten öffentlichen Fernsprecher wandern, als in ein Handy zu brüllen und dabei zu wissen, dass seine Aura mit jedem Wort mehr verblasste. Nein, er musste die Karten selbst deuten. Eiríkur stützte das Kinn in die Hand und schaute die Karten konzentriert an. Geld. Der Tod.

Er streckte seinen Rücken. Vielleicht wies die Karte gar nicht auf seinen eigenen Tod oder den eines Nahestehenden hin, sondern schlicht und ergreifend auf die Architektin. Eiríkur nickte. Natürlich. Es bedeutete, dass dieses Ereignis großen Einfluss auf sein Leben haben würde. Deshalb war die Karte zweimal aufgetaucht. Und das Geld? In welcher Verbindung stand das zum Tod der Architektin? War es möglich, dass er davon profitieren würde? Er hatte sie gewarnt. Ihre Aura war kohlrabenschwarz gewesen, was selbstverständlich nichts Gutes verhieß. Vielleicht könnte er diese Vorhersage als Werbung benutzen? Ärgerlich, dass er nur mit ihr darüber geredet hatte; bezeugen konnte es niemand.

Eiríkur sehnte sich nach einer Zigarette und seufzte. Jónas wollte nicht, dass die Angestellten rauchten, und Eiríkur hasste es, wie ein Teenager heimlich zu paffen. Wie am Donnerstagabend, als er sich von der Séance geschlichen hatte, um in einer dunklen Ecke eine zu rauchen. Jetzt verstand er, was er zu dem Zeitpunkt nicht verstanden hatte — womit die Person beschäftigt gewesen war. Er hatte an dem Abend den Mörder gesehen. Natürlich. Wer sagt denn, dass es sich nicht lohnt zu rauchen, dachte er selbstzufrieden.

Eiríkur sammelte die Karten zusammen und grinste. Na klar. Jetzt wusste er, was die Karten zu bedeuten hatten. Das Geld war für ihn bestimmt, denn eine Hand wäscht die andere. Die Bezahlung war Verhandlungssache, aber Verschwiegenheit hatte ihren Preis. Aber er war von Natur aus ein fairer Mensch und zweifelte nicht daran, dass sich ein zufriedenstellender Kompromiss finden ließe. Er musste nur kurz rüber zum Hotel und telefonieren. Außerdem musste er noch etwas mit seinem Chef Jónas besprechen. Es würde Spaß machen, mit dem Kerl zu diskutieren, ohne wie sonst derjenige zu sein, der klein beigeben musste, um seinen Job nicht zu verlieren. Nun erwartete ihn die langersehnte finanzielle Unabhängigkeit, und es gab keinen Grund, wie ein Sklave vor dem Mann zu kuschen.

Er stapelte die Karten aufeinander, stand auf und ging hinaus. Er hatte es so eilig, dass er sich nicht die Zeit nahm, in den kleinen Spiegel über der Garderobe im Flur zu schauen. Obwohl seine Aura dunkel und schwermütig aussah. Nahezu schwarz.


Dóra seufzte. »Alle ausgeflogen?«

Vigdís sah sie ungerührt an. »Ja, die meisten unternehmen etwas, wenn sie hier sind. Wir haben nur sehr wenige Gäste, die einchecken und dann auf dem Zimmer rumhängen und darauf warten, dass du mit ihnen reden willst.«

Matthias lächelte Vigdís freundlich an, denn er hatte kein Wort verstanden. »Schöner Tag heute«, warf er auf Englisch ein.

»Ja, sehr«, antwortete Vigdís. »Deshalb ist auch kaum jemand drinnen.« Sie sah Dóra an. »Ich meine das nicht böse, aber ich kann einfach nichts für euch tun. Leider. Die Leute treffen zum Abendessen nach und nach wieder ein.«

»Mist«, sagte Dóra. »Und von den Angestellten hat auch niemand Zeit für ein kurzes Gespräch?«

Vigdís schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht viele, und alle sind beschäftigt. Bei uns wird es auch erst nach dem Abendessen wieder ruhiger.« Sie schaute die beiden argwöhnisch an. »Was wollt ihr eigentlich?«

»Ach«, sagte Dóra. »Wir interessieren uns nur für Birna. Was sie getan hat und mit wem sie zusammen war. Wir wollen rausfinden, ob jemand etwas weiß, das ihren Tod erklären könnte.«

»Den Mord an ihr, meinst du«, fiel ihr Vigdís ins Wort. »Wenn ihr völlig aufgeschmissen seid, könnt ihr ja rauf zur Kirche gehen. Ich weiß, dass Birna manchmal dort war. Sie hat bei mir den Schlüssel geholt.«

»Zur Kirche?«, fragte Dóra verwundert, »welche Kirche?«

»Na, die kleine Kirche hier ganz in der Nähe. Sie gehört zwar nicht zu unserem Grundstück, aber wir verwalten den Schlüssel. Manchmal kommen Busgruppen und wollen sie besichtigen. Ausländische Touristen finden sie hübsch.« Vigdís griff unter den Tresen und reichte ihnen einen alten Schlüssel. »Ihr müsst kräftig gegen die Tür stoßen, wenn ihr den Schlüssel im Schloss dreht.«

Matthias nahm ihn entgegen, und Vigdís erklärte ihnen den Weg. »Übrigens, ich weiß noch, dass Birna den Friedhof wahnsinnig interessant fand. Ich glaube, sie hat nach irgendeinem Grab gesucht.«


Im Zimmer herrschte heilloses Durcheinander. Er hatte alles durchwühlt, aber nichts gefunden. Was hatte dieses Miststück damit gemacht? Warum konnte er dieser jämmerlichen Geschichte nicht einfach ein Ende bereiten? Er legte sein Ohr an die Tür und lauschte. Im Flur schien alles ruhig zu sein. Es war sinnlos, weiterzusuchen. Er ging zurück zur Terrassentür und spähte vorsichtig durch die Gardinen. Niemand zu sehen. Behutsam öffnete er und schlüpfte hinaus. Anschließend lehnte er die Tür wieder an und machte sich davon. Unterwegs zog er die Handschuhe aus und steckte sie in die Hosentasche. Wo konnte es bloß sein?

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