30. KAPITEL

DIENSTAG, 13. JUNI 2006

Der Richter saß in einer dunklen Robe mit Samtvolants da und sah Dóra durchdringend an. Seine Hände waren vor dem Mund gefaltet, sodass er ihr ebenso gut die Zunge hätte herausstrecken oder gelangweilt das Gesicht verziehen können. »Die Verteidigung möge bitte fortfahren«, sagte er mit tiefer Stimme. »Das ist bemerkenswert.«

Dóra lächelte ihm höflich zu. »Wie ich bereits sagte, bin ich völlig zufällig auf dieses Indiz gestoßen und habe die Polizei sofort darüber informiert. Ich stimme nicht mit der Ansicht der Ermittlungsbehörden überein, dass ich sie vor Ablösen des Fotos hätte kontaktieren sollen. Dessen Bedeutung für die Ermittlungen konnte ich erst einschätzen, nachdem ich das Motiv gesehen hatte. Dafür musste ich es ablösen. Ich habe penibel darauf geachtet, nichts unnötig zu beschädigen, und das Foto lediglich mit einer Pinzette berührt.«

»Wie im CSI Miami?«, fragte der Richter und nahm die Hände vom Gesicht. Er lächelte Dóra zu.

»Ja, kann man sagen.« Sie erwiderte sein Lächeln.

Der Richter wandte sich an den Bezirksanwalt, der die Untersuchungshaft beantragt hatte. »Die Behörden scheinen noch nicht ausreichend in dem Fall ermittelt zu haben. Anstatt den Argumenten der Verteidigung zu widersprechen, wäre es angebracht, ihr für die Unterstützung zu danken. Es ist gänzlich unklar, ob das betreffende Foto sonst überhaupt den Behörden in die Hände gefallen wäre.«

Der Bezirksanwalt bat darum, auf die Sache eingehen zu dürfen und stand auf. »In der Tat begrüßen wir das Auftauchen dieses Beweismittels, und selbstverständlich wird die neue Sachlage untersucht. Die Kriminalpolizei hat trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit gestern Abend umgehend einen Beamten zum Hotel geschickt, und das Foto wird in diesem Augenblick begutachtet.« Er räusperte sich. »Wir sehen jedoch keinen Anlass, warum der Antrag auf Untersuchungshaft allein aus diesem Grund abgelehnt werden sollte. Der Angeklagte hat seine Position keineswegs ausreichend dargestellt und ist immer noch der Hauptverdächtige dieser entsetzlichen Taten. Das Foto allein ändert daran nichts.«

»Was hat die Gegenseite dazu zu sagen?«, fragte der Richter.

»Das Foto ist bei weitem nicht das einzige Indiz. Baldvin Baldvinssons Auto fuhr am Sonntag um 17:51 Uhr durch den Hvalfjörður-Tunnel. Das heißt, er war früh genug in Snæfellsnes, um den zweiten Mord begehen zu können, auch wenn er sich meines Wissens nicht an diese Fahrt erinnern kann. Die Polizei verfügt bestimmt über eine ebensolche Liste des Tunnelverkehrs von dem Tag, an dem Birna ermordet wurde, und nach meinen Informationen befand sich besagter Baldvin an jenem Tag ebenfalls vor Ort. Er nahm gegen Abend an einer spiritistischen Sitzung teil, die er in der Pause wieder verließ, was bedeutet, dass er ausreichend Gelegenheit hatte, Birna zu töten. Des Weiteren verfügt die Polizei gewiss über den E-Mail-Verkehr zwischen Baldvin und Birna, den ich bisher noch nicht einsehen durfte, was übrigens — bis auf eine Aufstellung über die Tunneldurchfahrten am Sonntag, die die Polizei mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat — auch für weitere Beweismittel gilt.« Dóra sah aus dem Augenwinkel, wie þórólfur auf seinem Stuhl im Gerichtssaal herumrutschte. Augenscheinlich konnte er es nicht erwarten, diese Verdrehung der Tatsachen richtigzustellen, aber die einzige Möglichkeit bestünde darin, zuzugeben, dass er die Liste schlicht und ergreifend auf dem Tisch im Hotel vergessen hatte. Daher hielt er sich zurück. Dóra fuhr fort: »Des Weiteren weise ich darauf hin, dass das Opfer im Stall möglicherweise die gängige Abkürzung für Reykjavík, REK, auf die Wand schreiben wollte, wobei es ihm aber nicht gelang, den letzten Buchstaben korrekt einzuritzen. Aus dem K kann versehentlich ein R geworden sein. Dabei sollte man berücksichtigen, dass im selben Augenblick ein wilder Hengst auf ihn eintrat. REK könnte etwa ein Hinweis auf Baldvins Tätigkeit als städtischer Abgeordneter sein.«

Der Richter nickte langsam. »Ich denke, dass wir hier nicht voreilig handeln sollten. Baldvin Baldvinsson ist städtischer Abgeordneter, und sein Großvater Magnús ehemaliger Minister. Es muss sorgfältig darauf geachtet werden, keine vagen Behauptungen in die Welt zu setzen und die beiden schwerwiegender Gesetzesverstöße zu bezichtigen. Ich muss wohl nicht viele Worte darüber verlieren, welche Auswirkungen es hätte, wenn solche Diskussionen unbegründet losgetreten würden.«

»Für meinen Mandanten ist ein solcher Verdacht nicht weniger gravierend«, sagte Dóra. »Er hat ebenfalls einen Ruf zu verlieren.« Sie dankte Gott dafür, dass Jónas’ Passwort für den Computer nicht allen bekannt war. »Mein Mandant hat zugegeben, am fraglichen Donnerstag mit der Verstorbenen Verkehr gehabt zu haben, allerdings lange vor der mutmaßlichen Tatzeit. Dies erklärt seine Fingerabdrücke auf ihrem Gürtel, denn sie hat sich an dem fraglichen Tag nicht umgezogen, zumindest ist mir nichts Gegenteiliges bekannt. Zudem hat mein Mandant dargelegt, wo er sich an den beiden Tagen aufgehalten hat, auch wenn noch nicht genügend Zeit war, seine Aussage zu untermauern. Er hat sich bei der polizeilichen Vernehmung bezüglich seiner Fahrt nach Reykjavík am vergangenen Sonntag vertan, aber das kann jedem passieren.«

Der Richter gab dem Bezirksanwalt das Wort. »Das einzige Ergebnis der Diskussion ist«, sagte dieser, »dass die Ermittlungen vor Ort längst noch nicht abgeschlossen sind, wenn immer noch Indizien gefunden werden. Aber es gibt zum jetzigen Zeitpunkt keinen Anlass, den Verdächtigen auf freien Fuß zu setzen. Wir können nicht wissen, ob er möglicherweise versuchen wird, weitere Indizien zu beseitigen. Die Theorie über Baldvin ist natürlich beachtenswert, aber doch sehr weit hergeholt, und keineswegs räumt sie die Vorwürfe gegen Jónas aus. Beispielsweise wurde keinerlei Verbindung zwischen Baldvin und Eiríkur aufgezeigt. Daher halten wir an unserer Forderung einer 14-tägigen Untersuchungshaft fest.«

»Mit Verweis auf Paragraph 103, Absatz eins der Strafprozessordnung«, sagte Dóra, »gehen wir davon aus, dass meinem Mandanten die Vorwürfe keineswegs ausreichend bewiesen wurden, zumal die Grundlagen des genannten Paragraphen nicht erfüllt sind. Bezüglich der Diskussion über die fahrlässigen polizeilichen Ermittlungen möchte ich nachdrücklich darauf hinweisen, dass es vollkommen abwegig ist, anzunehmen, der Angeklagte könne diese durch die Beseitigung von Indizien behindern. Falls mein Mandant Kenntnis von dem fraglichen Foto gehabt hätte, hätte er ausreichend Gelegenheit gehabt, es zu entfernen oder öffentlich zu machen. Es ist unwahrscheinlich, dass er Indizien oder Ähnliches beschädigt, denn das hätte er in den vergangenen Tagen bereits tun können. Dies hat er jedoch, wie das Foto beweist, nicht getan, und daher fordern wir, dem Antrag nicht stattzugeben, beziehungsweise die Untersuchungshaft auf einen kürzeren Zeitraum zu beschränken. Sollte das Hohe Gericht zu diesem Entschluss kommen, fordere ich des Wieteren unverzügliche Einsicht in sämtliche polizeilichen Ermittlungsunterlagen.«

»Wenn ich hinzufügen darf, Hohes Gericht«, ergriff der Bezirksanwalt das Wort, »wir haben es eindeutig mit zwei Opfern ein und desselben Mörders zu tun, und es gibt triftige Gründe für die Schuld des Angeklagten. Derartige Verbrechen verstoßen eindeutig gegen das Gemeinwohl. Es ist völlig unklar, ob der Mörder seine Opfer nicht nach reiner Willkür auswählt. Jeder könnte der Nächste sein. Sollten die Grundlagen von Absatz eins als nicht erfüllt angesehen werden, fordern wir, den Angeklagten auf Grundlage von Absatz zwei bezüglich des Gemeinwohls in Untersuchungshaft zu nehmen.«

Der Richter verkündete, das Gericht würde sich bis zum Mittag zur Beratung zurückziehen und anschließend das Urteil verkünden; es solle sich also niemand entfernen. Er erklärte die Verhandlung für beendet und erhob sich. Mit dem Gerichtsschreiber im Schlepptau verließ er den Saal. Dóra drehte sich zu Jónas. »Jetzt heißt es nur noch hoffen und warten«, sagte sie leise zu ihm.

»Was glaubst du, was er sagen wird?«, flüsterte Jónas zurück. »Ich finde, du hast dich großartig geschlagen, und die Position der Gestirne ist vorsichtig ausgedrückt günstig. Ich kann mir nichts anderes vorstellen, als dass er diese absurde Forderung nach Untersuchungshaft ablehnt.« Stolz schaute er sie an. »Toll, wie du die Nummern der Paragraphen aufgesagt hast!«

Dóra lächelte Jónas zu. Endlich jemand, der das Auswendiglernen zu schätzen wusste. Darauf hatte sie lange gewartet. Das Einzige, was ihre Freude trübte, war, dass derjenige, der sie so hoch lobte, im selben Atemzug von der Position der Gestirne sprach und zu allem Überfluss unter Mordverdacht stand. »Das war noch gar nichts«, sagte sie, »du solltest mal hören, wie ich die Nummern der Verordnungen und Paragraphen über Briefeinwurfklappen runterleiern kann.«


Dóra ließ sich auf einen der Holzstühle vor dem Hoteleingang plumpsen, legte die schwere Mappe mit den Ermittlungsakten vor sich auf den Tisch und seufzte. Sie hatte die Mappe in einer Hagkaup-Plastiktüte vom Bezirksgericht ausgehändigt bekommen. »Hat leider nicht geklappt«, sagte sie zu Matthias, der neben ihr Platz nahm. »Er ist zu sieben Tagen Untersuchungshaft verurteilt worden.« Sie schaute in alle Richtungen. »Wo sind eigentlich die Kinder?«

»Die gucken sich den gestrandeten Wal an«, sagte Matthias. »Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sie meine Beschreibungen richtig verstanden haben; vielleicht erleben sie eine böse Überraschung.«

Dóra zweifelte nicht daran. »Sie haben dich ganz bestimmt nicht richtig verstanden«, sagte sie. Sie kannte ihre Kinder gut genug, um zu wissen, dass keines von ihnen einen Umweg machen würde, um sich ein verwesendes Tier anzuschauen — und ganz gewiss keinen riesengroßen Wal. Dóra klopfte auf die orangene Plastiktüte. »Immerhin hab ich die Unterlagen bekommen«, sagte sie. »þórólfur hat versucht, die Herausgabe zu verzögern. Er hat vorgeschlagen, bei nächster Gelegenheit jemanden in Reykjavík an die Abschrift zu setzen, aber dann hat mir der Richter die Hilfe seiner Sekretärin angeboten, ihm die Mappe abgenommen und eine Kopie anfertigen lassen. Der Ankläger hatte sein Exemplar natürlich schon dabei.« Sie grinste über ihren kleinen, aber süßen Sieg. »Ich muss das umgehend durchsehen und kann nur hoffen, dass ich auf irgendetwas Neues stoße.«

»Und wo ist dein Mandant jetzt?«

»In Polizeibegleitung auf dem Weg ins Gefängnis nach Litla-Hraun. Es ist verdammt unpraktisch, dass sie Untersuchungshäftlinge auch dorthin bringen. Man ist aus der Stadt furchtbar lange unterwegs«, sagte Dóra. »Und von hier erst.«

»Musst du nicht langsam zurück in die Stadt?«

»Hier bin ich im Moment besser aufgehoben«, antwortete Dóra. »þórólfur meinte, sie würden Jónas in den kommenden zwei Tagen nicht verhören. Sie wollen sich auf die Ermittlungen vor Ort konzentrieren und die übrigen Zeugen, die bisher noch nicht greifbar waren, befragen. Er war nicht sehr erfreut über die Beurteilung der Ermittlungsergebnisse.«

»Es war absolutes Glück, dass wir den Schlüssel in der Schreibtischschublade gefunden haben. So was gelingt uns bestimmt nicht nochmal.«

»Ich weiß nicht. Irgendetwas stört mich. Und damit meine ich nicht die ganzen offenen Fragen.« Dóra erhob sich und nahm die Tüte in den Arm. »Ich blättere das schnell durch und schaue, ob ich etwas finde, das ein anderes Licht auf den Fall wirft. Übrigens war ich auch in der Bücherei und hab mir die Volksmärchen ausgeliehen, für den Fall, dass die Geschichte mit dem Vers uns weiterbringt«, sagte sie. »Es wird nicht lange dauern. Wäre toll, wenn du meine Kinder auf eine weitere Expedition schicken könntest, falls sie wiederauftauchen.«


Zwei Stunden später verließ Dóra Jónas’ Büro. Im Grunde war sie keinen Schritt weitergekommen. Sie hatte jedes Dokument in der Mappe gelesen: zahlreiche Zeugenaussagen, mehrere Zusammenfassungen der Spurensicherung, zwei Obduktionsberichte sowie die Ergebnisse von Blut- und Sekretanalysen der beiden Toten. Die Ergebnisse der DNA-Untersuchung des Spermas aus Birnas Vagina befanden sich noch nicht in der Mappe, aber ein entsprechender Antrag war dabei. Des Weiteren gab es Ergebnisse der Blutgruppenbestimmung des Spermagebers, woraus hervorging, dass es sich um zwei Männer handelte. Dóra konnte nicht feststellen, ob diese Entdeckung auf Zufall beruhte oder ob es einen Verdacht gegeben hatte. Sie überlegte, wie oft es wohl vorkam, dass eine Frau am selben Tag mit zwei Männern Verkehr hatte. Ein Detail verstand sie nicht ganz. Aus dem Bericht ging hervor, dass außer dem Sperma noch eine weitere organische Substanz in Birnas Vagina gefunden worden war — sie wurde als A. barbadensis Mill., A. vulgaris Lam. bezeichnet. Dóra notierte den Begriff. Vielleicht kannte Matthias ihn, aber sie machte sich keine großen Hoffnungen. Vermutlich handelte es sich um etwas, das Birna sich selbst eingeführt hatte — aber zu welchem Zweck?

Matthias saß an der Bar und trank Bier. Dóra legte die Akte auf den Tresen und setzte sich neben ihn. »Sind die Kinder noch zu dritt?«

»Na ja, so gerade«, antwortete Matthias. »Dein Sohn und deine Tochter waren ziemlich grün im Gesicht, als sie von dem Strandspaziergang zurückkamen. Das schwangere Mädchen war die Einzige, die gesund aussah. Ich hab ihnen an der Bar eine Cola spendiert. Sie sind damit aufs Zimmer gegangen und wollten sich einen Film angucken.«

»Ich meinte, ob noch ein Kind dazugekommen ist«, erklärte Dóra, winkte dem Kellner und bestellte ein Glas Wasser.

»Nein, du bist immer noch nicht Oma geworden, also genieß das Leben«, entgegnete Matthias. Er stieß mit seinem Bier gegen ihr Wasserglas. »Hast du was gefunden?«, fragte er und zeigte mit dem Glas auf die Mappe, bevor er einen Schluck trank.

»Nein, nicht wirklich. Beiden Leichen wurden Nadeln in die Fußsohlen gesteckt, und an Eiríkur war ein Fuchs festgebunden. Aus dem Obduktionsbericht des Tiers geht hervor, dass es schon länger tot war. Mit einem Gewehr erschossen. Leider keine Erklärung, was es mit dem Fuchs auf sich hat.«

»Hast du denn noch nichts von der charmanten Bella gehört?«, fragte Matthias.

»Mist, die hab ich total vergessen.« Dóra kramte ihr Handy hervor und wählte eilig die Nummer der Kanzlei.

»Hallo«, ertönte Bellas Stimme am anderen Ende der Leitung. Kein Anwaltskanzlei Innenstadt, guten Tag oder etwas Ähnliches, das dem Anrufer zu erkennen gab, dass er mit einer seriösen Kanzlei und nicht mit einem Privatanschluss verbunden war.

»Hallo Bella, hier ist Dóra. Hast du etwas über Füchse und Pferde rausgekriegt?«

»Hä?«, klang es dümmlich aus dem Hörer. »Ach das.« Sie verstummte. Dóra meinte, ein saugendes Geräusch und ein anschließendes hektisches Pusten zu hören.

»Bella, rauchst du etwa im Büro?«, fragte Dóra gereizt. »Du weißt doch, dass das verboten ist.«

»Nee«, antwortete Bella, »spinnst du?« Dóra war sich sicher, das Knistern brennenden Tabaks zu hören. War es möglich, dass das Mädchen auf Pfeife umgestiegen war? »Also, die Pferdeleute, mit denen ich gesprochen hab, hatten noch nie was von einem solchen Zusammenhang gehört. Ich hab dann noch einen befreundeten Jäger gefragt, und der hat gesagt, Pferde könnten vor Angst durchdrehen, wenn sie einen Fuchskadaver wittern. Vor allem, wenn er aufgeschlitzt ist.«

»Ist das nur in Jägerkreisen bekannt?«, fragte Dóra gespannt. »Wissen Pferdekenner das nicht, oder glaubst du, diejenigen, mit denen du gesprochen hast, haben einfach keine Ahnung?«

»Keine Ahnung von Füchsen?«, fragte Bella ironisch. »Was weiß denn ich. Ich denke, im Allgemeinen wissen die so was nicht. Wann begegnet man denn verdammt nochmal einem Fuchs?«

»Danke, Bella, du kannst dir für den Rest des Tages freinehmen.« Das war nicht übermäßig großzügig in Anbetracht der Tatsache, dass die Abwesenheit der Sekretärin keine Veränderung des Arbeitsalltags darstellen würde. Dóra legte auf und wiederholte das Gespräch für Matthias.

»Dann hat der Mörder den Fuchs also an Eiríkur festgebunden, um das Pferd verrückt zu machen. Damit der Mann nicht nur schwere Verletzungen davontragen, sondern ganz bestimmt sterben würde.« Matthias hob die Brauen. »Vollkommen kaltblütig.«

»Reiter wissen angeblich im Allgemeinen nicht, wie Pferde auf einen Fuchskadaver reagieren«, ergänzte Dóra gedankenversunken, »Jäger schon eher.« Sie überlegte und fügte dann hinzu: »Ob Bergur Jäger ist? Er hat Eiderenten-Brutplätze.« Sie sah Matthias in die Augen. »In der Kaffeestube im Pferdestall stand doch eine Kiste mit Munition!«

Matthias starrte ihr ebenfalls direkt in die Augen. »Kann es sein, dass RER eigentlich BER sein sollte, oder besser gesagt BER-GUR, aber Eiríkur es in der Situation nicht besser hingekriegt hat?« Matthias holte sein Handy und rief das Bild auf, das er von dem Gekritzel an der Wand gemacht hatte. Es dauerte eine Weile, bis er das Foto vergrößert und die Buchstaben in die Mitte des Displays geschoben hatte. »Unfassbar«, sagte er nach ausgiebigem Studieren des Bildes. Er reichte Dóra das Handy. »Der Schrägstrich beim ersten R ist bei weitem nicht so gerade wie beim zweiten.«


»Und?« Ungeduldig sah Matthias Dóra an, die gerade aufgelegt hatte. »þórólfur hat die Neuigkeit gar nicht so schlecht aufgenommen. Er hat zwar versucht, ganz cool zu bleiben, aber ich hab gemerkt, wie erfreut er war. Bergur wird bestimmt sehr bald Besuch von der Polizei bekommen.«

»Tja, oder seine Frau«, sagte Matthias. »Man weiß ja nie.«

»Doch«, entgegnete Dóra. »Manches weiß man. Aus dem Obduktionsbericht ging hervor, dass Birna ziemlich brutal vergewaltigt wurde. Insofern kommen Frauen nicht in Frage, es sei denn als Komplizinnen. Schon möglich, dass Rósa mit dem Mord zu tun hat, aber nicht gemeinsam mit ihrem Ehemann. Ich bezweifle, dass sie sich überhaupt über die Uhrzeit einigen können, geschweige denn darüber, wie man gemeinsam einen Mord durchführt.« In diesem Moment kam Sóldís auf sie zu.

»Oma möchte mit dir sprechen«, sagte sie verlegen. »Sie fragt, ob du sie anrufen kannst. Es ist wegen eures Gesprächs gestern.« Sóldís musterte ihre Zehen. »Du musst nicht, wenn du nicht willst, weißt du. Hier ist ihre Nummer.« Sie reichte Dóra einen kleinen gelben Zettel. Dóra bedankte sich herzlich und nahm sofort das Telefon zur Hand. Sóldís drehte sich auf dem Absatz um und verließ mit schnellen Schritten die Bar. Bereits nach dem ersten Klingeln wurde abgenommen.

»Guten Tag, Lára, hier ist Dóra. Die Anwältin aus dem Hotel. Sóldís hat mir gesagt, du wolltest mich sprechen.«

»Ja, grüß dich. Ich bin sehr froh, dass du anrufst. Seit wir uns gestern unterhalten haben, musste ich ununterbrochen an Guðný denken. Ich glaube, das Schicksal des Kindes wird durch deine Hilfe endlich ans Licht kommen.« Dóra kam die Frau ganz aufgelöst vor, obwohl sie ihre Stimme gut im Griff hatte. »Ich habe Guðnýs Brief in der Hand, von dem ich dir gestern erzählt habe«, sagte die Frau. Ein leises Schniefen war zu hören. »Ich hab überall danach gesucht und ihn am Ende mit ein paar anderen Dingen von früher in der Abstellkammer gefunden. Ich hab ihn mir wieder und wieder angeschaut, und ich glaube, es ist mir gelungen, zwischen den Zeilen zu lesen.«

»Was meinst du?«

»An einer Stelle schreibt sie, das Kind ähnelt seinem Vater und ich würde es sofort erkennen«, erklärte Lára. »Damals, als das ganze Gerede über Inzest losging, hab ich es fast geglaubt und gedacht, sie meinte ihren Vater oder ihren Onkel. Aber keine Frau würde so über ihr Kind reden, wenn es unter derartigen Umständen zur Welt gekommen wäre. An einer anderen Stelle fragt sie nach einem Jungen, in den sie vor meinem Umzug ein wenig verliebt war, ob ich wüsste, wohin es ihn verschlagen hätte. Sie wollte ihm gerne ein paar Zeilen schreiben.« Lára verstummte und holte tief Luft. »Ich glaube, der junge Mann war der Vater des Kindes. Er zog kurze Zeit nach mir nach Reykjavík, und ich weiß noch, dass er sehr merkwürdig war, als ich ihn etwa ein Jahr später zufällig traf. Er hat nur widerwillig mit mir geredet. Das habe ich damals nicht verstanden und tue es im Grunde heute noch nicht. Durch ein Kind wäre seine Reaktion möglicherweise verständlich. Vielleicht dachte er, ich wüsste von dem Kind oder von Guðnýs Schwangerschaft, und darüber wollte er nicht reden. Er hatte eine junge Frau am Arm.«

»Wer war es?«, fragte Dóra, »lebt er noch?«

»Allerdings«, antwortete Lára, »wenn er stirbt, wird es in der Zeitung stehen. Er war jahrelang Minister.«

Dóra spürte, wie sich ihre Finger um den Hörer krallten. »Magnús Baldvinsson?«, fragte sie so gefasst wie möglich.

»Ja, woher wusstest du das?«, Lára schien völlig perplex. »Kennst du ihn?«

»Er ist Hotelgast«, antwortete Dóra. »Vielleicht ist er auch schon abgereist, sein Enkel ist gestern Abend gekommen, um ihn abzuholen.«

»Seltsam«, sagte Lára. »Seit er damals nach Reykjavík gezogen ist, hat er hier höchstens mal einen kurzen Zwischenstopp gemacht.«

»Hm.« Mehr fiel Dóra nicht ein. »Ist es denkbar, dass er so sehr gegen das Kind war, dass er …« Dóra zögerte und suchte nach dem richtigen Wort. Erwachsene — das war schon schlimm genug, aber Kinder? »… dass er es nach Guðnýs Tod in Pflege gegeben oder … — dass er es schlicht getötet hat?«

»Ich weiß es nicht.« Láras alte Stimme wurde wieder brüchig. »Oh Gott, man glaubt einfach nicht, dass jemand in der Lage ist, so etwas zu tun. Magnús war charakterschwach, aber war er auch gewalttätig? Ich weiß es einfach nicht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand so bösartig ist. Unsere Gesellschaft würde das kaum dulden. Weder damals noch heute.« Lára verstummte und schnäuzte sich. »Dann war da noch die andere Sache, nach der du gefragt hast. Das mit den Kohlen. Ich habe darüber nachgedacht, und mir ist wieder eingefallen, dass beide Höfe auf Elektroheizung umgestellt wurden, bevor ich in die Stadt zog. Bjarni ließ an einem der Wasserfälle am Hang nördlich der Hauptstraße einen Generator aufstellen, und die Kohlenkeller wurden von da an nicht mehr benutzt.« Láras Stimme war bei dem bodenständigen Thema Heizen wieder kräftiger geworden und klang nicht mehr ganz so bedrückt. »In der Kiste mit dem Brief habe ich ein altes Foto von Guðný und mir hinter dem Hof gefunden, und da ist es mir wieder eingefallen. Auf dem Bild ist nämlich die Kohlenluke zu sehen, und da sind alle Erinnerungen wieder hochgekommen.«

Dóra fiel Lára ins Wort. »Du sagst hinter dem Hof — welchen Hof meinst du denn?«

»Kirkjustétt natürlich«, antwortete Lára. »Wir waren seinerzeit nicht oft drüben in Kreppa. Bjarni und Grímur sprachen kaum miteinander, und ich glaube, ich kann mit ziemlicher Gewissheit sagen, dass der einzige Kontakt zwischen den Brüdern mit diesem Generator zu tun hatte, den sie beide genutzt haben.«

»Es gab also genauso eine Kohlenkammer in Kirkjustétt?«, fragte Dóra. »Hinter dem Hotel ist nichts davon zu sehen. Könnte die Kammer unter dem Anbau gelandet sein?«

»Nein, das kann nicht sein«, sagte Lára. »Wenn ich mich recht erinnere, befand sie sich weit vom Haus entfernt, auf gar keinen Fall da, wo der Anbau errichtet wurde. Die Falltür müsste auf der Wiese hinter dem Hotel sein. Das war auf beiden Höfen gleich. Es galt als sehr modern, die Kohlenkammer weit vom Haus entfernt zu haben, aber es war natürlich auch teurer, als die Kohlen einfach in den normalen Keller zu schmeißen. Besonders chic war ein Zugang vom Keller zur Kohlenkammer.«

Dóra schaute Matthias mit aufgerissenen Augen an. Sie konnte es kaum erwarten, in den Keller zu kommen und die Tür zur Kohlenkammer zu suchen. Bevor sie sich verabschiedete, versprach Dóra, Lára zu informieren, falls etwas über das Schicksal des geheimnisvollen Kindes ans Licht kommen sollte.

»Ich muss nochmal kurz telefonieren«, sagte Dóra zu Matthias und wählte die Nummer von Litla-Hraun. »Ich erkläre dir alles, versprochen.« Als Jónas endlich am Apparat war, kam sie sofort zum Thema. »Jónas, es kann sein, dass ich ein Loch in deine Kellerwand unter dem alten Teil des Hotels schlagen muss. Ich wollte es dich nur wissen lassen. Sonst alles in Ordnung bei dir?«


Dóra, Matthias und Gylfi standen vor der Kellerwand, die nach ihren Berechnungen an die Wiese hinter dem Hotel grenzte. Es hatte unglaublich lange gedauert, bis sie sich einig gewesen waren. Sie hatten Sóley hochgehoben und durch das schmutzige Fenster spähen lassen und somit die Bestätigung erhalten, dass die Wand, die derjenigen auf Birnas Foto ähnelte, auch die richtige war. Matthias legte das Foto beiseite und nahm den Vorschlaghammer.

Gylfi hatte darauf bestanden, mitzukommen, und so waren sie mit Schaufeln hinaus auf die Wiese gegangen, um sich zu vergewissern, dass die Luke wirklich da war, bevor sie im Haus zur Tat schritten. Auch die Mädchen hatten unbedingt mitkommen wollen, froh über die Abwechslung. Die Falltür befand sich in etwa 30 Zentimetern Tiefe direkt hinter dem Stein mit der Inschrift, aber anstatt Zeit damit zu vergeuden, sie vollständig auszugraben, waren sie in den Keller gegangen, um die verborgene Tür zu suchen. Matthias war der Meinung, es sei genauso schwierig, diese jahrzehntelang vom Erdboden bedeckte Falltür zu öffnen wie die andere Luke in Kreppa.

»Was glaubt ihr eigentlich, was ihr dahinter findet?«, fragte Gylfi.

»Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung«, antwortete Dóra. »Die Vorkehrungen hier unten lassen allerdings darauf schließen, dass jemand die Leute fernhalten wollte. Es gibt keinen Grund, eine Tür zu einem Kellerloch so zuzumauern. Man hätte sie auch anders versperren können, ohne sie zu verstecken.«

»Und wenn da nichts ist«, hakte Gylfi nach, »wie reagiert dann der Typ, dem das alles hier gehört?«

»Gar nicht«, sagte Dóra. »Ich hab ihn informiert, und schlimmstenfalls hat er anschließend ein paar Quadratmeter mehr.« Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Nun mach schon!«

Gylfi und Matthias ließen sich das nicht zweimal sagen und begannen, gegen die Wand zu hämmern. Dóra und die Mädchen standen dabei und beobachteten sie erwartungsvoll, aber bald wurde klar, dass es so schnell nichts zu sehen geben würde. Eine gute halbe Stunde später war das Loch durch Mörtel, Holz und Steinmauer groß genug, um hindurchzuklettern. Schwitzend und schmutzig standen Matthias und Gylfi mit hochgekrempelten Ärmeln davor und schnappten nach Luft.

»Ich gehe zuerst rein«, erklärte Dóra. »Da drinnen ist aber schon furchtbar schlechte Luft. Ist das Brandgeruch?«

»Ich gehe«, erwiderte Gylfi. Dóra kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er das nicht ernst meinte.

»Matthias, geh du vor!« Dóra schob ihn zu dem Durchgang. »Wo ist die Taschenlampe?«

Nachdem sich alle drei durch das Loch gequetscht hatten, folgten Dóra und Gylfi Matthias durch den düsteren Gang. Vom schwachen Schein der Taschenlampe profitierte nur Matthias, und Mutter und Sohn prallten gegen ihn, als er am Ende des Gangs vor einer Tür stehen blieb. Er drehte sich zu ihnen um und beleuchtete die Tür. »Soll ich aufmachen?«

Sie hätten besser nein gesagt.

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