31. KAPITEL

»Und das war natürlich purer Zufall, genauso wie mit dem Foto?« þórólfur runzelte die Stirn. »Ihr wart zufällig mit Vorschlaghämmern bewaffnet im Keller und hattet den Eindruck, es sähe besser aus, wenn da unten eine Wand weniger wäre?«

Dóra pflückte einen Holzsplitter aus ihrem Haar. »Nein, ich dachte, ich hätte mich einigermaßen klar ausgedrückt. Wir wollten sichergehen und euch nicht mit irgendwelchem Quatsch belästigen und Steuergelder verpulvern. Es gab keinen anderen Weg, um festzustellen, was sich da unten befindet. Ich muss gestehen, dass ich damit nicht gerechnet habe.« Sie schüttelte sich, als zwei Kripo-Männer mit Schubladen voller Knochen an ihnen vorbeikamen. Ein intensiver Brandgeruch folgte ihnen. Im Hotel wimmelte es von Polizisten, die aus den benachbarten Bezirken beordert worden waren, sowie von speziell ausgebildeten Fachleuten aus Reykjavík. Dóra hatte den Eindruck, dass die wenigsten wirklich etwas zu tun hatten und die meisten nur aus Neugier gekommen waren. Sie verzog das Gesicht. »Wie gesagt, ich hab nicht damit gerechnet, das Skelett eines Kindes zu finden. Und auch nicht, in einem mannshohen Berg von Knochen zu landen.«

»War dir denn nicht klar, dass es sich um Tierknochen handelt?«, fragte þórólfur. »In der Dunkelheit da unten war das vielleicht nicht so ganz einfach.«

»Die Knochen, die ich als Erstes gesehen habe, waren nicht von einem Tier«, sagte Dóra entschieden. »Bevor der Berg eingestürzt ist, hat der Schein der Taschenlampe einen kleinen Wollhandschuh beleuchtet. Direkt unter dem Bündchen war ein Knochen zu sehen — da muss ein totes Kind liegen. Es war definitiv eine Hand in einem Handschuh. Sie ragte aus dem Berg heraus, bevor er zusammenfiel, also wird sie zum Vorschein kommen, wenn die anderen Knochen abgetragen sind. An deiner Stelle würde ich die Männer bitten, vorsichtig zu sein, denn da unten …« Sie beendete den Satz nicht.

»Wie du vielleicht siehst, arbeiten wir sehr sorgfältig«, entgegnete þórólfur und sah sich um. »Egal, ob wir nun Menschenknochen finden oder nicht. Wir müssen herausfinden, was da vor sich gegangen ist. Es ist völlig unüblich, halbverbrannte Tierkadaver auf diese Weise zu verscharren. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, dass wir irgendwelche Beweise zerstören. Du solltest dir lieber Sorgen um Jónas machen, denn das Ganze ändert nichts an seiner möglichen Schuld.«

»Und wenn ich dir sage, dass da unten seit der Zeit des Zweiten Weltkriegs das uneheliche Kind von Magnús Baldvinsson liegt?«

»Ändert das was?«, fragte þórólfur beiläufig, obwohl sein Interesse zweifellos geweckt war. »Oder meinst du etwa, er hat sein eigenes Kind umgebracht und anschließend Dutzende von Tieren getötet und drübergeschmissen?« Er grinste. »Und dann kommt er sechzig Jahre später zurück und macht da weiter, wo er aufgehört hat?«

»Du musst selbst wissen, wie du das interpretierst, aber die Vaterschaft wird sich doch wohl beweisen lassen durch eine DNA-Untersuchung. Und ich glaube, Magnús Baldvinsson wird am Ende schlecht dastehen.«

»Du vertrittst also immer noch die Theorie, Magnús oder Baldvin hätten Birna und Eiríkur umgebracht?«, fragte þórólfur.

Dóra entfernte noch mehr Schmutz aus ihrem Haar. »Es könnte auch Bergur gewesen sein — oder seine Frau, gemeinsam mit ihm oder jemand anderem«, sagte Dóra und erzählte, was Matthias und sie zuvor über das Gewehr, den Fuchs und Eiríkurs sonderbare RER-Inschrift besprochen hatten. »Wir haben gesehen, wie sie mit einem Kellner, der hier arbeitet, das Hotel verlassen hat. Es wirkte sehr innig«, sagte Dóra. »Wir dachten, Rósa könnte ihn verführt und dazu gebracht haben, Birna zu töten. Aus Rache für den Seitensprung ihres Mannes.«

þórólfurs Brauen zuckten hoch bis unter den Haaransatz. »Du hast Bergurs Ehefrau doch kennengelernt. Hältst du sie für eine unwiderstehliche Verführerin?«

»Nein, nicht unbedingt«, erwiderte Dóra. »Aber die Geschmäcker sind verschieden, also kann man nie wissen.«

þórólfur grinste süffisant. »Heißt dieser Kellner vielleicht Jökull Guðmundsson?«

»Ja«, antwortete Dóra verwundert. »Ich kenne seinen Nachnamen nicht, aber er heißt Jökull. Wusstest du, dass sie was miteinander haben?«

þórólfur grinste. »Sie sind Geschwister. Das erklärt vermutlich die vertraute Umgangsweise.«

Dóra sagte nichts. Jetzt verstand sie Jökulls Abneigung gegen Birna. Sie beruhte ausschließlich darauf, dass sein Schwager seine Schwester mit ihr betrog. Und es erklärte auch seine Reaktion auf ihre Frage nach Steini. Sein Vater hatte den Unfall verursacht, und er reagierte offenbar genauso empfindlich auf dieses Thema wie seine Schwester. »Aha«, sagte sie. »Das ändert das Bild ein wenig.«

»Ja, findest du nicht?«, entgegnete þórólfur. »Andererseits kann ich dir versichern, dass wir eine mögliche Beteiligung Bergurs an dem Fall überprüfen«, fügte er hinzu, ohne anklingen zu lassen, ob Bergur seiner Meinung nach tatsächlich verdächtig war oder nach wie vor nur Jónas in Frage kam. »Ich will dir nicht verschweigen, dass wir sein Gewehr mit der Kugel aus dem Fuchs abgleichen. Wir haben hierzulande keine Möglichkeit dazu, aber es wurde ins Ausland geschickt. Dauert leider ein paar Tage, bis die Ergebnisse da sind, aber währenddessen ermitteln wir weiter.« Er schloss mit den Worten, er würde nun in den Keller gehen und die Lage peilen.

Dóra ging zu Matthias und musterte ihn von oben bis unten. »Wann warst du das letzte Mal so schmutzig?« Sie zupfte etwas von seinem Pullover, das sich als Knochensplitter entpuppte.

»Vor einer Ewigkeit«, antwortete er. »In der Bank werden sehr selten Wände eingerissen. Und Knochenberge, wie den da unten, gibt’s da auch nicht.«

Dóra erschauerte. Sie erzählte ihm von der Verbindung zwischen Rósa und Jökull, und dass sie kein blutrünstiges Paar waren, wie sie vermutet hatten. »Weißt du«, sagte sie dann, »ich wage zu behaupten, dass derjenige, der den Stein mit der Inschrift neben der Luke aufgestellt hat, wusste, was sich darunter befindet. Es muss eine Art Grabstein sein. Ein geheimer Grabstein.«

»Das bedeutet dann vermutlich, dass das Kind keines natürlichen Todes gestorben ist. Warum sollte man sonst heimlich einen solchen Grabstein aufstellen?« Matthias wartete, bis Dóra die Tür zu ihrem Zimmer aufgeschlossen hatte. »Abgesehen davon, dass nur jemand, der etwas zu verbergen hat, ein totes Kind so beerdigen würde.«

»Ich habe den alten Magnús in Verdacht«, erklärte Dóra, als sich die Tür öffnete. Sie ging geradewegs zum Nachttisch mit dem Telefon. »Ich rufe Elín an und frage sie, ob sie etwas über den Stein weiß. Vielleicht erinnern sich die Geschwister, wann und von wem er aufgestellt wurde.«

»Denkst du, sie will mit dir reden?«

»Ich glaube nicht, dass sie diesmal einfach auflegt«, meinte Dóra. »Nicht, wenn auf dem Grundstück, auf dem ihr Großvater und ihr Urgroßvater und ihre gesamte Familie jahrzehntelang gewohnt haben, ein Kinderskelett gefunden wurde.« Sie schlug Elíns Handynummer nach. »Außerdem benutze ich ja das Hoteltelefon — für den Fall, dass sie meine Handynummer kennt.« Sie wählte Elíns Nummer. »Hallo, Dóra hier«, sagte sie, als abgenommen wurde.

»Was willst du?«, fragte Elín griesgrämig. Man hörte, dass sie im Auto unterwegs war.

»Erstens wollte ich dich wissen lassen, dass eben ein ganzer Berg von Knochen hier auf Kirkjustétt gefunden wurde. Die meisten stammen von Tieren, aber aller Wahrscheinlichkeit nach ist auch ein Menschenskelett dabei. Von einem Kind.«

»Was sagst du da?«, kreischte Elín. »Kinderknochen?« Sie schien wirklich entsetzt zu sein und überhaupt nichts zu begreifen. »Was für ein Kind?«

»Das wird sich noch herausstellen«, erklärte Dóra. Sie wartete, aber Elín sagte kein Wort. »Hinter dem Haus, in östlicher Richtung, steht ein großer Stein mit einem eingemeißelten Vers aus den Volksmärchen, soweit ich weiß. Jemand hat ihn da hingestellt, er kann nicht von Anfang an da gewesen sein.«

»Der Stein«, sagte Elín verwundert. »Was hat der mit der Sache zu tun?«

»Vielleicht gar nichts«, antwortete Dóra entgegen ihrer Vermutung.

»Ich schwöre«, sagte Elín nachdrücklich, »meine Mutter hat den Stein vor vielen Jahren aufgestellt. Es war ein Hochzeitsgeschenk, das sie sich selbst gemacht hat. Frag mich nicht, warum.«

Dóra verbarg ihre Verwirrung darüber, dass Málfríður, Grímurs Tochter, den Stein aufgestellt haben sollte. »Noch eine allerletzte Frage«, sagte sie. »Was haben du und dein Bruder Börkur am Sonntagabend hier in Snæfellsnes gemacht? Ich habe einen Ausdruck von der Polizei über den Tunnelverkehr an dem Tag, und ihr wart beide unterwegs.«

»Wir wollten dich treffen«, antwortete Elín mürrisch. »Weißt du das nicht mehr? Du bist am Montag zu uns gekommen, und wir wollten den morgendlichen Berufsverkehr umgehen und sind schon am Abend vorher nach Stykkishólmur gefahren.«

Dóra verneinte kleinlaut. »Das war nur ein Detail, das ich abhaken wollte«, fügte sie hinzu.

»Du kannst ebenfalls abhaken, dass Börkur am Donnerstagabend nicht nach Snæfellsnes gefahren ist, um jemanden umzubringen«, sagte Elín barsch.

Dóra schwieg einen Moment. Sie wollte nicht zugeben, dass sie keine Ahnung von dieser Fahrt gehabt hatte. »Ach, und was wollte er da?«, fragte sie vorsichtig.

»Er wird sich bestimmt nicht bei mir dafür bedanken, wenn ich dir das sage«, antwortete Elín. »Ich habe es ja selbst kaum aus ihm rausgekriegt.« Elín wurde von lautem Hupen unterbrochen, und als sie wieder zu hören war, fluchte sie. »Diese verdammten alten Säcke, warum wird denen nicht der Führerschein abgenommen, bevor sie am Steuer verrecken?«, schimpfte sie jetzt. »Dóra, ich erzähle dir das jetzt nur, damit du Börkur und mich nicht mehr unnötig verdächtigst.«

»Es ist mir ziemlich egal, warum du es mir erzählst«, antwortete Dóra unfreundlich. »Was hat er gemacht?«

»Er hat einen Immobilienmakler getroffen, der sich unbedingt die Grundstücke ansehen wollte, die eventuell noch zum Verkauf stehen«, erklärte Elín. »Der Makler kann das bestätigen, falls du es anzweifelst.«

Dóra verabschiedete sich und legte auf. »Ihre Mutter hat den Stein aufstellen lassen«, erklärte sie Matthias. »Das sind wirklich merkwürdige Leute, aber sie stammen ja auch aus einer kranken Familie; sowohl ihr Großvater als auch ihre Großmutter hatten mit seelischen Problemen zu kämpfen.« Dóra stand auf. »Aber mit den Morden haben sie wahrscheinlich nichts zu tun, zumindest hat sie mir eine vernünftige Erklärung für ihre Fahrten gegeben.« Dóra holte die Plastiktüte mit den Volksmärchen von Jón Árnason. »Wenn ich den Vers finde, erschließt sich mir durch das dazugehörige Märchen vielleicht, warum ihre Mutter ihn in den Stein hat meißeln und diesen aufstellen lassen.« Sie stellte die Tüte auf den Schreibtisch.

»Du willst doch wohl nicht alle Bände durchsehen?«, fragte Matthias und beobachtete, wie Dóra eine Schwarte nach der anderen aus der Tüte holte.

Dóra überflog das Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes und suchte nach Wiedergängern. »Hier ist es«, sagte sie zufrieden und schaute von dem Buch auf, »eine Geschichte mit dem Titel Zum Menschsein war ich bestimmt. Das muss sie sein.« Dóra las die kurze Geschichte und legte dann das aufgeschlagene Buch in ihren Schoß.

»Und?«, fragte Matthias. »Ich bin mir nicht sicher, ob dein Gesichtsausdruck etwas Gutes oder Schlechtes bedeutet.«

»Ich auch nicht«, entgegnete Dóra. »Die Geschichte handelt von einer Mutter, die ihr Kind ausgesetzt hat. Ein paar Jahre später bekam sie ein zweites Mädchen, das sie großzog. Die Tochter kam ins heiratsfähige Alter, ein junger Mann hielt um ihre Hand an, und die beiden heirateten. Als die Hochzeitsfeier ihren Höhepunkt erreicht hatte, wurde ans Fenster geklopft und folgender Vers aufgesagt: Füllen sollt ich Kufen, errichten Haus und Hof, zum Menschsein war ich bestimmt, so wie du.« Sie blickte zu Matthias. »Es heißt, das ausgesetzte Kind habe den Vers für die Schwester aufgesagt.«

»Der Vers ist also ein Hinweis darauf, dass der Schwester all das zuteil wurde, was normalerweise dem ausgesetzten Kind zugestanden hätte?«, fragte Matthias.

»Ja, anders kann man den Vers nicht verstehen«, antwortete Dóra. »Ob Guðný noch ein zweites Kind hatte?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wohl kaum.«

»Aber wer hat all das bekommen, was gerechterweise Guðnýs Tochter zugestanden hätte?«, fragte Matthias. »Hätte sie ihre Mutter nicht beerben müssen?«

Dóra blähte die Wangen und ließ die Luft langsam entweichen. »Das kommt natürlich drauf an, wann Guðný gestorben ist. Falls ihre Tochter Kristín noch gelebt hat, hat sie ihre Mutter beerbt. Guðný war Alleinerbin, als ihr verwitweter Vater starb. Kristín hätte also den gesamten Familienbesitz geerbt.«

»Wenn das der Fall ist, dann hat jemand von Kristíns Tod profitiert«, sagte Matthias, »und Guðnýs Erbe erhalten, das korrekterweise ihrer kleinen Tochter zugestanden hätte. Wer wäre das in diesem Fall gewesen?«

»Tja, das heißt … — der nächste Verwandte der Mutter«, grübelte Dóra. »Grímur, Guðnýs Onkel.« Sie klappte das Buch zu. »Sóldís’ Großmutter hat gesagt, Grímur hat finanziell schlecht dagestanden. Vielleicht hat er Guðnýs Tochter umgebracht, bevor sie ins heiratsfähige Alter kam. Sobald sie geheiratet oder ein Kind bekommen hätte, hätte Grímur als Onkel sofort den Anspruch auf das Erbe verloren.«

»Vollkommen kaltblütig«, sagte Matthias. »Aber er hat den Grabstein nicht aufgestellt, das heißt, falls er das Kind ermordet hat, wusste zumindest seine Tochter Málfríður, Elíns und Börkurs Mutter, von der Leiche da unten. Es wäre ein zu großer Zufall, dass sie einen Stein mit dieser Inschrift ausgerechnet an der Stelle aufgestellt hat.«

»Málfríður«, sagte Dóra nachdenklich. »Málfríður hat alles geerbt, was dem ermordeten Kind zugestanden hätte. Falls da unten überhaupt ein Kind ist und zwar Guðnýs.«

»Ziemlich viel Wenn und Aber«, gab Matthias zu bedenken. »Aber ich gebe zu, dass das logisch klingt. Könnte Málfríður anstelle ihres Vaters Grímur die Mörderin gewesen sein?«

»Kaum. Sie war in den Kriegsjahren ein kleines Mädchen. Als Lára nach dem Krieg wieder nach Snæfellsnes kam, war Guðnýs Kind wie vom Erdboden verschluckt. Man könnte daraus folgern, dass Kristín, Guðnýs Tochter, die Kristín ist, deren Name an dem Pfeiler auf dem Dachboden steht. Dann ist es am wahrscheinlichsten, dass Málfríður ihn in den Pfeiler geritzt hat: Papa hat Kristín getötet. Ich hasse Papa. Vielleicht ist sie dahintergekommen.«

»Du hast die alte Geschichte fast enträtselt«, meinte Matthias und ging ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Von dort rief er, wobei er versuchte, das Geräusch des fließendes Wassers zu übertönen: »Nur blöd, dass das Jónas nicht weiterhilft! Birna und Eiríkur sind bestimmt nicht deshalb umgebracht worden.«

»Tja, ich weiß nicht«, rief Dóra zurück. »Vielleicht hat Birna von der Geschichte Wind bekommen und sollte deshalb zum Schweigen gebracht werden. Jemand wollte verhindern, dass die Geschichte aufgedeckt wird. Sie hat die alten Sachen durchwühlt, was das Foto von Magnús beweist. Vielleicht hat sie etwas entdeckt und ist auf die richtige Fährte gekommen.«

Matthias erschien mit einem Handtuch in der Türöffnung und trocknete seine Hände ab. »Aber wer würde Birna deshalb umbringen wollen? Elin und Börkur?«

»Nee«, meinte Dóra, »die hätten doch das Land nicht verkauft, wenn sie die Geschichte geheim halten wollten.«

»Vielleicht wussten sie gar nichts darüber«, meinte Matthias und verschwand wieder mit dem Handtuch im Badezimmer. »Birna hat ihnen möglicherweise davon erzählt und sie erpresst. Sie hat ja wahrscheinlich auch versucht, Magnús und Baldvin zu erpressen, also war das für sie kein Kunststück.«

»Könnte sein. Aber mein Gefühl sagt mir, dass Birna es nicht gewusst hat. Laut Notizbuch hat sie zwar vermutet, dass etwas mit dem Haus nicht stimmt, aber es gibt keine Hinweise darauf, dass sie der Sache auf die Spur gekommen ist.« Dóra nahm das Notizbuch zur Hand und blätterte es in aller Ruhe durch. »Weißt du noch, wo das neue Gebäude auf den Entwürfen an der Wand in Kreppa eingezeichnet war?«, fragte sie.

Matthias versuchte, es sich ins Gedächtnis zu rufen. »Warum fragst du?«

»Könnte Birna umgebracht worden sein, damit die Bautätigkeiten gestoppt werden?«, schlug Dóra vor. »Mit Beginn der Bauarbeiten wäre der verborgene Teil des Kellers ausgegraben worden. Vielleicht wollte jemand vor Baubeginn die Falltür finden und die Überreste des Kindes beseitigen, aber es ist ihm nicht gelungen — und deshalb hat er den letzten Ausweg gewählt und Birna getötet.«

»Dann stellt sich wiederum die Frage, wer die Geschichte hätte verheimlichen wollen«, entgegnete Matthias. »Die Geschwister wären logischerweise am wenigsten daran interessiert, dass die Sache wieder aufgewärmt wird. Niemand möchte die Tatsache, dass der eigene Großvater ein Kindsmörder war, an die Öffentlichkeit zerren. Aber es ist schon sehr ungewöhnlich, dass jemand seinerseits gleich einen Mord begeht, um das zu verhindern.«

Dóra schloss die Augen. »Ich übersehe irgendwas. Etwas ganz Eindeutiges, aber ich kriege es einfach nicht zu fassen.« Sie reckte sich nach der Mappe mit den polizeilichen Ermittlungsunterlagen und blätterte darin herum. »Ich habe keinen blassen Schimmer, wonach ich suchen soll«, sagte sie und stöhnte.

Matthias trat neben sie. Er hielt die Liste der Autos, die durch den Hvalfjörður-Tunnel gefahren waren, in der Hand. »Was, wenn der Mörder gar nicht direkt mit der alten Geschichte in Verbindung steht? Wenn es jemand ist, der die Familie schützen will?«

Dóra schaute von der Mappe auf. »Wer denn?«

Matthias reichte ihr die Liste und zeigte auf ein Autokennzeichen. »Als du heute Morgen weg warst, habe ich Sóldís gefragt, ob sie wüsste, wie Steini mit vollem Namen heißt. Wenn er schon Auto fahren kann, wollte ich überprüfen, ob er vielleicht auf der Liste steht. Und das tut er.« Er zeigte auf ein Kennzeichen und den Namen þorsteinn Kjartansson. »Du erinnerst dich, er hat gesagt, er könnte Sóldís nicht abholen, weil er nicht nach Reykjavík fahren würde. Trotzdem ist er gefahren und etwa eine Stunde vor dem Mord an Birna durch den Tunnel zurückgekommen.«

»Glaubst du, er hat Birna ermordet, um zu verhindern, dass Bertha wegen des Skandals einen Schock erleidet?«, fragte Dóra. »Das ist Schwachsinn. Außerdem ist er behindert. Wie hätte er das tun sollen?«

»Ich habe den Eindruck, dass er gar nicht so schwerbehindert ist, wie wir dachten«, erklärte Matthias. »Wenn du dir den Verkehr von hier nach Reykjavík anschaust, dann siehst du, dass Berthas Wagen ungefähr zur selben Zeit hier losgefahren ist. Vielleicht wollte Steini krampfhaft verhindern, dass Bertha unter Verdacht geraten könnte, und hat den Mord nach ihrer Abfahrt begangen. Es würde schließlich wenig Sinn machen, Birna und Eiríkur umzubringen und Bertha damit am Ende in noch größere Schwierigkeiten zu bringen.«

Dóra runzelte die Stirn. »Ich kann mir echt nicht vorstellen, wie Steini einen Mann in einen Pferdestall schleppt und ihn in eine Box mit einem wilden Hengst sperrt.«

»Vielleicht war Eiríkur noch bei Bewusstsein«, sagte Matthias. »Vielleicht haben die Medikamente ihn nur schläfrig gemacht. Schläfrig genug, um ihn zu überwältigen. Vielleicht wollte sich Steini für den Unfall rächen, indem er Eiríkur ausgerechnet in den Pferdestall von Bergur und Rósa gesperrt hat. Sich dafür rächen, dass Rósas Vater ihn in betrunkenem Zustand angefahren hat. Vielleicht glaubte er, der Verdacht würde auf Bergur und Rósa fallen.«

Dóra nickte nachdenklich. »Und die Vergewaltigung?«, fragte sie dann. »Steini hätte Birna auch vergewaltigen müssen, und sie stand nicht unter Medikamenteneinfluss.« Sie blätterte durch den Obduktionsbericht. »Allerdings geht man davon aus, dass sie von hinten überfallen wurde und mit dem Kopf auf einen Stein geprallt ist. Vielleicht war sie während der Vergewaltigung bewusstlos.« Sie las ein Stück weiter. »Weißt du zufällig, was A. barbadensis Mill., A. vulgaris Lam. ist?«, fragte sie.

»Damit kann ich leider nicht dienen«, sagte Matthias feixend. »Vulgaris heißt glaube ich vulgär, aber das ist nicht sehr hilfreich. Kannst du das nicht im Internet finden?«

»Doch, klar«, entgegnete Dóra, »ich hatte nur noch keine Zeit. Vielleicht bitte ich Gylfi, danach zu suchen. Es täte ihm gut, nach dem Knochenfund auf andere Gedanken zu kommen.« Sie rief in Gylfis Zimmer an und bat ihn, zum Gästecomputer an der Rezeption zu gehen. »Er macht es nachher«, sagte Dóra und legte auf. Sie schaute in Matthias’ Richtung und lächelte. »Wenn Kinder das Alter von zwölf Jahren erreicht haben, können sie die Dinge nicht mehr sofort tun. Es muss immer nachher sein.«

»Sollen wir versuchen, Steini oder Bertha abzufangen?«, fragte Matthias. »Vielleicht weiß Bertha irgendetwas, das meine Vermutung untermauert. Selbst wenn sie mit ihm befreundet ist und ihn anscheinend sehr mag, muss sie nicht unbedingt ihre schützende Hand über ihn halten, wenn sich die Sache als richtig herausstellt.«

»Da hast du wahrscheinlich recht«, sagte Dóra und wollte aufstehen. »Ich bin bereit. Du hast eine Wand für mich eingerissen, und das mindeste, womit ich das vergelten kann, ist, abzuchecken, ob deine verrückte Hypothese genauso gut ist wie meine.«

»Es steht dir vollkommen frei, es anderweitig gutzumachen«, sagte Matthias und grinste.

Dóra antwortete nicht. Sie stand mit der aufgeschlagenen Ausgabe der Volksmärchen in der Hand da und las. »Warte mal«, sagte sie gespannt. »Was ist das denn?«

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