13. KAPITEL

Vigdís saß an der Rezeption und beobachtete, wie Dóra und Matthias zu Jónas’ Büro gingen. Sie dachte kurz daran, ihnen mitzuteilen, dass Jónas nicht da war, drehte sich dann aber wieder zum Bildschirm und las weiter Nachrichten im Internet. Die Meldungen hatten allerdings wenig mit den üblichen Nachrichten gemein, denn Vigdís interessierte sich schon lange nicht mehr für die Nahostproblematik, Politik, Inflationsentwicklung und all die anderen Themen, auf denen die Journalisten herumritten. Die Nachrichten, die Vigdís las, waren eindeutig und hatten einen Anfang und ein Ende. Es gab immer einen Bösen und einen Guten, und es waren immer Fotos dabei, die man sich gerne anschaute. Gespannt wanderte ihr Blick über den Bildschirm. Inzwischen war ihr vollkommen klar, dass sowohl Nicole Ritchie als auch Keira Knightley an Magersucht litten. Sie inspizierte ein vergrößertes Foto der Letztgenannten, auf dem man ihre Rippen durch ein langes geschlitztes Kleid sehen konnte. Vigdís schüttelte traurig den Kopf.

»Entschuldigung.« Das Wort drang zu ihr und verdrängte einen Moment lang ihre Sorge um die junge Schauspielerin. Vigdís schaute auf. »Weißt du, wo Jónas ist?«, fragte Dóra.

Vigdís schloss das Fenster auf dem Bildschirm, sodass nur noch der Stand der Buchungen zu sehen war. »Jónas ist in die Stadt gefahren. Er kommt erst heute Nachmittag zurück.« Sie setzte ihr formelles Gesicht auf. »Kann ich euch behilflich sein?«

Dóra blickte erst zu Matthias, dann wieder zu Vigdís. »Wir haben gerade überlegt, wer wohl im Haus ist. Wir würden gerne alle treffen, die Birna möglicherweise gekannt haben. Den Kajakfahrer zum Beispiel.«

»þröstur Laufeyjarson?«

»Ja, genau«, antwortete Dóra. »Ist er im Haus?«

»Nein, der geht immer in aller Herrgottsfrühe raus zum Training. Gestern Abend hab ich sein Kajak noch gesehen. Vielleicht trainiert er gerade unten in der Hotelbucht. Wenn das Kajak nicht an dem kleinen Steg liegt, dann ist er auf dem Wasser.«

Dóra übersetzte für Matthias, und sie beschlossen, hinunter zum Meer zu gehen, in der Hoffnung, þröstur dort anzutreffen. Bevor sie sich verabschiedeten, sagte Dóra zu Vigdís: »Und Magnús Baldvinsson? Ist der im Haus?«

Vigdís zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Er ist eben da draußen rumgelaufen. Normalerweise geht er nicht weit. Er wandert ums Haus, ist aber nie länger als eine Stunde unterwegs. Er ist schon so alt.«

»Ist er Witwer?«, fragte Dóra. »Jónas meinte, er sei allein hier.«

»Nein, das glaube ich nicht«, antwortete Vigdís. »Seine Frau hat ein paar Mal angerufen.«

»Komisch, dass sie nicht gemeinsam hier sind.«

»Vielleicht ist sie krank«, entgegnete Vigdís. »Kann das Haus nicht verlassen oder so.«

»Vielleicht treffen wir ihn nachher«, meinte Dóra.

Vigdís nickte nachdrücklich. »Ja, das solltet ihr unbedingt versuchen.«

»Warum?«, fragte Dóra.

»Ach, nur so. Er kannte Birna«, antwortete Vigdís. Sie wartete einen kleinen Moment und fügte dann hinzu: »Zumindest glaube ich, dass er sie kannte. Er hat nämlich beim Einchecken ausdrücklich nach ihr gefragt.«

»Wirklich?«, fragte Dóra erstaunt. Jónas hatte keine Verbindung zwischen Magnús und Birna erwähnt. »Weißt du, woher sie sich kannten?«

Vigdís schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«


þröstur Laufeyjarson legte das Paddel auf dem Kajak ab und schaute auf die Stoppuhr an seinem Handgelenk. Trotz Intensivtraining schien er keine wirklichen Fortschritte zu machen. Das Boot schaukelte ruhig auf der Wasseroberfläche, während er überlegte, wie er seinen Trainingsplan optimieren könnte. Er atmete tief ein und seufzte. Der kleine Fitnessraum im Hotel war nicht besonders gut ausgestattet, und daher war es schwierig Muskelmasse aufzubauen. þröstur ließ dreimal die Schultern kreisen, um Verspannungen zu lösen, und spürte, wie ihm ein Schweißtropfen unter dem Neoprenanzug den Rücken hinunterlief. In Gedanken schon bei einer heißen Dusche mit anschließender Massage, wendete er das Kajak in aller Ruhe Richtung Ufer. Es reichte. Er würde am Nachmittag noch einmal hinausfahren, und dann würde es besser klappen.

Er lockerte seinen Griff um das Paddel ein wenig und kniff die Augen zusammen. Was waren das für Leute am Ufer? Als er sah, dass sie ihm zuwinkten, stöhnte er. Touristen. Falls es etwas Langweiligeres gab als Touristen und deren dumme Fragen, dann hatte er es glücklicherweise noch nicht erlebt. Gehst du auf Walfang? Bist du schon mal bis nach Grönland gefahren? Er überdachte die Situation. Sollte er sich etwa damit abfinden, auf diese Idioten zu treffen oder lieber wegpaddeln und woanders an Land gehen? Dann hätte er seine Ruhe, wäre aber wesentlich weiter vom Hotel entfernt. Er befeuchtete seine spröden Lippen und schmeckte Salz auf der Zunge. Die Leute winkten wild, und þröstur glaubte, die neu angereiste Frau zu erkennen. Dieselbe Frau, die an der Rezeption nach der Architektin gefragt hatte, als er gestern zurückgekommen war. Er hatte kein Interesse, mit ihr zu reden. Überhaupt kein Interesse. Wer weiß, was sie alles fragen würde. Ruhig wendete er das Kajak. Bevor er den Paddelschlag verstärkte, fiel sein Blick unbeabsichtigt auf das Blatt, so als rechne er damit, immer noch Blut darauf zu sehen. Natürlich war es weg. Es musste weg sein, er hatte es selbst abgewaschen und er machte immer alles perfekt. Er paddelte los.


»Was ist denn?«, rief Dóra aufs Meer hinaus, als das Kajak auf einmal drehte und sich schnell von ihnen entfernte. Sie hatte wild gestikuliert, um den Kajakfahrer auf sich aufmerksam zu machen. Jetzt ließ sie die Arme fallen. »Er hat uns ganz bestimmt gesehen. Was hat er denn?«

Matthias schirmte mit der Hand die Sonne ab und beobachtete, wie der Kajakfahrer zielstrebig in westlicher Richtung am Ufer entlangpaddelte. »Ja, er hat uns auf jeden Fall gesehen.« Das Kajak verschwand hinter einem Riff aus ihrem Blickfeld. »Ich glaube, er wollte nicht mit uns reden. Vielleicht ist er schüchtern.«

»Sollen wir noch warten?«, fragte Dóra, die diesen Unsympathen unbedingt so schnell wie möglich treffen wollte. Man konnte viel über Jónas sagen, aber er hatte eine gute Menschenkenntnis, und þröstur war ihm verdächtig vorgekommen. »Ist doch klar, dass er Dreck am Stecken hat. Sonst würde er doch mit uns reden.«

»Nicht unbedingt«, entgegnete Matthias. »Vielleicht ist er einfach müde und hat keine Lust dazu. Er wird wohl kaum wissen, was wir von ihm wollen. Lass uns wieder reingehen. Wir treffen ihn bestimmt nachher. Komm, lass uns lieber den alten Mann, diesen Magnús, suchen.«

Dóra musste zugeben, dass das ein wesentlich vernünftigerer Plan war, als tatenlos am Strand zu stehen, daher marschierten sie wieder zum Hotel. Dort erzählte ihnen Vigdís, sie hätte Magnús nicht gesehen, wahrscheinlich sei er auf seinem Zimmer. Sie gingen in den ersten Stock. »Ich übernehme das Reden«, sagte Dóra leise, während sie kräftig an die Tür klopfte. Aus dem Zimmer drangen Geräusche. »Er ist so alt, dass ich mir nicht sicher bin, ob er andere Sprachen als Isländisch und vielleicht Dänisch beherrscht.« Die Tür öffnete sich einen Spalt, und Magnús Baldvinsson spähte hinaus. »Guten Tag Magnús, ich heiße Dóra, und das ist Matthias. Dürften wir kurz mit dir reden?«

»Warum?«, entgegnete er heiser. »Ich meine, wer seid ihr?«

»Ach, entschuldige bitte, ich bin die Rechtsanwältin von Jónas, dem Eigentümer des Hotels, und das ist mein Assistent.« Dóra unterdrückte das Verlangen, ihren Fuß in den Türspalt zu stellen und die Tür aufzustoßen. »Es dauert nicht lange. Du könntest uns eventuell behilflich sein.«

Erst vergrößerte sich der Spalt ein wenig, dann öffnete Magnús die Tür ganz. »Bitte sehr. Kommt rein.«

»Vielen Dank«, sagte Dóra und setzte sich. »Wir versprechen auch, dich nicht lange aufzuhalten.«

Magnús schaute sie fest an. »Ich habe nicht viel zu tun, mach dir keine Gedanken. Aus Erfahrung weiß ich, dass Zeit nur kostbar ist, solange man jung ist. Ihr werdet das noch erleben.«

»Ich weiß nicht, ob ich diese Erkenntnis teile«, entgegnete Dóra höflich. »Wir würden gerne mit dir über Birna sprechen, die Architektin, die tot am Strand gefunden wurde.« Sie beobachtete Magnús’ Reaktion genau.

»Ja, davon habe ich gehört. Furchtbar«, sagte Magnús ziemlich emotionslos. »Mir wurde gesagt, es handele sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Mord, was das Ganze noch tragischer macht.«

»Ja«, Dóra lächelte Magnús an, »wir versuchen, herauszufinden, wer ihr möglicherweise etwas hätte antun wollen.«

»Und ich gehöre zu dieser Gruppe?«, fragte Magnús trocken.

»Nein, keineswegs«, beeilte sich Dóra zu antworten. »Uns ist nur zu Ohren gekommen, dass du sie gekannt hast, und wir haben gehofft, du wüsstest vielleicht etwas, das uns weiterhelfen kann.«

»Gekannt?«, sagte Magnús verwundert, konnte aber seine Nervosität nicht verbergen. »Wer sagt denn, dass ich sie gekannt habe? Das stimmt doch gar nicht!«

»Vielleicht ist das zu viel gesagt«, entgegnete Dóra. »Du hast wohl an der Rezeption nach ihr gefragt. Daher bin ich davon ausgegangen, dass du sie gekannt hast.«

Magnús schwieg eine Weile. »Daran kann ich mich wirklich nicht erinnern, aber mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Falls ich nach ihr gefragt haben sollte, muss ich ihren Namen auf irgendeiner Liste gesehen haben. Meine Frau und ich suchen einen Architekten, vielleicht hat bei ihrem Namen etwas bei mir geklingelt. Seid ihr euch sicher, dass die Frau an der Rezeption mich gemeint hat?«

Dóra konnte sehen, dass er log. Sie überlegte, wie alt er eigentlich war. Vermutlich keinen Tag jünger als achtzig. Seit wann suchten Ehepaare über achtzig einen Architekten? Ihre eigenen Eltern waren gerade mal sechzig, und es war ihnen schon zu viel, ein neues Auto zu kaufen, geschweige denn irgendwelche Umbauten in Angriff zu nehmen. »Möchtest du bauen?«

»Was? Nein, nein«, antwortete Magnús und zögerte kurz. »Wir haben ein altes Sommerhaus in þingvellir, das wir umbauen möchten. Dafür brauchen wir Beratung.« Er schaute Dóra ausdruckslos an. »Es ist sehr schwierig, einen Architekten zu finden. Wir haben Hochkonjunktur.«

»Aber du bist doch wohl nicht hier, um nach einem Architekten zu suchen?«, fragte Dóra, entschlossen, den alten Mann nicht so leicht davonkommen zu lassen.

Magnús schaute sie missmutig an. »Nein, natürlich nicht. Der Grund für meinen Aufenthalt geht euch nichts an, und ich würde die Unterredung an diesem Punkt gerne beenden.« Er verstummte und wartete auf eine Reaktion. Die beiden saßen betreten da — Matthias, weil er kein einziges Wort verstanden hatte, und Dóra, weil sie den Mann nicht noch weiter bedrängen wollte. Als klar war, dass die beiden nichts sagen würden, ergriff Magnús erneut das Wort. Sein Ärger schien größtenteils verflogen zu sein. »Ich kann euch ebenso gut sagen, warum ich hier bin. Vielleicht lasst ihr mich dann in Ruhe. Ihr scheint zu glauben, ich hätte etwas zu verbergen, aber so ist es keineswegs.«

»Nein, das tun wir nicht«, sagte Dóra freundlich. »Wir versuchen nur, herauszufinden, was passiert ist. Nichts anderes.« Sie lächelte ihn an. »Verzeih bitte, wenn wir zu aufdringlich oder vorwurfsvoll waren, das wollten wir nicht. Wir versuchen nur, uns ein Bild von den Geschehnissen zu machen. Das ist unser einziges Anliegen.«

»Das sagst du so«, entgegnete Magnús skeptisch. »Ich bin einfach krank gewesen und wollte mich ganz allein erholen. Ich weiß aus Erfahrung, dass Einsamkeit der Seele am besten tut.«

»Warum hast du gerade dieses Hotel ausgewählt? Der Betrieb ist ja vor allem auf alternative Medizin und esoterische Aspekte ausgerichtet. Ich möchte dich nicht beleidigen, aber es scheint mir ungewöhnlich, dass sich ein Mann deiner Generation für so etwas begeistert.«

Magnús lächelte zum ersten Mal, seit er die Tür geöffnet hatte. »Sehr richtig. Ich glaube nicht an den ganzen Quatsch, den sie hier praktizieren. Ich bin nur hergekommen, weil hier meine Wurzeln sind. Ich bin auf einem Hof ganz in der Nähe aufgewachsen.«

Dóra riss die Augen auf. »Was? Kanntest du die Leute von dem Hof hier?«

Magnús zögerte einen Moment. »Ja, allerdings. Spielt das eine Rolle?«

»Wahrscheinlich nicht. Ich weiß nur, dass Birna sich sehr für die Geschichte des Hofs interessiert hat, und ich glaube, ihr Tod hat auf irgendeine Weise damit zu tun. Aber dafür habe ich natürlich keine Beweise.«

Magnús erblasste. »Ist das nicht ziemlich weit hergeholt?« Seine Stimme zitterte leicht.

Dóra tat so, als sei nichts geschehen. »Ja, ja, wahrscheinlich. Aber es ist toll, dass du dich hier auskennst. Vielleicht kannst du mir ein bisschen über die hiesige Geschichte erzählen? Kennst du auch irgendwelche Spuk- oder Geistergeschichten?«

Magnús wirkte unentschlossen. Er räusperte sich, so als versuche er, die Nerven zu behalten. »Ich habe nicht viel für Geister übrig, und diese Geschichten haben mich nur interessiert, als ich ein kleiner Junge war. Hier kursieren schon lange solche Geschichten, aber darüber müsst ihr euch bei anderen Leuten erkundigen.« Magnús war in seinem Stuhl zusammengesackt, richtete sich aber wieder auf, bevor er weitersprach: »Ich bin kein Historiker und habe mich nie besonders für Genealogie und Derartiges interessiert. Ich weiß nicht, was hier früher passiert ist.«

»Aber du kanntest doch die Bewohner, nicht wahr? Wie hieß er noch gleich …« Dóra versuchte, sich an die Namen zu erinnern, die auf den Rückseiten der Fotos in der Kiste gestanden hatten. »… Björn soundso.«

Magnús saß wie festgefroren da. »Bjarni. Bjarni þórólfsson auf Kirkjustétt.«

»Genau«, sagte Dóra erfreut. »Wohnte sein Bruder nicht auf dem Nachbarhof?«

»Ja, Bjarni war der Bruder von Grímur auf Kreppa.« Magnús presste die Lippen aufeinander. »Grímur war Arzt und älter als Bjarni. Hatten ein sehr trauriges Schicksal, die beiden Brüder. Aber Glück und Unglück liegen nah beieinander.«

»Was?« Dóras Neugier war geweckt. Die Fotografien hatten in der Tat einen tragischen Anstrich, aber Dóra hatte gedacht, es läge daran, dass die Leute auf den Fotos schon längst nicht mehr im Diesseits weilten und sich niemand mehr an ihre Triumphe und Niederlagen erinnern konnte. Es war unangenehm, schwarz auf weiß vor sich zu sehen, wie schnell die Menschen in Vergessenheit gerieten. Aber vielleicht hatte dieses unglückselige Gefühl einen tieferen Grund. »Wie meinst du das?«

Magnús seufzte. »Der Vater der beiden war damals einer der größten Reeder hier auf der Halbinsel. Er betrieb gleichzeitig zwei Fischfangstationen und war sehr wohlhabend. Vielleicht nicht im Vergleich mit den heutigen Fangquotenkönigen und der neuen Generation von Bankern, aber für die damalige Zeit war er ziemlich gut gestellt. Ich weiß nicht mehr, wie viele Segelboote er besaß, aber es waren sehr viele. Die Reederei befand sich in Styckishólmur.«

»Waren die Söhne im väterlichen Betrieb tätig?«

»Nein. Bevor sie auf die Welt kamen, hatte er die Reederei verkauft und stattdessen in Ländereien investiert. Er besaß einen Großteil der Ländereien hier an der Südküste der Halbinsel. Das war sehr vernünftig, denn die Fischerei veränderte sich stark. Die Zeit der Trawler begann, und mit den meisten alten Reedereien ging es bergab.«

»Hat er denn gewusst, dass es so kommen würde?«, fragte Dóra.

»Nein, er war kein Hellseher, falls du das meinst. Er wollte einfach nicht, dass seine Söhne zur See fahren. Hatte zu viele junge Männer auf dem Meer umkommen sehen. Er schickte seine Söhne in die Stadt zum Studieren. Grímur war sehr begabt und wurde wie gesagt Arzt, aber Bjarni war kein besonders fleißiger Schüler. Er war ein fröhlicher, netter Kamerad und stets zu einem Spaß aufgelegt. Nicht so ernst wie sein älterer Bruder. Im Grunde hätten sie kaum unterschiedlicher sein können. Man muss allerdings bedenken, dass ich sie als junge Männer nicht persönlich kannte, ich habe das von meinem Vater gehört.«

»Und Grímur wurde dann Arzt hier im Bezirk?«

»Ja, er zog hierher und baute den Hof Kreppa. Neben seiner Arzttätigkeit betrieb er auch Landwirtschaft, denn sonst hätte es hinten und vorne nicht gereicht. Damals wohnten hier auch nicht viel mehr Menschen als heute. Dann versuchte er es mit der Landwirtschaft als Haupteinnahmequelle, aber damit fuhr er nicht gut. Bjarni widmete sich hingegen ganz dem Hof. Und war sogar sehr erfolgreich. Später machte er mit verschiedenen Investitionen noch mehr Profit.«

»Und was ist das Tragische an der ganzen Geschichte?«, fragte Dóra. Bisher klang schließlich alles sehr positiv.

»Das Tragische, ja«, sagte Magnús ernst. »Das lag, wie so häufig, in der Liebe. Bjarni heiratete sehr jung eine wirklich prachtvolle Frau. Sie hieß Aðalheiður.« Magnús bekam ein verträumtes Gesicht. »Ich war ja noch ein kleiner Junge, aber ich werde sie nie vergessen. Vielleicht, weil sie sich so sehr von ihrer Umgebung abhob. Sie war die Schönste von allen, sanftmütig und freundlich. Auch tüchtig. Bjarni lernte sie in Reykjavík kennen, und als sie herzogen, war sie es überhaupt nicht gewohnt, zu arbeiten.

Aber Aðalheiður riss sich zusammen und lernte alles Notwendige. Kristrún, Grímurs Frau, war vollkommen anders. Sie stammte von hier, ein Arbeitstier wie Aðalheiður, aber auf ganz andere Weise. Sie verrichtete ihre Arbeit verdrossen, gewissenhaft und aufopferungsvoll, während Aðalheiður immer ein Lächeln auf den Lippen hatte und übermütig lachte, wenn ihr etwas missglückte. Sie passten jedenfalls gut zu ihren Männern. Bjarni fröhlich und sorglos, und Grímur stets so, als sei ihm eine Laus über die Leber gelaufen.«

»Ist Aðalheiður jung gestorben?«, fragte Dóra, weil die Frau auf den späteren Fotos nicht mehr zu sehen war.

»Ja«, sagte Magnús mit traurigem Gesicht. »Sie bekamen ein Kind, ein kleines Mädchen, das sie auf den Namen Guðný tauften. Ein sehr hübsches Mädchen, das lebende Abbild seiner Mutter. Grímur und seine Frau hatten kurz davor auch eine Tochter bekommen. Sie hieß Edda und starb im selben Jahr, als Guðný geboren wurde. Dieses Aufeinanderprallen von Trauer und Glück war die Ursache für den Streit zwischen den beiden Frauen. Grímurs Frau beschuldigte Aðalheiður, ihre Tochter vergiftet zu haben, was völlig abwegig war, aber die Frau war von Trauer überwältigt und wahrscheinlich nicht mehr ganz bei Trost, als sie das sagte. Im Zuge dessen verschlechterte sich auch das Verhältnis zwischen den Brüdern. Sie redeten nicht mehr miteinander, als das Unglück über sie kam.«

»Welches Unglück?«, fragte Dóra.

»Tja, Aðalheiður starb an einer Blutvergiftung, und Grímurs Frau drehte anscheinend durch. Sie wurde jahrelang nicht mehr gesehen, und die Brüder saßen da, der eine ein junger Witwer mit einer kleinen Tochter und der andere mit einer geisteskranken Frau und kinderlos. Trösten konnten sie einander aus Stolz nicht, und so haderte jeder mit seinem eigenen Schicksal. Allerdings bekamen Grímur und Kristrún kurz vor Kriegsbeginn ein weiteres Kind, Málfríður. Die Mutter starb im Kindsbett, obwohl Gerüchte kursierten, sie habe sich kurz nach der Geburt das Leben genommen und Grímur habe den Totenschein manipuliert. Er hatte ihn selbst ausgestellt. Ich glaube allerdings, dass das unbegründete Spekulationen sind.«

»Und die Brüder haben sich nie versöhnt?«, fragte Dóra.

»Nein, es gab nur wenig Kontakt zwischen den beiden Höfen, als Bjarni krank wurde.«

»War das nicht Tuberkulose?«

»Ja«, antwortete Magnús. »Er schottete sich ab, weigerte sich, nach Reykjavík in ein Sanatorium zu fahren und starb ein paar Jahre später.« Magnús holte tief Luft. »Allerdings nicht, bevor er seine Tochter Guðný, die ihn pflegte, angesteckt hatte. Sie überlebte ihren Vater nicht lange. Bjarnis Bruder kümmerte sich so gut er konnte um die Kranken, aber es reichte nicht. Wenn Bjarni in die Stadt gefahren wäre, um sich dort behandeln zu lassen, wäre alles anders gekommen.« Magnús schüttelte betrübt sein graues Haupt. »Grímur zog kurz darauf mit seiner Tochter Málfríður nach Reykjavík. Er beerbte seinen Bruder und musste daher die Ländereien und anderen Besitztümer hier auf der Halbinsel nicht verkaufen. Aber auch er wurde nicht alt; er starb nur wenige Jahre, nachdem sie weggezogen waren. Er hatte auch große psychische Probleme.«

»Und Kristín?«, fragte Dóra. »Wer war Kristín?« Magnús erstarrte. Er öffnete den Mund, so als wolle er etwas sagen, schloss ihn aber sofort wieder. »Wohnte auf einem der Höfe eine Kristín?«, wiederholte sie.

Magnús’ Gesicht versteinerte. »Nein. Hier gab es keine Kristín.« Er räusperte sich. »Ich glaube, das genügt jetzt.«

»Weißt du vielleicht, ob jemand von den Höfen etwas mit einer nationalistischen Gruppierung zu tun hatte?«, beeilte sie sich zu fragen, bevor sie aufgefordert würden zu gehen.

»Ich habe meinen Worten nichts hinzuzufügen«, sagte Magnús und stand auf. Er schwankte ein wenig, und Dóra fürchtete einen Moment lang, er würde ohnmächtig werden, aber dann fand er sein Gleichgewicht wieder, stand kerzengerade da und zeigte auf die Zimmertür. »Auf Wiedersehen.«

Dóra wusste, dass es nichts bringen würde, den Mann weiter zu bedrängen. Aber was hatten die Nazis mit dem Schicksal der Höfe zu tun? Und Kristín? Wer war das eigentlich, diese Kristín?

Загрузка...