10. KAPITEL

»Stimmt was nicht?«, fragte Matthias auf Englisch und blickte abwechselnd zu Dóra und Jónas, die das Handy anstarrten.

Es dauerte eine Weile, bis die beiden ihre Sprache wiederfanden. Matthias hatte so gut wie gar nichts von dem begriffen, was sie gesagt hatten.

Jónas, der immer noch mit offenem Mund dastand, drehte sich zu ihm: »Wer bist du eigentlich?«, fragte er, offensichtlich erleichtert, sich mit etwas anderem als seinen eigenen Problemen beschäftigen zu können.

»Das ist mein Freund aus Deutschland. Matthias. Er war früher bei der Polizei und ist jetzt für Sicherheitsfragen bei einer deutschen Bank zuständig. Wir haben uns bei einem anderen Fall kennengelernt«, antwortete Dóra. »Du kannst ihm vertrauen, er wird nichts weitererzählen.«

»Das sagst du«, meinte Jónas zweifelnd. »Ich begreife das nicht. Ich hab diese SMS nicht verschickt, ich schwöre es.«

Dóra spielte nachdenklich mit dem Handy in der Hand herum. »Jemand muss es getan haben, Jónas, und es ist am wahrscheinlichsten, dass du es warst.« Sie drehte sich zu Matthias und erklärte ihm, was los war. Jónas stand schweigend und unschlüssig daneben. Als Dóra fertig war, ergriff er das Wort.

»Ich sag’s nochmal. Ich habe diese SMS nicht geschrieben. Punkt.« Jónas wandte sich hilfesuchend an Matthias.

»Hast du das Handy irgendwo liegen lassen?«, fragte Matthias. »Wenn du die SMS nicht geschickt hast, dann muss jemand dein Handy dafür benutzt haben. Entweder um den Verdacht auf dich zu lenken oder um diese Birna zum Strand zu locken. Vielleicht war es jemand, den sie normalerweise nicht hätte treffen wollen.«

»So was macht nur ein kaltblütiger Mörder. Jemand, der Birna umbringen wollte und einen genauen Plan hatte«, sagte Dóra. »Allerdings ist das in Island sehr ungewöhnlich. Meistens werden Morde in der Küche verübt, wo irgendwelche Besoffenen in Streit geraten und einer zum Messer greift. Birna ist gelinde gesagt in eine sehr bizarre Situation geraten, falls es so war.«

Dóra und Matthias drehten sich zu Jónas. »Es ist sehr wichtig, dass du dich daran erinnerst, wo du warst, als die SMS geschickt wurde«, sagte Dóra. »Lässt du das Handy öfter irgendwo liegen?«

»Das ist das Problem«, antwortete Jónas. »Der Empfang ist hier in der Gegend sehr schlecht, deshalb ist es Quatsch, das Handy überallhin mitzunehmen.«

»Aber wo warst du? Kannst du dich daran nicht erinnern?«, fragte Matthias.

Jónas kratzte sich am Kopf. »Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls im Moment nicht. Ich muss in Ruhe darüber nachdenken. Im Augenblick weiß ich leider nicht, was ich wann genau getan habe. Das spielt ja normalerweise auch keine Rolle.«

»Kiffen ist schlecht fürs Gedächtnis, Jónas«, bemerkte Dóra. »Aber es ist doch erst zwei Tage her. War das nicht der Abend mit der spiritistischen Sitzung? Ich hab die Ankündigung an der Rezeption gesehen.«

Jónas schlug sich leicht gegen die Stirn. »Ja, ja. Natürlich! Donnerstagabend.« Dann schaute er Dóra genauso ratlos an wie zuvor. »Ich weiß trotzdem nicht mehr, was ich gemacht habe. Ich war jedenfalls nicht bei der Séance.«

»Na toll! Versuch bitte trotzdem, dich dran zu erinnern. Es ist wichtig.« Dóra nahm ihm das Handy aus der Hand und öffnete die SMS erneut. »Eine Sache kommt mir komisch vor«, sagte sie nachdenklich, nachdem sie die Mitteilung noch einmal gelesen hatte. »Warum sollte Birna auf diese Nachricht reagieren? Wenn ich eine SMS von dir bekommen würde, Jónas, dass ich dich unten am Strand treffen soll, dann würde ich dich anrufen und fragen, was du willst.«

»Darüber hat sie wohl nicht nachgedacht. Sie hatte mir vorgeschlagen, da unten ein kleines Lokal zu bauen, aber ich fand die Idee nicht besonders reizvoll. Sie muss runtergegangen sein, vielleicht hat sie gehofft, ich hätte meine Meinung geändert.«

»Und wussten alle davon?«, fragte Matthias.

»Bestimmt«, antwortete Jónas. »Birna hat ziemlich viel geredet. Verschwiegenheit gehörte nicht gerade zu ihren Vorzügen.«

Dóra schaute Jónas nachdenklich an. »Eine Frage: Wenn du sie nicht umgebracht hast — wer hätte es dann tun können? Du hast sie als korrekte Person beschrieben, mit der jeder gut auskam. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand einen Grund haben sollte, eine ganz normale Architektin zu ermorden.«

Jónas blickte verlegen von Dóra zu Matthias. »Ähäm. Vielleicht war ich nicht ganz ehrlich. Sie war eine ganz schöne Zicke. Eigentlich konnte kein Mitarbeiter sie leiden. Sie war überheblich, hat sich über unsere Einstellung lustig gemacht und so weiter. Es gibt eine lange Liste von Leuten, die sie nicht ausstehen konnten. Aber ich weiß natürlich nicht, wer von ihnen sie hätte umbringen wollen.«

»Ich hoffe für dich, dass du etwas sehr Offensichtliches übersehen hast«, meinte Matthias. »Sonst wird sich die Polizei nämlich ausschließlich auf dich konzentrieren.«

»Jetzt geh und überleg dir, wo du am Donnerstagabend warst«, sagte Dóra. »Matthias und ich versuchen in der Zwischenzeit, mehr über Birna herauszufinden. Und bereite dich darauf vor, das Handy abgeben zu müssen. Wahrscheinlich haben sie die SMS schon in Birnas Handy entdeckt und wollen jetzt deins als Bestätigung. Lösch die SMS auf keinen Fall. Das würde dich nur noch verdächtiger machen.«

»Wirklich?«, sagte Jónas niedergeschlagen.

»Und gib mir meine SIM-Karte zurück. Die muss ja nicht auch noch bei der Polizei landen.«


»Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Mord mit diesem Haus oder dem Grundstück zu tun hat«, meinte Dóra und pflückte gedankenversunken einen Grashalm.

»Warum glaubst du das?«, fragte Matthias. Er trank einen Schluck Kaffee. Sie saßen in Liegestühlen auf der Wiese hinter dem Hotel und genossen die Aussicht auf die Faxaflói-Bucht. »Es ist doch viel wahrscheinlicher, dass das Motiv mit der Gegenwart zu tun hat; Liebe, Geld, Geisteskrankheit. Vielleicht war der Mörder ja auch ein völlig Unbekannter, vielleicht hat er eine einsame Frau herumspazieren sehen und die Beherrschung verloren.«

Dóra steckte sich den Grashalm zwischen die Lippen. »Die SMS deutet aber auf etwas anderes hin.« Sie kaute auf dem Halm herum und fügte dann hinzu: »Ich spüre es einfach, dass die Sache irgendwie mit dem Hotel zusammenhängt. Es ist etwas an diesem Haus. Und dann der Kalender. Kein Wort über Geld oder Liebe. Birna schien ganz von ihrer Arbeit eingenommen zu sein.«

»Könnte es nicht nur ein beruflicher Kalender sein? Vielleicht hatte sie zusätzlich noch einen privaten?« Matthias beobachtete, wie sich der Grashalm in Dóras Mund auf und ab bewegte. »Ich wusste nicht, dass Isländerinnen Wiederkäuer sind.« Er schnitt eine Grimasse. »Schmeckt’s?«

»Versuch’s mal. Man kann klarer denken.« Dóra pflückte einen zweiten Grashalm, reichte ihn Matthias und grinste, als er das Gesicht verzog, es aber trotzdem probierte. »In diesem Kalender steht mit Sicherheit etwas, das uns hilft, den Mörder zu finden.« Sie beobachtete, wie Matthias auf dem Grashalm herumkaute. »Macht doch Spaß, oder? Jetzt brauchst du nur noch Gummistiefel, dann bist du ein echter isländischer Bauer.«

»Gummi ist für Autoreifen, Gummibänder und Flummis da.« Matthias nahm den Halm vorsichtig aus dem Mund. »Sollen wir uns den Kalender nochmal anschauen?«

Dóra setzte sich im Liegestuhl auf und verstellte die Rückenlehne. »Vielleicht sollten wir anders anfangen: In dem Buch war eine Zeichnung von dem zweiten Hof hier auf dem Grundstück. Da standen alle möglichen Anmerkungen, die wir vielleicht vor Ort nachvollziehen können.«

Matthias setzte sich ebenfalls auf. »Wie du willst. Ich komme mit und spiele den Leibwächter.« Er blinzelte ihr zu. »Ich hab das Gefühl, deine Nachforschungen könnten dich auf alle möglichen Irrwege führen. Du bist jetzt schon bei einer Verstorbenen eingebrochen, hast ihr Eigentum entwendet und polizeiliche Ermittlungen behindert, indem du Jónas die Möglichkeit gegeben hast, fragwürdige Daten aus seinem Handy zu löschen. Ich kann’s kaum erwarten, wo das alles enden wird.«


»Hier steht Kristín und dahinter ein Fragezeichen. Sollen wir da anfangen?« Dóra zeigte auf die Seite mit dem Grundriss des Hauses. Sie standen in einem Zimmer neben dem Flur und hatten die Wahl, entweder die Treppe in die obere Etage zu nehmen oder sich im Erdgeschoss umzuschauen. Dort sollte es laut Grundriss zwei Stuben, eine Küche, eine Vorratskammer, ein Bad und ein Arbeitszimmer geben.

»Sollen wir nicht erst mal hier unten durchgehen?«, schlug Matthias vor und lugte linker Hand durch eine Tür.

»Okay«, sagte Dóra und klappte das Buch zu. Sie bemühte sich nicht mehr, keine Fingerabdrücke darauf zu hinterlassen, denn abgeben würde sie es sowieso nur, wenn die Lage sich zuspitzte. »Puh, was für ein Mief.« Im Haus hing ein schwer definierbarer Geruch — eine Mischung aus Moder, trockenem Staub und Mottenkugeln. Zumindest war hier jahrzehntelang nicht mehr richtig gelüftet worden. »Igitt«, sagte Dóra und hielt sich die Nase zu.

Matthias atmete tief ein. »An deiner Stelle würde ich versuchen, mich daran zu gewöhnen. Nach einer Weile riechst du’s nicht mehr.« Trotz seiner hochtrabenden Worte rümpfte er gleichzeitig die Nase. »Puh, kann man hier kein Fenster aufmachen?«

Sie gingen in das Zimmer zur Linken, laut Birnas Grundriss das Lesezimmer. Die Türklinke war vorsintflutlich — ein dicker, kurzer Holzgriff, den man fest herunterdrücken musste. Die Tür war ein bisschen verzogen, und Dóra stellte fest, dass moderne Türen wesentlich dicker waren. Sie betrat hinter Matthias den Raum, und sie sahen sich schweigend um. »Hier gibt’s nicht viel zu sehen«, murmelte Matthias, nachdem sie die leeren Regale an den Wänden gemustert und die Schubladen eines großen Schreibtischs unter dem schmutzigen Fenster herausgezogen hatten. Diese waren, bis auf einen uralten Bleistift, ebenso leer wie die Regale. Der Bleistift war mit einem Messer gespitzt worden, und an seinem einen Ende fehlte der Radiergummi.

»Aber sieh mal«, sagte Dóra, »scheint so, als hätten vor nicht allzu langer Zeit noch Bücher in den Regalen gestanden.« Sie zeigte auf den Staub. An den Rändern der Regalfächer war eine dicke Staubschicht, aber weiter hinten kaum noch etwas.

Matthias musterte die Regale. »Stimmt. Ob Birna die Bücher mitgenommen hat? Vielleicht waren sie wertvoll.«

Dóra zuckte die Achseln. »Kann ich mir kaum vorstellen. In ihren Notizen hat sie keine Bücher erwähnt. Obwohl sie das wohl auch kaum getan hätte, wenn sie sie hätte stehlen wollen. Die ehemaligen Eigentümer müssen sie mitgenommen haben. Jónas hat erzählt, dass sie das Inventar abholen wollten.«

Sie verließen das Zimmer, wanderten weiter durchs Haus und stießen auf zwei miteinander verbundene Zimmer mit altmodischen Möbeln: ein verschlissenes Sofa, das einstmals ein wahres Prachtexemplar gewesen sein musste, eine massive Anrichte und ein Esszimmertisch mit Stühlen aus dunklem Holz und einem gelb verfärbten Häkeldeckchen. Hier und dort standen kleine Beistelltischchen, aber es gab keine weiteren losen Gegenstände.

An den Wänden hingen zwei Gemälde, eins von einem Schiff und das andere vom Snæfellsgletscher. Beide waren so schmutzig, dass man die Namen der Künstler nicht mehr entziffern konnte. Die Anrichte und der Esszimmerschrank waren leer.

»Mach’s dir doch auf dem Sofa bequem«, sagte Matthias und zeigte auf das verstaubte Polster. Durch den Schmutz schimmerte ein Blumenmuster in dumpfen Farben. »Ich würde gerne sehen, wie der Staub aufgewirbelt wird.«

»Nein, danke«, entgegnete Dóra. »Mach du’s doch. Ich zahle dir auch einen Hunderter.«

Matthias griff nach ihrem Arm. »Es gibt aber noch ganz andere Zahlungsmittel als Bargeld.«

Dóra lächelte ihm zu. »Da lässt sich bestimmt eine Einigung erzielen.« Sie schaute wieder zum Sofa und verzog das Gesicht. »Ich glaube, du solltest es doch lieber lassen. Der Staub würde sich bestimmt erst heute Abend wieder legen, und dann finden wir vielleicht nicht mehr raus. Komm, lass uns die Küche inspizieren.«

Die Küche war nicht so leer wie die anderen Zimmer, aber ebenso primitiv — einfache, gestrichene Schränke, ein kleines, flaches Spülbecken. Im Vergleich zu einer modernen Küche gab es nicht viel Arbeitsfläche, aber der Platz für den Küchentisch war viel größer. Kochlöffel und ein stählerner Fischspaten hingen an Haken, eine altmodische Kaffeekanne aus Blech stand auf dem Herd. »Merkwürdig, die ganze Einrichtung zurückzulassen«, sagte Dóra und ließ ihren Blick schweifen.

Matthias öffnete einen der Küchenschränke und betrachtete die Sammlung aus kunterbunt zusammengewürfelten Tassen und Gläsern. »Ist das nicht typisch für eine langweilige Pflicht? Man schiebt sie vor sich her, und dann passiert nie was. Vielleicht sind die Leute verstorben, und keiner konnte die Sachen gebrauchen. Die Erben haben bestimmt Kaffeekannen und Möbel besessen und hatten keine Lust, das Zeug zu holen.« Er verstummte und zeigte auf einen Pappkarton auf einem der Schränke. »Guck mal, was ist das denn?«

Sie holten den Karton herunter und entdeckten in Zeitungspapier eingewickelte Gegenstände. Neben dem Karton lag ein Stapel Zeitungen. Dóra nahm eine und suchte nach dem Datum.

»Die ist von Mai. Die ehemaligen Eigentümer haben das offenbar erst vor kurzem eingepackt. Und das da?«, sagte sie und zeigte auf eine Thermoskanne im Schatten des Kartons. »Die ist nicht alt.« Sie hob die Thermoskanne hoch und schüttelte sie leicht. Darin plätscherte etwas, und Dóra schraubte den Deckel ab. Vorsichtig roch sie an dem Inhalt. »Kaffee«, sagte sie. »Der muss von Elin und Börkur sein oder von jemandem, den sie hergeschickt haben, um die Sachen einzupacken.« Sie stellte die Thermoskanne wieder hin.

»Wer sind diese ehemaligen Eigentümer? Elin und Börkur? Haben die hier gewohnt?«

»Es sind Geschwister, die das Grundstück geerbt haben, eine Frau und ein Mann. Ich weiß nicht, ob sie hier gewohnt haben, kann ich mir aber nicht vorstellen, so altmodisch, wie das hier alles ist.« Dóra musterte die primitiven Einrichtungsgegenstände. »Die beiden sind höchstens fünfzig. Der Kram hier ist viel älter. Sie sind bestimmt nicht hier aufgewachsen.«

»Aber warum räumen sie das Haus auf einmal aus?«, fragte Matthias. »Der Verkauf muss doch schon vor einigen Jahren abgewickelt worden sein. Der neue Hoteltrakt ist schließlich nicht in ein paar Monaten entstanden.«

»Nein, nein. Das stimmt. Vermutlich haben Jónas’ Pläne, an dieses Haus anzubauen, den Ausschlag gegeben, auch wenn daraus nichts geworden ist.« Dóra öffnete die Küchenschubladen eine nach der anderen und schaute hinein. Darin war nichts von Interesse.

Sie beendeten ihren Rundgang durchs Erdgeschoss, ohne etwas gefunden zu haben. In der Abstellkammer waren verschiedene Gegenstände, die bestimmt schon seit Jahrzehnten in den Regalen lagen, sowie ein paar neue Pappkartons mit alten, verstaubten Büchern. Sie öffneten nur zwei Kartons und nahmen an, dass die anderen die Sachen aus dem Wohnzimmer und die restlichen Bücher aus den Regalen enthielten. Dóra überließ Matthias die Untersuchung des Badezimmers. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, hatte sie nichts verpasst. »Gehen wir nach oben«, sagte er mit müdem Gesichtsausdruck und ging zur Treppe. Zunächst öffneten sie eine Tür, die hinunter in den Keller führte, aber es gab kein Licht, und Dóra war der Meinung, dass sie nicht unbedingt hinuntergehen müssten. Also stiegen sie nach oben. Vom Treppenabsatz gingen fünf geschlossene Türen ab. Die Erste war verriegelt. Die Hand an der Klinke der zweiten Tür, hielt Matthias inne und sagte: »Guck mal schnell auf den Grundriss und sag mir, hinter welcher Tür das Bad ist.«

Dóra schaute in Birnas Notizbuch und schlug vor, als Nächstes das Zimmer mit der Beschriftung Kristín? anzusehen. »Das scheint Birna am meisten interessiert zu haben«, sagte sie und zeigte Matthias die dazugehörige Tür.

»Ich verzeihe es dir nie, wenn du mich an der Nase herumführst und das zweite Bad dahinter liegt«, sagte Matthias, bevor er öffnete.

»Wart’s ab«, entgegnete Dóra und stieß die Tür auf. Sie betraten ein Kinderzimmer, in dem ein kleines Mädchen gewohnt haben musste. Am Kopfende des Bettes saß ein plumper einäugiger Teddybär. Er war hellbraun und ganz mit Fell bedeckt, außer an dem mit grauem Stoff bezogenen Bauch. Seine Gliedmaßen waren an sichtbaren Scharnieren befestigt, und an Schultern und Hüften hatte der Bär schwarze Stahlknöpfe. Er trug eine verblichene rote Schleife um den Hals. Dóra zog sich das Herz zusammen, als sie sah, wie Newtons Gesetze der Schleife über die Jahre zugesetzt hatten — schlaff lag sie auf dem Bauch des Bären. Neben ihm saß eine schäbige Puppe und starrte mit aufgemalten Augen auf die gegenüberliegende Wand. »Wirklich sehr merkwürdig«, sagte Dóra betreten.

»Ja«, entgegnete Matthias. »Die Leute müssen in Eile aufgebrochen sein. Sieh mal.« Er ging zu einem Regal mit ein paar staubigen Büchern. Darunter stand ein weißgestrichener Schreibtisch mit einem Bogen Papier mit einer halbfertigen Zeichnung, einige Wachsstifte lagen auf dem Tisch verstreut. Matthias hob die Zeichnung hoch und betrachtete sie. Die Ecken waren umgeknickt, und eine gräuliche Staubschicht bedeckte den Bogen. Matthias pustete einmal kräftig, und der Staub wirbelte auf. Dann reichte er Dóra die Zeichnung. »Das Kind konnte noch nicht mal sein Bild zu Ende malen.«

Dóra betrachtete das Bild. Es musste von einem Kind stammen, das ein klein wenig älter war als Dóras sechsjährige Tochter Sóley. Das Bild zeigte ein brennendes Haus, unförmige Flammen züngelten aus dem Dach in den Himmel. Das Haus hatte eine große Tür und ein Fenster. Etwa die Hälfte des Bildes war farbig ausgemalt. »Seltsames Motiv«, sagte Dóra und legte die Zeichnung beiseite. »Soll das dieses Haus hier sein?«

Matthias schüttelte den Kopf. »Kann ich mir nicht vorstellen. Das Bild ist zwar von einem Kind, aber man kann genau sehen, dass das Haus nur eine Etage hat.« Er hob die Augenbrauen. »Und eine ungewöhnlich große Tür.«

Dóra zeigte auf das gemalte Fenster. »Sollen das etwa Augen sein?« Sie beugte sich über das Bild. »Um Himmels willen. Das Kind hat eine Person in das Haus gemalt. Guck mal, hier ist auch ein geöffneter Mund. Nur keine Nase.«

Matthias beugte sich hinab. »Kein schönes Motiv. Vielleicht war das Kind ein bisschen sonderbar.«

»Oder hat etwas Unheimliches gesehen«, meinte Dóra und wandte sich vom Schreibtisch ab. »Ich glaube, wir sollten versuchen, herauszufinden, welche Familie hier gewohnt hat und warum sie weggezogen ist. Ich weiß, dass der Mann Grímur hieß, aber er hatte nur eine Tochter, und die starb so jung, dass sie dieses Bild kaum gemalt haben kann. Gut möglich, dass nach ihm und seiner Frau eine andere Familie hier eingezogen ist.« Dóra trat zu einer kleinen Tür in der Wand. Sie öffnete sie vorsichtig. Es war ein Kleiderschrank mit einer Stange und zahlreichen Holzbügeln. An zweien hingen Kleidungsstücke: ein hübscher Pullover und ein dünnes, unförmiges Baumwollkleid. Beide Teile waren zu groß für die Edda, die laut Fotoalbum mit vier Jahren gestorben war.

»Was ist denn dahinter?«, fragte Matthias und zeigte in den Schrank.

Dóra steckte ihren Kopf tiefer hinein und erblickte in der hinteren Schrankwand eine Leiste um eine viereckige Fläche, die nicht ganz zu der sie umgebenden Wand passte. Als Dóra gegen die Fläche drückte, fiel sie herunter. »Hey, wow!«, stieß sie hervor. »Da ist eine kleine Tür. Guck mal, eine Treppe führt nach oben.« Abwechselnd schauten sie in die dunkle Öffnung, und Matthias zückte seinen Autoschlüssel. Daran war ein kleines Lämpchen, das wie eine Taschenlampe funktionierte. Er beleuchtete die Treppe. »Da«, er zeigte auf eine Stufe und leuchtete sie an, »Fußspuren im Staub. Jemand muss da raufgegangen sein.«

»Birna. Bestimmt Birna«, sagte Dóra mit Nachdruck. »In ichrem Kalender hat sie den Zustand der tragenden Elemente notiert. Sie wollte wissen, wie abgenutzt die Dachsparren sind. Hier muss es zum Dachboden gehen. Komm, lass uns raufklettern.« Sie schaute Matthias an, der ihr zulächelte.

»Okay, warte hier, ich gehe runter und hole ein Messer. Ich muss mir nur den Arm abschneiden und die Schulter wahrscheinlich auch.« Er zeigte auf die Öffnung. »Da passe ich niemals durch.«

»Dann gib mir den Schlüssel«, entgegnete Dóra. Sie schob ihn sich zwischen die Zähne, kletterte in den Schrank und zwängte sich durch die enge Öffnung. Bevor sie die Stufen hinaufstieg, drehte sie sich zu Matthias um und grinste breit. »Bis später. Wenn ich auf eine Ratte stoße, bringe ich dich um.« Sie trat auf die erste Stufe, hielt inne und ging rückwärts wieder zur Öffnung. »Oder eine Maus. Ich bringe dich auch um, wenn ich auf eine Maus trete.«

Der Dachboden war vollkommen leer. Dóra ließ den matten Lichtschein über den Fußboden wandern und sah, dass Birna dort herumgelaufen war. Dóra war es nicht ganz geheuer, den Boden zu betreten. Sie hatte keine Ahnung, ob er sie tragen würde. Birna war wesentlich kleiner gewesen als sie, zumindest war ihre Kleidung viel zu kurz für Dóra. Deswegen hätte sie den Dachboden lieber von der Treppe aus betrachtet, aber als der Lichtschein auf etwas Glitzerndes an einem der Pfosten fiel, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen. Vorsichtig tastete sie sich über den Boden. Es knackte und knarrte bei jedem Schritt, und Dóra hätte sich nicht gewundert, wenn sie plötzlich eingebrochen und auf Matthias in der darunterliegenden Etage gelandet wäre. Oder noch schlimmer — im Badezimmer. Sie ließ den Lichtschein über die Dielen wandern und sah, dass Birna — oder wer auch immer die Fußspuren hinterlassen hatte — auch dort entlanggegangen war. Als Dóra endlich bei dem Pfosten angekommen war, ging ihr Atem wieder ruhiger. Sie beugte sich hinunter und leuchtete den Boden ab.

Schmuck. Spielzeug besser gesagt. Dóra lächelte und hob eine geflügelte Anstecknadel hoch, eine Art Pilotennadel. Dóra betrachtete sie in dem trüben Licht, legte sie wieder an ihren Platz und hob eine gesprungene Porzellantasse auf. Dort lagen noch mehr Gegenstände: ein schwarz angelaufener Silberlöffel, zwei weiße Kinderzähnchen und eine Halskette mit einem Kreuz. Ein paar Schnappschüsse von Filmstars waren ordentlich aufeinandergestapelt. Sie beleuchtete den Holzpfosten und beugte sich ganz nah heran. In den Pfosten war etwas eingeritzt. Dóra hockte sich so hin, dass sie es lesen konnte.

»Matthias!«, rief sie. »Hier steht der Name Kristín!«

»Was?«, tönte es zurück.

Sie beugte sich wieder vor und las die Inschrift ein letztes Mal, um sie Matthias wiedergeben zu können. Offenbar konnte er sie nicht hören.

papa hat kristín getötet

ich hasse papa

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