18. KAPITEL

»Der Junghengst gehört meiner Frau. Ich interessiere mich nicht besonders für Pferde«, sagte Bergur und starrte auf den Boden. þórólfur beugte sich über den alten Küchentisch, wobei er darauf achtete, mit dem Ärmel seiner Uniform nicht in den Kaffeefleck zu geraten, der sich gebildet hatte, als ihm Bergur mit zitternder Hand eingeschenkt hatte. »Und was hast du dann da drinnen gemacht, wenn du dich, wie du selbst sagst, nicht für Pferde interessierst?«

»Die Pferde werden abends gefüttert. Deswegen kümmere ich mich«, antwortete Bergur ohne aufzuschauen. »Dafür muss man sich nicht für sie interessieren.« þórólfur hatte im Laufe seiner Jahre bei der Polizei einiges gelernt, beispielsweise sich bei Verhören auf seine Intuition zu verlassen. Er hatte das starke Gefühl, dass der in sich zusammengesunkene Mann ihm gegenüber etwas zu verbergen hatte. »Nein, muss man natürlich nicht«, sagte þórólfur und fragte gezielt weiter: »Wie kommt es, dass ihr immer noch Pferde im Stall habt? Soweit ich weiß, ist das im Juni nicht mehr üblich.«

»Wir haben einen Pferdeverleih«, antwortete Bergur. »Meine Frau organisiert das, und ich helfe bei Bedarf mit. Füttern und so.« Bergur knabberte an der Nagelhaut seiner linken Hand herum. »Der Hengst sollte eigentlich schon auf der Deckweide sein, wir sind nur etwas spät dran.« þórólfur machte sich eine Notiz und schaute dann auf. »Wann hast du bemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war?«

Bergur zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht die genaue Uhrzeit, falls du darauf hinauswillst. Ich habe keine Armbanduhr und auch nicht so ein Telefon.« Er zeigte auf þórólfurs Handy, das zwischen ihnen auf dem Tisch lag. »Ich hab die Sache bemerkt, kurz nachdem ich in den Stall gekommen war.« Bergur verstummte und schluckte hörbar.

»Die Sache, hm?«, sagte þórólfur forsch. »Wie kommt es, dass du es direkt bemerkt hast? Der Ständer ist am hinteren Ende des Stalls. Gab es einen bestimmten Grund dafür, dass du geradewegs dorthin gegangen bist?«

Bergur schluckte wieder geräuschvoll. »Ich füttere den Hengst immer zuerst. Er ist kaum gezähmt, ziemlich aufsässig und immer total nervös, wenn ich im Stall bin. Sobald er was zu fressen hat, gibt er Ruhe, und ich kann mich um die anderen Pferde kümmern.«

»Verstehe«, sagte þórólfur. »Er steht in der größten Box mit dem höchsten Gitter, hab ich recht?« Bergur nickte stumm, und þórólfur sprach weiter. »Wie kommt das? Weil dieses Pferd so, tja, nervös und wild ist?«

»Nein, nicht direkt. Hengste werden immer besser gesichert. Damit sie nicht zu den anderen Pferden können — das könnte ein Unglück geben.«

»Dieser spezielle Hengst war also vielleicht gar nicht besonders schwierig?«, fragte þórólfur. »Ich meine, ist das immer so, dass Hengste für andere Pferde gefährlich werden können?«

»Ja, Hengste sind angriffslustiger als Wallache und Stuten«, antwortete Bergur leise. »Aber dieser Junghengst ist aggressiver als normalerweise üblich. Das könnte ich beschwören, obwohl ich kein Pferdekenner bin.«

»Gut«, sagte þórólfur, ohne etwas Besonderes damit zu meinen. »Du gehst also direkt zu diesem Ständer …«

»Zur Box«, fiel ihm Bergur ins Wort.

»Dann eben zur Box«, sagte þórólfur unwirsch, »… und siehst sofort, dass da ein Mann liegt oder was?«

»Ja, eigentlich schon«, antwortete Bergur. »Mir kommt das alles so unwirklich vor. Es ist schwer, die Details zu beschreiben.«

»Versuch es trotzdem.«

»Ich glaube, ich hab zuerst den Fuchs gesehen, dann den Mann. Als Erstes hab ich Blut an der Boxenwand bemerkt und gedacht, das Pferd hätte sich verletzt. Dann hab ich den Fuchs gesehen und gedacht, das Blut wäre von ihm, aber dann …« Bergur atmete heftig, während er versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen. »Es war schrecklich. Er lag da, und ich hab überlegt, ob er noch lebt, und als ich mich runtergebeugt hab, um besser sehen zu können, ist mir schlagartig klar geworden, dass er tot ist.« Er schnappte nach Luft und wiederholte: »Es war schrecklich. Und dann seine Füße. Du lieber Gott.«

»Man gewöhnt sich also nicht daran?«, fragte þórólfur und trommelte leicht gegen die Tischkante.

Bergur schaute irritiert, mit ängstlichem Gesicht auf. »Wie meinst du das?«

»Das ist die zweite Leiche, die du innerhalb von ein paar Tagen zufällig findest. Ich dachte, beim zweiten Mal wäre es vielleicht weniger schlimm. Ein ziemlich merkwürdiger Zufall, findest du nicht?«

Bergur sah auf und schaute þórólfur in die Augen. »Ich habe nichts damit zu tun, falls du das glaubst.«

»Nein, nein. Vielleicht nicht. Trotzdem ist das bemerkenswert«, sagte þórólfur und erwiderte Bergurs Blick entschlossen.

»Es muss ein Unfall gewesen sein«, sagte Bergur betreten. »Oder zweifelt da etwa jemand dran?«

»Wie würdest du dir einen solchen Unfall erklären?«

»Tja, ich weiß nicht«, antwortete Bergur und dachte nach. »Vielleicht war er Jäger und hat den Fuchs bis in den Stall verfolgt. Oder ein Perverser.«

»Was meinst du damit?«

»Es gibt Geschichten von Männern, die in Ställen ihre Bedürfnisse befriedigen. Vielleicht hatte der Mann das vor«, antwortete Bergur und errötete leicht.

»Aber dann hätte er vermutlich einen Hocker oder eine Kiste oder so was zum Draufstellen mitgebracht, oder? Und was soll der Fuchs damit zu tun haben? Und die Stecknadeln?«, fragte þórólfur mit unbewegter Miene. »Deine Erklärungen sind ziemlich weit hergeholt.«

Bergur richtete sich auf und saß kerzengerade da. »Ich untersuche den Fall ja auch nicht. Du hast mich gefragt, und ich hab geantwortet. Ich hab keine Ahnung, wie der Mann da hingekommen ist. Ich weiß nur, dass ich überhaupt nicht in der Nähe war.«

»Gut, aber das ist deine Scheune und …«

»Pferdestall. In Scheunen wird Heu gelagert«, sagte Bergur gereizt. Sofort beruhigte er sich wieder und fügte wesentlich kleinlauter hinzu: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich im Moment weiter darüber sprechen möchte. Ich stehe immer noch unter Schock.« Er ließ den Kopf hängen und starrte wieder auf die Tischplatte.

»Wir sind gleich fertig.« þórólfurs Stimme drückte nicht das geringste Mitleid für sein Gegenüber aus. »Ich habe ein Gewehr im Stall an der Wand lehnen sehen. Gehört das dir?«

»Ja«, antwortete Bergur. »Es gehört mir. Ich bezweifle, dass du hier einen Bauern antreffen wirst, der kein Gewehr hat.« Wütend schaute er auf. »Der Mann wurde nicht erschossen. Was soll das?«

þórólfur grinste unbarmherzig. »Nein, der Mann nicht, aber der Fuchs, wenn mich nicht alles täuscht. Hast du diesen Fuchs geschossen?«

Bergur knibbelte verlegen an der bunten Plastiktischdecke herum. »Nein. Oder ja. Ich weiß es nicht.«

»Wie bitte?«, fragte þórólfur konsterniert. »Könntest du mir das etwas genauer erklären? Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstanden habe. Du weißt nicht, ob du den Fuchs geschossen hast?«

Bergur hörte auf, an der Decke herumzufummeln und schaute þórólfur an. »Ich schieße gelegentlich Füchse. Wir haben Eiderenten-Brutplätze, da darf kein Fuchs herumstreunen. Allerdings habe ich schon seit Monaten keinen mehr geschossen, außer letztens, aber der ist nochmal davongekommen. Ich muss ihn getroffen haben, denn ich habe Blut und kleine Fellstücke gefunden, nur der Kadaver war nirgends zu sehen. Ich dachte, er sei mit dem Leben davongekommen, aber wer weiß? Vielleicht ist es dieser Fuchs.«

»Tja, wer weiß«, entgegnete þórólfur, »du solltest uns vielleicht beschreiben, wo genau das war, und außerdem gibt es natürlich noch jede Menge andere Punkte, die wir genauer besprechen müssen.«

»Ich schaffe das jetzt nicht«, sagte Bergur völlig entkräftet. »Ich schaffe es einfach nicht.«

»Kein Problem«, sagte þórólfur und schlug sich mit den Handflächen auf die Schenkel. »Nur noch zwei Fragen, den Rest besprechen wir später: Erstens — ist der Pferdestall normalerweise offen oder abgeschlossen? Zweitens — kanntest du den Toten?«

Bergur schaute nicht auf. »Der Stall ist nie abgeschlossen. Das war bisher nicht nötig.« Dann blickte er hoch und starrte þórólfur verzweifelt an. »Ich habe keine Ahnung, ob ich den Mann gekannt habe. Das könnte jeder sein — du hast doch gesehen, wie er zugerichtet war.«

»Sehr richtig«, sagte þórólfur und machte Anstalten, aufzustehen. »Ach, entschuldige, noch eine allerletzte Frage.«

Bergur schaute den Mann entmutigt an. »Was?«

»Wir haben an der Boxenwand etwas Gekritzeltes, oder besser gesagt etwas Eingeritztes entdeckt. Es sind ein paar Buchstaben, und wir überlegen, ob die schon länger da sind.«

»Buchstaben?«, sagte Bergur verwundert. »Ich weiß nichts von Buchstaben. Was steht denn da?«

»Tja, es scheint mir R-E-R zu sein. Sagt dir das was?«

Bergur schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hab das nie gesehen und weiß nicht, was es bedeutet.« Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, antwortete er nach bestem Wissen und Gewissen. Dennoch wurde þórólfur das Gefühl nicht los, dass Bergur etwas verheimlichte. Aber was?


»Wenn ich nicht solchen Hunger hätte, würde ich vorschlagen, dass wir woanders hingehen«, sagte Matthias, während er Dóra die Restauranttür aufhielt. Es handelte sich um ein auf vegetarische Speisen spezialisiertes Lokal, und trotz Dóras grober Übersetzung der lobenden Beurteilungen auf den zahlreichen eingerahmten Zeitungsausschnitten im Fenster war Matthias alles andere als begeistert.

»Bier ist auch Gemüse«, sagte Dóra und lächelte ihm zu. »Oder aus Gemüse zumindest.«

Matthias schüttelte pikiert den Kopf. »Ich weiß ja nicht, woher du dein Wissen über Bier hast, aber glaub mir, das stimmt nicht.« Er betrat nach ihr das Restaurant. »Bier besteht zum größten Teil aus Getreide.«

»Getreide — Gemüse«, sagte Dóra, während sie sich nach einer Bedienung umschaute, die ihnen einen Tisch zuweisen würde. »Da gibt’s doch keinen Unterschied.« An der Bar sah sie eine Frau, die ihr bekannt vorkam, und stieß Matthias mit dem Ellbogen an. »Die Frau da arbeitet im Hotel. Vielleicht sollten wir uns kurz mit ihr unterhalten.«

»Ich setze mich da nur hin, wenn ich eine Speisekarte bekomme und an der Bar bestellen kann«, erwiderte Matthias. »Und unter der Bedingung, dass es Erdnüsse gibt.«

»Einverstanden«, sagte Dóra und lächelte der herbeieilenden Bedienung zu. »Wir setzen uns zuerst an die Bar, wenn das okay ist. Aber wir sind trotzdem ziemlich hungrig und hätten gerne direkt die Speisekarte.« Sie gingen zur Bar, und Dóra kletterte auf einen Hocker neben die Frau. Es gab nur vier Plätze. Matthias setzte sich neben Dóra, direkt vor eine kleine Schale mit Nüssen.

»Hallo«, sagte Dóra und beugte sich vor, damit die Frau ihr Gesicht sehen konnte. »Kennen wir uns nicht zufällig aus dem Hotel? Bei Jónas?«

Die Frau hatte offensichtlich etwas zu viel getrunken. Vor ihr stand ein imposantes Glas mit einem giftgrünen Cocktail. Daneben lagen mehrere rote Plastikzahnstocher mit aufgespießten Cocktailkirschen. Es dauerte eine Weile, bis die Frau die Frage registriert und ihre Augen unter Kontrolle hatte, die inmitten von starker Augenschminke zu schwimmen schienen. Als sie anfing zu sprechen, klang sie jedoch keineswegs so betrunken, wie Dóra vermutet hatte. »Äh, kenne ich dich?«, fragte sie mit ziemlich tiefer Stimme.

»Nein, wir kennen uns nicht, aber ich habe dich gesehen. Ich heiße Dóra und arbeite für Jónas.« Dóra reichte ihr die Hand.

Der Handschlag der Frau war kraftlos. »Ach ja, stimmt. Jetzt erinnere ich mich an dich. Ich bin Stefanía, Sexualberaterin.«

Dóra war verblüfft, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Die Frau wäre mit ziemlicher Sicherheit von einer übertriebenen Reaktion wenig begeistert. »Ah ja, hast du viel zu tun?«

Die Frau zuckte mit den Schultern und nippte an ihrem Cocktail. »Manchmal. Manchmal nicht.« Sie stellte das Glas ab und leckte sich über die rotgeschminkten Lippen. »Jónas meint, es würde alles besser werden. Aber ehrlich gesagt ist wirklich nicht viel los.«

»Wie schade«, sagte Dóra mitfühlend. »Aber ansonsten ist das doch bestimmt ein toller Arbeitsplatz, oder? Ein wunderschöner Ort.«

Die Frau schnaubte und verzog das Gesicht. »Nein, es ist gar nicht toll.« Sie bemühte sich, Dóras Augen zu fixieren.

»Meinst du … wegen des Spuks?«, fragte Dóra. »Ist es deshalb unangenehm?«

Stefanía schüttelte energisch den Kopf. »Nee, zum Glück bin ich abends nie dort. Ich meine, ich hab keine Geister bemerkt, aber die kommen ja auch nur nachts. Hab noch nie von einem Geist gehört, der die Leute tagsüber heimsucht.« Sie strich eine Haarsträhne zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war. »Nein, mein Problem an diesem tollen Arbeitsplatz sind die Frauen.« Sie seufzte. »Frauen machen immer Ärger. Es wäre super, wenn nur Männer da arbeiten würden.« Sie zögerte. »Und ich natürlich.«

»Ja, klar«, entgegnete Dóra. »Welche Frauen meinst du denn? Ich hab noch nicht so viele getroffen und mich bisher nur mit Vigdís von der Rezeption unterhalten.«

»Vigdís, Pigdís«, murmelte Stefanía. »Sie ist eine totale Zicke.«

»Oh«, sagte Dóra verwundert. »Ich kenne sie natürlich nicht gut, aber sie schien ganz nett zu sein. Vielleicht hab ich sie falsch eingeschätzt.«

»Und ob«, sagte Stefanía erbost. »Mich kann sie jedenfalls nicht ausstehen, obwohl ich ihr nie was getan hab.« Sie schaute Dóra ernst an und fügte hinzu: »Ich hab das allerdings analysiert und weiß, was ihr Problem ist.« Sie machte eine kurze dramatische Pause. »Sie hat Angst vor mir — sexuelle Angst.« Sie schaute Dóra triumphierend an.

»Inwiefern?«, fragte Dóra verständnislos. »Hat sie Angst, dass du sie vergewaltigst?«

Stefanía lachte. Ihr Lachen war leicht und ungekünstelt, ganz anders als der Rest der Frau. »Nee, du Dummerchen. Als Frau hat sie eine Urangst vor anderen Frauen, die attraktiver sind als sie.« Sie lächelte schmeichlerisch. »Man braucht keinen Röntgenblick, um zu sehen, dass ich sexuell wesentlich attraktiver bin als sie.« Sie nahm einen Schluck. »Das passiert mir ständig. Ich kenne die Anzeichen in- und auswendig.«

Matthias zupfte an Dóras Ärmel. »Können wir jetzt bestellen?«

Dóra betrachtete die leere Erdnussschale. »Kein Problem, ruf einfach die Bedienung.« Sie wollte sich wieder Stefanía zuwenden, aber Matthias hielt sie zurück.

»Und du? Was möchtest du essen?« Matthias zeigte auf die vor Dóra liegende Speisekarte, die sie bisher keines Blickes gewürdigt hatte.

»Irgendwas«, antwortete Dóra. »Bestell einfach irgendwas.« Sie wandte sich wieder an Stefanía, während Matthias die Bedienung heranwinkte. »Apropos Frauen«, sagte sie. »Kanntest du eigentlich Birna? Die Architektin?«

Stefanías Gesicht veränderte sich schlagartig. Es erschlaffte, und eine Sekunde lang hatte Dóra den Eindruck, es würde schmelzen. »Oh mein Gott«, sagte Stefanía. Sie schien einen Kloß im Hals zu haben. »Das ist alles so entsetzlich.«

»Das ist es«, bestätigte Dóra. »Sie gehörte also nicht zu den unangenehmen Frauen?«

»Nein, auf keinen Fall. Sie war hinreißend.« Stefanía leerte ihr Glas in einem Zug. Anschließend nahm sie den kleinen Zahnstocher mit der Kirsche, steckte ihn in den Mund und sog eine Weile daran. Dann legte sie ihn feierlich neben die anderen Zahnstocher auf den Tresen. »Die ganze Geschichte hat mich so durcheinandergebracht, dass ich gar nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht.« Sie sah Dóra an. »Normalerweise komme ich sonntagabends nicht hierher. Obwohl ich in der Nähe wohne.«

»Verstehe«, sagte Dóra, die überhaupt nichts verstand. »Du scheinst Birna ja ganz gut gekannt zu haben. Hast du eine Ahnung, wer möglicherweise schlecht auf sie zu sprechen war?«

Stefanía hob das leere Glas und drehte es in kleinen Kreisen. Ein paar übrig gebliebene Tropfen schwenkten am Boden des Glases umher. »Ja, habe ich«, sagte sie ruhig.

»Aha?« Dóra konnte ihren Eifer nicht verbergen. »Wer denn?«

Stefanía schaute Dóra an. »Ich habe Schweigepflicht. Sexualtherapeuten haben diesbezüglich die gleiche Stellung wie Ärzte. Und Anwälte.«

Dóra hätte bei dem Vergleich fast laut aufgelacht. Obwohl das gar nicht so abwegig war. Ihr Kanzleipartner Bragi könnte bei seinen Scheidungsfällen durchaus mal mit einem Sexualtherapeuten konfrontiert sein. »Als Rechtsanwältin weiß ich, dass es da Ausnahmen gibt — das Allgemeinwohl zum Beispiel.«

Stefanía überlegte und gab dann nach. »Wenn du Anwältin bist, kann ich dir ja wahrscheinlich davon erzählen, oder? Es sind nur Namen, und du sagst sie keinem weiter. Das Allgemeinwohl spielt dabei allerdings keine Rolle.«

Dóra traute ihren eigenen Ohren nicht, wie gut die Sache lief. Sie hatte sich schon auf ein langes Gespräch an der Bar eingestellt, bei dem Stefanía irgendwann zu betrunken sein würde, um sich noch an ihre Schweigepflicht erinnern zu können. »Ich erzähle es niemanden. Ganz bestimmt nicht.«

»Gut«, sagte Stefanía. »Mir schlägt das schon die ganze Zeit auf den Magen, weil ich es niemandem erzählen kann. Vielleicht geht’s mir danach besser.« Sie blickte Dóra ins Gesicht. »Versprochen?«

»Versprochen«, sagte Dóra. Hinter ihrem Rücken kreuzte sie die Finger, denn sie würde nicht umhinkommen, es Matthias zu erzählen. »Wer war schlecht auf Birna zu sprechen?«

Stefanías Behauptung, sich jemandem anvertrauen zu müssen, entsprach offenbar der Wahrheit, denn sie redete dreimal so schnell wie zuvor. »Sie hatte was mit einem verheirateten Bauern aus der Nachbarschaft. Er heißt Bergur und wohnt auf dem Hof Tunga. Sie hatten ziemlich ungehemmten Sex, und sie hat mich um Rat gefragt. Sie fand, es würde etwas zu weit gehen.«

»Und konntest du ihr helfen? Hast du ihr geraten, ihn nicht mehr zu treffen?« Eine Trennung wäre für einen wütenden Mann vielleicht Grund genug, einen Mord zu begehen.

Stefanía stellte ihr Glas ab. »Nein.« Sie steckte sich einen rotlackierten Fingernagel in den Mund, biss fest darauf und zog ihn wieder heraus. An der Spitze war ein weißer Fleck zu sehen; der Lack war bereits abgesprungen. »Nein, das habe ich nicht.« Zerstreut starrte sie in ihr Glas. »Ich habe ihr geraten, es einfach zuzulassen. Grober Sex sei meistens völlig harmlos.«

»Oh«, sagte Dóra. »Ich verstehe, dass es dir damit nicht gutgeht.«

Stefanía nickte langsam. Sie schaute Dóra an und bemerkte dabei Matthias. Bis dahin war sie so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie ihn gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Sie lächelte und machte ein Gesicht, das Dóra überhaupt nicht gefiel. »Wer ist denn das? Dein Freund?«, fragte sie schmeichelnd.

Dóra beschloss, sich ihren Alleinanspruch im Schutze der isländischen Sprache zu sichern. »Er ist Ausländer. Ist zur Erholung hier.« Sie beugte sich zu Stefanía und senkte die Stimme. »Aids.« Anschließend nickte sie verschwörerisch und setzte sich wieder gerade hin.

Stefanía riss die Augen auf. »Schlimm«, sagte sie enttäuscht. »Wenn ihr wollt, kann ich euch ein paar Ratschläge geben. Beim Sex gibt es viele Möglichkeiten, sich auch ohne Geschlechtsverkehr zu …«

»Nein, danke«, unterbrach Dóra und lächelte höflich. »Nicht nötig.« Sie drehte sich zu Matthias. »Komm«, sagte sie, »das Essen ist bestimmt bald fertig.«

Stefanía lächelte Matthias zu. »Es ist sehr wichtig, dass du gesund isst und keine Mahlzeiten auslässt«, sagte sie freundlich auf Englisch.

»Stimmt genau«, entgegnete Matthias verblüfft.

Dóra legte Stefanía hastig den Arm um die Schulter. »Vielen Dank. Wir sehen uns bestimmt noch, ich arbeite ja noch weiter für Jónas.«

Stefanía schaute sie irritiert an. »Möchtest du nicht wissen, wer der andere ist?«

»Welcher andere?«, fragte Dóra ahnungslos.

»Äh, der andere Mann, der nicht gut auf Birna zu sprechen war«, sagte Stefanía leicht irritiert.

Dóra nickte eifrig. »Ja, doch unbedingt.«

Stefanía beugte sich an ihr Ohr. Als sie Dóra so nah war, dass sie sie bestimmt schon mit Lippenstift beschmiert hatte, flüsterte Stefanía: »Jónas.«


Dóra beobachtete die vorfahrenden Streifenwagen. Drei Fahrzeuge — dafür musste es einen triftigen Grund geben. Langsam rollten sie auf den asphaltierten Platz vor dem Hotel und parkten Seite an Seite in einer Ecke. Türenknallen schallte durch die Stille, und sechs Polizeibeamte stiegen aus, darunter eine Frau. »Was kommt jetzt?«, fragte Dóra. Sie schaute Matthias erwartungsvoll an. »Die wollten doch erst morgen kommen.« Anschließend beobachtete sie schweigend, wie der Trupp auf die Eingangshalle zumarschiert kam, vor der Matthias und sie in der Abendsonne mit ihren Weingläsern saßen. Dóra war immer noch hungrig, denn Matthias hatte sich für ihre Rücksichtslosigkeit gerächt, indem er ihr nur einen grünen Salat bestellt hatte. Ihm war es mit seiner Gemüselasagne allerdings auch nicht besser ergangen. Es war eine sehr überschaubare Portion gewesen. Sie mussten zweimal um einen neuen Brotkorb bitten, aber auch das hatte nicht gereicht.

Dóra kannte zwei Polizisten vom Sehen — die beiden, die mit Jónas gesprochen und sein Handy beschlagnahmt hatten. Sie erinnerte sich dunkel daran, dass der Ältere þórólfur hieß. »Guten Abend«, grüßte sie ihn.

»N’abend«, war die trockene Antwort.

»Ich dachte, ihr wolltet erst morgen kommen. Ist irgendwas passiert?«

»Alles in der Welt ist vergänglich.« Daraufhin verschwand er mit seinem Trupp im Haus.

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