24. KAPITEL

»Sie hat aufgelegt.« Irritiert betrachtete Dóra das Display ihres Handys. »Oder der Empfang war weg.« Sie schaute auf und schüttelte den Kopf. »Nee, sie hat aufgelegt.«

»Hast du was anderes erwartet?«, fragte Matthias. »Die Geschwister haben dich heute Morgen fast aus dem Haus geworfen. Ziemlich unwahrscheinlich, dass sie sich über einen Anruf von dir freut.«

»Tja, vielleicht hast du recht«, entgegnete Dóra enttäuscht und steckte das Handy wieder in ihre Tasche. »Es hätte aber so gut gepasst, wenn die beiden gewusst hätten, was für ein Haus hier gestanden hat.« Matthias und sie waren immer noch auf der Wiese. »Ob ihre Tochter Bertha etwas darüber weiß?«, fügte Dóra nachdenklich hinzu. »Hoffentlich ist sie nicht auch sauer auf mich.«

»Warum sollte sie?«, meinte Matthias. »Sie wird dir aber bestimmt sehr schnell die kalte Schulter zeigen, wenn du sie über ihren Freund im Rollstuhl ausfragst.«

»Nein, nein«, sagte Dóra. »Das lasse ich erst mal. Im Moment möchte ich lieber etwas über das Haus wissen.« Sie gingen in Richtung Hotel. Als sie an der Stelle vorbeikamen, an der Matthias gegraben hatte, blieb Dóra stehen. »Wie kann es sein, dass Birna das nicht entdeckt hat? Wenn man ihr Notizbuch ansieht, dann muss sie sich über diesen Platz doch den Kopf zerbrochen haben.«

»Ist das nicht eindeutig?«, entgegnete Matthias. »Dieser Jökull, der sich ums Mähen kümmert, scheint der Einzige zu sein, der von den Unebenheiten wusste. Er hat dir gegenüber mit seiner Meinung über Birna ja nicht hinterm Berg gehalten. Er hätte ihr bestimmt nichts davon erzählt, falls sie überhaupt mit ihm geredet hat.«

»Aber jemand muss auf der Wiese nach etwas gesucht haben. Wenn diese Person versucht hat, das Fundament zu finden, ist sie ziemlich chaotisch vorgegangen. Keines der Löcher war in der Nähe der Unebenheiten.«

»Man kann das kaum als Löcher bezeichnen«, sagte Matthias. »Aber du hast recht: Wenn dieser unbekannte Gräber das abgebrannte Haus gesucht hat, dann ist er nicht besonders geschickt vorgegangen.«

»Ich muss nochmal in den Keller und mir die Kisten genauer ansehen«, murmelte Dóra gedankenverloren, »vielleicht findet sich da etwas, das uns erklärt, was hier gestanden hat. Ein Foto oder so.«

Matthias schaute auf seine Uhr. »Ich weiß wirklich nicht, ob das schlau ist. Musst du nicht los und deine Kinder im Wohnwagen abholen?«

»Das hat bis heute Abend Zeit«, antwortete Dóra. »Ich hab eben mit Gylfi telefoniert, und im Moment ist alles in Ordnung. Sie sind zu Fuß unterwegs zu einem Laden in der Nähe des Autos. Ansonsten kann ich nur hoffen, dass seine Freundin Sigga ihre Eltern anruft. Ich tu’s jedenfalls bestimmt nicht. Die können es einfach nicht bleiben lassen, sich darüber zu beklagen, in welche Schwierigkeiten Gylfi ihre arme Tochter gebracht hat. Und dann rasten sie aus und behaupten, es sei alles meine Schuld.«

»Was ist mit deinem Ex-Mann?«, fragte Matthias. »Glaubst du, Gylfi sagt ihm Bescheid?«

»Hoffentlich nicht«, sagte Dóra. »Hannes kann sich meinetwegen ruhig Sorgen machen. Schließlich ist es seine Schuld, dass sie abgehauen sind.« Sie klopfte gegen die Tasche mit ihrem Handy und grinste. »Ich hab ungefähr hundert SMS von ihm gekriegt. Ich schaue sie mir bei Gelegenheit mal an, oder wenn …« Ihr Handy klingelte. Sie verstummte und kramte es aus ihrer Tasche hervor. Es war Bella.

»Hallo«, sagte Dóra. »Wie ist es gelaufen?« Während sie mit der Sekretärin sprach, fischte sie einen Stift und einen Schnipsel Papier aus ihrer Jackentasche. »Keine Kristín, sagst du?« Sie lauschte und notierte sich das, was Bella herunterleierte. Dann verabschiedete sie sich und drehte sich wieder zu Matthias. »Er ist dort allein begraben. Keine Kristín in den umliegenden Gräbern.« Sie seufzte enttäuscht. »Auf dem Grabstein stehen sein Name, Geburts- und Todestag und ein kurzer Vers.«

»Wie schön«, kommentierte Matthias. »Noch mehr Verse. Lass hören.«

Dóra las die Worte, die Bella ihr diktiert hatte, von dem Papierschnipsel ab:

Eigen Haus, ob eng, geht vor.

Daheim bist du Herr.

Das Herz blutet jedem,

der erbitten muss

sein Mahl alle Mittag.

Sie blickte von dem Zettel zu Matthias. »Das kommt mir allerdings im Gegensatz zu dem anderen Vers, den ich noch nie gehört habe, ziemlich bekannt vor. Vielleicht kann ich die Quelle im Internet finden. Gut möglich, dass der Vers aus der Hávamál stammt.«

Matthias tippte Dóra auf die Schulter und zeigte auf das Hotel. »Die Polizei scheint Verstärkung angefordert zu haben«, sagte er und deutete auf einen Polizeiwagen, der auf das Hotel zufuhr. »In dieser Situation wirst du vermutlich nicht im Keller verschwinden.«


»Warum willst du nicht mit rauskommen?«, fragte Bertha verwundert und zog die Gardine vom Fenster. Augenblicklich erhellte sich der düstere Raum. »Es ist super Wetter draußen.« Sie schaute einen Moment hinaus und wandte sich dann vom Fenster ab. »Komm, das wird dir guttun.«

»Geh allein«, sagte Steini kurz angebunden und knibbelte mit der heilen Hand an einem kleinen Gumminippel herum, der sich am Reifen des Rollstuhls gebildet hatte. »Ich hab keine Lust.«

»Stell dich nicht so an«, sagte Bertha und ging zu ihm. Sie hockte sich hin, sodass ihre Gesichter auf derselben Höhe waren. Sie konnte ihn meistens besser dazu bringen, sich ihr zu öffnen, wenn sie einander in die Augen sahen. »Ich verspreche dir, dass es dir besser geht, wenn du mit an die frische Luft kommst. Irgendwas plagt dich doch, und wer weiß, vielleicht verschwindet es, wenn du an etwas anderes denkst.«

»Es wird nicht verschwinden«, sagte Steini, immer noch niedergeschlagen.

Bertha war an seine kurzen Antworten gewöhnt. Wegen der Brandnarben um den Mundwinkel fiel ihm das Sprechen schwer. Es war, als sei sein Mund an der einen Seite zusammengeschmolzen, und Bertha fragte sich immer noch, ob die Ärzte das nicht besser hätten machen können. Allerdings vermutete sie, dass Steini sich geweigert hatte, weiteren Operationen zuzustimmen; zumindest wollte er nie mit ihr darüber reden, wenn sie nachfragte. Es war kaum möglich, dass er immer noch auf der Warteliste stand, wie er ihr seinerzeit erklärt hatte. Wahrscheinlich hatte er sich immer noch nicht von den Schmerzen und Unannehmlichkeiten der ersten Operationen erholt und traute sich keine weitere mehr zu. Letzte Woche hatte sie die Nachricht eines Krankengymnasten auf seinem Anrufbeantworter gehört. Der Mann hatte Steini um Rückruf gebeten und ihn angespornt, wieder mit den Übungen zu beginnen. Als Bertha Steini gebeten hatte, den Mann anzurufen, hatte er sich geweigert, mit ihr darüber zu sprechen. Er bräuchte mehr Zeit, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, seelisch wie körperlich. »Wir können auch eine Spritztour mit dem Auto machen, wenn du willst«, schlug Bertha vor und lächelte. »Ich bin zu allem bereit, solange wir rausgehen.«

»Zu allem?«, sagte Steini und starrte ihr in die Augen, ohne zu blinzeln.

»Fast allem«, sagte Bertha mit gespielter Fröhlichkeit und stand auf. Sie wusste genau, worauf er abzielte, wollte sich aber nicht auf eine solche Diskussion einlassen. Jetzt nicht und am liebsten niemals. »Du weißt, was ich meine.« Sie legte ihre Hand auf sein Knie. »Komm. Tu es.«

Steini riss den Plastiknippel mit einem Ruck ab. »Hast du nie Angst?«

»Angst?«, fragte Bertha irritiert. »Warum sollte ich Angst haben?« Sie lächelte. »Es ist Sommer.«

Er schaute sie eine Weile schweigend an. Dann ließ er den Kopf hängen. »Ich fühle mich scheiße.«

Bertha spürte einen Stich in der Magengegend. Sie konnte es nicht ertragen, ihn so zu sehen. Es reichte einfach. Alles war so ungerecht. Warum war er bei dem Unfall nicht besser davongekommen? Viele Leute verunglückten, mussten aber nicht unter solchen Folgen leiden. Wenn sie ihn nur nicht angerufen hätte. Sie bemühte sich, weiterzulächeln. »Ich weiß«, sagte sie fröhlich. »Lass uns nach Kreppa fahren. Ich muss noch jede Menge Sachen einpacken, und wer weiß, vielleicht finden wir was Interessantes. Weißt du noch, wie viel Spaß es dir beim letzten Mal gemacht hat?«

Steini lachte kühl. »Hast du Spaß gesagt?«, entgegnete er und seufzte. »Ist mir egal. Dann gehen wir eben.«

»Super«, sagte Bertha. »Ich verspreche dir, dass du es nicht bereuen wirst.« Sie atmete innerlich auf. Sobald sie losgefahren wären, würde sich seine Laune bessern. So war es immer. Sie erschrak, als er plötzlich seine gesunde Hand ausstreckte und sie am Handgelenk packte.

»Kannst du mir verzeihen?«, fragte er mit belegter Stimme.

»Dir verzeihen?«, fragte Bertha zerstreut. »Was soll ich dir verzeihen?«

»Nur so«, sagte er. »Wenn das Schlimmste eintrifft, wirst du mir dann noch verzeihen können?«

Bertha schüttelte verständnislos den Kopf. Das war der längste Satz, den sie ihn seit Monaten hatte sagen hören. »Wovon sprichst du eigentlich?« Sanft löste sie ihr Handgelenk aus seinem Griff und trat hinter den Rollstuhl. »Ich soll dir verzeihen …« sagte sie und schob den Stuhl an. »Dummkopf«, fügte sie liebevoll hinzu. »Was hast du mir denn getan?«

»Hoffentlich nichts«, sagte Steini und zog sich die Kapuze seines Pullis über den Kopf, während Bertha die Haustür öffnete und den Rollstuhl über die Türschwelle schob. »Hoffentlich.«


þórólfur runzelte die Stirn und lehnte sich gegen die Tür des provisorischen Büros im Hotel. »Wir sind ziemlich gut vorangekommen. Mehr sage ich dazu im Moment nicht.«

Dóra stand ihm mit verschränkten Armen im Flur gegenüber. Sie sprach leise, damit Jónas, der hinter der Tür saß und auf sie wartete, nichts von dem Gespräch mitbekam. Jónas hatte um Dóras Anwesenheit gebeten, als þórólfur ihn zur Vernehmung bestellt hatte. þórólfur hatte Jónas auf seine Wahrheitspflicht aufmerksam gemacht und ihn darüber informiert, dass er als Angeklagter nicht verpflichtet sei, sich zu den Anschuldigungen zu äußern. Im selben Moment, als þórólfur den Satz zu Ende gesprochen hatte, war Dóra aufgesprungen und hatte um eine Unterredung unter vier Augen gebeten. Nun stand sie da und stritt sich mit dem Polizisten. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Warum steht Jónas auf einmal unter Verdacht?«, fragte sie. »Was hat sich geändert?«

þórólfur verschränkte mit strengem Gesichtsausdruck ebenfalls die Arme. »Wir haben gestern und heute mit vielen Zeugen gesprochen. Ihre Aussagen werfen kein gutes Licht auf deinen Mandanten.«

Dóra atmete tief ein. »Und was heißt das? Willst du ihn verhaften?«

»Kommt drauf an, was er bei der Vernehmung sagt«, antwortete þórólfur und zuckte die Achseln. »Wer weiß, vielleicht hat er ja Erklärungen parat.«

»Erklärungen?«, fragte Dóra. »Erklärungen wofür? Hat er denn nicht schon genug Erklärungen abgegeben?«

»Wie gesagt, heute und gestern ist einiges ans Licht gekommen, was wir beim letzten Gespräch noch nicht wussten. Außerdem finde ich seine Erklärungen bis jetzt nicht sehr überzeugend«, antwortete þórólfur. »Sollen wir nicht einfach anfangen? Dann wirst du schon erfahren, welche Fragen wir haben.«

»Lass mich zwei Minuten mit ihm allein«, bat sie. »Ich muss ihm die veränderte Situation erklären.«

þórólfur wirkte alles andere als einverstanden, gab aber trotzdem nach. Er zitierte seinen Assistenten aus dem Büro, und Dóra ging stattdessen hinein. Rasch setzte sie sich neben Jónas, der sie verwirrt anschaute. »Was ist?«, fragte er besorgt. »Warum bist du rausgegangen?«

Dóra legte ihm beschwichtigend die Hand aufs Knie. »Jónas, die Lage hat sich verändert. Bisher bist du als Zeuge befragt und zu Beginn der Vernehmungen entsprechend darauf hingewiesen worden. Jetzt hast du den Status eines Verdächtigen oder Angeklagten.«

»Was?«, blaffte Jónas, »ich?«

»Ja, du«, antwortete Dóra. »Wir haben nicht viel Zeit, also lass uns zur Sache kommen. Hör mir jetzt mal zu.« Sie schaute Jónas in die Augen. »þórólfur hat mir gesagt, bei den Zeugenvernehmungen sei einiges ans Licht gekommen, was dazu geführt hätte, dass du unter Verdacht stehst.«

»Wie bitte? Ich hab nichts getan, das hab ich ihnen doch gesagt!« Jónas schrie fast. »Die Zeugen müssen gelogen haben.«

Dóra spürte, dass sein Bein zitterte.

»Es ist gut möglich, dass die Zeugen nicht die Wahrheit sagen, Jónas«, entgegnete Dóra und verstärkte den Griff um sein Knie, um ihn zu beruhigen. »Es ist jetzt sehr wichtig, dass du erklären kannst, wo du warst, und dass du þórólfurs Fragen glaubwürdig beantworten kannst. Wenn er sich mit deinen Antworten nicht zufriedengibt, läufst du Gefahr, festgenommen zu werden.«

Jónas’ Bein verkrampfte sich. Er wurde blass. »Festgenommen? Wie jetzt?«

»Verhaftet, Jónas«, sagte Dóra und beugte sich näher zu ihm. »Du wirst in einem Streifenwagen auf die Wache gebracht und morgen früh dem Haftrichter vorgeführt, der eine Untersuchungshaft anordnen soll.« Dóra hatte bisher erst drei Fälle gehabt, bei denen es zu einer kurzen U-Haft gekommen war, und kannte sich nicht genau mit den Formalitäten aus. Die besagten Fälle waren alles andere als gut verlaufen, und Dóra beschloss, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, Jónas auf ihre diesbezügliche Unerfahrenheit hinzuweisen.

»Ich kann nicht ins Gefängnis«, sagte Jónas. Er war so aufgelöst, dass Dóra seine Worte nicht anzweifelte. »Ich kann das einfach nicht. Heute ist Montag.«

Dóras Braue zuckte. »Montag? Ist das schlechter als irgendein anderer Tag?«

»Nein, nein«, sagte Jónas geistesabwesend. »Ich will das nur nicht. Montage sind meine Unglückstage.«

Dóra unterbrach ihn, bevor er anfangen konnte, über Sterne und Auren zu lamentieren. »Jetzt hör mir gut zu. Wir lassen die Polizisten jetzt wieder rein, und sie werden dich verhören. Ich hoffe, du kannst alles entkräften, was ihrer Meinung nach für deine Schuld spricht. Dann verspreche ich dir auch, dass du dieses Zimmer mit mir zusammen wieder verlassen wirst.«

»Und wenn ich es nicht kann?«, fragte Jónas und griff nach Dóras Hand, »was dann?«

»Dann müssen wir den Tatsachen ins Auge schauen.« Dóra klopfte ihm auf die Schulter. »Reiß dich zusammen und versuch, ganz natürlich zu sein.« Sie stand auf und ging zur Tür. »Bist du bereit?«, fragte sie mit der Hand an der Türklinke. Jónas nickte. Er sah keineswegs so aus, als sei er auf die Dinge, die ihn erwarteten, vorbereitet.


»Ähm, ich weiß es nicht«, sagte Jónas und warf Dóra, die neben ihm saß, einen hektischen Blick zu.

þórólfur machte ein übertrieben verwundertes Gesicht. »Warum denn nicht? Wenn ich gefragt würde, ob ich letzten Donnerstag mit einer hübschen jungen Frau Geschlechtsverkehr gehabt hätte, würde es mir keine Schwierigkeiten bereiten, mich daran zu erinnern. Oder bist du so unermüdlich?«

Dóra stöhnte innerlich. »Er möchte die Frage nicht beantworten«, sagte sie mit unbewegter Miene.

»In Ordnung«, entgegnete þórólfur, »er muss sowieso eine Speichelprobe für einen DNA-Test abgeben.«

Für die Beantwortung der Frage war kein DNA-Test nötig. Jónas saß nervös neben ihr, die Schuld stand ihm ins Gesicht geschrieben. Es lag auf der Hand, dass er am Donnerstag mit Birna Verkehr gehabt hatte — was leider auch der Tag war, an dem ihr Schicksal besiegelt wurde. »Hat man in Birnas Vagina Sperma gefunden?«, fragte Dóra. »Ich weise darauf hin, dass mir im Falle einer Untersuchungshaft alle Unterlagen vorgelegt werden müssen. Wir werden mit Sicherheit gegen eine solche Entscheidung vor dem Obersten Gerichtshof Einspruch erheben.« Sie hörte Jónas verhalten stöhnen.

»Darf ich fragen, ob ihr bei euren Ermittlungen darauf gestoßen seid, dass Birna ein Verhältnis mit einem Bauern aus der Nachbarschaft hatte?«, fragte Dóra, in der Hoffnung, die Polizei wäre noch nicht dahintergekommen. »Das erwähnte Sperma könnte möglicherweise von ihm sein.«

»Wir wissen alles über den Mann«, entgegnete þórólfur mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck.

»Aha?«, sagte Dóra. »Wäre es da nicht naheliegend, ihn anstelle von Jónas zu verhören?«

»Das tun wir bereits«, sagte þórólfur und drehte geschickt einen Bleistift zwischen den Fingern. »Ungeachtet des Ergebnisses seines DNA-Tests, müssen wir auch deinen Mandanten einem solchen Test unterziehen.«

»Warum denn das?«, fragte Dóra. »Wenn das Sperma von dem Bauern stammt, kann es wohl kaum von Jónas sein?« þórólfur grinste fies, und bei Dóra fiel der Groschen. »In Birnas Vagina befand sich Sperma von zwei Männern?«

þórólfur hörte unvermittelt auf, mit dem Bleistift zu spielen. »Vielleicht«, antwortete er nach kurzem Zögern.

Dóra brauchte keine weiteren Beweise. Birna hatte am Tag ihres Todes mit zwei Männern geschlafen. Der eine war Jónas und der andere Bergur — oder der Mörder, oder es handelte sich dabei um ein und dieselbe Person. Dóra spürte, wie Jónas neben ihr erstarrte. Ihr war klar, worüber er sich Gedanken machte. Sie beugte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr, sodass die Polizisten es nicht hören konnten: »Du warst bestimmt der Erste.« Sie konnten es sich nicht leisten, dass Jónas noch nervöser wurde. Sie spürte, wie er sich ein wenig entspannte. »Mit einer Frau zu schlafen bedeutet nicht unbedingt, sie gleich umzubringen, oder?«, sagte sie zu þórólfur und fügte hinzu: »Jónas ist zum jetzigen Zeitpunkt nichts Derartiges nachzuweisen.«

»Nein, nicht unbedingt«, antwortete þórólfur. »Wenn aber die Ermordete Verletzungen an den inneren und äußeren Geschlechtsorganen hat, die darauf schließen lassen, dass sie vergewaltigt wurde, sieht die Sache ganz anders aus. Oder?«

Dóra beschloss, darauf nicht einzugehen. »Gibt es noch weitere unklare Punkte, oder ist Jónas’ angebliches Sperma das Einzige, wofür ihr noch keine Erklärung habt?«

»Es gibt noch mehr«, sagte þórólfur. »Wir sollten uns nochmal über die SMS unterhalten, die von deinem Handy geschickt wurde, Jónas. Kannst du uns das etwas näher erläutern als beim letzten Mal? Zum Beispiel, wo du an dem fraglichen Abend zwischen neun und zehn gewesen bist?«

Jónas drehte sich verzweifelt zu Dóra. Sie nickte ihm aufmunternd zu und zwinkerte kurz. »Ich kann die SMS nicht näher erläutern. Ich hab sie nicht geschickt, also muss jemand mein Handy geklaut und es dafür benutzt haben. Ich bin gegen sieben spazieren gegangen und hab das Handy hiergelassen. In der Zwischenzeit muss es jemand gestohlen haben.«

»Gestohlen, hm«, sagte þórólfur spöttisch. »Gestohlen und wieder zurückgegeben, was?«

»Ja«, sagte Jónas nachdrücklich. »Ich hab es nicht immer bei mir, lasse es hier und da liegen, es ist also gar nicht schwer.« Angespannt massierte er seine Schläfe. »Im Hotel waren jede Menge Leute, wir hatten eine Séance. So gut wie jeder hätte es tun können.«

»Seltsam, dass du das gerade jetzt erwähnst«, sagte þórólfur nachdenklich. »Wir haben uns nämlich just mit dieser Veranstaltung näher beschäftigt. Wie du gesagt hast, war es hier proppenvoll, aber trotzdem kann sich niemand daran erinnern, dich an dem fraglichen Abend gesehen zu haben. Wohin ging denn dein Spaziergang? Runter zum Strand?«

»Nein!«, sagte Jónas laut und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Ich bin einfach durch die Gegend gewandert, erst den Zufahrtsweg hoch, um zu kontrollieren, wie weit sie mit dem Abwasserkanal waren, und dann bin ich vielleicht noch eine Stunde spazieren gegangen. Als ich zurückkam, war ich kurz in meinem Büro und bin dann in meine Wohnung gegangen. Es hat mich bestimmt jemand im Hotel gesehen. Ich hab mich nicht versteckt. War um kurz vor zehn wieder hier. Die Séance war noch nicht zu Ende, wenn ich mich recht erinnere.«

»Es will dich aber trotzdem niemand gesehen haben. Weder drinnen noch draußen. Um halb zehn gab es eine Pause, ungefähr bis zehn. In der Pause spazierten die Teilnehmer überall herum, gingen nach draußen zum Rauchen, holten sich Kaffee, aber niemand hat dich gesehen. Obwohl du genau zu der Zeit wiedergekommen bist«, sagte þórólfur. »Aber jetzt etwas anderes. Gestern Abend wurde eine zweite Leiche in einem Pferdestall ganz hier in der Nähe gefunden. Kannst du mir sagen, wo du am gestrigen Sonntag gegen Abend warst?«

»Ich? Ich war in Reykjavík«, antwortete Jónas.

»Wann bist du dahin gefahren?«

»Ich bin gegen zwei Uhr losgefahren.« Jónas’ Stimme zitterte ein wenig.

»Du bist doch bestimmt durch den Tunnel gefahren, oder?«

»Ja«, sagte Jónas, bevor Dóra ihn davon abhalten konnte. Irgendetwas gefiel ihr an der Sache nicht.

»Mit deinem eigenen Wagen?«, fragte þórólfur daraufhin mit einem Gesicht wie ein Kind vor einer großen Schale mit Süßigkeiten.

»Er möchte diese Frage nicht beantworten«, beeilte sich Dóra zu sagen. Sie legte ihre Hand auf Jónas’ Oberschenkel und drückte fest zu.

»In Ordnung«, sagte þórólfur und grinste ironisch. »Du bist also durch den Tunnel nach Reykjavík gefahren. Es ist streng untersagt, durch den Tunnel zu reiten, zu Fuß zu gehen oder Fahrrad zu fahren, daher gehen wir davon aus, dass du mit einem PKW unterwegs warst.«

»Ich war mit meinem Wagen unterwegs«, sagte Jónas wie ein Esel, trotz des Drucks, mit dem Dóra seinen Schenkel traktierte. Sie konnte sich nicht beherrschen und bohrte ihm für diese Dummheit ihre Fingernägel ins Fleisch. Jónas stöhnte kurz auf und schaute Dóra, die so tat, als sei nichts geschehen, gekränkt an.

þórólfur grinste jetzt breit. Sein Gesicht nahm einen verächtlichen Ausdruck an. Er wedelte mit ein paar zusammengehefteten Blättern herum und knallte sie vor Jónas auf den Schreibtisch.

»Das ist eine Liste über alle Fahrzeuge, die gestern durch den Hvalfjörður-Tunnel gefahren sind. Dein Kennzeichen ist nicht dabei.« Er verstummte und schaute Jónas in die Augen. »Wie erklärst du dir das?«

Endlich war Jónas so schlau, den Mund zu halten. »Er beantwortet die Frage nicht«, sagte Dóra. »Ich gebe zu bedenken, dass Jónas sehr aufgewühlt ist und sich möglicherweise nicht richtig erinnern kann.«

»Das war erst gestern«, erwiderte þórólfur. Da Dóra und Jónas nicht auf seine Worte reagierten, zuckte er mit den Schultern. »Aber was soll’s, sprechen wir über andere Dinge.«

Andere Dinge? Dóra versuchte krampfhaft, sich nichts anmerken zu lassen, obwohl die Angst um Jónas sie packte. Was zum Teufel hatten sie denn noch gegen ihn in der Hand?


»Und dann hatte er sich auch noch mit diesem Eiríkur, der tot im Pferdestall gefunden wurde, gestritten«, erzählte Dóra Matthias. »Kurz bevor Eiríkur das Hotel verlassen hat. Und außerdem hatte Eiríkur jede Menge Schlaftabletten im Blut. Dieselben Tabletten, die auf Jónas’ Nachttisch liegen.« Sie atmete tief durch. »Sie hatten einen Durchsuchungsbefehl, verdammt nochmal.«

Matthias stieß einen scharfen Pfiff aus. »Ist er schuldig?«

»Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete Dóra. »Seine Fingerabdrücke waren auf Birnas Gürtel, und er hatte wahrscheinlich an dem Tag, an dem sie ermordet wurde, vielleicht sogar am Abend, Geschlechtsverkehr mit ihr, obwohl er das bestreitet. Dann hat er noch behauptet, er wäre gestern nach Reykjavík gefahren.« Sie stöhnte und reichte Matthias die Liste mit den Autokennzeichen. »Sie haben die Kennzeichen aller Autos registrieren lassen, die durch den Tunnel gefahren sind. Irgendein armes Schwein muss die ganze Nacht über den Aufnahmen der Sicherheitskameras gebrütet haben.«

»Und?«, fragte Matthias. »Wohin haben sie ihn gebracht?«

»Nach Borgarnes«, antwortete Dóra. »Er kommt morgen früh vor das Amtsgericht Westland. Sie fordern einen Haftbefehl.« Sie strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Und das kriegen sie durch, es sei denn, der Richter ist besoffen.«

»Ist er dafür bekannt?«, fragte Matthias bestürzt.

»Nee, das hab ich nur so gesagt.« Dóra setzte sich im Sessel auf. »Wäre aber wünschenswert.«

»Oh, ich hab ganz vergessen, dir zu erzählen, was mir passiert ist, während du weg warst«, sagte Matthias auf einmal. »Ich habe an der Bar einen Kaffee bestellt, und als ich in meinen Taschen nach Geld gesucht hab, hatte ich auf einmal den Orden aus Styckishólmur in der Hand. Ich habe ihn mit dem Kleingeld zusammen auf die Theke gelegt, und daraufhin ist der Mann neben mir ausgerastet. Es war der alte Herr, Magnús Baldvinsson.«

»Was?«, sagte Dóra verblüfft. »Was hat er gesagt?«

»Keine Ahnung«, antwortete Matthias. »Es war Isländisch und klang nicht freundlich. Am Ende hat er den Orden genommen und durch die Bar geschleudert. Dann ist er aufgestanden und weggegangen. Der Kellner war total perplex und meinte, der Mann hätte etwas von Provokation gewettert. Er hat mir den Orden wiedergegeben und war genauso entsetzt wie ich.«

»Tja«, meinte Dóra verdutzt. »Magnús hat sich ja auch sehr merkwürdig verhalten, als wir ihn auf die Nazis angesprochen haben, weißt du noch? Das ist in Island keine normale Reaktion«, fügte sie hinzu. »Sollen wir nochmal mit ihm reden?« Sie griff nach dem Telefon auf dem Tisch. »Allerdings muss ich als Allererstes meine Kinder in die Stadt verfrachten. Sieht so aus, als sei ich doch noch nicht ganz auf dem Heimweg. Wenigstens ist dieses bescheuerte Abenteuer glimpflich ausgegangen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich in einen seltsamen Fall verbeiße und nicht sofort losrase, wenn … — Aber mein feiner Exgatte, dem ist das natürlich … — Ach, verdammt, das hätte einfach nicht passieren dürfen.« Sie wählte die Nummer ihres Sohnes.

»Hallo, Gylfi, hier ist Mama. Ist bestimmt toll in Selfoss, oder?«

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