32. KAPITEL

Dóra zeigte aufgeregt auf eine Textstelle. Matthias musterte sie, verstand aber kein Wort. »Auf der Seite vor der Geschichte von dem Wiedergänger bei der Hochzeitsfeier steht: Will man verhindern, dass ein Verstorbener zum Wiedergänger wird, muss man ihm Nadeln in die Fußsohlen stechen.« Sie schlug das Buch zu. »Der Mörder wollte sichergehen, dass seine Opfer nicht zu Wiedergängern werden.«

Matthias schaute sie skeptisch an. »Und warum nicht?«

»Wir verstehen das vielleicht nicht, aber vermutlich glaubt er an Geister«, sagte Dóra und errötete leicht bei dem Gedanken an das Heulen, das sie gehört hatte. Sie hatte sich an ihren Vorsatz gehalten, niemandem davon zu erzählen, am allerwenigsten Matthias.

»Warum wirst du rot?«, fragte er. »Fängst du etwa in deinem Alter noch an, an Geister zu glauben?« Er bohrte seinen Zeigefinger in ihren Arm. »Hast du das Weinen auch gehört?«

Dóra war es immer schwergefallen, Menschen, die sie gut kannte, anzulügen. »Ja, ich hab was gehört«, sagte sie widerwillig. »Es war natürlich kein Wiedergänger, aber ein Weinen, wie von einem Baby.«

»Großartig«, sagte Matthias, hochzufrieden über die Entwicklung der Dinge.

Dóra streckte ihm die Zunge heraus. »Komm«, sagte sie. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als über Geister zu diskutieren. Lass uns Bertha und Steini suchen.«


Dóra konnte es kaum erwarten, die Hotellobby zu verlassen. Der Brandgeruch, der mit dem endlosen Abtransport verbrannter Tierkadaver aus dem Keller einherging, hing in der Luft. Am liebsten hätte sich Dóra die Nase zugehalten, als sie an Vigdís vorbeiging. Stattdessen beschleunigte sie ihren Schritt und hielt die Luft an. Bei ihrem fluchtartigen Abgang lief sie þröstur Laufeyjarson direkt in die Arme.

»Verzeihung«, sagte sie und versuchte, ihr Gleichgewicht wiederzufinden. »Ich hab dich gar nicht gesehen.«

»Schon in Ordnung«, entgegnete der Kajakfahrer schlecht gelaunt. Er trug einen wasserdichten Anzug und hatte nasses Haar. »Nichts passiert«, sagte er. »Anders als bei meinem Kajak«, fügte er verärgert hinzu.

»Was?«, fragte Dóra. »Ist es kaputt?« Als sie þrösturs Gesichtsausdruck sah, rutschte ihr heraus: »Ich hab’s nicht angerührt.«

»Nee, weiß ich«, sagte þröstur und wollte weitergehen.

»Warte mal, ich wollte dich was fragen.« Dóra packte ihn am Arm und erschrak, als sie spürte, wie muskulös der Mann war. »Ich hab schon vergeblich versucht, mit dir zu reden.«

»Was wolltest du mich denn fragen?«, blaffte þröstur. Dóra ließ verschreckt seinen Arm los. »Ob ich beim Kajakfahren schon mal kopfüber unter Wasser steckengeblieben bin?«

»Äh, nein«, sagte Dóra irritiert. »Auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen. Es geht mir um die beiden Morde, die hier begangen wurden, wie du bestimmt weißt.«

þrösturs Gesicht nahm einen wütenden und zugleich ängstlichen Ausdruck an. Die Hoteltür ging auf, und seine Aufmerksamkeit wurde auf den Knochentransport gelenkt. Verwunderung zog sich über sein Gesicht. »Was ist denn hier los?«

»So einiges«, sagte Dóra. »Aber nichts Gutes. Hast du einen Moment Zeit?«

»Ja, ja«, sagte er plötzlich. »Ich wollte sowieso gerade zur Polizei. Seit das Kajak kaputt ist, gibt es keinen Grund mehr, zu schweigen.«

»Wie bitte?«, sagte Dóra. Sie zeigte auf die Gartenstühle vor dem Haus. »Sollen wir uns nicht setzen?« Sie gingen zu dem Tisch und nahmen Platz. Dóra nutzte die Gelegenheit und stellte Matthias vor. »Was wolltest du der Polizei denn sagen?«, fragte sie dann.

þröstur machte ein gewichtiges Gesicht. »Am Freitagmorgen wollte ich zum Training rausfahren, und da war mein Kajak voller Blut. Blut auf dem Paddel, Blut auf dem Sitz und überall Spritzer.«

Dóra fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Heute ist Dienstag«, sagte sie. »Warum zum Teufel hast du das noch niemandem erzählt?«

»Ich hab erst am Samstag von der Frau an der Rezeption von dem Mord erfahren. Da hatte ich das meiste schon abgewischt«, antwortete þröstur mürrisch.

»Es ist also noch ein Rest Blut da?«, fragte Dóra hoffnungsvoll. Vielleicht hatte der Mörder Fingerabdrücke darin hinterlassen.

»Äh, nee«, erwiderte þröstur kläglich, fügte dann aber in rechtfertigendem Tonfall hinzu: »Ich nehme in zwei Wochen an den Weltmeisterschaften teil. Ich hätte das Kajak nicht an irgendein Labor abgeben können, deshalb hab ich den Rest auch weggewischt und einfach nichts gesagt.«

Dóra beneidete þröstur nicht darum, þórólfur seine Geschichte erzählen zu müssen. »Und warum hast du deine Meinung jetzt geändert?«

»Wer auch immer dieser Idiot war, er hat das Boot über den Grund gezogen, und jetzt ist der Boden beschädigt. Ich hab nicht kapiert, warum ich so schlechte Zeiten hatte, und dann ist mir das aufgefallen. Der Boden war Anfang letzter Woche noch in Ordnung, also hat mir dieser dämliche Mörder den Schaden eingebrockt.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Die Bullen können das Kajak von mir aus haben. Damit kann ich sowieso nicht mehr an der WM teilnehmen.«

»Bist du dir eigentlich darüber im Klaren, dass du den Mord am Sonntagabend vielleicht verhindert hättest, wenn du am Samstag sofort zur Polizei gegangen wärst?«

»Und wenn schon«, schnaubte þröstur, »es war nicht mehr viel Blut übrig, hab ich doch schon gesagt.« Er blickte unterstützungsheischend zu Matthias und versuchte dann, das Thema zu wechseln. »Ich werde diesen Typen verklagen, wenn er erwischt wird, und mir den Schaden ersetzen lassen. Ich hätte mit ziemlicher Sicherheit auf dem Treppchen gestanden.«

»Ein furchtbarer Verlust«, sagte Dóra, verkniff sich aber, es allzu spöttisch klingen zu lassen. »Noch eine Frage. Du bist doch am Sonntagabend durch den Hvalfjörður-Tunnel gefahren, oder?«

»Ja«, sagte þröstur trotzig. »Mir waren die Proteindrinks ausgegangen und ich musste in eine vernünftige Apotheke.« Er schaute Dóra herausfordernd an. »Glaubst du mir etwa nicht? Ich hab eine Quittung von Lyfja in Lágmúli.«

»Äh, doch, doch.« Dóra dachte an etwas ganz anderes, nämlich daran, dass sie weder die Besucher der Séance noch die Hotelmitarbeiter ausschließen konnten. »Wie lange braucht man, um von hier zum Strand zu paddeln, wo die Architektin ermordet wurde?«

»Pff, nicht lange«, sagte þröstur. »Übers Meer geht es blitzschnell. Man spart die ganzen Zickzackwege an Land. Bei ruhiger See würde ich etwa fünf Minuten brauchen. Jemand, der untrainiert ist, vielleicht zehn Minuten.«

»Kann man problemlos ein Kajak fahren, wenn man es noch nie gemacht hat?«, fragte Matthias, der bisher nur zugehört hatte.

»Ja, wenn man sich nicht total ungeschickt anstellt«, antwortete þröstur. »Man muss üben, um es gut zu beherrschen. Aber um bei ruhiger See von A nach B zu kommen, muss man nichts können. Nur Kraft haben.« Er stand auf. »Am besten gehe ich erst mal unter die Dusche, bevor ich die Bullen treffe.« Er schob den schweren Holzstuhl unter den Tisch und wollte gehen. Auf einmal fiel ihm etwas ein und er drehte sich wieder zu ihnen.

»Ach, und außerdem erinnert sich der Junge im Auto bestimmt an mich. Es sollte nicht schwer sein, ihn ausfindig zu machen.«

»Welcher Junge? Was meinst du?«, fragte Dóra.

»Als ich aus dem Tunnel gefahren bin, hab ich am Straßenrand ein Auto stehen sehen und gedacht, es ist was passiert. Ich hab angehalten und wollte dem Fahrer anbieten, ihn mitzunehmen. Das war ein total entstellter Junge. Er wollte nicht mitgenommen werden. Wollte einfach nur eine Weile im Wagen sitzen. Es wäre alles okay. Dann hat er die Scheibe hochgekurbelt und wollte nicht weiter mit mir reden.«

»Wann war das ungefähr?«, fragte Matthias.

»Gegen sechs, glaube ich«, antwortete þröstur. »Als ich am späteren Abend wieder zurückfuhr, war er verschwunden. Wahrscheinlich hatte er die Schnauze voll, den Leuten zu sagen, es wäre alles in Ordnung. Ich war nämlich nicht der Einzige, der geglaubt hat, es könnte was passiert sein. Ein anderer Wagen hat neben ihm angehalten, als ich weitergefahren bin«, fügte er hinzu und marschierte ins Hotel.

Matthias trat Dóra unter dem Tisch leicht auf den Fuß. »Ich bin mir sicher, dass Steini hinter Bertha durch den Tunnel gefahren ist, um sich zu vergewissern, dass sie auch bestimmt weg ist. Anschließend ist er an den Rand gefahren, hat ihr hinterhergeschaut, dann kehrtgemacht und Eiríkur erledigt. þröstur hat ihn beim Warten getroffen. Das könnte alles passen.«

»Ist aber ziemlich haarig«, meinte Dóra. »Wenn er gegen sechs am Tunnel war, musste er den ganzen Weg hierher zurückfahren, und das ist kein Katzensprung.«

»Eiríkurs Todeszeitpunkt ist nicht sehr präzise«, erwiderte Matthias. »Zur Abendbrotzeit. Die Leute essen zu unterschiedlichen Zeiten zu Abend.« Er stand auf. »Ich hole schnell die Liste. Ich möchte sehen, wann er Richtung Stadt gefahren ist, das hab ich mir noch nicht angeschaut.«

Dóra wollte nicht noch einmal durch den Gestank in der Lobby gehen und zog es vor, draußen zu warten. Matthias kam geradewegs mit dem Papierstapel zurückgeeilt. »Er ist fünf Wagen hinter Bertha durch den Tunnel Richtung Reykjavík gefahren. Es stimmt alles mit meiner Theorie überein. Er wollte sichergehen, dass sie weg war.« Er knallte den Stapel vor Dóra auf den Tisch. »Ich glaube, wir sind gezwungen, mit Bertha zu reden. Bleibt zu hoffen, dass sie etwas weiß.«

»Bleibt zu hoffen, dass sie etwas weiß und es uns auch mitteilen möchte«, ergänzte Dóra und stand auf. »Wir sollten uns keine Hoffnungen machen, dass sie uns um den Hals fällt, wenn wir ihr zu verstehen geben, dass ihr Freund und Cousin ein Mörder ist. Es könnte länger dauern, bis sie begreift, was für eine abscheuliche Tat er begangen hat.« Sie lächelte. »Falls er sie begangen hat. Ich bin mir da überhaupt nicht so sicher.«


»Jetzt weiß ich, was mich stört!« Dóra schlug sich gegen die Stirn. »Die Erbfolge! Wenn das Kind seine Mutter und seinen Großvater überlebt hat, dann ist sein gesamter Besitz in falschen Händen. Grímur hätte das Kind normalerweise natürlich nicht beerbt.« Sie saßen im Wagen auf dem Zufahrtsweg nach Kreppa, wo sie hofften, Bertha anzutreffen. Ihr Auto stand nicht da, das Haus war verlassen.

»Was meinst du?«, fragte Matthias. »War Grímur nach dem Tod der Mutter und des Großvaters nicht der nächste Verwandte?«

Dóra schüttelte den Kopf. »Nein, der Vater natürlich! Der Vater des Kindes hätte nach dessen Tod alles bekommen.«

»Und das ist aller Wahrscheinlichkeit nach Magnús«, stellte Matthias fest. »So weit hatte ich nicht gedacht. Grímur hätte natürlich nie etwas bekommen dürfen. Deshalb hat er die Kleine versteckt und versucht, alle Hinweise auf ihr kurzes Leben zu beseitigen.«

Dóra schnappte nach Luft. »Und außerdem: Wenn Grímurs Tochter Málfríður von dem Mord gewusst hat, hat sie ihr Erbe ebenfalls unter falschen Voraussetzungen erschlichen.«

»Logisch.« Matthias nickte. »Wenn ihr Vater es unrechtmäßig erhalten hat, dann hat sie ebenso wenig ein Anrecht darauf.«

»Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber soweit ich weiß, sieht die Sache anders aus, wenn sie ahnungslos war. Aber falls meine Vermutung stimmt, war sie das nicht. Sie lebt sogar noch. Als das Grundstück an Jónas verkauft wurde, hatten ihre Kinder, Börkur und Elín, ihre Unterschriftsvollmacht. Offiziell haben sie noch nichts geerbt. Aus der Vollmacht ging hervor, dass ihre Mutter noch keine Erbteilung festgelegt hat.«

»Da gibt’s ganz schön viel zu verlieren«, sagte Matthias. »Und gleichzeitig für den Kindsvater, den alten Magnús, ganz schön viel zu gewinnen.«

»Ja, es hätte ihm nichts gebracht, Birna umzubringen, und dadurch den Fund des Kindes zu verhindern. Im Gegenteil.« Dóra betrachtete den alten Hof durch die Frontscheibe. »Bei Elín und ihrer Familie sieht die Sache allerdings ganz anders aus. Bertha hätte beispielsweise keinen Zufluchtsort mehr hier in Snæfellsnes. Nachdem Grímurs Existenzgrundlage ins Wanken geraten war, ging das Haus in Stykkishólmur in Bjarnis Besitz über, ebenso wie sein Hof«, erklärte Dóra. »Wenn Bertha kein Haus mehr hier im Bezirk hätte, wäre Steini ziemlich einsam.« Sie schaute zu Matthias. »Sollen wir nicht einfach direkt mit ihm reden?«, schlug sie vor. »Wir haben keine Ahnung, wann und wo wir Bertha finden. Sóldís weiß bestimmt, wo Steini wohnt, das wäre also kein Problem.«

»Und þórólfur? Sollten wir ihn nicht lieber informieren, damit er selbst hingehen kann?«

Dóra überlegte kurz. »Nein, nein. Das ist wie mit der Wand. Wir müssen sicher sein, dass wir recht haben, bevor wir die Polizei damit behelligen. Die haben im Moment sowieso genug zu tun.«


Matthias und Dóra standen vor Steinis Haustür und warteten. Es war plötzlich kühler geworden. Die Luft war so frisch, dass einem die Kälte durch Mark und Bein kroch. »Bist du sicher, dass wir Juni haben?«

Bevor Dóra antworten konnte, öffnete sich die Tür einen Spalt. »Was ist?«, erklang die Stimme unter der altbekannten Kapuze.

»Hallo«, sagte Dóra so freundlich wie möglich. »Erinnerst du dich nicht an uns? Wir waren gestern in Kreppa und haben dich und Bertha getroffen. Wir haben uns auch unten in der Bucht gesehen.«

»Ja, was wollt ihr?« Man hätte meinen können, Steini redet mit vollem Mund, so undeutlich war seine Aussprache. Wahrscheinlich konnte er den Mund nicht richtig öffnen. Dóra hoffte, dass ihm das Sprechen keine Schmerzen bereitete. Unabhängig davon, was er anderen möglicherweise angetan hatte, tat er ihr unendlich leid.

»Wir wollten kurz mit dir reden«, sagte Dóra, in der Hoffnung, eingelassen zu werden. »Es geht um den Sonntagabend.«

Der Rollstuhl fuhr ein Stück zurück, und die Tür wurde weit geöffnet. »Kommt rein«, sagte Steini. Aufgrund seiner bizarren Stimme war nicht festzustellen, ob ihm die Unterredung unangenehm war. Dóra und Matthias wechselten beim Eintreten einen Blick, sagten aber nichts.

»Wohnst du schon lange hier?«, fragte Dóra freundlich, nachdem sie das schlichte Wohnzimmer betreten hatten. Auf den ersten Blick wirkte das Haus ziemlich deprimierend. Alles war sehr ordentlich, aber es gab keine Anzeichen, dass wirklich jemand dort wohnte, keine Bilder an den Wänden, nirgends persönliche Gegenstände, außer Krücken, die in der Türöffnung zu dem kleinen Wohnzimmer lehnten. Dieses war etwas einladender als der Flur, mit einer Blumenvase mit Wildblumen aus der Umgebung. Dóra vermutete, dass Bertha den Strauß mitgebracht hatte. Undenkbar, dass der junge, in seinem Rollstuhl kauernde Mann ihn gepflückt und arrangiert hatte.

»Ja, schon lange«, antwortete Steini, ohne näher darauf einzugehen.

»Verstehe.« Dóra lächelte. »Am besten komme ich gleich zum Thema. Wir haben überlegt, ob du am Sonntag durch den Tunnel gefahren bist. Ein auf deinen Namen gemeldetes Auto hat ihn am Abend passiert.«

Steini schwieg und ließ den Kopf noch mehr hängen. Dann ergriff er das Wort. »Ja, das war ich«, sagte er. Wie zuvor war seiner Stimme nicht anzuhören, wie er sich fühlte.

»Darf ich fragen, was du in Reykjavík gemacht hast?«, fragte Dóra.

»Nein«, antwortete Steini. Er warf ihr unter der Kapuze einen raschen Blick zu, und Dóra musste sich beherrschen, nicht erschreckt zu reagieren. »Glaubt ihr etwa, ich hätte diesen Mann umgebracht?«, rief er. Er war plötzlich rasend vor Zorn. »Glaubt ihr das?« Er wuchtete sich aus dem Rollstuhl hoch und umkrallte die Lehnen, um das Gleichgewicht halten zu können. Sein Bein war gekrümmt und kaum belastbar.

»Nein«, beeilte sich Dóra zu sagen. »Das glauben wir ganz bestimmt nicht.« Sie ergänzte ihren Satz mit einer weiteren Notlüge, damit er ihr weniger peinlich war. »Wir dachten, du hättest deinen Wagen vielleicht verliehen. Wir wollen rausfinden, wer zum Zeitpunkt des Mordes an Eiríkur wo war.«

»Ich war nicht in der Nähe. Auch nicht, als Birna umgebracht wurde«, sagte Steini und ließ sich wieder in den Rollstuhl plumpsen. Er schien immer noch wütend zu sein und atmete röchelnd. Dóra hoffte, dass er keinen Schock oder epileptischen Anfall bekam.

»Auf dem Hof am Hotel wurde ein altes Grab entdeckt«, sagte sie, in der Hoffnung, ihn zu verunsichern und dazu zu bringen, klein beizugeben.

»Raus«, sagte er auf einmal. »Ich will euch nicht hier haben.« Er rollte mit seinem Stuhl ein wenig in Dóras Richtung.

Matthias, der den Wortwechsel nicht verstanden hatte, war sofort klar, dass das Gespräch beendet war. Er stand auf und trat neben sie. »Also dann«, sagte er. »Wir müssen uns beeilen.« Er nahm Dóras Hand und zog sie hoch. Anschließend drehte er sich zu Steini und bedankte sich. Dann ging er hinaus, wobei er darauf achtete, dass Dóra vor ihm herging. »Bisschen merkwürdig, kann aber schwerlich einen Mord begehen«, sagte er schließlich, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.

»Trotzdem stimmt da was nicht«, erwiderte Dóra. »Seine Reaktion auf die Neuigkeit mit dem Grab war wirklich nicht ganz normal. Und auch nicht das mit dem Tunnel, wenn man’s genau nimmt. Kann es sein, dass er den Mörder deckt?«

»Das bezweifle ich.« Matthias hielt ihr die Wagentür auf. »Wenn er nicht der Mörder ist, dann ist es wahrscheinlich Bergur oder dieser Baldvin. Nach deiner Theorie über den Unfall kann Steini Bergur nicht ausstehen, wegen dessen Verbindung mit dem Unfallverursacher. Und wir haben keine Ahnung, ob er Baldvin überhaupt kennt. Die beiden würde er kaum decken.«

»So ein Mist«, grummelte Dóra. »Es hätte so schön gepasst.« Sie stieg ins Auto und wartete, bis Matthias hinterm Steuer saß. »Trotzdem bin ich vollkommen deiner Meinung, dass er es nicht gemacht haben kann. Was Bergur angeht, habe ich auch so meine Zweifel. Er hätte durchaus zu Fuß zum Hotel kommen, das Kajak nehmen und rüber zur Bucht paddeln können, um Birna umzubringen, aber das ist irgendwie unlogisch. Warum ist er nicht einfach hingefahren? Und wann hätte er Jónas’ Handy entwenden sollen, um Birna die SMS zu schicken?« Sie schüttelte den Kopf. »Baldvin dagegen war im Hotel und hätte leicht das Handy an sich nehmen können. Er war bei der Séance, ist aber vor der Pause verschwunden. Also hätte er runter zum Steg laufen, das Kajak stehlen, zur Bucht fahren und Birna überfallen können. Genug Gründe hatte er ja.« Dóras Handy klingelte.

»Hi. Ich hab das Zeug für dich gefunden«, sagte Gylfi. »Es ist der lateinische Begriff für die Aloe-vera-Pflanze.«

Dóra bedankte sich und legte auf. Sie warf Matthias, der vollauf damit beschäftigt war, sich anzuschnallen, einen Blick zu. »Was ist?«, sagte er, als ihm klar wurde, dass sie ihn anstarrte.

»Warum sollte eine Frau sich Aloe vera in die Vagina einführen? Wird das als Gleitmittel verwendet?«

Matthias lachte. »Entschuldige bitte, aber warum fragst du mich danach? Sehe ich so erfahren aus? Frag doch deine Freundin, die Sexberaterin. Nicht mich.« Er setzte zurück. »Der VERITAS-Wagen stand noch vor dem Hotel, als wir losgefahren sind. Sollen wir mit dem Mann sprechen?«

»Warum nicht?«, entgegnete Dóra und grinste. »Er muss ja wohl die Wahrheit sagen, oder?«

Matthias wendete den Wagen und rollte über den Kiesweg. »Keine Frage. Immerhin ist er Politiker.«

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