35. KAPITEL

SONNTAG, 18. JUNI 2006

Die Getränke aus der Minibar waren teuer, aber Dóra fand, sie waren jede Krone wert. Sie stellte die Dose ab und schmiegte sich in den dicken, weißen Bademantel. Anschließend trat sie ans Hotelfenster, zog die Gardinen ein Stück zur Seite und schaute über den Austurvöllur-Platz. Es waren kaum Passanten unterwegs, und die wenigen Gestalten, die schon auf den Beinen waren, wirkten wie Gestrandete des vergangenen Abends. Dóra lächelte still. Sie ließ die Gardine los und ging wieder zum Bett mit dem schlafenden Matthias. Wenn sie endlich einmal jemanden kennenlernte, der weder geschieden noch Säufer, kein Wichtigtuer und kein Sportfanatiker war, dann musste es ausgerechnet ein Ausländer sein, der kaum dazu zu bringen sein dürfte, nach Island zu ziehen.

Aber vielleicht war genau das der Grund dafür, warum er ihr so gut gefiel.

Irgendwo im Zimmer erklang das dumpfe Klingeln ihres Handys. Dóra lokalisierte es in ihrer Handtasche, die über einem Stuhl am Fußende des Bettes hing. Sie beeilte sich, ranzugehen. »Hallo«, flüsterte sie und ging ins Badezimmer, um Matthias nicht zu wecken.

»Mama!«, kreischte Gylfi, »Sigga stirbt!«

Dóra schloss die Augen und fasste sich an die Stirn. Sie hatte Gylfi und Sigga alleine mit Sóldís zu Hause gelassen — damit Matthias und sie in seiner letzten Nacht in Island ihre Ruhe hätten. Ihr Sohn und seine Freundin mussten sich schließlich bald um ein Baby kümmern, da sollten sie durchaus in der Lage sein, eine Nacht auf ein siebenjähriges Mädchen aufzupassen. »Gylfi«, sagte Dóra, »sie stirbt nicht. Sie bekommt nur ein Baby.« Ein Schmerzensschrei von Sigga drang durch die Leitung. »Geht es ihr sehr schlecht?«

»Mama, sie stirbt!«, protestierte Gylfi. »Ich meine es ernst. Hör doch!« Die Schreie wurden lauter, hörten dann aber plötzlich auf. »Es kommt und geht.«

»Das sind die Wehen, Schatz«, sagte Dóra ruhig, obwohl sie sich keineswegs so fühlte. »Ich komme. Zieh dich und deine Schwester an, und wenn Sigga sich anziehen kann, gut und schön, sonst kommt sie einfach so mit, wie sie ist.« Dóra öffnete die Badezimmertür und trat ins Zimmer. »Hat Sigga ihre Mutter schon angerufen? Ist die unterwegs?«, fragte sie, während sie ihre Klamotten zusammensuchte.

»Nein«, sagte Gylfi düster, »Sigga möchte, dass ich sie anrufe, aber ich bringe es nicht fertig. Sie ist so ätzend.«

Dóra konnte nicht widersprechen, forderte ihren Sohn aber dennoch auf, anzurufen. Siggas Eltern würden ihrer Tochter mit Sicherheit beistehen wollen. Es würde das Fass zum Überlaufen bringen, wenn Gylfi seine Schwiegereltern nicht informierte. »Ich komme so schnell ich kann«, sagte Dóra. »Haltet euch bereit. Wenn sie Sigga abholen wollen, dann sollen sie das tun. Du entscheidest, ob du mit ihnen oder mit mir fährst, aber Sóley kommt mit mir.« Sie legte auf und zog ihren Rock an. Entgegen ihrer Gewohnheit hatte sie sich chic gemacht, mit hochhackigen Schuhen und allem Drum und Dran. Sie hatte am gestrigen Abend Lust auf etwas Besonderes gehabt, um die Lösung des Falls zu feiern und ihr Zusammensein mit Matthias zu genießen, bevor er wieder nach Hause fuhr. Dóra betrachtete die Nylonstrumpfhose über dem Fernseher und beschloss, sich lieber hineinzuquälen, als ihre schneeweißen Beine zu zeigen.

»Matthias«, flüsterte Dóra und stieß ihn sanft an, »ich muss los, Sigga bekommt ihr Baby.«

Matthias, der auf dem Bauch lag, hob sein Gesicht vom Kopfkissen und schaute sie schlaftrunken an. »Was?«

»Ich muss ins Krankenhaus«, wiederholte sie. »Ich rufe dich an.«

Dóra fuhr schneller nach Hause als üblich. Als sie in die Einfahrt bog, schmunzelte sie im Stillen darüber, mit welcher Ahnungslosigkeit Gylfi und Sigga über die Geburt gesprochen hatten. Sigga hätte demnach wahlweise in der Badewanne, stehend in freier Natur oder stumm, wie die Frau von Tom Cruise, gebären sollen, je nachdem, welchen Artikel sie gerade im Internet gelesen hatten. Nach der ersten Stunde hatten sich die beiden geweigert, weiter an dem Schwangerschaftskurs teilzunehmen. Die Hebamme hatte sich sehr aufgeregt, als Sigga gefragt hatte, ob im Kreißsaal MTV laufen würde. »Ich bin da!«, rief Dóra beim Eintreten, wurde aber von Siggas Schmerzensschreien übertönt. So würde sie bestimmt nicht bei Scientology aufgenommen werden.

»Es stimmt was nicht!«, schrie Gylfi, als er seine Mutter erblickte. »Das Kind liegt wahrscheinlich auf der Seite.«

»Das ist nicht das Problem«, entgegnete Dóra. »So ist das nun mal. Leider.« Sie ging zu Sigga, die schmerzverkrümmt am Esstisch saß.

»Es ist bestimmt wegen ihrer schmalen Hüften«, sagte Gylfi voller Panik. »Alle sagen, dass es total schwer ist, so zu gebären.«

»Die Hüften bilden bei der Sache nicht den Flaschenhals, Gylfi. Der liegt weiter unten.« Sie beugte sich zu Sigga. »Versuch, ruhig zu atmen, Liebes«, sagte sie. »Komm, wir gehen zum Auto. Hast du schon Wasser verloren?«

Sigga hob den Kopf und schaute Dóra verständnislos an. »Welches Wasser?«

»Gehen wir!« Dóra klatschte in die Hände. »Ihr werdet das alles gleich erfahren.« Sie stützte Sigga auf dem Weg nach draußen, während Gylfi vor ihnen herlief und die Wagentür öffnete. Sóley folgte ihnen schläfrig, ohne sich richtig darüber im Klaren zu sein, was eigentlich los war. »Wenn sie dir eine PDA anbieten, Sigga, dann sagst du einfach ja. Das ist in Mode«, erklärte Dóra und half ihr, sich auf den Rücksitz des Jeeps zu legen. Sie hatte zwar entschieden, den Jeep und den Wohnwagen zu verkaufen, um ihre Schulden loszuwerden, aber der Jeep war größer und geräumiger als ihre alte Karre. Dóra sprang hinters Steuer und drehte den Zündschlüssel. Als sie gerade rückwärts die Einfahrt verlassen hatten, stieß Sigga einen so lauten Schrei aus, dass Dóra abrupt bremste. Gylfi und sie schauten nach hinten.

Dóra seufzte. Sie würde mit dem Preis des Jeeps runtergehen müssen: der Rücksitz war mit Fruchtwasser durchtränkt.


Sóley ließ die Füße baumeln. Im Wartezimmer gab es nicht viel, womit sie sich beschäftigen konnte. Dóra wunderte sich darüber, wie geduldig und brav sie war, vor allem, wenn man bedachte, dass sie seit fast drei Stunden in dem kleinen Raum warteten. Die Warterei wurde auch dadurch nicht amüsanter, dass Siggas Vater bei ihnen saß. Er redete nicht viel, aber sein Mienenspiel sagte alles. Daher war Dóra froh, als ihr Handy die Stille durchbrach. Sie ging damit hinaus auf den Flur.

»Hallo Dóra, hier ist Lára aus Snæfellsnes. Die Oma von Sóldís«, erklang die gesetzte, angenehme Stimme der alten Dame. »Hoffentlich störe ich dich nicht.«

»Nein, überhaupt nicht«, sagte Dóra. »Schön, von dir zu hören. Ich wollte dich auch anrufen. Leider habe ich es nicht mehr geschafft, dich vor meiner Abreise zu treffen.« Es war fünf Tage her, seit die Polizei Bertha und Steini festgenommen hatte, und Dóra war vollauf damit beschäftigt gewesen, den Fall abzuschließen und die liegengebliebenen Sachen im Büro abzuarbeiten. Jónas hatte zum Glück von einer Klage gegen die Geschwister abgesehen, nachdem sich herausgestellt hatte, dass Bertha der angebliche Geist war. »Du weißt doch bestimmt, dass Kristín gefunden wurde.«

»Ja, deshalb rufe ich dich an«, sagte Lára. »Es geht um zwei Dinge. Ich kümmere mich gerade darum, dass sie neben ihrer Mutter beerdigt wird, und ich hatte gehofft, du würdest zur Beisetzung kommen. Von ihren Verwandten sind nicht mehr viele übrig, und es ist mir wichtig, nicht mit dem Pastor allein dazustehen.«

»Das wäre mir eine große Ehre«, sagte Dóra mitfühlend.

»Gut«, entgegnete Lára. »Ich sage dir Bescheid, sobald der Termin feststeht.« Sie räusperte sich höflich. »Dann wäre da noch die andere Sache. Der Polizist, der die Ermittlungen geleitet hat, war eben bei mir.«

»þórólfur?«, sagte Dóra erstaunt. »Was wollte er?«

»Er hat mir einen Brief gebracht, oder besser gesagt, die Kopie eines Briefes«, erklärte Lára. »Ein Brief, der sechzig Jahre lang unterwegs war. Er ist von Guðný.«

»Wo hat man den denn gefunden?«, fragte Dóra verdutzt. »In der Kohlenkammer?«

»In Kristíns Jackentasche.« Dóra meinte, Lára schluchzen zu hören, aber als sie weitersprach, klang ihre Stimme gefasst. »Als Guðný den Brief schrieb, lag sie im Sterben. Sie wusste, dass es die letzte Möglichkeit war, ihre Geschichte zu erzählen. Zuerst bittet sie mich um Entschuldigung, dass sie mir in ihren früheren Briefen nicht die Wahrheit gesagt hat, sie hat sich nicht getraut, aus Angst, ich würde nach Snæfellsnes kommen und mich bei ihr oder ihrem Vater anstecken. Ich hätte schließlich ein neues Leben in Reykjavík begonnen, das sie nicht zerstören wollte.« Lára zögerte, und Dóra hatte den Eindruck, sie würde den Brief auf der Suche nach einer bestimmten Stelle überfliegen.

»Guðný schreibt hier, dass Magnús Baldvinsson Kristíns Vater ist«, erzählte Lára. »Sie sind sich einmal sehr nahegekommen, als er zu einem Treffen ihres Vaters im Zusammenhang mit der nationalistischen Gruppierung kam; da ist sie schwach geworden. Sie schreibt, sie habe mit keinem anderen Mann geschlafen, weder vorher noch nachher, und sie scherzt, es würden wohl auch kaum mehr werden.«

»Geht aus dem Brief hervor, ob er von dem Kind wusste?«, fragte Dóra. Wenn dem so war, hatte er unmöglich ein Anrecht auf das Erbe.

»Sie schreibt, er sei zum Studium nach Reykjavík gezogen, bevor sie sich über ihren Zustand bewusst war, aber sie hat ihm nach Kristíns Geburt einen Brief geschrieben. Er hat ihr aber nie darauf geantwortet.« Lára seufzte. »Beim Lesen merkt man, dass sie das sehr verletzt hat, vor allem wegen ihrer Tochter. Falls sie ihn irgendwann einmal geliebt hat, dann war das verständlicherweise vorbei.«

»Tja, manches kann man nicht wiedergutmachen«, seufzte Dóra, »selbst weniger tragische Dinge, als sein eigenes Kind nicht anzuerkennen.«

»Guðnýs Anliegen war es, mir ihre Tochter anzuvertrauen«, erklärte Lára. »Als sie den Brief schrieb, war ihr Vater schon tot, und sie wohnte mit ihrer Tochter bei ihrem Onkel Grímur. Guðný wollte Kristín auf keinen Fall in seiner Obhut lassen.«

»Hm, ob Grímur wusste, dass Guðný versucht hat, Kristín in diene Obhut zu bringen?«, fragte Dóra. »Mit Kristín wäre natürlich auch sein gesamter Besitz gegangen.«

»Ich weiß es nicht«, sagte Lára. »Da steht nur, sie sei sich nicht sicher, wann ich den Brief bekommen würde. Sie wollte ihn Grímur nicht für die Post anvertrauen. Sie schreibt, sie würde ihn Kristín mitgeben und hoffen, dass sie ihn jemandem überbringen kann. Sie habe mit Kristín gesprochen und ihr von mir erzählt, wie nett ich sei und dass sie mich vielleicht bald treffen würde. Sie fügt noch hinzu, man könne Kristín den Brief trotz ihres jungen Alters ruhig anvertrauen. Sie sei außergewöhnlich zuverlässig und tüchtig.«

»Zumindest hat sie es geschafft, den Brief zu verstecken.«

»Ja«, klang es vom anderen Ende der Leitung, und nun ließ es sich nicht mehr verhehlen, dass die alte Frau weinte. »Lass uns bei der Beerdigung weiter darüber reden«, sagte Lára mit brüchiger Stimme.

»Natürlich«, sagte Dóra. »Ich komme. Du kannst dich auf mich verlassen.« Sie grüßte die alte Frau und legte auf.

Dóra war während des Gesprächs in dem kurzen Flur auf und ab gegangen, ohne ihre Umgebung wahrzunehmen. Erst jetzt wurde ihr klar, dass hinter den meisten Türen Frauen damit beschäftigt waren, die Menschheit zu vermehren. Die Schreie aus Kreißsaal C kamen ihr bekannt vor, und sie lauschte, in der Hoffnung, Babygeschrei zu hören. Aber sie konnte nichts Derartiges hören, zumal es für eine so kleine Lunge schwierig wäre, den Lärm der werdenden Mutter zu übertönen. Dóra konnte einen Satz zwischen dem Schreien verstehen: »Das kann doch nicht richtig sein!« Dóra stimmte Sigga im Geiste zu und lächelte. Offenbar war die Geburt in vollem Gang. Sie wartete mit dem Ohr an der Tür, und nach mehrmaligem lauten Stöhnen und weiteren Schreien war das herzzerreißende Weinen eines Babys zu hören. Dóra schossen die Tränen in die Augen, und sie entfernte sich von der Tür. Von Gylfi war nichts zu hören gewesen. Dóra hoffte, dass er nicht ohnmächtig geworden war. Sie atmete auf, als sie seine Stimme hörte: »Igitt, tu das weg!« Dóra erschrak, beruhigte sich jedoch wieder, als sie Siggas Mutter sagen hörte: »Stell dich nicht so an, Junge. Sie zeigt euch nur die Nachgeburt. Manche trocknen sie und machen daraus einen Lampenschirm.« Dóra konnte nur hoffen, dass sie dieses Jahr keinen solchen Schirm zu Weihnachten bekäme.

Die Tür ging auf, Gylfi kam heraus und fiel seiner Mutter um den Hals. Er glühte wie Sonnenschein auf der Heide. »Es war ekelhaft, aber ich bin Vater! Es ist ein Junge!«

Dóra küsste ihn mehrmals auf beide Wangen. »Mein lieber, lieber Gylfi«, sagte sie zwischen den Küssen, »herzlichen Glückwunsch, mein lieber Junge. Ist er süß?«

»Sieh ihn dir selbst an«, sagte er und ging wieder hinein.

Dóra wollte nicht in den Raum platzen und steckte nur ihren Kopf durch die Tür. Undeutlich erkannte sie Sigga und die Hebamme am Ende der Geburtsliege, ganz gebannt von dem Baby im Arm der frischgebackenen Mutter.

Wie hypnotisiert betrat Dóra den Raum. Sie war Oma. Nachdem sie ihren Enkel eine Weile betrachtet hatte, wurde sie von dem unerfindlichen Bedürfnis gepackt, zu Matthias ins Hotel zu fahren.

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