8 Sturköpfe

Elayne war nicht sicher, ob Rand überhaupt bemerkt hatte, daß sie sich noch im Raum befand, so wie er Egwene mit einem leicht verwirrten Gesichtsausdruck nachblickte. Gelegentlich schüttelte er den Kopf, als werde er sich mit sich selbst nicht einig oder wolle einen klaren Kopf bekommen. Sie wollte gern warten, bis er mit sich selbst im reinen war. Alles war ihr recht, was den Augenblick der Wahrheit noch etwas hinauszögerte. Sie konzentrierte sich darauf, äußerlich gefaßt zu wirken und Haltung zu bewahren — Rücken gerade und hoch erhobener Kopf, die Hände im Schoß gefaltet... Die Gelassenheit ihrer Miene hätte der Moiraines Konkurrenz machen können. In ihrem Magen flatterten Schmetterlinge in Faustgröße herum.

Sie hatte keine Angst davor, daß er wieder die Macht benützen werde. Sie hatte Saidar fahren lassen, sobald Egwene aufgestanden war, um zu gehen. Sie wollte ihm einfach vertrauen und sie mußte ja wohl auch. Ihre innere Erregung rührte von dem her, was sie sich von ihm wünschte. Sie mußte sich beherrschen, um nicht ständig an ihrer Halskette oder den Saphiren in ihrem Haar herumzufummeln. War ihr Parfum zu auffallend? Nein. Egwene hatte gesagt, daß er Rosenduft mochte. Das Kleid? Sie hätte es am liebsten höhergezogen, doch...

Er drehte sich um und hinkte wieder ein klein wenig, was sie dazu brachte, nachdenklich die Lippen zu schürzen.

Dann sah er sie auf dem Stuhl sitzen und fuhr zusammen. Er riß die Augen auf, als stünde er kurz vor einer Panik. Sie aber war sehr erleichtert darüber, denn als sein Blick sie berührt hatte, mußte sie sich selbst gewaltig zusammennehmen, um ruhig und würdevoll zu erscheinen. Seine Augen waren nun blau wie ein verhangener Morgenhimmel.

Er fing sich nach einem Augenblick wieder und verbeugte sich höchst überflüssigerweise. Dabei wischte er sich nervös die Hände an der Jacke ab. »Ich hatte nicht bemerkt, daß du noch... « Er errötete und hörte mit Sprechen auf. Ihm war klar geworden, daß sie es als Beleidigung auffassen könnte, wenn er ihre Anwesenheit übersehen hatte. »Ich meine... ich habe nicht... das heißt, ich... « Er atmete tief durch und begann von neuem: »Ich bin kein solch schlimmer Narr, wie es jetzt aussieht, Lady Elayne. Aber es passiert ja auch nicht jeden Tag, daß einem eine Frau erklärt, sie liebe mich nicht, Lady Elayne.« Sie machte eine übertrieben ernste Miene. »Wenn Ihr mich jemals wieder so anredet, dann werde ich Euch künftig als Lord Drache bezeichnen. Und knicksen. Selbst die Königin von Andor würde einen Knicks vor Euch machen, und ich bin nur die Tochter-Erbin.« »Licht! Bloß das nicht!« Er schien die Drohung übermäßig ernst zu nehmen.

»Das mache ich doch auch nicht im Ernst, Rand«, sagte sie in ruhigerem Ton. »Aber nur, wenn du mich mit meinem Namen anredest. Elayne. Sag es, ja?« »Elayne.« Er sagte das ein wenig linkisch, doch schien er es auch zu genießen, diesen Namen auszusprechen.

»Gut.« Es war idiotisch, daß sie sich so freute, da er schließlich nichts anderes getan hatte, als ihren Namen auszusprechen. Aber es gab da etwas, das sie wissen mußte, bevor sie weitermachen konnte. »Hat es dir sehr weh getan?« Es wurde ihr klar, daß er ihre Worte auf zweierlei Art auslegen könne. »Ich meine, was Egwene dir gesagt hat.« »Nein. Ja. Ein bißchen. Ich weiß nicht. Schließlich war es nur anständig.« Er grinste leicht, und sein Mißtrauen wich ein wenig. »Ich höre mich schon wieder wie ein Narr an, oder?« »Nein. Für mich nicht.« »Ich habe ihr die reine Wahrheit gesagt, aber sie hat mir wohl nicht geglaubt. Ich denke, ich habe es von ihr auch nicht glauben wollen. Nicht wirklich. Und wenn das nicht dumm ist, dann weiß ich auch nicht mehr.« »Wenn du mir noch einmal sagst, du seist ein Narr, dann werde ich anfangen, es zu glauben.« Er wird nicht versuchen, sie irgendwie festzuhalten; darüber muß ich mir also keine Gedanken machen. Ihre Stimme klang ruhig, doch ihr Tonfall sagte ihm, daß sie nicht ganz ernst meinte, was sie ihm erklärte: »Ich habe einmal den Hofnarren eines Lords aus Cairhien gesehen. Er trug einen lustigen, gestreiften Mantel, der ihm viel zu groß war und auf den er Glöckchen genäht hatte. Du würdest reichlich blöd aussehen mit Glöckchen!« »Das glaube ich auch«, sagte er reumütig. »Lektion akzeptiert.« Diesmal war sein Grinsen breiter und erfaßte sein ganzes Gesicht.

Die Schmetterlinge in ihrem Bauch drängten zur Eile, doch sie beschäftigte sich erst einmal damit, ihren Rock glattzustreichen. Sie mußte langsam und vorsichtig vorgehen. Wenn nicht, glaubt er sicher, daß ich nur eine dumme Göre bin. Und er hat auch noch recht damit. Jetzt flatterten bereits ganze Schwärme von Schmetterlingen durch ihren Bauch.

»Möchtest du eine Blume haben?« fragte er plötzlich, und sie zwinkerte verwirrt.

»Eine Blume?« »Ja.« Er schritt zum Bett, hob eine Handvoll Federn von dem zerfetzten Oberbett auf und hielt sie ihr hin. »Ich habe gestern abend eine für die Majhere gemacht. Man hätte denken können, ich habe ihr den ganzen Stein geschenkt. Aber deine wird viel hübscher«, fügte er eilends hinzu. »Viel hübscher, das verspreche ich.« »Rand, ich... « »Ich bin schon vorsichtig. Ich brauche nur ganz wenig von der Macht dazu. Nur einen dünnen Faden, und ich werde wirklich vorsichtig sein.« Vertrauen. Sie mußte ihm vertrauen. Es kam aber doch als kleine Überraschung, als sie feststellte, daß sie ihm tatsächlich vertraute. »Das wäre schön, Rand.« Eine Weile blickte er das flauschige Häufchen in seiner Hand an und runzelte langsam die Stirn. Mit einemmal ließ er dann die Federn fallen und klopfte sich die Hände ab. »Blumen«, sagte er, »sind kein würdiges Geschenk für dich.« Sie hatte Mitleid mit ihm; ganz offensichtlich hatte er Saidin berühren wollen und nichts erreicht. Er verbarg seine Enttäuschung damit, daß er schnell zu dem metallischen Tuch hinüberhinkte und es sich über den Arm legte. »Aber das hier ist ein würdiges Geschenk für die Tochter-Erbin Andors. Du könntest es von einer Schneiderin... « Offensichtlich fiel ihm nicht ein, was eine Schneiderin aus einem vier Schritt langen und kaum zwei Fuß breiten Stück Gold-und-Silber-Tuches machen könne.

»Ich bin sicher, daß einer Schneiderin eine Menge dazu einfällt«, sagte sie ihm diplomatisch. Dann zog sie ein Taschentuch aus dem Ärmel und kniete einen Moment nieder, um die fallengelassenen Federn darin aufzusammeln.

»Die Zimmermädchen werden das doch besorgen«, sagte er, als sie das kleine Bündel in ihrer Gürteltasche verstaute.

»So, das wäre erledigt.« Wie könnte er auch verstehen, daß sie die Federn nur aufheben wollte, weil er die Absicht gehabt hatte, ihr daraus eine Blume zu machen? Er trat von einem Fuß auf den anderen und hielt den glitzernden Stoff auf dem Arm, als wisse er nicht, was er damit anfangen solle. »Die Majhere muß bestimmt Schneiderinnen haben«, sagte sie zu ihm. »Ich gebe das einer von ihnen.« Seine Miene erhellte sich, und er lächelte. Sie hatte keinen Grund, ihm zu sagen, daß sie es verschenken wollte. Dieser Sturmwind von Schmetterlingen ließ sie nicht mehr ruhen. Es mußte nun sein. »Rand... magst du mich?« »Dich mögen?« Er runzelte die Stirn. »Natürlich mag ich dich. Ich mag dich sehr.« Mußte er dreinblicken, als habe er keine Ahnung, was sie meinte? »Ich hab' dich gern, Rand.« Sie war selbst überrascht, daß sie das so ruhig herausbrachte. Ihr Magen schien sich dabei ihrer Kehle zu nähern, während ihre Hände und Füße eiskalt waren. »Mehr als gern.« Das reichte. Sie würde sich nicht zum Narren machen. Er muß zuerst mehr daraus machen als nur ›mögen‹. Beinahe hätte sie hysterisch gekichert. Ich werde mich beherrschen. Er wird nicht erleben, daß ich mich wie ein Bauernmädchen benehme, das ihm schöne Augen macht. Garantiert nicht.

»Ich hab' dich auch gern«, sagte er bedächtig.

»Gewöhnlich falle ich ja nicht so mit der Tür ins Haus.« Nein, das erinnerte ihn nun vielleicht an Berelain. Seine Wangen hatten sich bereits gerötet. Er dachte bestimmt an Berelain! Seng ihn! Ihre Stimme klang glatt wie Seide: »Bald muß ich gehen, Rand. Tear verlassen. Vielleicht werden wir uns monatelang nicht mehr sehen.« Oder niemals mehr, sagte ein dünnes Stimmchen in ihrem Hinterkopf. Sie weigerte sich, darauf zu hören. »Ich konnte nicht weg, ohne dich wissen zu lassen, was ich dir gegenüber empfinde. Und ich... hab' dich sehr, sehr gern.« »Elayne, ich habe dich wirklich auch sehr gern. Ich fühle... ich möchte... « Die hochroten Flecken auf seinen Wangen breiteten sich weiter aus. »Elayne, ich weiß nicht, was ich sagen soll, wie ich... « Plötzlich brannte ihr ganzes Gesicht. Er mußte ja glauben, sie wolle ihn dazu drängen, mehr zu sagen. Stimmt das denn nicht? spottete das kleine Stimmchen, und ihre Wangen wurden noch heißer. »Rand, ich will dich nicht...« Licht! Wie konnte sie das nur ausdrücken? »Ich wollte nur, daß du weißt, was ich empfinde. Das ist alles.« Berelain hätte es nicht dabei bewenden lassen. Berelain hätte sich jetzt wohl um ihn herumgewickelt. Sie sagte sich, daß sie sich nicht von dieser halbnackten Schlampe ausstechen lassen könne. Also trat sie näher an ihn heran, nahm ihm das glitzernde Tuch vom Arm und ließ es zu Boden fallen. Aus irgendeinem Grund kam er ihr größer vor als jemals. »Rand... Rand, ich möchte, daß du mich küßt.« So. Das war draußen.

»Dich küssen?« sagte er, als habe er niemals zuvor vom Küssen gehört. »Elayne, ich will dir nicht mehr versprechen, als ich... Ich meine, es ist nicht, als wären wir verlobt. Nicht, daß ich vorschlagen will, wir sollten uns verloben. Es ist nur... Ich mag dich schrecklich gern, Elayne. Mehr als gern. Ich will nur nicht, daß du glaubst, ich... « Nun mußte sie doch lachen über seine verwirrte Ernsthaftigkeit. »Ich weiß ja nicht, wie das an den Zwei Flüssen ist, aber in Caemlyn wartet man nicht erst auf die Verlobung, bevor man ein Mädchen küßt. Und es bedeutet auch nicht, daß man sich nun verloben müßte. Aber vielleicht weißt du nicht, wie... « Seine Arme legten sich beinahe fordernd um sie, und seine Lippen drückten sich auf ihre. In ihrem Kopf wirbelte alles herum, während sich ihre Zehen in den Pantoffeln krümmten. Einige Zeit später — sie wußte nicht, wie lange — wurde ihr bewußt, daß sie sich an ihn schmiegte, an ihm festhielt, weil ihre Knie zitterten und sie nach Luft rang.

»Entschuldige, daß ich dich unterbrochen habe«, sagte er. Sie war froh, daß auch in seiner Stimme ein wenig Atemlosigkeit mitschwang. »Ich bin nur ein rückständiger Schafhirte von den Zwei Flüssen.« »Du bist grob«, murmelte sie zu seinem Hemd hin, »und du hast dich heute morgen nicht rasiert, aber als rückständig würde ich dich nicht gerade bezeichnen.« »Elayne, ich... « Sie legte eine Hand über seinen Mund. »Ich will nichts von dir hören, was du nicht aus ganzem Herzen so meinst«, sagte sie entschlossen. »Nicht jetzt und auch in Zukunft nicht.« Er nickte, allerdings nicht so, als verstünde er den wahren Grund, sondern eher, als wisse er, daß sie auch meinte, was sie sagte. Sie strich sich durchs Haar, aber die Kette mit Saphiren war hoffnungslos verwickelt. Ohne Spiegel konnte sie sie unmöglich wieder richten. Zögernd entwand sie sich seinen Armen. Es wäre nur zu leicht, dort zu verweilen, und dabei war sie schon viel forscher gewesen, als sie jemals von sich selbst erwartet hatte. So mit ihm zu sprechen und sogar um einen Kuß zu bitten! Ihn aufzufordern! Sie war doch nicht Berelain.

Berelain. Vielleicht hatte Min etwas vorausgesehen. Was Min sah, geschah, aber sie würde ihn nicht mit Berelain teilen! Vielleicht mußte sie noch ein wenig deutlicher werden. Oder doch wenigstens annähernd deutlich. »Ich schätze, es wird dir nicht an weiblicher Gesellschaft fehlen, wenn ich weg bin. Denke nur daran, daß einige Frauen die Männer mit ihrem Herz anblicken, während andere nicht mehr in ihnen sehen als eine Art von Schmuckstück, kaum anders als eine Halskette oder einen Armreif. Denke auch daran, daß ich zurückkomme, und ich bin diejenige, die mit dem Herzen sieht!« Zuerst blickte er verwirrt drein und dann ein wenig erschrocken. Sie hatte zuviel und zu schnell gesagt. Nun mußte sie ihn ablenken. »Weißt du, was du mir nicht gesagt hast? Du hast nicht versucht, mich abzuschrecken, indem du erklärt hättest, wie gefährlich du seist. Versuch es jetzt bitte auch nicht mehr. Es ist zu spät.« »Ich habe gar nicht daran gedacht.« Nun kam ihm aber ein anderer Gedanke, und sein Blick wurde plötzlich mißtrauisch. »Hast du das alles mit Egwene abgesprochen?« Sie brachte es fertig, gleichzeitig mit großen Unschuldsaugen dreinzublicken und doch leicht erzürnt zu wirken. »Wie kannst du so etwas nur glauben? Denkst du, wir reichen dich wie ein Paket von der einen zur anderen weiter? Du denkst entschieden zuviel an dich selbst. Man kann auch übertrieben stolz sein.« Jetzt blickte er wieder verwirrt drein. Das war durchaus zufriedenstellend. »Tut es dir leid, was du mit uns gemacht hast, Rand?« »Ich wollte euch nicht erschrecken«, sagte er zögernd. »Egwene hat mich aufgeregt. Das schafft sie immer mühelos. Ich weiß, eine Entschuldigung ist das nicht. Ich sagte ja, daß es mir leid tut, und das stimmt. Und schau mal, was es mir eingebracht hat: versengte Tische und noch ein kaputtes Oberbett.« »Und was das... Zwicken betrifft?« Er wurde wieder rot, sah ihr aber trotzdem gerade in die Augen. »Nein. Nein, das tut mir nicht leid. Ihr zwei habt einfach über meinen Kopf hinweg geredet, als sei ich ein Scheit Holz ohne Ohren. Ihr hattet das verdient, ihr beiden, und dazu stehe ich.« Einen Augenblick lang sah sie ihn forschend an. Er rieb sich durch die Jackenärmel hindurch die Unterarme, als sie ganz kurz nach Saidar griff. Sie hatte eigentlich keine Ahnung, wie man mit Hilfe der Macht Wunden heilte, aber sie hatte wenigstens gelegentlich ein paar Bruchstücke mitbekommen. So lenkte sie einen dünnen Strom der Macht und nahm ihm den Schmerz, den sie ihm aus Rache für das Kneifen zugefügt hatten. Er riß überrascht die Augen auf und lief vorsichtig ein paar Schritte, um festzustellen, ob die Abwesenheit des Schmerzes keine Täuschung sei. »Als Dank für die Ehrlichkeit«, sagte sie schlicht.

Es klopfte an die Tür und Gaul steckte den Kopf herein. Zuerst hatte der Aielmann die Augen gesenkt, aber nach einem schnellen Blick in ihre Richtung hob er den Kopf. Elayne wurde knallrot, als ihr klar wurde, was er wohl vermutet hatte: daß er sie nämlich in einer verfänglichen Situation überrascht habe. Beinahe hätte sie noch einmal Saidar ergriffen und ihm eine Lektion erteilt.

»Die Tairener sind da«, sagte Gaul. »Die Hochlords, die Ihr erwartet hattet.« »Dann gehe ich jetzt«, sagte sie zu Rand. »Du mußt mit ihnen über — was war es gleich? — Steuern sprechen, ja? Denke an das, was ich dir gesagt habe.« Sie sagte nicht: ›Denk an mich‹, aber sie war sicher, daß die Wirkung die gleiche sein würde.

Er streckte die Arme aus, als wolle er sie aufhalten, doch sie entschlüpfte ihm. Sie hatte nicht vor, Gaul ein Schauspiel zu liefern. Der Mann war ein Aiel, aber was mußte er von ihr denken, wenn sie um diese Zeit am Morgen nach Parfum duftete und Saphirschmuck trug? Es kostete sie wirklich Mühe, ihr Kleid nicht doch hochzuziehen, um mehr zu verbergen.

Die Hochlords traten ein, als sie die Tür erreichte — eine buntgemischte Gruppe ergrauter Männer mit Spitzbärten in farbenfrohen, kunstvoll bestickten Mänteln mit Puffärmeln. Unter zögernden Verbeugungen wichen sie ihr aus, und ihr höfliches Gemurmel konnte kaum die Erleichterung darüber verbergen, daß sie im Gehen begriffen war.

Sie sah sich von der Tür aus noch einmal um. Ein hochgewachsener, breitschultriger junger Mann in einer einfachen grünen Jacke inmitten der Hochlords mit all ihrer Seide und den Satinstreifen: So wirkte Rand wie ein Storch unter Pfauen, und doch war da etwas an ihm, eine Ausstrahlung, die bewies, daß er zu Recht hier der war, der die Befehle erteilte. Die Tairener erkannten das auch und neigten zögernd ihre steifen Hälse. Er dachte vielleicht, sie beugten sich ihm nur, weil er der Wiedergeborene Drache war, und möglicherweise glaubten sie das selbst. Aber sie hatte Männer erlebt wie Gareth Bryne, den Kommandeur der Leibgarde ihrer Mutter, die auch in Lumpen noch einen Raum beherrscht hätten, ohne Titel und ohne Namen. Rand war das sicher nicht klar, doch er war ein solcher Mann. Er war es noch nicht gewesen, als sie ihn zum erstenmal gesehen hatte, doch mittlerweile war ein solcher Mann aus ihm geworden. Sie zog die Tür hinter sich zu.

Die Aiel um sie herum blickten sie neugierig an und der Hauptmann, der den Ring der Verteidiger in der Mitte des Vorraums kommandierte, starrte nervös herüber, doch sie bemerkte sie alle kaum. Es war vollbracht. Oder zumindest war ein Anfang gemacht. Vier Tage hatte sie noch, bevor Joiya und Amico auf das Schiff gebracht werden sollten, vier Tage also, um sich so in Rands Gedanken festzusetzen, daß darin kein Raum mehr für Berelain blieb. Und wenn sie das nicht erreichte, dann zumindest wollte sie in seinen Gedanken bleiben, bis sie mehr unternehmen konnte. Sie hatte nie geglaubt, daß sie so etwas fertigbringen würde —einen Mann zu jagen wie eine Jägerin den wilden Keiler. Die Schmetterlinge trieben sich immer noch in ihrem Magen herum. Aber wenigstens hatte sie sich ihm gegenüber nicht anmerken lassen, wie nervös sie tatsächlich gewesen war. Nun fiel ihr auch auf, daß sie kein einziges Mal daran gedacht hatte, was wohl ihre Mutter dazu sagen würde. Jetzt beruhigte sich ihr Magen endlich. Es war ihr gleich, was Mutter sagen würde. Morgase mußte ihre Tochter als Frau akzeptieren, und das war alles.

Die Aiel verbeugten sich, als sie davonschritt, und sie nahm es mit einem graziösen Nicken entgegen, das Morgase alle Ehre gemacht hätte. Selbst der tairenische Hauptmann sah sie an, als habe er ihre neugewonnene Würde bemerkt. Sie glaubte nicht, daß ihr noch einmal diese Schmetterlinge im Magen Schwierigkeiten bereiten würden. Vielleicht, was die Schwarzen Ajah betraf, aber nicht Rands wegen.

Rand ignorierte zunächst die nervös im Halbkreis herumstehenden Hochlords und blickte die Tür mit staunenden Augen an, die sich hinter Elayne schloß. Träume, die wahr wurden, auch wenn es keine großen Dinge im Leben waren, machten ihn unruhig. Von dieser Schwimmerei im Wasserwald zu träumen war ja gut und schön, aber er hatte sich niemals erträumt, daß sie ihn wirklich so gern haben könnte. Sie war immer so kühl und beherrscht gewesen, während er ständig über die eigenen Füße stolperte. Und dann Egwene, die ihm seine eigenen Gedanken gewahr werden ließ und nur darum besorgt war, ihm nicht allzusehr weh zu tun. Wieso konnten Frauen bei der kleinsten Sache völlig aufgelöst sein oder aber einen Wutausbruch haben, wenn sie nicht einmal mit der Wimper zuckten bei anderen Sachen, die einen Mann total umwarfen?

»Lord Drache?« murmelte Sunamon noch unterwürfiger als sonst. Gerüchte über die Ereignisse dieses Morgens mußten wohl längst im ganzen Stein herum sein. Die erste Gruppe war ja fast im Laufschritt hinausgerannt, und es war zweifelhaft, ob Torean noch einmal sein Gesicht in Rands Gegenwart zeigen und seine schmutzigen Vorschläge unterbreiten würde.

Sunamon bemühte sich um ein dankbares Lächeln, aber als Rand ihn direkt anblickte, verlor sich das sofort wieder, und er rang statt dessen ängstlich die Hände. Die anderen taten so, als bemerkten sie die versengten Tische, das zerrissene Oberbett, die verstreuten Bücher und die halbgeschmolzenen, formlosen Klumpen auf dem Kaminsims, die einmal Wölfe und Hirsch dargestellt hatten, überhaupt nicht. Die Hochlords hatten Erfahrung darin, nur zu sehen, was sie sehen wollten. Carleon und Tedosian, deren Haltung trotz ihrer Fettleibigkeit falsche Bescheidenheit ausdrücken sollte, war wohl selbst bewußt, daß es auch verdächtig war, wenn sie die ganze Zeit über stur aneinander vorbeischauten. Andererseits hätte Rand solche Kleinigkeiten vielleicht gar nicht bemerkt, wenn er nicht Thoms Zeilen gelesen hätte, die er nach dem Ausbürsten seiner Jacke in einer Tasche gefunden hatte. »Der Lord Drache wünschte, uns zu sehen?« brachte Sunamon heraus.

Konnten Egwene und Elayne das miteinander abgesprochen haben? Nein, natürlich nicht. Frauen taten so etwas genausowenig wie Männer. Oder doch? Es mußte ein Zufall gewesen sein. Elayne hörte, daß er frei sei, und hatte sich entschlossen, mit ihm darüber zu sprechen. Das war es. »Steuern!« fauchte er. Die Tairener rührten sich nicht und machten trotzdem den Eindruck, als träten sie einen Schritt zurück. Wie er es haßte, sich mit diesen Männern abgeben zu müssen. Er wollte sich viel lieber wieder in seinen Büchern vergraben.

»Es gibt ein schlechtes Beispiel, Lord Drache, wenn man die Steuern senkt«, sagte ein hagerer grauhaariger Mann mit öliger Stimme. Meilan war für einen Tairener ziemlich groß, nur eine Handbreit kleiner als Rand, und wirkte so hart wie einer der Verteidiger. In Rands Gegenwart lief er meistens leicht gebückt einher, und an seinen dunklen Augen konnte man ablesen, wie sehr er das haßte. Aber es hatte ihm auch nicht gepaßt, als Rand ihnen erklärt hatte, sie sollten nicht immer so um ihn herumkriechen. Kein einziger, der sich danach endlich aufgerichtet hätte. Gerade Meilan war es unangenehm gewesen, daran erinnert zu werden, wie er sich benahm. »Die Bauern haben immer mit Leichtigkeit zahlen können, aber wenn wir nun ihre Steuern senken und der Tag kommt, da wir sie wieder auf das jetzige Maß erhöhen, werden sich die Narren genauso bitter darüber beklagen, als hätten wir sie jetzt verdoppelt. Wenn der Tag kommt, könnte es sogar zu bewaffneten Unruhen kommen, Lord Drache.« Rand schritt durch den Raum und stellte sich vor Callandor. Das Kristallschwert funkelte stärker als alles Blattgold und alle Edelsteine, mit denen sein Ständer verziert war. Es war ein Symbol dessen, was er darstellte, und der Macht, die er zur Verfügung hatte. Egwene. Es war wirklich närrisch, beleidigt zu sein, weil sie ihm gesagt hatte, daß sie ihn nicht mehr liebe. Wieso sollte sie ihm gegenüber Gefühle hegen, die er ihr gegenüber nicht empfand? Und doch schmerzte es. Es war eine Erleichterung, aber keine angenehme. »Es wird auch Unruhen geben, wenn Ihr Menschen durch Armut und Ruin von ihren Höfen vertreibt.« Drei Bücher lagen sauber aufgeschichtet neben Meilans Füßen: Schätze des Steins von Tear, Reisen in der Aiel-Wüste und Die Politik Tears bezüglich des Territoriums von Mayene. Die Schlüssel mußten darin verborgen sein und in den verschiedenen Übersetzungen des Karaethon-Zyklus. Wenn er sie nur finden und in die entsprechenden Schlösser stecken könnte. Er zwang sich wieder zur Aufmerksamkeit den Hochlords gegenüber. »Glaubt Ihr, sie sehen zu, wie ihre Familien verhungern, und unternehmen nichts?« »Die Verteidiger des Steins haben schon früher Unruhen niedergeschlagen, Lord Drache«, sagte Sunamon beruhigend. »Unsere eigenen Garden könne auf dem Land für Ruhe sorgen. Die Bauern werden Euch nicht belästigen, das versichere ich Euch.« »Es gibt sowieso schon zu viele Bauern.« Carleon zuckte unter Rands zornigem Blick zusammen. »Schuld ist der Bürgerkrieg in Cairhien, Lord Drache«, erklärte er schnell. »Die Leute aus Cairhien können kein Getreide kaufen, und die Silos quellen über. So, wie die Dinge liegen, bleibt die diesjährige Ernte liegen. Und nächstes Jahr... ? Seng meine Seele, Lord Drache, aber was wir brauchen, ist etwas, um wenigstens einige dieser Bauern von ihrem ewigen Graben und Pflanzen abzubringen.« Er schien zu begreifen, daß er zu weit gegangen war, obwohl er offensichtlich den Grund nicht verstand. Rand fragte sich, ob er eine Ahnung davon hatte, wie die Speisen auf seinen Tisch gelangten. Sah er außer Gold und Macht überhaupt noch etwas?

»Was werdet Ihr machen, wenn Cairhien wieder Getreide kauft?« fragte Rand kühl. »Und außerdem, ist Cairhien vielleicht das einzige Land, das Getreide benötigt?« Warum hatte Elayne sich ihm gegenüber nur so erklärt? Was erwartete sie von ihm? Von gern haben hatte sie gesprochen. Frauen wie Aes Sedai spielten mit Worten wie diesen. Meinte sie damit, daß sie ihn liebte? Nein, das war denn doch zuviel verlangt. Er überschätzte sich tatsächlich manchmal ein wenig.

»Lord Drache«, sagte Meilan halb unterwürfig und halb belehrend wie zu einem Kind, »wenn der Bürgerkrieg heute zu Ende wäre, könnte Cairhien immer noch in den nächsten zwei, drei Jahren nicht mehr als ein paar Schiffsladungen Getreide kaufen. Wir haben unser Getreide immer nach Cairhien verkauft.« Immer — also zwanzig Jahre lang, seit dem Aielkrieg. Sie waren so in das verstrickt, was sie angeblich immer getan hatten, daß sie den Wald vor Bäumen nicht mehr sahen. Oder nicht sehen wollten. Wenn die Kohlköpfe wie Unkraut auf den Feldern um Emondsfeld herum wucherten, war es beinahe sicher, daß Überschwemmungen oder die Wurmplage Devenritt oder Wachhügel betroffen hatten. Wenn in Wachhügel zu viele Zwiebeln angebaut worden waren, herrschte in Emondsfeld oder in Devenritt bestimmt gerade eine Knappheit.

»Bietet es in Illian zum Verkauf an«, sagte er ihnen. Was erwartete Elayne von ihm? »Oder in Altara.« Er hatte sie gern, aber Min hatte er genauso gern. Er glaubte es zumindest. Es war unmöglich, seine eigenen Gefühle beiden gegenüber auseinanderzuhalten. »Ihr habt genug Seeschiffe und Flußkähne und Leichter, und wenn sie nicht reichen, dann besorgt eben noch mehr aus Mayene.« Er hatte beide Frauen gern, aber darüber hinaus... Er hatte beinahe sein ganzes bisheriges Leben damit verbracht, Egwene anzuhimmeln. Auf so etwas würde er sich nicht mehr einlassen, bis er seiner selbst sicher war. Irgendwie sicher. Sicher. Wenn man den Ausführungen in Die Politik

Tears bezüglich des Territoriums von Mayene Glauben schenkte... Hör auf damit, sagte er sich. Konzentriere dich auf diese Wiesel, oder sie finden Lücken, um hindurchzuschlüpfen und dich auch noch zu beißen. »Zahlt mit Getreide. Ich bin sicher, bei einem guten Preis spielt die Erste da mit. Und dazu vielleicht noch ein unterzeichnetes Dokument, irgendein Übereinkommen... « Das war eine gute Bezeichnung. So etwas benützten sie oft. »... in dem wir erklären, daß wir als Gegenleistung für die Schiffe Mayene in Ruhe lassen.« Das war er ihr schuldig.

»Wir treiben kaum Handel mit Illian, Lord Drache. Das sind Geier und wertloses Pack.« Tedosian hörte sich empört an, genau wie Meilan, als er sagte: »Wir haben mit Mayene immer von der Position des Stärkeren aus gehandelt, Lord Drache. Niemals mit gebeugtem Knie.« Rand atmete tief durch. Die Haltung der Hochlords wurde sichtlich verkrampfter. Es kam jedesmal so. Er versuchte immer, ihnen Vernunft einzubleuen, und hatte niemals Erfolg damit. Thom sagte, die Hochlords seien Sturköpfe, so hart wie der Stein selbst, und damit hatte er recht. Was empfinde ich für sie? Ich träume von ihr. Sie ist wirklich hübsch. Er war sich nicht einmal sicher, ob er nun Elayne meinte oder Min. Hör endlich auf damit! Ein Kuß ist nicht mehr als ein Kuß. Schluß jetzt! Er verdrängte alle Frauen aus seinem Kopf und machte sich daran, diesen lichtverdammten Sturköpfen beizubringen, was sie zu tun hatten. »Zuerst werdet Ihr die Steuern der Bauern um drei Viertel senken und für jeden anderen um die Hälfte. Keine Widerrede! Führt lediglich meinen Befehl aus. Zweitens geht Ihr zu Berelain und fragt sie — fragen, wohlbemerkt! —was sie verlangt... « Die Hochlords hörten mit künstlich aufgesetztem Lächeln und knirschenden Zähnen zu, aber immerhin, sie hörten zu.

Egwene dachte gerade an Joiya und Amico, als Mat plötzlich auftauchte und neben ihr durch den Flur spazierte, als habe er nur zufällig den gleichen Weg wie sie. Er stierte ein wenig finster vor sich hin, und sein Haar mußte gekämmt werden. Es sah aus, als sei er mit seinen Fingern hindurchgefahren. Ein- oder zweimal sah er sie von der Seite her an, sagte aber nichts. Die Diener, an denen sie vorbeikamen, verbeugten sich oder knicksten, und die wenigen Hochlords und Ladies, die sie gelegentlich antrafen, taten dasselbe, wenn auch mit erheblich weniger Begeisterung. Mats verächtliche Blicke hätten ihm wohl Schwierigkeiten mit diesen Adligen eingebracht, wäre sie nicht dabeigewesen, ob er nun ein Freund des Lord Drachen war oder nicht.

Dieses Schweigen war vollkommen ungewohnt; so war Mat sonst nicht. Von seiner teuren roten Jacke, die allerdings auch verknittert war, als habe er darin geschlafen, abgesehen, schien er sich nicht vom alten Mat zu unterscheiden. Aber sie hatten sich alle verändert. Sein Schweigen war nervtötend. »Machst du dir Gedanken wegen letzter Nacht?« fragte sie schließlich.

Er geriet ins Stolpern. »Davon weißt du? Na ja, kein Wunder. Stört mich nicht. War nicht so toll. Vorbei und erledigt.« Sie gab vor, ihm zu glauben. »Nynaeve und ich sehen nicht viel von dir.« Das war die reinste Untertreibung. »Ich war beschäftigt«, sagte er mit nervösem Achselzucken. Er blickte überallhin, nur nicht auf sie. »Würfeln?« fragte sie ganz nebensächlich.

»Karten.« Eine mollige Zofe, die mit einer Armladung zusammengelegter Handtücher vor ihr knickste, sah sie kurz an, glaubte offensichtlich, daß sie nicht hersah, und blinzelte Mat zu. Er grinste sie an. »Ich bin mit Kartenspielen beschäftigt gewesen.« Egwene zog die Augenbrauen hoch. Die Frau mußte mindestens zehn Jahre älter als Nynaeve sein. »So, so. Es muß dich ja sehr viel Zeit kosten, das Kartenspielen. Zuviel, um ein paar Augenblicke für alte Freunde aufzubringen.« »Als ich das letzte Mal Zeit für euch hatte, hast du mich gemeinsam mit Nynaeve mit Hilfe der Macht verschnürt und verpackt wie ein Schwein für den Markt, damit ihr ungestört mein Zimmer durchwühlen konntet. Freunde beklauen doch ihre Freunde nicht.« Er verzog das Gesicht. »Außerdem ist immer Elayne bei euch und trägt die Nase in der Luft. Oder Moiraine ist dabei. Ich mag sie nicht... « Er räusperte sich und sah sie von der Seite her an. »Ich will aber deine Zeit nicht verschwenden. Was man so hört, bist du auch ziemlich beschäftigt. Schattenfreunde verhören. Alle möglichen wichtigen Dinge erledigen, schätze ich. Du weißt doch, daß diese Tairener euch für Aes Sedai halten, oder?« Sie schüttelte bedauernd den Kopf. Er konnte Aes Sedai nicht leiden. Wieviel von der Welt Mat auch zu sehen bekam, er änderte sich doch nicht. »Es ist doch kein Klauen, wenn man sich etwas zurückholt, was man nur verliehen hatte«, sagte sie zu ihm.

»Ich kann mich nicht daran erinnern, daß du etwas von Ausleihen gesagt hast. Ach, was kann ich schon mit einem Brief von der Amyrlin anfangen? Würde mich höchstens in Schwierigkeiten bringen. Aber ihr hättet mich wenigstens fragen können.« Sie sah davon ab, ihm anzudeuten, daß sie tatsächlich gefragt hatten. Sie wünschte weder einen Streit noch einen schmollenden Mat. Natürlich fand er immer Ausreden für alles. Diesmal würde sie es bei seiner Version bewenden lassen. »Nun, ich bin jedenfalls froh, daß du wenigstens noch mit mir sprichst. Gibt es heute einen besonderen Grund?« Er strich sich mit den Fingern durchs Haar und knurrte etwas in sich hinein. Was er nötig hatte, war seine Mutter, die ihn beim Ohr packte und fortschleifte, um lange und eingehend mit ihm zu sprechen. Egwene zwang sich zur Geduld. Sie konnte ja geduldig sein, wenn sie wollte. Sie würde kein Wort sagen, bevor er mit dem Grund herausrückte, und wenn sie vor Neugier platzte.

Der Flur war zu Ende und führte auf eine Terrasse aus weißem Marmor mit einer Steinbrüstung und Säulen rundherum, von der aus man auf einen der wenigen Gärten im Stein hinunterblickte. Große weiße Blüten bedeckten ein paar kleine Bäume mit fleischigen Blättern und verströmten einen Duft, noch süßer als die Rabatten mit roten und gelben Rosen. Eine leichte Brise schaffte es nicht einmal, die Wandbehänge an der Innenseite der Terrasse zu bewegen, aber wenigstens half sie ein bißchen gegen die feuchte Wärme des Morgens. Mat setzte sich auf die breite Brüstung, lehnte sich gegen eine Säule und stellte einen Fuß hoch. Er blickte in den Garten hinunter und sagte schließlich: »Ich... brauche einen Rat.« Er brauchte einen Rat von ihr? Sie machte große Augen. »Ich tue gern alles, um dir zu helfen«, sagte sie mit schwacher Stimme. Er wandte ihr sein Gesicht zu, und sie gab sich alle Mühe, um etwas von der Gelassenheit der Aes Sedai auszuströmen. »In welcher Hinsicht brauchst du einen Rat?« »Ich weiß es nicht.« Es war ein Fall von etwa zehn Schritt hinunter in den Garten. Außerdem befanden sich dort unten Männer, die zwischen den Rosen Unkraut jäteten. Wenn sie ihm einen Schubs gab, würde er vielleicht auf einem von ihnen landen. Auf einem Gärtner — keinem Rosenbusch. »Wie soll ich dir dann einen Rat geben?« fragte sie mit dünner Stimme.

»Ich versuche... mir klarzuwerden, was ich tun soll.« Er wirkte verschämt, was ihm auch ihrer Meinung nach gut zu Gesicht stand.

»Ich hoffe, du denkst nicht daran, von hier wegzugehen! Du weißt doch, wie wichtig du bist. Du kannst nicht einfach weglaufen, Mat.« »Glaubst du, das wüßte ich nicht? Ich glaube nicht, daß ich fort könnte, selbst wenn Moiraine mir sagte, ich solle gehen. Glaub mir, Egwene, ich werde nirgendwohin gehen. Ich möchte nur wissen, was nun weiter wird.« Er schüttelte heftig den Kopf, und seine Stimme klang gepreßt: »Was kommt als nächstes? Was befindet sich in meinen Gedächtnislücken? Es gibt ganze Teile meines Lebens, die einfach nicht mehr da sind. Sie existieren nicht mehr, als wären sie nie geschehen. Wieso ertappe ich mich dabei, irgendwelches Kauderwelsch von mir zu geben? Die Leute sagen, es sei in der Alten Sprache, aber für mich ist es eben nur Kauderwelsch. Ich will es wissen, Egwene. Ich muß es wissen, bevor ich genauso verrückt werde wie Rand.« »Rand ist nicht verrückt«, sagte sie automatisch. Also versuchte Mat nicht wegzulaufen. Das war eine angenehme Überraschung. Er hatte vorher nicht viel von Verantwortung gehalten. Doch in seiner Stimme lagen Schmerz und Kummer. Mat machte sich niemals Sorgen, oder zumindest ließ er sie sich nicht anmerken. »Ich kenne die Antworten nicht, Mat«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Vielleicht weiß Moiraine... « »Nein!« Er sprang mit einem Satz auf. »Keine Aes Sedai! Ich meine... Du bist etwas anderes. Ich kenne dich, und du bist keine... Haben sie dich in der Burg nicht irgendeinen Trick gelehrt, irgend etwas, das hier helfen könnte?« »O Mat, es tut mir leid. Es tut mir so leid.« Sein Lachen erinnerte sie an ihre Kindheit. Genauso hatte er immer gelacht, wenn seine größten Hoffnungen gerade baden gegangen waren. »Ach, na ja, ich schätze, es spielt keine Rolle. Es würde immer noch von der Burg herrühren, wenn auch aus zweiter Hand. Es ist nicht persönlich gemeint.« Auf die gleiche Art hatte er einen Splitter im Finger oder ein gebrochenes Bein abgetan, als sei es gar nichts.

»Es könnte vielleicht einen Weg geben«, sagte sie bedächtig. »Falls Moiraine sagt, es gehe in Ordnung. Schon möglich.« »Moiraine! Hast du denn nicht gehört, was ich dir eben sagte? Das allerletzte, was ich haben will, ist, daß sich Moiraine wieder einmischt. Was für ein Weg soll das sein?« Mat war immer geradewegs mit allem herausgeplatzt. Doch nun wollte er im Grunde das gleiche wie sie: Wissen. Wenn er nur endlich einmal vernünftig wäre und vorsichtig dazu. Eine adlige Dame, die ihr Haar in dunklen Zöpfen um den Kopf geschlungen trug und über gelbem Leinen die bloßen Schultern zeigte, beugte ein Knie ein wenig, sah sie ausdruckslos an und ging schnell mit steifem Kreuz weiter. Egwene beobachtete sie, bis sie sich außer Hörweite befand und sie wieder allein waren. Die Gärtner, dreißig Fuß unter ihnen, zählten nicht. Mat sah sie erwartungsvoll an.

Schließlich erzählte sie ihm von dem Ter'Angreal, diesem verdrehten Tor, auf dessen anderer Seite Antworten warteten. Sie betonte die Gefahren, die Folgen unbedachter Fragen, was geschah, wenn die Fragen mit dem Schatten zu tun hatten, und schließlich, daß es ja Gefahren geben könne, von denen die Aes Sedai nichts wußten. Sie war mehr als geschmeichelt, daß er mit seiner Frage zu ihr gekommen war, aber er mußte auch etwas Vernunft zeigen. »Du mußt an folgendes denken, Mat: Unbedachte Fragen könnten dich umbringen! Wenn du ihn also benützt, mußt du zur Abwechslung einmal ernst bleiben. Und du darfst keine Fragen stellen, die mit dem Schatten zu tun haben.« Er hatte ihr mit immer ungläubigerer Miene zugehört. Als sie ausgeredet hatte, rief er: »Drei Fragen? Du gehst hinein wie Bili, schätze ich, verbringst eine Nacht drinnen und kommst zehn Jahre später heraus mit einem Beutel, in dem das Gold nie alle wird, und einem... « »Tu mir den Gefallen, Matrim Cauthon«, fauchte sie, »und rede einmal im Leben keinen Quatsch! Du weißt nur zu gut, daß Ter'Angreal keine Märchen sind. Du mußt dir der Gefahren bewußt sein. Vielleicht liegen die Antworten, die du suchst, gerade in diesem Ter'Angreal, aber du darfst es nicht ausprobieren, bevor Moiraine es dir erlaubt. Das mußt du mir versprechen, sonst werde ich dich wie eine Forelle an der Angel zu ihr schleifen. Du weißt, daß ich dazu in der Lage bin.« Er schnaubte vernehmlich. »Ich wäre ein Narr, wenn ich das ausprobierte, gleich, was Moiraine dazu meint. In einen verdammten Ter'Angreal hineinmarschieren? Ich will weniger mit der verfluchten Einen Macht zu tun haben und nicht mehr! Vergiß es!« »Es ist die einzige Möglichkeit, die ich kenne, Mat.« »Nicht für mich; bestimmt nicht«, sagte er entschlossen. »Überhaupt keine Chance zu haben ist allemal besser als das.« Trotz seines Tonfalls hätte sie ihn am liebsten in den Arm genommen. Nur würde er dann wahrscheinlich irgendeinen Witz über sie reißen und versuchen, sie abzuschrecken. Er war eben unbelehrbar seit dem Tag seiner Geburt. Aber er hatte sie immerhin um Hilfe gebeten. »Es tut mir leid, Mat. Was wirst du nun tun?« »Ach, Karten spielen, denke ich. Falls noch irgend jemand mit mir spielt. Oder mit Thom ein Brettspiel spielen. Wenn nicht, gehe ich in ein paar Tavernen zum Würfeln. Ich kann doch wenigstens immer noch in die Stadt gehen.« Sein Blick wanderte hinüber zu einer vorbeischreitenden Dienerin, einem schlanken Mädchen mit dunklen Augen, etwa genauso alt wie er. »Ich finde schon etwas, womit ich mich beschäftigen kann.« Es juckte sie gewaltig, ihm eine Ohrfeige zu versetzen, aber statt dessen sagte sie vorsichtig: »Mat, du denkst doch wirklich nicht daran, uns zu verlassen, oder?« »Würdest du es Moiraine weitersagen, falls es so wäre?« Er hob die Hände, um ihrem Protest zuvorzukommen. »Nein, es ist nicht notwendig. Ich habe dir ja gesagt, daß ich es nicht vorhabe. Ich behaupte ja nicht, daß ich es nicht gern täte, aber ich bleibe. Reicht dir das?« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Egwene, wünschst du dir auch manchmal, wieder zu Hause zu sein? Daß nichts von alledem geschehen wäre?« Das war eine überraschende Frage, da sie von ihm kam, aber sie hatte ihre Antwort parat: »Nein. Trotz allem —nein. Wie steht's mit dir?« »Ich wäre dann doch ein Narr, oder?« lachte er. »Ich mag Städte, und die hier tut's im Moment für mich. Egwene, du erzählst doch Moiraine nichts von unserem Gespräch, oder? Daß ich dich um Rat gefragt habe und so?« »Warum soll ich das nicht?« fragte sie mißtrauisch. Er war schließlich immer noch der alte Mat.

Er zuckte verlegen die Achseln. »Ich habe mehr Abstand von ihr gehalten, als... Was auch immer, ich habe mich von ihr ferngehalten, besonders, weil sie immer in meinem Kopf herumstöbern will. Sie könnte glauben, ich würde schwach. Also, du sagst ihr nichts, ja?« »In Ordnung«, sagte sie. »Aber nur, wenn du mir versprichst, daß du nicht in die Nähe dieses Ter'Angreals kommst, ohne sie um Erlaubnis zu bitten. Ich hätte dir gar nichts davon erzählen dürfen.« »Ich verspreche es.« Er grinste. »Ich nähere mich diesem Ding nur, wenn mein Leben auf dem Spiel steht. Ich schwöre.« Er tat übertrieben ernsthaft.

Egwene schüttelte den Kopf. Wie sehr sich auch alles andere veränderte: Mat änderte sich nie.

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