27 Durch die kurzen Wege

Die Dunkelheit innerhalb der Wege ließ den Lichtschein von Perrins Stablaterne zu einem unbedeutenden kleinen Lichtkreis um ihn selbst und Gaul herum zusammenschrumpfen. Das Knarren seines Sattels, das Knirschen und Klappern der Hufe auf dem Steinboden, alles schien nicht weiter zu dringen als bis zum Rand dieses Lichtkreises. Kein Geruch lag in der Luft; nichts. Der Aielmann hielt leicht bei Trabers Schrittempo mit und spähte ständig nach dem trüben Laternenschein von Loials Gruppe aus, die sich ein Stück voraus befand. Perrin weigerte sich, sie als Failes Gruppe zu bezeichnen. Trotz ihres schlechten Rufs schienen die Wege Gaul überhaupt nicht zu beeindrucken. Perrin konnte nicht anders: Er lauschte andauernd in die Dunkelheit hinein, und das schon zwei Tage lang oder was man hier so Tage nennen konnte. Seine Ohren würden den Laut dessen als erste auffangen, das ihm sagte, sie müßten alle sterben oder es würde ihnen noch Schlimmeres zustoßen. Das Heulen des Windes, wo niemals ein Wind wehte. Kein wirklicher Wind, sondern Machin Shin, der Schwarze Wind, der die Seelen fraß. Immer wieder kam ihm der Gedanke, daß es doch absolut irrsinnig gewesen war, durch die Wege reisen zu wollen, aber andererseits, nun ja, wenn die Notwendigkeit bestand, was wollte man da machen?

Das schwache Licht voraus bewegte sich nicht mehr, und so ließ er Traber anhalten, obwohl sie mitten auf einer uralten Steinbrücke standen, die sich durch vollkommene Schwärze schwang. Wie alt sie war, konnte er an den Rissen in der Brüstung sehen und an dem mit Schlaglöchern übersäten Straßenbelag. Sehr wahrscheinlich hatte sie bereits dreitausend Jahre lang hier gestanden, und nun schien sie dem Einsturz nahe. Vielleicht würde sie gerade jetzt einstürzen?

Das Packpferd drängte sich an Traber heran. Die beiden Tiere wieherten leise und rollten ängstlich mit den Augen. Die Dunkelheit ihrer Umgebung machte sie so unruhig. Perrin wußte genau, wie sich die Pferde fühlten. Noch ein paar Menschen in ihrer Begleitung hätten geholfen, diese Dunkelheit nicht gar so drückend erscheinen zu lassen. Aber er hätte sich um keinen Preis den Laternen vor ihnen genähert, selbst wenn er ganz allein wäre. Da hätte er höchstens riskiert, dasselbe zu erleben wie auf jener ersten Insel, kurze Zeit, nachdem sie die Wege in Tear betreten hatten. Er kratzte sich gereizt in seinem lockigen Bart. Er war sich selbst nicht klar darüber, was er eigentlich erwartet hatte, aber bestimmt nicht...

Die Stablaterne hüpfte auf und ab, als er aus dem Sattel stieg und Traber sowie das Packpferd zum Wegweiser führte, einer hohen, weißen Steinplatte, die mit in Silber eingelegten Schriftzeichen bedeckt war. Die Zeichen erinnerten ein wenig an Ranken und Blätter, aber die gesamte Oberfläche der Platte war mit Löchern übersät, als habe man Säure daraufgegossen. Er konnte die Schrift natürlich nicht lesen. Das mußte Loial tun, denn es war ja Ogier-Schrift. Nach einem Augenblick der Betrachtung schritt er um den Wegweiser herum und sah sich die Insel an. Sie entsprach genau den anderen, die er gesehen hatte: eine weiße Steinbrüstung, die ihm bis an die Rippen reichte, in kunstvollen Schwüngen und Rundungen durchbrochen. In Abständen wurde die Brüstung durch Brücken unterbrochen, die hinaus in die Dunkelheit ragten, und an anderen Stellen mündeten Rampen ohne jedes Geländer ein, die ohne sichtbare Stütze nach oben oder unten führten. Überall zeigten sich Risse, Schlaglöcher, Spalten, so, als verrotte der Stein ganz langsam. Bei jedem Hufschlag der Pferde konnte man hören, wie kleine Steinsplitterchen wegflogen. Gaul spähte ohne sichtbares Zeichen von Nervosität in die Dunkelheit hinaus, aber er wußte ja auch nicht, was dort draußen auf sie warten mochte. Perrin wußte es nur zu gut.

Als Loial und die anderen nachkamen, sprang Faile sofort von ihrer schwarzen Stute und marschierte geradewegs auf Perrin zu. Sie sah ihm dabei eindringlich in die Augen. Er bereute es bereits, ihr Sorgen bereitet zu haben, aber eigentlich wirkte sie gar nicht besorgt. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten, nur entschlossen wirkte er schon.

»Hast du dich endlich entschieden, wieder mit mir zu sprechen, anstatt...?«

Ihre gewaltige Ohrfeige ließ ihn Sterne sehen. »Was hast du dir eingebildet«, fauchte sie ihn an, »hier einfach wie ein wilder Keiler heraufzustürmen? Du kennst keine Rücksicht! Keine!«

Er atmete langsam und tief durch. »Ich habe dir schon einmal gesagt, daß du so etwas nicht tun sollst.« Sie öffnete ihre dunklen, leicht schräg stehenden Augen ein wenig weiter, als habe er etwas Aufreizendes gesagt. Er rieb sich noch die eine Wange, als ihre zweite Ohrfeige auf die andere klatschte und ihm beinahe das Kinn ausrenkte. Die Aiel sahen interessiert zu, während Loials Ohren traurig heruntersackten.

»›Ich habe dir doch gesagt, du sollst das lassen«, grollte er. Ihre Faust war zwar nicht sehr groß, doch der Schlag in seine Magengrube nahm ihm momentan die Luft. Er krümmte sich, und sie hob die Faust schon wieder. Da packte er sie knurrend am Kragen und...

Es war ja ihre eigene Schuld gewesen. Allerdings. Er hatte sie gebeten, nicht zuzuschlagen, hatte es ihr immer wieder gesagt. Ihre eigene Schuld. Er war aber doch überrascht, daß sie keines ihrer Messer gezogen hatte; sie trug beinahe so viele wie Mat mit sich herum.

Natürlich war sie wütend gewesen. Wütend auf Loial, weil er versucht hatte, sich einzumischen — sie konnte ganz gut auf sich selbst aufpassen, danke schön. Wütend auf Bain und Chiad, weil sie sich nicht eingemischt hatten. Es hatte sie getroffen, als die beiden ihr erklärten, sie hätten nicht geglaubt, sie wünsche ihre Hilfe in einem Kampf, den sie selbst begonnen hatte. Wenn du dich entscheidest, zu kämpfen, hatte Bain gesagt, dann mußt du auch die Konsequenzen tragen und mit Würde gewinnen oder verlieren. Aber sie schien auf ihn kein bißchen wütend mehr zu sein! Das machte ihn nervös. Sie sah ihn nur an, und in ihren dunklen Augen glitzerten Tränen. Das ließ ihn sich schuldig fühlen, und das wiederum machte nun zur Abwechslung ihn wütend. Warum sollte er Schuld empfinden? Erwartete sie von ihm, daß er einfach dastand und sich nach Herzenslust schlagen ließ? Sie war wieder auf ihre Stute geklettert, hatte steif und stumm oben gesessen, nicht ein bißchen entspannt, und ihn mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck angeblickt. Das machte ihn sehr nervös. Er wünschte beinahe, sie hätte statt dessen ein Messer gezogen. Beinahe.

»Sie sind wieder in Bewegung«, sagte Gaul.

Perrin riß sich aus der Vergangenheit los und kehrte in die Gegenwart zurück. Die andere Laterne bewegte sich tatsächlich wieder. Jetzt hielt sie inne. Einer von ihnen hatte wahrscheinlich bemerkt, daß sie ihnen noch nicht folgten. Vielleicht Loial. Faile war es möglicherweise gleich, ob er sich verirrte, und die beiden Aielfrauen hatten schon zweimal versucht, ihn zu überreden, mit ihnen ein Stück weiter hinaus ins Dunkle zu gehen. Es hatte des leichten Kopfnickens von Gaul nicht bedurft, um ihr Angebot abzulehnen. Er kitzelte Traber mit den Fersen in den Flanken, damit er weiterschritt, das Packpferd im Schlepptau.

Der Wegweiser hier war noch stärker verwittert als die meisten, die er bisher gesehen hatte. Er ritt ohne weiteren Blick daran vorbei. Der Lichtschein der anderen Laternen bewegte sich schon auf einer der Rampen abwärts, und er folgte seufzend. Er haßte diese Rampen. An der Seite nur tiefe Dunkelheit, so wand sie sich spiralförmig in die Tiefe. Außerhalb des Lichtkreises der über seinem Kopf schwankenden Laterne war nichts zu sehen. Etwas in seinem Innern sagte ihm, daß ein Sturz über die Außenkante nie enden werde. Traber und das Packpferd hielten sich automatisch in der Mitte und selbst Gaul mied die Außenkante. Was noch schlimmer war: Als die Rampe schließlich wieder auf einer neuen Insel endete, konnte er das Gefühl nicht vermeiden, daß diese sich genau unter derjenigen befand, die sie vorher verlassen hatten. Er war froh, als er sah, daß auch Gaul unwillkürlich nach oben blickte, froh, daß er nicht der einzige war, der sich fragte, was die Inseln wohl an diesen Stellen festhielt und ob nicht gleich alles einstürzen werde.

Wieder standen die Laternen Loials und Failes still, bestimmt vor einem neuen Wegweiser. So hielt er die Pferde an und sie blieben gerade noch auf der Rampe vor dem Erreichen der Insel stehen. Diesmal rührten sie sich nicht vom Fleck. Nach ein paar Augenblicken drang Failes Stimme zu ihm herüber: »Perrin!« Der Gerufene und Gaul blickten sich an. Dann zuckte der Aielmann die Achseln. Sie hatte nicht mehr mit Perrin gesprochen, seit er sie...

»Perrin, komm her!« Es war nicht gerade im Befehlston gesprochen, aber gewiß auch keine Bitte.

Bain und Chiad hockten entspannt neben dem Wegweiser, und Loial sowie Faile saßen ganz nahe auf ihren Pferden, die Stablaternen in der Hand. Der Ogier hielt auch die Zügel ihrer Packpferde. Seine Ohren zuckten, als er erst Faile, dann Perrin ansah, und dann wieder Faile. Andererseits schien sie vollkommen darauf konzentriert, ihre Reithandschuhe zurechtzuzupfen, weiche grüne Lederhandschuhe, die auf dem Handrücken jeweils einen goldenen Falken zeigten. Sie hatte sich auch umgezogen. Ihre frische Kleidung wies den gleichen Schnitt auf wie die vorherige, hoher Kragen und enger Hosenrock, doch sie war aus brokatbesetzter grüner Seide gefertigt und schien auch irgendwie ihren Busen zu betonen. Perrin hatte diese Sachen noch nie gesehen.

»Was willst du?« fragte er mißtrauisch.

Sie blickte auf, als sei sie überrascht, ihn zu sehen, hielt den Kopf nachdenklich ein wenig schief und lächelte dann, als habe sie sich gerade daran erinnert. »Ach, ja. Ich wollte sehen, ob man dir beibringen kann, zu kommen, wenn ich dich rufe.« Ihr Lächeln wurde breiter, wohl, weil sie gehört hatte, wie er mit den Zähnen knirschte. Er rieb sich die Nase. Es lag ein leicht ranziger Geruch in der Luft.

Gaul lachte leise in sich hinein. »Genauso könntest du versuchen, die Sonne zu verstehen, Perrin. Sie existiert einfach, und es gibt nichts zu verstehen daran. Du kannst nicht ohne sie leben, aber sie fordert ihren Preis. Genauso ist es mit den Frauen.« Bain beugte sich hinüber und flüsterte Chiad etwas ins Ohr. Dann lachten beide. So, wie sie Gaul und ihn anblickten, wollte Perrin lieber erst gar nicht wissen, was sie so komisch gefunden hatten.

»Das stimmt überhaupt nicht«, grollte Loial, wobei seine Ohren prüfend vor- und zurückzuckten. Er sah Faile anklagend an, was ihr aber nichts auszumachen schien, denn sie lächelte ihn nur kurz an und beschäftigte sich wieder mit ihren Handschuhen. Jeder einzelne Finger wurde sorgfältig zurechtgezupft. »Es tut mir leid, Perrin. Sie bestand darauf, daß sie selbst dich rufen wolle. Deshalb. Wir sind da.« Er zeigte auf den unteren Teil des Wegweisers, von dem aus eine weiße, von Schlaglöchern unterbrochene Linie nicht zu einer Brücke oder einer Rampe führte, sondern geradewegs hinein in die Dunkelheit. »Das Wegetor von Manetheren, Perrin.« Perrin nickte stumm. Er wollte nicht vorschlagen, der Linie zu folgen, damit ihm Faile nicht wieder vorwarf, er habe die Führung übernommen. Wieder rieb er sich abwesend die Nase. Dieser fast unterschwellige ranzige Geruch ging ihm auf die Nerven. Er würde nichts vorschlagen, und sei es noch so vernünftig. Wenn sie die Führung behalten wollte, na bitte. Doch sie saß im Sattel, fummelte an ihren Handschuhen herum und wartete ganz offensichtlich darauf, daß er etwas sagte, damit sie dann eine geistreiche Bemerkung loslassen konnte. Sie bevorzugte Spitzen, während er einfach sagte, was er dachte. Gereizt ließ er Traber wenden, um ohne sie und Loial loszureiten. Die Linie führte zu einem Wegetor und er konnte das Avendesora-Blatt genausogut selbst finden, um es zu öffnen.

Plötzlich hörte er das gedämpfte Klappern von Hufen aus der Dunkelheit. Das und der ranzige Geruch ließen es ihm mit einemmal wie Schuppen von den Augen fallen. »Trollocs!« brüllte er.

Gaul wirbelte mit einer geschmeidigen Bewegung herum und rammte einen Speer in den durch einen schwarzen Schuppenpanzer geschützten Brustkorb eines Trollocs mit Wolfsschnauze, der mit erhobenem Sichelschwert in den Lichtkreis stürmte. Aus dieser Bewegung heraus trat der Aiel zur Seite, zog mühelos den Speer aus dem Körper des Trollocs, und die mächtige Gestalt stürzte knapp neben ihm zu Boden. Hinter dem einen kamen weitere herangerannt. Ziegenbärte und Hauer von Keilern, spitze Schnäbel und gewundene Hörner, Krummschwerter, Dornenäxte und harpunenartige Speere... Die Pferde bäumten sich auf und wieherten wild.

Perrin hielt die Laterne an der Stange hoch, denn der Gedanke, im Dunklen diesen Kreaturen gegenüberzustehen, ließ ihm den kalten Schweiß ausbrechen. Dann schlug er nach einem Gesicht mit einer Schnauze voller spitzer Zähne. Er war überrascht, als ihm bewußt wurde, daß er den Hammer aus der Schlaufe neben den Satteltaschen gerissen hatte. Wenn er auch nicht die scharfe Schneide der Axt aufwies, reichten doch zehn Pfund Stahl, von dem starken Arm eines Schmieds geschwungen, um den Trolloc mit eingeschlagenem Gesicht kreischend zurücktaumeln zu lassen. Loial schlug mit seiner Laternenstange auf einen Kopf mit Ziegenhörnern ein. Die Laterne zerbrach dabei, das heiße Öl floß dem Trolloc über den Schädel, und er rannte brüllend und heulend in die Dunkelheit. Der Ogier schlug wild mit der dicken Stange um sich, die in seinen großen Händen wie eine Rute wirkte, aber wo sie auftraf, da krachten und zersplitterten Knochen. Eines von Failes Messern steckte plötzlich in einem nur zu menschlich wirkenden Auge über einer hauerbewehrten Schnauze. Die Aiel tanzten den Speertanz. Sie mußten die Zeit gefunden haben, ihre Schleier anzulegen. Perrin schlug und schlug und schlug. Ein Wirbel des Todes breitete sich aus. Es dauerte... eine Minute? Fünf? Es erschien ihm wie eine Stunde. Aber schließlich lagen drei Trollocs am Boden, und diejenigen, die noch nicht tot waren, zuckten bereits im Todeskampf.

Perrin sog Luft in seine Lunge. Sein rechter Arm schmerzte so, als werde er durch das Gewicht des Hammers ausgerissen. Auf seinem Gesicht brannte etwas. An seiner Seite und an seinem einen Bein lief es feucht herunter. Dort hatte ihn der Stahl der Trollocs getroffen. Jeder der Aiel wies zumindest einen dunklen Fleck auf der graubraunen Kleidung auf, und Loial hatte einen blutigen Schnitt an der Hüfte. Perrin blickte an ihm vorbei und suchte Faile. Falls sie verletzt war... Sie saß auf ihrer schwarzen Stute und hatte ein Messer wurfbereit in der Hand. Sie hatte es doch tatsächlich fertiggebracht, ihre Handschuhe auszuziehen und sauber gefaltet in ihren Gürtel zu stecken. Er konnte an ihr keine Wunde entdecken. Bei all dem Blutgeruch in ihrer Umgebung —von Menschen, Ogier und Trollocs — hätte er an ihr keine einzelne Wunde wittern können, aber er kannte ihren eigenen Geruch ganz genau, und sie roch nicht nach Schmerzen und Verletzungen. Helles Licht tat den Trolloc-Augen weh. Sie konnten sich nicht schnell an die geänderten Lichtverhältnisse gewöhnen, als sie aus dem total Dunklen in den hellen Laternenschein kamen. Wahrscheinlich hatten sie es diesem Umstand zu verdanken, daß sie noch lebten und die Trollocs an ihrer Stelle tot waren.

Alles, was ihnen an Zeit blieb, waren ein paar Augenblicke zum Luftholen, um sich umzusehen. Mit einem Brüllen, als fielen hundert Pfund Knochen auf einmal in eine riesenhafte Knochenmühle, sprang ein Blasser in den Lichtkreis. Das augenlose Gesicht verhieß den Tod, und das Schwert zuckte wie ein schwarzer Blitz durch die Luft. Die Pferde wieherten wild und wollten durchgehen.

Gaul schaffte es gerade noch, diese Klinge mit seinem Schild abzulenken. Ein Stück seines Schilds wurde dabei glatt abgeschnitten, als seien die Schichten aus gegerbtem Stierleder nur Papier. Er stach zu, konnte gerade noch einem weiteren Schwerthieb ausweichen und stach wieder zu. Die Brust des Myrddraal wurde von mehreren Pfeilen durchbohrt. Bain und Chiad hatten ihre Speere in die dafür vorgesehenen Schlaufen ihrer Waffengurte gesteckt und benützten statt dessen die Hornbögen. Nach wenigen Augenblicken sah die Brust des Halbmenschen wie ein Nadelkissen aus. Dazu schoß Gauls Speers blitzschnell vor, zuckte zurück, schoß wieder vor. Plötzlich ragte eines von Failes Messern aus dem larvenblassen, glatten Gesicht. Trotzdem fiel der Blasse nicht und versuchte weiter, jeden zu töten, der in seine Nähe kam. Nur wilde Ausweichmanöver verhinderten, von seiner tödlichen Klinge getroffen zu werden.

Perrin bleckte unbewußt die Zähne und knurrte. Er haßte Trollocs, aber die Ungeborenen...? Es war es wert, bei dem Versuch zu sterben, einen der Ungeborenen zu töten. Meine Zähne in seine Kehle schlagen...! Er achtete nicht darauf, daß er Bains und Chiads Schußfeld einengte, sondern lenkte Traber immer näher von hinten an den Ungeborenen heran. Das Pferd sträubte sich heftig, und er mußte hart mit Knien und Zügeln arbeiten. Im letzten Moment fuhr die Kreatur herum, weg von Gaul, der ihm die Speerspitze zwischen die Schulterblätter zu rammen versuchte, stand unter dem Hals des Pferdes und starrte Perrin mit diesem augenlosen Blick an, der den Menschen so furchtbare Angst einjagte. Zu spät. Perrins Hammer fuhr herunter und zerschmetterte den Schädel des Myrddraal.

Selbst am Boden und praktisch kopflos schlug der Myrddraal noch wild um sich mit seinem in Thakandar geschmiedeten Schwert. Traber tänzelte zurück, wieherte nervös, und Perrin hatte mit einemmal das Gefühl, daß ihm eiskaltes Wasser den Rücken herunterrinne. Dieser schwarze Stahl schlug Wunden, gegen die auch die Heilkunst der Aes Sedai machtlos war, und er war so unvorsichtig auf den Blassen losgegangen. Meine Zähne in seine... Licht, ich muß mich besser beherrschen. Ich muß!

Er hörte immer noch gedämpfte Geräusche aus der Dunkelheit am entgegengesetzten Ende der Insel —Hufgeklapper, Stiefelschritte und kehlige Stimmen. Noch mehr Trollocs. Er konnte nicht feststellen, wie viele es waren. Schade, daß sie nicht mit dem Myrddraal verbunden gewesen waren. Aber auch so würden sie vielleicht nicht angreifen, wenn der Myrddraal sie nicht dazu antrieb. Trollocs waren auf gewisse Weise Feiglinge und ließen sich meist nur auf Kämpfe in Überzahl ein, auf leichte Beute. Doch auch ohne Myrddraal wurden sie sich möglicherweise erneut zum Angriff entschließen. Es war jedenfalls gut möglich.

»Zum Wegetor«, sagte er. »Wir müssen raus, bevor sich die anderen entschließen, auch ohne den da anzugreifen.« Er deutete mit dem blutigen Hammer auf den immer noch zuckenden Blassen. Faile ließ sofort ihre Stute wenden und er war so überrascht, daß er herausplatzte: »Du widersprichst ja gar nicht!« »Nicht, wenn du etwas Vernünftiges sagst«, antwortete sie knapp. »Nicht, wenn du recht hast. Loial?« Der Ogier übernahm auf seinem kräftigen, zottligen Reittier die Führung der Gruppe. Perrin reihte sich auf Traber hinter Faile und Loial ein, den Hammer kampfbereit in der Hand. Die Aiel schritten mit aufgelegten Pfeilen an seiner Seite. Schlurfende Stiefelschritte und gedämpfter Hufschlag folgte ihnen durch die Dunkelheit. Harsch und für menschliche Kehlen unaussprechbar klangen die Rufe ihrer Verfolger. Sie kamen langsam näher und hatten offensichtlich Mut gefaßt.

Ein anderer Laut drang an Perrins Ohren. Es war, als riebe Seide über Seide. Es lief ihm kalt über den Rücken dabei. Dann lauter, als atme ein Riese aus, schwächer, stärker, und immer näher. »Beeilt euch!« schrie er. »Schnell!« »Ich mach ja schon!« schnauzte Loial ihn an. »Ich —dieser Laut! Ist das... ? Das Licht leuchte unseren Seelen, und die Hand des Schöpfers schütze uns! Es öffnet sich. Es geht auf, und ich muß als letzter hinaus. Raus mit euch! Schnell! Aber nicht zu... Nein, Faile!« Perrin riskierte einen Blick nach hinten in Richtung des Tores. Türflügel, die wie aus Blättern gefertigt schienen, schwangen langsam auf und gaben den Blick auf ein wie durch Rauchglas gesehenes Hügelland frei. Loial war abgestiegen, um das Avendesora-Blatt wegzunehmen und so das Tor aufzuschließen. Faile hielt die Zügel ihrer Packtiere und die seines riesigen Reittiers. Mit einem hastig gerufenen: »Folgt mir! Schnell!« gab sie ihrer Stute die Fersen zu spüren, und die galoppierte auf die Öffnung zu.

»Hinterher!« sagte Perrin zu den Aiel. »Beeilt Euch. Gegen so etwas könnt Ihr nicht kämpfen.« Sie waren schlau genug, nur einen Augenblick lang zu zögern. Dann stürmten sie los, wobei Gaul die Zügel ihres Packpferdes nahm. Traber stand direkt vor Loial. »Kannst du es irgendwie verschließen? Oder blockieren?« Das kehlige Geschrei der Trollocs klang nun auch verängstigt. Die Trollocs hatten das Geräusch ebenfalls erkannt. Machin Shin kam herbei. Wer überleben wollte, mußte aus den Wegen hinauskommen.

»Ja«, sagte Loial. »Ja. Aber geh nun. Geh!« Perrin ließ Traber schnell wenden und auf das Tor zuschreiten. Doch bevor ihm selbst klar wurde, was er da tat, legte er den Kopf zurück und heulte langgezogen, trotzig und herausfordernd zugleich. Du bist ein Narr! Er blickte sich weiter nach der Schwärze um, und Traber schob sich durch das Tor. Eisig überlief es ihn. Jedes einzelne Haar an seinem Körper sträubte sich. Die Zeit dehnte sich endlos aus. Ein Ruck ging durch ihn, als er die Wege verließ, so, als habe er aus vollem Galopp heraus mit einem Schlag angehalten.

Die Aiel schwärmten mit schußbereiten Pfeilen auf dem Abhang aus, den Blick zurück zum Tor gerichtet. Niedriges Buschwerk und an den Hang geschmiegte Latschen prägten hier die Landschaft; vom Wind zerzauste Pinien und Fichten und Lederblattbäume. Faile rappelte sich gerade hoch. Sie war bei dem plötzlichen Halt offensichtlich vom Pferd gestürzt. Die schwarze Stute stand neben ihr und stupste sie mit der weichen Schnauze. Aus einem Wegetor herauszugaloppieren war zumindest genauso schlimm, wie in eines hineinzugaloppieren. Sie hatte Glück, daß sie sich nicht den Hals gebrochen hatte und den ihres Pferdes überdies. Loials großer Gaul und die Packpferde zitterten, als habe man sie vor den Kopf geschlagen. Perrin machte den Mund auf, und sie funkelte ihn an. Wehe, er gab einen Kommentar zum besten! Am wenigsten konnte sie es leiden, in einer solchen Lage Sympathiekundgebungen zu erhalten. Er verzog das Gesicht und hielt also lieber den Mund.

Mit einemmal kam Loial aus dem Tor geschossen. Er sprang aus einem mattsilbernen Spiegel, aus seinem eigenen Spiegelbild heraus, und rollte sich auf dem Boden ab. Fast auf seinen Fersen erschienen zwei Trollocs, der eine mit Hammelhörnern und Ziegenbart, der andere mit einem Adlerschnabel und einem gefiederten Kamm. Doch bevor sie mehr als zur Hälfte draußen waren, färbte sich die silbrige Oberfläche im Tor schwarz, wölbte sich hinaus, schlug Blasen und hielt sie fest.

Stimmen flüsterten in Perrins Kopf, tausend plappernde, irrsinnige Stimmen, die nach dem Inneren seines Schädels krallten. Bitteres Blut. So bitter, dieses Blut. Trink das Blut und knack den Knochen. Knack den Knochen und saug das Mark. Bitteres Mark, süße Schreie. Singende Schreie. Sing die Schreie hinaus. Winzige Seelen. Ätzende Seelen. Schling sie herunter. So süß ist der Schmerz. Und so ging es weiter.

Kreischend und heulend schlugen die Trollocs auf die Schwärze ein, die um sie herum kochte, versuchten sich loszureißen und wurden doch immer tiefer eingesaugt. Schließlich ragte nur noch eine behaarte Hand heraus, krallte verzweifelt um sich, und dann war nur noch die Dunkelheit im Tor, wölbte sich ihnen entgegen und suchte. Ganz langsam erschienen die beiden Türflügel, schlossen sich und quetschten die Schwärze ein, bis sie wieder zurückquoll und sich im Inneren in Sicherheit brachte. Die Stimmen in Perrins Kopf verklangen endlich. Loial rannte hin und steckte nicht nur eines, sondern gleich zwei dreifingrige Blätter zurück unter die unzähligen Blätter und Ranken auf dem Tor. Das Tor verwandelte sich wieder zu Stein, zum Teil einer Steinwand, die bis ins kleinste kunstvoll bearbeitet war, und die einsam auf einem spärlich bewaldeten Berghang stand. Unter den unzähligen in Stein gehauenen Blättern und Ranken befanden sich nicht eines, sondern eben zwei Avendesora-Blätter. Loial hatte das dreifingrige Blatt aus dem Inneren nach außen ›verpflanzt‹.

Der Ogier seufzte tief und erleichtert. »Mehr konnte ich nicht tun. Es kann jetzt nur noch von dieser Seite her geöffnet werden.« Er sah Perrin gleichzeitig fest und verständnisheischend an. »Ich hätte es für immer verschließen können, wenn ich die Blätter nicht zurückgesteckt hätte. Aber ich will kein Wegetor zerstören, Perrin. Wir haben die Wege einst gezüchtet und gehegt. Vielleicht kann man sie eines Tages säubern. Ich kann kein Wegetor unbrauchbar machen.« »Es reicht doch auch so«, gab Perrin zurück. Waren die Trollocs ebenfalls zu diesem Wegetor gezogen, oder war das Zusammentreffen nur zufällig zustande gekommen? Aber wie auch immer, es würde reichen, das Tor von dieser Seite her zu verschließen.

»War das...?« begann Faile unsicher, doch dann hielt sie den Mund und schluckte. Ausnahmsweise einmal wirkten sogar die Aiel erschüttert.

»Machin Shin«, sagte Loial. »Der Schwarze Wind. Ein Geschöpf des Schattens, oder etwas, das aus dem Verderben der Wege geboren wurde. Niemand weiß das genau. Mir tun die Trollocs leid. Ja, sogar die.« Perrin war sich da nicht so sicher, selbst bei einem so schrecklichen Tod wie diesem. Er hatte gesehen, was die Trollocs zurückließen, wenn ihnen Menschen in die Hände fielen. Trollocs aßen alles, wenn es nur Fleisch war, und manchmal hielten sie ihren Fleischvorrat am Leben, bis er geschlachtet wurde. Er verschwendete kein Mitleid an Trollocs.

Trabers Hufe knirschten auf Steinbrocken und körniger Erde, als Perrin ihn wenden ließ, um sich umzuschauen.

Rund um sie herum ragten wolkenverhüllte Gipfel auf. Die immer und ewig dort oben hängenden Wolken hatten dem Bergland seinen Namen verliehen: die Verschleierten Berge. In dieser Höhe war die Luft kühl, selbst im Sommer, und ganz besonders, wenn man es mit Tear verglich. Die Spätnachmittagssonne leuchtete hinter den Gipfeln im Westen, und ihr Schein glänzte auf Bächen, die sich hinunter zu dem Fluß wanden, der auf der Talsohle weiter unten entlangströmte. Sobald er viel weiter im Südwesten die Berge verließ, nannte man ihn einst den Manetherendrelle, aber Perrin hatte ihn als Junge als den Weißen Fluß gekannt, der an der Südgrenze der Zwei Flüsse entlangfloß. Und der Name wiederum rührte von den Stromschnellen her, die sein Wasser zu Gischt verwandelten. Der Manetherendrelle. Die Wasser der Bergheimat.

Wo im Tal unter ihnen oder auf den sie umgebenden Hängen der blanke Fels hervortrat, da glitzerte er wie Glas. Hier hatte einst eine Stadt gestanden, hatte Berg und Tal bedeckt. Manetheren, die Stadt hoch aufragender Türme und ewig plätschernder Brunnen, die Hauptstadt eines großes Staates mit dem gleichen Namen, vielleicht die schönste Stadt der Welt, wenn man den Legenden der Ogier Glauben schenkte. Spurlos verschwunden war sie nun, bis auf das beinahe unzerstörbare Wegetor, daß einst im Ogierhain gestanden hatte. Vor mehr als zweitausend Jahren war sie bis hinunter auf den bloßen Mutterfels verbrannt worden, als noch immer die Trolloc-Kriege tobten, verbrannt durch die Eine Macht, gleich nach dem Tod des letzten Königs Aemon al Caar al Thorin in seiner letzten blutigen Schlacht gegen den Schatten. Aemonsfeld hatten die Menschen den Ort der Schlacht genannt, und dort stand heute das Dorf Emondsfeld.

Perrin schauderte. Das war schon so lange her. Einmal seither waren die Trollocs hier eingefallen, in der Winternacht vor mehr als einem Jahr, der Nacht, bevor er und Rand und Mat gezwungen wurden, zusammen mit Moiraine in der Dunkelheit zu entfliehen. Auch das schien schon so lange her zu sein. Es konnte nun auch nicht wieder vorkommen, da das Wegetor geschlossen war. Jetzt muß ich mir über die Weißmäntel Gedanken machen und nicht um die Trollocs.

Ein Pärchen Bussarde mit weißen Flügeln kreiste über dem entfernten Ende des Tals. Perrins Augen konnten gerade noch den nach oben huschenden Pfeil erkennen, da überschlug sich schon einer der Bussarde und stürzte ab. Perrin runzelte die Stirn. Warum sollte jemand hier oben einen Bussard abschießen? Über einem Bauernhof war das etwas anderes, wenn man die Küken und die Gänse schützen wollte, aber hier oben? Warum hielt sich überhaupt jemand hier oben auf? Die Menschen von den Zwei Flüssen mieden die Berge.

Der zweite Bussard schwebte auf schneeweißen Schwingen hinüber in die Richtung, wo sein Genosse abgestürzt war, doch plötzlich bemühte er sich verzweifelt, an Höhe zu gewinnen. Eine schwarze Wolke von Raben erhob sich aus den Bäumen, umflatterte ihn in einem wilden Durcheinander, und als sie sich wieder setzten, war der Bussard verschwunden.

Perrin zwang sich zum Atmen. Er hatte auch früher schon gesehen, wie Raben und andere Vögel einen größeren Raubvogel angegriffen hatten, der ihren Nestern zu nahe gekommen war. Aber diesmal glaubte er nicht an eine so einfache Erklärung. Die Vögel waren in etwa von der Stelle her gekommen, wie zuvor auch der Pfeil. Raben. Der Schatten benutzte manchmal Tiere als Spitzel. Ratten und andere Aasfresser für gewöhnlich. Und besonders Raben. Er erinnerte sich noch ganz genau daran, wie er von ständig herabstoßenden Schwärmen von Raben gejagt worden war, als besäßen sie Intelligenz.

»Was siehst du da wieder?« fragte Faile. Sie hielt eine Hand über ihre Augen und spähte hinunter ins Tal. »Waren das Vögel?« »Nur Vögel«, sagte er. Vielleicht. Ich kann nicht allen Angst einjagen, solange ich selbst nicht sicher bin. Und schon gar nicht, wenn sie noch von Machin Shin erschüttert sind.

Ihm wurde klar, daß er immer noch den blutverschmierten Hammer in der Hand hielt, verschmiert mit schwarzem Blut des Myrddraals. Seine tastenden Finger fanden auch getrocknetes Blut auf seiner Wange und in seinem kurzen Bart, der ganz verklebt war. Als er vom Pferd kletterte, schmerzten seine Hüfte und sein Bein. Er kramte ein Hemd aus einer Satteltasche, mit dem er den Hammer reinigte, bevor sich das ätzende Myrddraalblut in das Metall hineinfraß. Noch ein Augenblick, und dann würde er herausfinden, ob es in diesen Bergen etwas gab, wovor sie sich fürchten mußten. Die Wölfe würden es wissen.

Faile begann, sein Wams aufzuknöpfen.

»Was machst du da?« wollte er wissen.

»Deine Wunden versorgen«, fuhr sie ihn an. »Ich werde dich ja wohl nicht verbluten lassen. Das sieht dir ähnlich —sterben und mir die Arbeit überlassen, dich zu beerdigen. Du bist rücksichtslos. Halt still!« »Danke schön«, sagte er ruhig, und sie blickte überrascht drein.

Sie ließ ihn alles bis auf die Unterwäsche ausziehen, damit sie seine Wunden auswaschen und mit einer Tinktur einreiben konnte, die sie aus einer ihrer Satteltaschen holte. Natürlich konnte er den Schnitt in seinem Gesicht selbst nicht sehen, aber er schien doch klein und nur oberflächlich zu sein, wenn auch unangenehm nahe an seinem Auge. Aber der Schnitt an seiner linken Seite war mehr als eine Handspanne lang, längs der untersten Rippe, und in seiner rechten Hüfte hatte ein Speer eine tiefe Wunde hinterlassen. Faile mußte diese Wunde nähen. Nadel und Faden hatte sie in ihrem Nähzeug dabei. Er nahm alles gelassen hin. Sie war diejenige, die bei jedem Stich zusammenzuckte. Die ganze Zeit über fluchte sie leise vor sich hin, besonders heftig, als sie ihre dunkle, beißende Salbe in die Wunde an seiner Wange strich. Es machte beinahe den Eindruck, als seien es ihre Verletzungen und alles seine Schuld. Doch die Hand, die Bandagen um seine Rippen und seine Hüfte wickelte, war sanft. Es war ein überraschender Kontrast bei ihr — die sanfte Versorgung der Wunden und ihr wütendes Fluchen dabei. Einfach verwirrend, diese Frau.

Während er sich ein frisches Hemd und eine Ersatzhose aus den Satteltaschen fischte und anzog, untersuchte Faile den Schnitt an der Seite seines Wamses. Drei Fingerbreit weiter rechts, und er hätte die Insel nicht mehr lebend verlassen. Er stampfte die Füße richtig in seine Stiefel hinein und faßte nach dem Wams. Da warf sie es ihm hin.

»Du brauchst gar nicht zu glauben, daß ich dir das nähe! Ich habe schon mehr für dich genäht, als ich jemals vorhatte. Hörst du das, Perrin Aybara?« »Ich habe dich nicht gebeten... « »Du brauchst es gar nicht erst zu glauben! Das ist alles!« Sie stolzierte weg, um den Aiel dabei zu helfen, ihre Wunden und die Loials zu versorgen. Es gab ein komisches Bild ab. Da stand der Ogier und hatte seine Pumphosen heruntergelassen. Gaul und Chiad sahen sich mißtrauisch an, wie Katzen, die in ein fremdes Revier eingedrungen waren. Faile breitete ihre Tinkturen und Binden aus und blickte ihn ständig vorwurfsvoll an. Was hatte er nun wieder falsch gemacht?

Perrin schüttelte den Kopf. Gaul hatte recht, fand er. Man kann genausogut versuchen, die Sonne zu verstehen.

Er wußte wohl, was er jetzt zu tun hatte, zögerte aber, weil er daran dachte, was sich in den Wegen mit dem Blassen abgespielt hatte. Einmal hatte er einen Mann kennengelernt, der vergessen hatte, daß er ein Mensch war. Das gleiche konnte auch ihm passieren. Narr. Du mußt nur noch ein paar Tage durchhalten. Nur, bis du die Weißmäntel aufspürst. Aber er mußte Gewißheit haben. Diese Raben.

Er fühlte im Geist über das Tal hinweg nach Wölfen. Es gab immer Wölfe, wo keine Menschen wohnten, und wenn welche nah genug waren, konnte er mit ihnen sprechen. Die Wölfe mieden Menschen, gingen ihnen so weit wie möglich aus dem Weg, aber sie haßten die Trollocs als unnatürliche Geschöpfe, und sie verabscheuten die Myrddraal abgrundtief. Wenn sich in den Verschleierten Bergen Schattenabkömmlinge aufhielten, würden es ihm die Wölfe sagen.

Doch er fand keine Wölfe. Keinen einzigen. Sie hätten sich hier in dieser Wildnis aufhalten sollen. Er konnte drunten im Tal Hirsche beim Äsen beobachten. Vielleicht waren die Wölfe auch einfach nicht nahe genug. Sie konnten sich über einige Entfernung hinweg verständigen, aber schon eine Meile war dann doch zu weit. Vielleicht war die Reichweite hier in den Bergen noch geringer. Das konnte die Lösung sein.

Sein Blick schweifte über die wolkengekrönten Gipfel und blieb dann am entfernten Ende des Tals hängen, von wo die Raben gekommen waren. Vielleicht würde er morgen Wölfe aufspüren. An andere Möglichkeiten wollte er lieber nicht denken.

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