37 Der Imre-Außenposten

Die Sonne stand noch eine Handbreit über dem zerklüfteten Horizont im Westen, als Rhuarc sagte, der Imre-Außenposten, wo er die Nacht verbringen wollte, liege nur etwa eine Meile vor ihnen. »Warum bleiben wir eigentlich schon dort?« fragte Rand. »Es wird noch stundenlang hell bleiben.« Diesmal beantwortete Aviendha seine Frage. Sie schritt auf der anderen Seite von Jeade'en entlang. Ihr Tonfall war genauso verächtlich, wie er es von ihr erwartete: »Es gibt Wasser am Imre-Außenposten. Es ist am besten, ein Lager in der Nähe einer Wasserstelle aufzuschlagen, wenn sich die Möglichkeit bietet.« »Und die Wagen der Händler können auch nicht viel weiter fahren«, fügte Rhuarc hinzu. »Wenn die Schatten länger werden, müssen sie anhalten oder sie riskieren, ihre Räder und die Beine der Maulesel zu brechen. Ich will sie nicht zurücklassen. Ich kann niemanden entbehren, um sie zu überwachen, aber Couladin könnte... « Rand drehte sich im Sattel um. Mittlerweile flankierten Jindo Duadhe Mahdi'in, Wassersucher, die Wagen. Sie rumpelten schwerfällig ein paar hundert Schritt seitlich von ihnen dahin, schaukelten und hinterließen eine lange, gelbe Staubfahne. Die meisten Rinnen in dem zerklüfteten Boden waren zu tief oder hatten zu steile Wände, so daß die Fahrer gezwungen waren, weite Umwege zu machen. So wand sich die Reihe der Wagen dahin wie eine betrunkene Schlange. Laute Flüche erschollen immer wieder von dort her. Meist galten sie den Mauleseln, die an allem schuld sein sollten. Kadere und Keille befanden sich nach wie vor im Inneren ihrer weißgestrichenen Wagen.

»Nein«, sagte Rand. »Das macht Ihr besser nicht.« Er lachte unwillkürlich leise auf.

Mat sah ihn unter dem breiten Rand seines neuen Huts hervor so komisch an. Er lächelte in der Hoffnung, ermutigend zu wirken, aber Mats Miene änderte sich nicht. Er wird auf sich aufpassen müssen, dachte Rand. Es hängt zuviel davon ab. Was das Aufpassen betraf, wurde ihm wieder bewußt, daß Aviendha ihn musterte. Den Schal hatte sie wie eine Schufa um den Kopf gewickelt. Er richtete sich wieder kerzengerade auf. Vielleicht hatte Moiraine ihr befohlen, sie solle sich um ihn kümmern, aber er hatte das Gefühl, sie wolle ihn nur fallen sehen. Das würde sie zweifellos amüsant finden, so wie sich der Humor bei den Aiel gezeigt hatte. Er hätte sich ja gern eingebildet, sie sei lediglich wütend darüber, daß man sie in ein Kleid gesteckt und ihr befohlen hatte, ihn zu überwachen, aber das Glitzern in ihren Augen war einfach zu persönlich für diese Möglichkeit.

Endlich einmal beobachteten Moiraine und die Weisen Frauen ihn nicht. In der Mitte zwischen den Jindo und den Shaido gingen Moiraine und Egwene zu Fuß neben Amys und den anderen her, und alle sechs Frauen betrachteten etwas, das die Aes Sedai in der Hand hielt. Im Schein der untergehenden Sonne funkelte es wie ein Edelstein. Den Frauen schien das genauso zu gefallen wie jedem Mädchen, das etwas Hübsches sieht. Lan ritt hinten bei den Packpferden und den Gai'schain, als hätten sie ihn weggeschickt.

Der Anblick verunsicherte Rand. Er war bereits daran gewöhnt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit dieser Frauen zu stehen. Was interessierte sie denn nun auf einmal noch mehr? Sicher war es nichts, worüber er sich hätte freuen können. Nicht, wenn es um Moiraine ging, und die anderen unterschieden sich nicht sehr von ihr. Sie hatten alle ihre Pläne, was sie mit ihm anfangen wollten. Egwene war noch die einzige bei ihnen, der er vertraute. Licht, hoffentlich kann ich ihr immer noch vertrauen. Eigentlich war er selbst der einzige, dem er wirklich vertraute. Wenn der Keiler aus dem Gebüsch bricht, bist du ganz allein mit ihm und deinem Speer. Diesmal klang sein Lachen ein wenig bitter.

»Findet Ihr das Dreifache Land amüsant, Rand al'Thor?« Aviendhas Zähne blitzten einen Moment im Anflug eines Lächelns auf. »Lacht nur, solange es geht, Feuchtländer. Wenn dieses Land beginnt, Euch zu zerbrechen, wird das eine würdige Strafe dafür, wie Ihr Elayne behandelt habt.« Warum konnte diese Frau nicht endlich damit aufhören? »Ihr habt dem Wiedergeborenen Drachen keinen Respekt erwiesen«, fuhr er sie an, »aber Ihr könntet Euch wenigstens um etwas Respekt dem Car'a'carn gegenüber bemühen.« Rhuarc schmunzelte. »Ein Clanhäuptling ist kein König wie bei den Feuchtländern, Rand. Und der Car'a'carn ist auch keiner. Man erweist ihm schon Respekt, wenn auch die Frauen sich bemühen, das bis zum Letzten herunterzuspielen, aber jeder kann natürlich mit einem Häuptling sprechen.« Trotzdem warf er der Frau auf der anderen Seite von Rands Pferd einen strengen Blick zu. »Einige strapazieren allerdings die Geduld derer, denen Ehre gebührt, ein bißchen zu sehr!« Aviendha wußte offensichtlich, wem die Bemerkung galt, und ihre Miene versteinerte sich. Sie schritt ohne ein weiteres Wort an Rands Seite dahin. Die Hände hatte sie allerdings zu Fäusten geballt.

Zwei der Kundschafterinnen aus den Reihen der Töchter des Speers erschienen. Sie liefen zurück, so schnell sie nur konnten. Offensichtlich gehörten sie nicht zusammen, denn die eine eilte geradewegs zu den Shaido hinüber, während die andere zu den Jindo gehörte. Rand erkannte sie, eine blonde Frau namens Adelin, gutaussehend, doch mit einem harten Gesicht. Eine Narbe zog sich wie ein dünner, weißer Strich über ihre eine sonnengebräunte Wange. Sie war eine von denen, die auch im Stein dabeigewesen waren, obwohl sie älter war als die anderen dort — vielleicht um zehn Jahre älter als er selbst. Der kurze Blick, den sie Aviendha zuwarf, bevor sie sich Rhuarcs Schritt anpaßte, eine Mischung von Neugier und Sympathie, brachte Rand in Rage. Wenn Aviendha eingewilligt hatte, im Auftrag der Weisen Frauen zu spionieren, verdiente sie auch keine Sympathie. Und seine Gesellschaft war ja wohl auch nicht derart widerlich. Ihn selbst ignorierte Adelin vollständig.

»Es gibt Schwierigkeiten am Imre-Außenposten«, sagte sie zu Rhuarc. Sie sprach schnell und ein wenig abgehackt. »Es ist niemand zu sehen. Wir haben uns versteckt und sind nicht näher herangegangen.« »Gut«, antwortete Rhuarc. »Sagt den Weisen Frauen Bescheid.« Unbewußt packte er seine Speere ein wenig kräftiger und ließ sich zu der Hauptgruppe der Jindo zurückfallen. Aviendha knurrte irgend etwas und zupfte an ihrem Rock herum. Ganz klar, daß sie ihm am liebsten gefolgt wäre.

»Ich glaube, sie wissen es bereits«, sagte Mat, als Adelin zur Gruppe der Weisen Frauen hinübereilte.

Unter den Frauen um Moiraine herrschte helle Aufregung, so daß Rand Mat recht geben mußte. Sie schienen alle auf einmal sprechen zu wollen. Egwene hob eine Hand über die Augen und blickte entweder zu Adelin oder zu ihm herüber. Die andere Hand hatte sie auf den Mund gelegt. Woher sie die Neuigkeiten hatten, mußte er später einmal klären.

»Was kann denn da los sein?« fragte er Aviendha. Sie murmelte immer noch etwas in sich hinein und antwortete nicht. »Aviendha? Was kann da los sein?« Nichts. »Seng Euch, Frau, könnt Ihr keine einfache Frage beantworten? Was ist dort los?« Sie errötete, antwortete nun aber mit beherrschter Stimme: »Höchstwahrscheinlich war es ein Überfall, um ihre Ziegen oder Schafe zu stehlen. Beide finden bei Imre eine recht gute Weide, aber wahrscheinlich sind die Ziegen das Ziel gewesen, wegen des Wassers. Vielleicht waren es die Chareen, die Weißberge-Septime, oder auch die Jarra. Sie wohnen am nächsten. Oder es könnte auch eine Septime der Goshien gewesen sein. Die Tomanelle wohnen zu weit weg, denke ich.« »Wird es Auseinandersetzungen geben?« Er griff nach Saidin, und der süße Schwall der Macht erfüllte ihn. Der ranzige Beigeschmack drang in sein Inneres, und neuer Schweiß rann ihm aus allen Poren. »Aviendha?« »Nein. Adelin hätte es berichtet, wenn die Räuber noch dagewesen wären. Die Herde und die Gai'schain dürften sich mittlerweile meilenweit entfernt befinden. Wir können die Herde auch nicht zurückholen, weil wir Euch begleiten müssen.« Er fragte sich, warum sie nichts davon erwähnte, die Gefangenen zu befreien, die Gai'schain, aber der Gedanke verflog schnell. Er mußte sich große Mühe geben, aufrecht sitzen zu bleiben, während er von Saidin erfüllt war, sich nicht zusammenzukrümmen und einfach wegschwemmen zu lassen, und das ließ ihm keine Zeit für unbeantwortete Fragen.

Rhuarc und die Jindo liefen los und verschleierten sich bereits. Rand folgte ihnen etwas langsamer. Aviendha warf ihm ungeduldige Blicke zu, aber er ließ Jeade'en lediglich etwas schneller gehen. Er würde nicht in die Falle eines anderen hineingaloppieren. Wenigstens Mat hatte auch keine Eile. Er zögerte und blickte zu den Händlerwagen hinüber, bevor er Pips richtig in Bewegung setzte. Rand sah die Wagen nicht an.

Die Shaido fielen zurück und verlangsamten ihren Schritt, bis sich die Weisen Frauen wieder in Bewegung setzten. Klar. Das hier war Gebiet der Taardad, und es war Couladin gleich, ob ein Überfall stattgefunden hatte oder nicht. Rand hoffte, daß sie die Clanhäuptlinge möglichst bald in Alcair Dal zusammenbringen würden. Wie konnte er ein Volk einen, dessen Teile sich untereinander pausenlos bekämpften? Doch das war jetzt seine geringste Sorge.

Als endlich der Imre-Außenposten in Sicht kam, stellte er doch eine Überraschung dar. Ein paar weit verstreute Grüppchen von langhaarigen, weißen Ziegen grasten friedlich auf größeren, mit zähem Gras bewachsenen Flächen oder fraßen sogar die Blätter von den Dornbüschen ab. Zuerst entdeckte er das rohe Steingebäude gar nicht, das sich unten an eine hohe Spitzkuppe lehnte. Das grobe Mauerwerk paßte sich farblich der Umgebung hervorragend an, und außerdem hatten mehrere Dornbüsche auf dem mit Erdboden bedeckten Dach Wurzeln geschlagen. Es war nicht sehr groß, hatte Schießscharten anstelle von Fenstern und, soweit er erkennen konnte, nur eine Tür. Einen Augenblick später entdeckte er noch ein zweites Gebäude, auch nicht größer, das auf einem Felsvorsprung zwanzig Schritt über dem anderen stand. Ein tiefer Einschnitt zog sich hinter dem unteren Gebäude bis zu dem Vorsprung hoch. Es war kein anderer Weg erkennbar, der dorthin führte.

Rhuarc stand ganz offen etwa vierhundert Schritt von der Kuppe entfernt da und hatte den Schleier abgenommen. Kein anderer Jindo war sichtbar. Das hieß natürlich nicht, daß die anderen nicht auch da seien. Rand hielt sein Roß neben Rhuarc an und stieg ab. Der Clanhäuptling betrachtete weiter eingehend die Steingebäude.

»Die Ziegen«, sagte Aviendha besorgt. »Bei einem Überfall wären keine Ziegen zurückgeblieben. Die meisten sind weg, aber es macht beinahe den Eindruck, als sei die Herde sich selbst überlassen worden und habe sich zerstreut.« »Das muß schon vor Tagen geschehen sein«, stimmte ihr Rhuarc zu, der den Blick nicht von den Gebäuden wandte, »sonst wären noch mehr da. Warum kommt niemand heraus? Sie sollten von dort aus mein Gesicht sehen und mich erkennen.« Er ging vorwärts und erhob keine Einwände, als Rand sich ihm mit Jeade'en am Zügel anschloß. Aviendha hatte eine Hand am Griff ihres kleinen Messers und Mat, der hinter ihnen herritt, trug seinen Speer mit dem schwarzen Schaft, als erwarte er, ihn gebrauchen zu müssen.

Die Tür war aus schmalen, kurzen und rauhen Brettern zusammengenagelt. Ein paar der dicken Scharniere waren zerbrochen, von Axthieben zerstört. Rhuarc zögerte einen Moment lang und drückte sie dann auf. Er warf nur einen kurzen Blick hinein und betrachtete dann von diesem Standpunkt aus die sie umgebende Landschaft.

Rand steckte den Kopf hinein. Es war niemand da. Das Innere bestand nur aus einem Raum, und der machte nicht den Eindruck eines Wohnraums, sondern nur den einer Unterkunft, die den Hirten Schutz bieten konnte und in dem sie sich im Notfall auch verteidigen konnten. Das Licht fiel in grellen Balken durch die Schießscharten hinein. Es gab keine Möbel, keine Tische und Stühle. Ein etwas erhöhter offener Herd befand sich genau unter einem verrußten Rauchabzugsloch in der Decke. An der Rückwand war der blanke graue Felsen mit diesem breiten Spalt zu sehen, in den man Stufen gehauen hatte. Das Gebäude war geplündert worden. Bettzeug, Decken, Töpfe, alles lag verstreut auf dem Steinboden herum. Die Kissen hatte man aufgeschlitzt. Über alles war irgendeine Flüssigkeit gespritzt worden, deren schwarze Reste überall, auch an den Wänden und sogar an der Decke angetrocknet waren.

Als ihm klar wurde, was das war, zuckte er zurück und hielt das aus der Macht gefertigte Schwert in der Hand, bevor er überhaupt nachdenken konnte. Blut. Soviel Blut.

Hier hatte ein Blutbad stattgefunden, so schlimm, wie er es sich nur vorstellen konnte. Draußen rührte sich nichts außer den Ziegen.

Aviendha ging so schnell wieder hinaus, wie sie eingetreten war. »Wer?« fragte sie ungläubig, und in ihren großen blaugrünen Augen stand Erbitterung. »Wer würde so etwas tun? Wo sind die Toten?« »Trollocs«, brach es aus Mat hervor. »Das sieht meiner Meinung nach aus, als hätten es Trollocs angerichtet.« Sie schnaubte verächtlich. »Trollocs kommen nicht ins Dreifache Land, Feuchtländer. Höchstens unten am Rand der Fäule mal ein paar Meilen weit, und das auch noch sehr selten. Ich habe gehört, daß sie das Dreifache Land als das Land des Todes bezeichnen. Wir jagen die Trollocs, Feuchtländer, und nicht sie uns.« Nichts rührte sich. Rand ließ das Schwert verschwinden und schob Saidin von sich. Es war schwierig. Die Süße der Macht reichte fast aus, um den Ekel vor dem Verderben, das darin lag, zu überwinden; der manische Genuß darin sorgte beinahe dafür, daß ihm alles gleich war. Mat hatte recht, was Aviendha auch dagegen sagen mochte. Aber das hier war alt und die Trollocs waren längst verschwunden. Trollocs in der Wüste an einem Ort, an den er sich begab. Er war kein Narr, der dabei an einen Zufall glaubte. Aber wenn sie mich für einen Narren halten, werden sie vielleicht leichtsinnig.

Rhuarc gab den Jindo ein Zeichen herzukommen. Sie schienen plötzlich aus dem Boden herauszuwachsen. Eine Weile später erschienen auch die anderen, die Shaido, die Wagenkolonne der Händler und die Gruppe mit den Weisen Frauen. Die Kunde, was sie vorgefunden hatten, verbreitete sich schnell, und unter den Aiel wurde die Anspannung beinahe greifbar. Sie bewegten sich, als erwarteten sie jeden Augenblick einen Angriff, vielleicht auch von dem jeweiligen Gegner aus dem eigenen Volk. In jede Richtung schwärmten Kundschafter aus. Die Fahrer der Wagen spannten ihre Maulesel ab und blickten sich unruhig um. Sie schienen bereit, beim ersten Aufschrei mit einem Sprung unter ihre Wagen zu hechten.

Eine Weile wirkte das Ganze wie ein aufgescheuchter Ameisenhaufen. Rhuarc sorgte dafür, daß die Händler ihre Wagen an den Rand des Jindo-Lagers schoben. Couladin war wütend darüber, denn das bedeutete, jeder Shaido, der etwas kaufen wollte, mußte zu den Jindo gehen. Aber er schlug keinen Krach deswegen. Vielleicht sah sogar er ein, daß ein Streit zu diesem Zeitpunkt dazu führen konnte, daß man den Tanz der Speere tanzte. Die Shaido errichteten ihre Zelte eine knappe Viertelmeile entfernt, und wie immer lagerten dazwischen die Weisen Frauen mit ihrer Begleitung. Auch diese untersuchten das Innere des Gebäudes zusammen mit Moiraine und Lan, aber falls sie zu irgendeinem Schluß kamen, sagten sie es niemandem.

Das Wasser am Imre-Außenposten stellte sich als winzige Quelle heraus, ganz hinten in der Spalte, die ihr Wasser in einem tiefen, etwa runden Teich ergoß. Rhuarc nannte das einen Tank. Aber er hatte nur einen Durchmesser von weniger als zwei Schritt. Genug für die Hirten, genug auch für die Jindo, um einige ihrer Wasserschläuche zu füllen. Kein Shaido kam in die Nähe. Im Land der Taardad hatten die Jindo das erste Wasserrecht. Wie es schien, holten sich die Ziegen die meiste von ihnen benötigte Feuchtigkeit aus den fleischigen Blättern der Dornbüsche. Rhuarc versicherte Rand, daß sie am nächsten Abend bei ihrem Lager sehr viel mehr Wasser vorfinden würden.

Kadere überraschte sie, während die Fahrer noch ihre Gespanne ausspannten und Eimer voll Wasser von den Tankwagen besorgten. Als er aus seinem Wagen trat, begleitete ihn eine dunkelhaarige junge Frau in roter Seidenrobe und roten Samtpantoffeln, die besser in einen Palast gepaßt hätten als in die Wüste. Ein durchscheinendes rotes Tuch, das sie wie eine Schufa trug, und ein Schleier boten wohl kaum Schutz gegen die Sonne und verbargen auch das blasse, schöne, herzförmige Gesicht keineswegs. Sie hielt sich am kräftigen Arm des Händlers fest und trat mit aufregendem Hüftschwung neben ihm in den blutbespritzten Raum. Moiraine und die anderen hatten sich hinüber begeben wo die Gai'schain das Lager der Weisen Frauen errichteten. Als das Pärchen zurückkehrte, schauderte die junge Frau kaum wahrnehmbar. Rand war sich sicher, daß sie sich verstellte, und er war sich auch sicher, daß sie dieses Schlachthaus hatte besichtigen wollen. Ihre zur Schau getragene Abneigung hielt kaum zwei Sekunden an, und dann sah sie sich interessiert unter den Aiel um.

Es schien, daß auch Rand zu den Sehenswürdigkeiten gehörte, die sie zu sehen wünschte. Kadere war wohl soweit, daß er sie zum Wagen zurückbringen wollte, doch sie führte ihn statt dessen zu Rand hinüber. Das verlockende Lächeln um ihre vollen Lippen war hinter dem durchscheinenden Schleier deutlich zu erkennen. »Hadnan hat mir von Euch erzählt«, sagte sie mit rauchiger Stimme. Sie hing wohl am Arm des Händlers, doch ihre dunklen Augen musterten Rand herausfordernd. »Ihr seid derjenige, von dem die Aiel sprechen. Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt.« Keille und der Gaukler kamen aus dem zweiten Wagen, standen in einiger Entfernung beieinander und beobachteten alles.

»Wie es scheint, bin ich das«, sagte er.

»Seltsam.« Ihr Lächeln wurde spitzbübisch und frech. »Ich glaubte, Ihr wärt hübscher.« Sie tätschelte Kaderes Wange und seufzte. »Diese schreckliche Hitze ist so anstrengend. Bleibt nicht zu lange draußen.« Kadere sagte nichts, bis sie die Stufen hinauf und in den Wagen gegangen war. Seinen Hut hatte er durch einen langen weißen Schal ersetzt, den er zusammengerollt auf seinen Kopf gebunden hatte. Die Enden hingen ihm im Nacken herunter. »Ihr müßt Isendre vergeben, guter Herr. Sie ist manchmal... zu offen.« Seine Stimme klang beruhigend, doch seine Augen gehörten einem Raubvogel. Er zögerte und fuhr dann fort: »Ich habe andere Dinge gehört. Ich habe gehört, daß Ihr Callandor aus dem Herz des Steins mitnahmt.« Die Augen des Mannes veränderten sich nie. Wenn er von Callandor wußte, dann war ihm auch klar, daß Rand der Wiedergeborene Drache war und daß er die Eine Macht benutzen konnte. Und immer noch veränderten sich seine Augen nicht. Ein gefährlicher Mann. »Ich habe gehört«, sagte Rand zu ihm, »daß man nichts glauben sollte, was man hört, und nur die Hälfte dessen, was man sieht.« »Eine weise Lebensregel«, sagte Kadere nach einem Augenblick des Zögerns. »Aber um Großes zu vollbringen, muß ein Mann etwas glauben. Glaube und Wissen pflastern den Weg zur Größe. Wissen ist vielleicht das Wertvollste von allem. Wir alle suchen die Münze des Wissens. Verzeiht mir, guter Herr. Isendre ist keine geduldige Frau. Vielleicht werden wir bald eine weitere Gelegenheit haben, uns zu unterhalten.« Bevor der Mann auch nur drei Schritte getan hatte, sagte Aviendha mit leiser, harter Stimme: »Ihr gehört zu Elayne, Rand al'Thor. Starrt Ihr jede Frau so an, die Euch vor die Augen kommt, oder nur diejenigen, die halbnackt herumlaufen? Wenn ich mich ausziehe, werdet Ihr mich dann ebenso anstarren? Ihr gehört zu Elayne!« Er hatte ihre Anwesenheit schon ganz vergessen. »Ich gehöre zu niemandem, Aviendha. Elayne? Sie scheint sich selbst nicht ganz darüber klar zu sein, was sie eigentlich will.« »Elayne hat Euch ihr Herz offenbart, Rand al'Thor. Wenn sie Euch das nicht im Stein von Tear klargemacht hat, haben Euch dann ihre beiden Briefe nicht gesagt, was sie fühlt? Ihr gehört ihr und keiner anderen.« Rand warf die Hände hoch und marschierte davon, weg von ihr. Wenigstens versuchte er das. Aber sie folgte ihm auf den Fersen — ein mißbilligender Schatten im grellen Sonnenschein.

Schwerter. Die Aiel hatten vielleicht vergessen, warum sie keine Schwerter trugen, aber sie verachteten sie nach wie vor. Schwerter könnten sie möglicherweise dazu bringen, daß sie ihn in Ruhe ließ. Er suchte Lan im Lager der Weisen Frauen und bat den Behüter, ihm beim Üben mit dem Schwert zuzusehen und ihn zu beraten. Bair war die einzige der vier, die zu sehen war, und die Falten in ihrem Gesicht wurden durch ihre finstere Miene noch vertieft. Auch Egwene war verschwunden. Moiraine trug ihre Ruhe wie eine Maske zur Schau. Ihre dunklen Augen blickten kühl drein. Er wußte nicht, ob sie seine Handlungsweise guthieß.

Es war nicht seine Absicht, die Aiel vor den Kopf zu stoßen, und so begab er sich mit Lan zwischen die Zelte der Weisen Frauen und die der Jindo. Er benützte eines der Übungsschwerter, die Lan im Gepäck hatte, mit zusammengeschnürten Leisten anstelle einer Klinge. Gewicht und Balance stimmten, und er war in der Lage, in dem tänzerischen Gleiten von einer Figur in die andere seine Umgebung zu vergessen. Das Übungsschwert erwachte in seinen Händen zum Leben, wurde ein Teil seiner selbst. Gewöhnlich war es jedenfalls so. Heute brannte die Sonne so unbarmherzig auf sie herab und sog ihnen jede Feuchtigkeit und Kraft aus den Gliedern. Aviendha hockte an der Seite, hatte die Arme um die Knie geschlungen und starrte ihn an.

Schließlich ließ er schwer atmend die Arme sinken.

»Ihr habt die Konzentration verloren«, sagte Lan zu ihm. »Ihr müßt sie aber halten, auch wenn Eure Muskeln zu Wasser werden. Verliert sie, und das ist der Tag, an dem Ihr sterbt. Und wahrscheinlich wird es ein Bauernjunge sein, der zum ersten Mal ein Schwert in der Hand hält, der Euch besiegt.« Plötzlich lächelte er. Auf seinem steinernen Gesicht wirkte das ganz ungewohnt.

»Ja. Nun ja, ich bin nun wohl kein Bauernjunge mehr, oder?« Sie hatten einige Zuschauer angezogen, wenn auch auf sichere Entfernung. An den Rändern der Lager sowohl der Jindo wie auch der Shaido standen die Aiel. Keilles in Beige gehüllte fette Gestalt hob sich von den Jindo ab, genau wie der Gaukler neben ihr in seinem bunten Flickenumhang. Wer von ihnen war ihm lieber? Jedenfalls wollte er nicht, daß sie merkten, wie er sie beobachtete. »Wie kämpfen die Aiel, Lan?« »Hart«, sagte der Behüter trocken. »Sie verlieren nie die Konzentration. Seht her.« Mit dem Schwert zog er auf dem harten, aufgesprungenen Boden einen Kreis und Pfeile. »Die Aiel wechseln ihre Taktik je nach den Gegebenheiten, aber hier ist eine ihrer Lieblingstaktiken. Sie marschieren in einer Kolonne, die in vier Viertel unterteilt ist. Wenn sie auf den Feind treffen, rennt die erste Gruppe vor, um ihn zu binden. Die zweite und die dritte weichen zur Seite hin aus und greifen an den Flanken und von hinten an. Das letzte Viertel wartet als Reserve und beobachtet manchmal nicht einmal den Kampf, außer dem Anführer. Wenn sich eine Schwäche beim Gegner zeigt, eine Lücke in der Formation oder sonstwas, dann schlägt die Reserve dort zu. Und Schluß!« Sein Schwert stach in den Kreis hinein, der bereits von Pfeilen durchbohrt war.

»Was kann man dagegen unternehmen?« fragte Rand.

»Das ist schwer zu sagen. Wenn der erste Kontakt hergestellt wird — Ihr werdet die Aiel sowieso nicht entdecken, bevor sie zuschlagen, es sei denn, Ihr habt Glück —, müßt Ihr sofort Reiter losschicken, die ihre Flankenangriffe zerschlagen oder zumindest aufhalten. Wenn Ihr den größeren Teil Eurer Kräfte zurückhaltet und den zentralen Angriff zurückschlagt, der Euch nur aufhalten soll, dann könnt Ihr Euch anschließend den anderen widmen und sie auch besiegen.« »Warum wollt Ihr lernen, wie man gegen Aiel kämpft?« platzte Aviendha heraus. »Seid Ihr nicht Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt, der dazu bestimmt ist, uns zu einen und zu altem Ruhm zurückzuführen? Außerdem, wenn Ihr wissen wollt, wie man gegen Aiel kämpft, dann fragt auch Aiel und keinen Feuchtländer. Seine Taktik funktioniert nicht.« »Sie hat von Zeit zu Zeit recht gut funktioniert, wenn ich Männer aus den Grenzlanden dafür zur Verfügung hatte.« Rhuarcs weiche Stiefel machten auf dem harten Boden kaum ein Geräusch. Er trug einen Wasserschlauch unter dem Arm. »Man kann immer Verständnis zeigen, wenn jemand eine Enttäuschung hinter sich hat, Aviendha, aber irgendwo gibt es eine Grenze. Ihr habt den Speer zugunsten Eurer Verpflichtung dem Volk und dem Blut gegenüber aufgegeben. Eines Tages werdet Ihr zweifellos einen Clanhäuptling dazu bringen, daß er tut, was Ihr sagt, und nicht, was er will, aber wenn Ihr statt dessen auch nur die Weise Frau der kleinsten Festung der kleinsten Septime der Taardad seid, so bleibt doch Eure Verpflichtung, und der kann man nicht mit Wutanfällen begegnen.« Eine Weise Frau. Rand fühlte sich wie ein Narr. Natürlich war sie deshalb nach Rhuidean gegangen. Aber er hätte nie gedacht, daß Aviendha freiwillig den Speer aufgeben werde. Das erklärte selbstverständlich auch, warum man sie erwählt hatte, bei ihm zu spionieren. Mit einemmal fragte er sich, ob sie die Macht benutzen könne. Ihm schien, daß Min die einzige Frau war, der er seit jener Winternacht begegnet war, die das nicht konnte.

Rhuarc warf ihm den wabbelnden Wasserschlauch zu. Das lauwarme Wasser floß durch seine Kehle wie gekühlter Wein. Er hielt sich zurück und schüttete nichts über sein Gesicht, um kein Wasser zu verschwenden, aber das kostete ihn Beherrschung.

»Ich dachte, du möchtest vielleicht lernen, mit dem Speer umzugehen«, sagte Rhuarc, als Rand schließlich den halbleeren Behälter sinken ließ. Erst jetzt sah Rand, daß der Häuptling nur zwei Speere trug und ebenfalls zwei der kleinen Schilde. Es waren keine Übungsspeere, falls es die überhaupt gab, und jeder hatte eine einen Fuß lange Stahlspitze.

Stahl oder Holz, seine Muskeln verlangten nach Ruhe. Seine Beine wollten ihn dazu bringen, daß er sich hinsetzte, und sein Kopf wollte sich niederlegen. Keille und der Gaukler waren weg, aber die Aiel in beiden Lagern schauten immer noch zu. Sie hatten gesehen, wie er mit einem der verachteten Schwerter übte, auch wenn es nur aus Holz war. Sie waren sein Volk. Er kannte sie zwar nicht, aber sie waren sein in mehr als einer Hinsicht. Auch Aviendha beobachtete ihn nach wie vor mit zornigen Blicken, als mache sie ihn dafür verantwortlich, daß Rhuarc sie heruntergeputzt hatte. Nicht, daß sie irgend etwas mit seiner Entscheidung zu tun hatte. Klar. Die Jindo und die Shaido schauten zu; das war der Grund.

»Dieser Berg wird manchmal schon schrecklich schwer«, seufzte er und nahm von Rhuarc einen Speer und ein Schild entgegen. »Wann findet man die Zeit dazu, ihn für eine Weile wegzulegen?« »Wenn Ihr sterbt«, sagte Lan schlicht.

Er zwang seine Beine dazu, sich zu bewegen, und bemühte sich dabei, Aviendha zu vergessen. So stellte er sich Rhuarc. Er hatte noch nicht vor, zu sterben. Noch lange nicht!

Mat lehnte an einem hohen Rad im Schatten eines Händlerwagens und beobachtete die vielen Jindo, die Rand beim Üben zusahen. Er konnte nur noch ihre Rücken sehen, so dicht gedrängt standen sie. Der Mann war doch ein kompletter Idiot, so in dieser Hitze herumzuhüpfen. Jeder vernünftige Mann suchte sich ein vor der Sonne geschütztes Plätzchen und etwas zu trinken. Er verlagerte sein Gewicht ein wenig und spähte in den Bierkrug. Das Bier hatte er von einem der Fahrer gekauft. Er verzog das Gesicht. Nichts schmeckte so richtig, wenn es nur eine warme Brühe war. Aber wenigstens war es naß. Das einzige, was er außer dem Hut noch gekauft hatte, war eine Pfeife mit kurzem Stiel und silberverziertem Kopf, die nun neben seinem Tabaksbeutel in der Tasche steckte. Ihm war nicht nach Feilschen zumute. Es sei denn, es ginge um eine Passage aus der Wüste hinaus, doch das war etwas, das im Moment von den Händlern wohl nicht angeboten wurde.

Die Geschäfte gingen ansonsten nicht schlecht, wenn sie auch nur wenig Bier verkauften. Den Aiel machte dessen Temperatur wohl nichts aus, aber es war ihnen zu schwach. Die meisten Käufer waren Jindo, aber aus dem anderen Lager kam ein stetiger Strom von Shaido herüber. Couladin und Kadere steckten lange Zeit die Köpfe zusammen, konnten sich aber wohl nicht einigen, denn Couladin ging wieder mit leeren Händen. Kadere schien das nicht gepaßt zu haben, denn er blickte Couladin mit diesen Raubvogelaugen nach, und ein Jindo, der seine Aufmerksamkeit gewinnen wollte, mußte ihn dreimal ansprechen, bevor er schließlich erhört wurde.

Die Aiel hatten nicht viel, was gemünztes Geld betraf, doch die Händler und ihre Leute nahmen gern auch Silberschüsseln oder kleine goldene Statuen oder schöne Wandbehänge, die sie aus Tear ›mitgenommen‹ hatten, und aus den Taschen der Aiel tauchten Goldnuggets und Klumpen von Rohsilber auf, die Mat denn doch erstaunt durch die Zähne pfeifen ließen. Doch bei einem Aiel, der im Würfelspiel verlor, konnte man nie sicher sein, ob er nicht zu seinem Speer griff. Er fragte sich, wo sich die Bergwerke befänden. Wo einer Gold fand, konnte auch ein anderer welches finden. Aber wahrscheinlich machte es eine Menge Arbeit, das Gold auszugraben. Er nahm einen langen Zug aus dem Bierkrug und lehnte sich wieder bequem an das Wagenrad.

Was sich verkaufte, was nicht, und zu welchem Preis, war sehr interessant. Die Aiel waren keine primitiven Hinterwäldler, die etwa einen goldenen Salzstreuer gegen einen Ballen Tuch eintauschten. Sie kannten den Wert der Dinge und feilschten gewaltig, aber sie hatten ihre eigenen Bedürfnisse. Bücher verkauften sich augenblicklich. Nicht jeder wollte welche, aber diejenigen, die Bücher kauften, nahmen absolut alle mit, die sich in den Wagen befanden. Spitzen und Samt verschwanden ebenso schnell, wie man sie herausbrachte, und das für erstaunliche Mengen an Silber und Gold, und selbst Bänder verkauften sich zu hohen Preisen, aber die beste Seide blieb unverkauft liegen. Seide war im Osten billiger. Das hörte er von einem Shaido, der mit Kadere darüber sprach. Ein breitschultriger Fahrer mit gebrochenem Nasenbein versuchte, eine Tochter des Speers von den Jindo zu überreden, ein aus Elfenbein geschnitztes Armband zu kaufen. Sie zog ein anderes aus ihrer Tasche, das breiter, dicker und noch kunstvoller geschnitzt war, und dann bot sie ihm an, mit ihm um beide zu ringen. Er zögerte, lehnte aber dann doch ab. Mat hielt ihn danach für noch dümmer, als er aussah. Nadeln und anderes Nähzeug verkauften sich sofort, aber die Topfwaren und die meisten Messer ernteten nur verächtliche Blicke. Die Schmiede der Aiel leisteten bessere Arbeit. Alles mögliche wanderte von einer Hand in die andere, vom Fläschchen mit Parfum und Badesalz bis zu Krügen mit Schnaps. Wein und Schnaps brachten gute Preise. Er war überrascht, als er hörte, wie Heim nach Tabak von den Zwei Flüssen verlangte. Die Händler hatten keinen.

Ein Fahrer versuchte immer wieder, das Interesse der Aiel an einer schweren, goldverzierten Armbrust zu wecken, hatte aber keinen Erfolg damit. Doch die Armbrust stach Mat ins Auge. All diese eingearbeiteten goldenen Löwen mit roten Augen, die wahrscheinlich kleine Rubine waren. Klein, aber immerhin — Rubine. Natürlich konnte ein guter Bogenschütze von den zwei Flüssen sechs Pfeile verschießen, während der Armbrustschütze noch die Sehne zum zweiten Schuß mit dem Spannhebel anzog. Allerdings hatte eine Armbrust von dieser Größe eine größere Reichweite, vielleicht hundert Schritt mehr. Zwei Männer, die nichts anderes zu tun hatten, als jedem Armbrustschützen sofort eine neue gespannte Armbrust mit Bolzen in die Hand zu drücken, während die eben benutzte wieder gespannt wurde, und dann kräftige Pikeure, um die Kavallerie des Gegners zu bremsen...

Mat verzog das Gesicht und stieß mit dem Kopf gegen eine der Speichen. Es war schon wieder passiert. Er mußte raus aus der Wüste, weg von Moiraine, weg von allen Aes Sedai. Vielleicht sollte er für eine Weile nach Hause gehen.

Möglicherweise konnte er noch rechtzeitig dort sein, um zu helfen, diese Probleme mit den Weißmänteln zu lösen. Ach, die Chancen sind gering, außer ich benutze die verdammten Kurzen Wege oder wieder einen verfluchten Portalstein. Das würde seine Probleme aber sowieso nicht lösen. Beispielsweise konnte er in Emondsfeld keine Antwort darauf finden, was diese Schlangenwesen damit gemeint hatten, daß er die Tochter der Neun Monde heiraten werde, oder mit dem Sterben und wieder Leben. Oder mit Rhuidean.

Durch den Stoff seines Wamses hindurch rieb er das Medaillon mit dem Fuchskopf, das wieder an seinem Hals hing. Die Pupille im Auge des Fuchses war ein winziger Kreis, der durch eine Schlangenlinie geteilt wurde. Die eine Seite glänzte hell, während die andere matt war. Das uralte Abzeichen der Aes Sedai vor der Zerstörung der Welt. Den Speer mit dem schwarzen Schaft, dessen Schwertklingenspitze durch zwei Raben gekennzeichnet war, nahm er nun von dem Platz neben sich, wo er ihn an den Wagen gelehnt hatte, und legte ihn sich über die Knie. Noch ein Werk der Aes Sedai. Rhuidean hatte keine Antworten geliefert, sondern lediglich neue Fragen aufgeworfen, und...

Vor Rhuidean hatte sein Gedächtnis große Lücken aufgewiesen. Wenn er damals versucht hatte, sich an etwas zu erinnern, war es so, als wisse er noch, daß er am Morgen durch eine Tür ging und am Abend wieder herauskam, aber was dazwischen lag, war dunkel geblieben. Jetzt gab es etwas dazwischen, das diese Lücken füllte. Wachträume oder etwas sehr Ähnliches. Es war, als könne er sich an Tanzveranstaltungen, an Kämpfe, an Straßen und Städte erinnern, die er alle niemals wirklich gesehen hatte und von denen er nicht einmal wußte, ob es sie je gegeben hatte. Wie hundert verschiedene Bruchstücke, die von hundert verschiedenen Menschen stammten. Vielleicht war es besser, sie als Träume zu betrachten — ein wenig besser zumindest —, aber er war sich all dieser Szenen genauso sicher, als seien es seine eigenen Erinnerungen. Am häufigsten kamen Kämpfe darin vor, und die schlichen sich gelegentlich in sein Bewußtsein ein, so wie das mit der Armbrust. Er ertappte sich dabei, wie er auf einen Fleck am Boden starrte und dabei plante, hier einen Hinterhalt anzulegen, oder sich gegen einen zur Wehr zu setzen, oder wie er sein Heer zur Schlacht anordnen solle. Es war verrückt.

Ohne hinzusehen, fuhr er die fließende Schrift auf dem schwarzen Speerschaft nach. Er konnte sie mittlerweile so leicht wie ein Buch lesen, auch wenn er den ganzen Marsch zurück zum Chaendaer dazu gebraucht hatte, bis ihm das klargeworden war. Rand hatte nichts gesagt, doch er glaubte, sich ihm gegenüber dort in Rhuidean verraten zu haben. Er sprach jetzt die Alte Sprache, und das kam allein von diesen Träumen her. Licht, was haben sie bloß mit mir angestellt? »Sa souvraya niende misain ye«, sagte er laut. »Ich bin verloren in meinem eigenen Geist.« »Ein Gelehrter, und das in diesen Tagen und diesem Zeitalter!« Mat sah auf und erblickte den Gaukler, der ihn aus dunklen, tiefliegenden Augen anschaute. Der Bursche war überdurchschnittlich groß, ungefähr von mittleren Jahren und wirkte wahrscheinlich auf Frauen anziehend. Nur hielt er den Kopf so eigenartig schief, als wolle er einen immer von der Seite her ganz eindringlich ansehen.

»Nur etwas, das ich mal gehört habe«, sagte Mat. Er mußte einfach vorsichtiger sein. Falls Moiraine sich entschloß, ihn zum Lernen in die Weiße Burg zu schicken, dann würden sie ihn nie wieder rauslassen. »Man hört irgendwelche Gesprächsfetzen und erinnert sich später daran. Ich weiß ein paar solcher Sachen.« Das sollte irgendwelche Ausrutscher einigermaßen decken, die ihm in seiner Dummheit passierten.

»Ich heiße Jasin Natael und bin Gaukler.« Natael schwenkte seinen Umhang nicht so wie Thom. Er hätte genausogut erklären können, daß er ein Zimmermann sei oder ein Wagner. »Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich Euch Gesellschaft leiste?« Mat nickte dem Boden in seiner Nähe zu, und der Gaukler schob sich den Umhang unter das Hinterteil und setzte sich drauf. Er schien fasziniert von dem Gewirr der Jindo und Shaido, die sich um die Wagen drängten. Die meisten trugen sogar noch Speere und Schilde. »Aiel«, murmelte er. »Anders, als ich erwartet hatte. Ich kann es immer noch kaum glauben.« »Ich bin nun schon seit Wochen bei ihnen«, sagte Mat, »und ich kann selbst kaum glauben, wie sie sich so verhalten. Ein eigenartiges Volk. Falls ein paar der Töchter des Speers Euch auffordern, mit ihnen den ›Kuß der Jungfrau‹ zu spielen, dann schlagt es ihnen ab. Höflich. Das rate ich Euch.« Natael zog fragend die Augenbrauen hoch. »Ihr führt ein aufregendes Leben, wie es scheint.« »Was meint Ihr damit?« fragte Mat vorsichtig.

»Ihr haltet es doch sicher nicht für ein Geheimnis? Nicht viele Männer reisen in Gesellschaft einer... einer Aes Sedai. Diese Frau Moiraine Damodred. Und dann noch Rand al'Thor. Der Wiedergeborene Drache. Er, Der Mit Der Morgendämmerung Kommt. Wer weiß schon, wie viele Weissagungen er noch erfüllen muß? Sicher doch ein ungewöhnlicher Reisegenosse.« Die Aiel hatten natürlich geplaudert. Das würde ja jeder. Aber es war doch ein wenig verwirrend, wenn ein Fremder seelenruhig auf diese Art von Rand sprach. »Er ist schon ganz in Ordnung. Wenn Ihr euch für ihn interessiert, dann sprecht mit ihm. Ich lasse mich nicht so gern daran erinnern.« »Vielleicht werde ich das. Später allerdings. Laßt uns ein wenig über Euch sprechen. Ich habe gehört, Ihr wart in Rhuidean, wo seit dreitausend Jahren niemand außer den Aiel war. Habt Ihr den dort bekommen?« Er faßte nach dem Speer auf Mats Knien, ließ die Hand aber wieder sinken, als Mat sich leicht zurückwich. »Also gut. Erzählt mir, was Ihr gesehen habt.« »Warum?« »Ich bin ein Gaukler, Matrim.« Natael hielt den Kopf wieder auf diese eigenartige Weise schief, und in seiner Stimme schwang der Ärger darüber mit, daß er das erklären mußte. Er hob eine Ecke seines bunten Flickenumhangs hoch, als sei das Beweis genug. »Ihr habt gesehen, was niemand sonst sah außer einer Handvoll Aiel. Welche Geschichten könnte ich erzählen über das, was Eure Augen erblickt haben? Ich werde sogar Euch zum Helden machen, wenn Ihr möchtet.« Mat schnaubte. »Ich will kein verdammter Held sein.« Andererseits gab es keinen Grund zu schweigen. Amys und die anderen sollten ruhig davon quatschen, daß man nicht von Rhuidean berichten durfte, aber er war kein Aiel. Außerdem konnte es nicht schaden, wenn man jemand unter den Händlern hatte, der einem wohlgesonnen war, jemand, der ein gutes Wort einlegen konnte, wenn man es brauchte.

So berichtete er von der Nebelmauer am Anfang bis zu dem Zeitpunkt, wo sie wieder herausgekommen waren, ließ aber ein paar ausgewählte Dinge weg. Er hatte nicht die Absicht, irgend jemand anderem von der Verdrehten Tür zu erzählen, diesem Ter'Angreal, und er hätte am liebsten diese aus dem Staub geformten Kreaturen vergessen, die versucht hatten, ihn zu töten. Diese eigenartige Stadt mit ihren riesigen Gebäuden reichte ja wohl, und natürlich Avendesora.

Den Baum des Lebens überging Natael ziemlich schnell, aber er ließ Mat den Rest immer wieder erzählen, fragte nach immer neuen Einzelheiten, wollte wissen, was für ein Gefühl es gewesen sei, diesen Nebel zu durchschreiten und wie lange er brauchte bis zu dem schattenlosen Lichtschein im Inneren, und Mat mußte ihm jeden einzelnen Gegenstand genau beschreiben, den er auf dem großen Platz im Mittelpunkt der Stadt gesehen hatte. Da zögerte Mat denn doch. Ein Ausrutscher, und er würde plötzlich doch von dem Ter'Angreal sprechen, na, und wer wußte schon, wohin das führte? Aber auch so trank er den letzten Schluck warmes Bier und redete immer noch weiter, bis seine Kehle ausgetrocknet war. Es klang alles eigentlich ziemlich langweilig, wie er es erzählte, als sei er einfach hineingegangen und habe gewartet, bis Rand zurück war, und dann seien sie wieder rausmarschiert. Doch Natael schien bedacht darauf, auch die allerletzte Einzelheit aus ihm herauszuholen. Da erinnerte er Mat an Thom. Manchmal konzentrierte sich auch Thom so sehr auf jemanden, daß es schien, er wolle ihn total leerquetschen. »Ist es das, was du vorhattest?« Mat fuhr unwillkürlich beim Erklingen von Keilles Stimme zusammen, die trotz der sanften Obertöne hart klang. Die Frau regte ihn auf und im Moment sah sie aus, als wolle sie ihn zerreißen und den Gaukler auch noch.

Natael stand auf. »Dieser junge Mann hat mir gerade die faszinierendsten Dinge über Rhuidean erzählt. Du wirst es nicht glauben.« »Wir sind nicht Rhuideans wegen hier.« Die Worte klangen so scharf wie ihre spitze Nase. Aber jetzt funkelte sie wenigstens nur noch Natael an.

»Ich sage dir doch... « »Du sagst mir gar nichts.« »Versuche nicht, mich zum Schweigen zu bringen!« Sie beachteten Mat nicht mehr und gingen einfach weiter die Reihe der Wagen entlang, wobei sie leise miteinander stritten und wild gestikulierten. Als sie schließlich in ihrem Wagen verschwanden, schien Keille den kürzeren gezogen zu haben, denn sie schwieg mürrisch.

Mat schauderte. Er konnte sich nicht vorstellen, mit dieser Frau zusammenzuleben. Das wäre das gleiche, als wohne man mit einem Bären zusammen, der ständig Zahnschmerzen hat. Isendre dagegen... Dieses Gesicht, diese Lippen, die Art, wie sie ihr Hinterteil beim Gehen schwenkte... Wenn er sie von Kadere weglocken könnte und sich ihr als der junge Held darbot — schließlich hätten diese Staubwesen durchaus zehn Fuß hoch gewesen sein können; für sie würde er sich aller Einzelheiten entsinnen oder welche erfinden — na ja, ein gut aussehender junger Held würde sie vielleicht mehr interessieren als ein verstaubter alter Händler. Das war es wert, ein wenig darüber nachzudenken.

Die Sonne glitt unter den Horizont, und kleine Lagerfeuer aus den Asten von Dornbüschen warfen ihr flackerndes Licht auf die Zelte. Der Geruch nach Essen erfüllte die Luft im Lager — Ziegenfleisch mit getrocknetem Paprika. Auch die Kälte drang ins Lager, die Kälte der Wüstennacht. Es war, als habe die Sonne alle Hitze mit sich in die Tiefe gerissen. Mat hatte damals, als er in Tear seine Sachen für die Reise zusammenpackte, nicht erwartet, daß er sich hier nach einem dicken Wollumhang sehnen würde. Vielleicht hatten die Händler einen zu verkaufen? Oder würde etwa Natael um seinen eigenen Umhang würfeln?

Er aß zusammen mit Heim und Rand an Rhuarcs Feuer. Und mit Aviendha natürlich. Auch die Händler waren da. Natael saß ganz dicht bei Keille, und Isendre wickelte sich beinahe um Kadere herum. Es würde vielleicht noch schwieriger sein, Isendre von dem Mann mit der Raubvogelnase wegzulocken, als er geglaubt hatte — oder etwa doch leichter? Obwohl sie sich derart an diesen Burschen schmiegte, hatte sie doch nur Augen für Rand und sonst niemanden. Man hätte glauben können, sie hätte Rand bereits die Ohren beschnitten wie bei einem Schaf, das markiert wird, damit man weiß, zu wessen Herde es gehört. Weder Rand noch Kadere schienen das zu bemerken. Auch der Händler konnte den Blick nicht von Rand wenden. Aviendha aber merkte natürlich alles, und sie blickte Rand finster und strafend an. Na, wenigstens kam etwas Wärme vom Feuer her.

Als sie den Ziegenbraten aufgegessen hatten und dazu eine Art von fleckigem, gelbem Brei, der würziger schmeckte, als er aussah, stopften Rhuarc und Heim ihre kurzen Pfeifen und der Clanhäuptling bat Natael, ihnen ein Lied vorzusingen.

Der Gaukler riß die Augen auf. »Aber — ja, sicher. Natürlich. Laßt mich eine Harfe holen.« Sein Umhang bauschte sich im trockenen, kalten Nachtwind auf, als er in Richtung von Keilles Wagen verschwand.

Der Bursche unterschied sich wirklich in beachtlichem Maße von Thom Merrilin. Thom stand am Morgen selten ohne Flöte oder Harfe oder beides auf. Mat stopfte mit dem Daumen seine silberverzierte Pfeife und paffte bereits zufrieden, als Natael zurückkehrte und sich in Pose stellte. Er wirkte wie ein König. Das sah nun Thom entschieden ähnlicher. Der Gaukler zupfte an einer Seite und begann:

»Der Wind so sanft wie die Finger des Frühlings. Der Regen so sanft wie die Tränen des Himmels. So sanft und froh gleiten die Jahre vorbei. Man ahnt die kommenden Stürme nicht, den reißenden Wirbelwind, den hallenden Donner, den Regen von Stahl und den Schlachtenlärm und den Krieg, der das Herz zerreißt.« Das war ›Mideans Furt‹, ein altes Lied. Seltsamerweise handelte es von Manetheren und einem Krieg lange vor demjenigen gegen die Trollocs. Nataels Vortrag war recht gut, wenn er auch nicht an Thoms grandiose Darbietungen herankam, aber die widerhallenden Worte brachten ihnen eine dichte Zuschauermenge ein, die sich am Rand des Feuerscheins drängte. Der schurkische Aedomon führte die Saferi in ein nichtsahnendes Manetheren, raubte und brandschatzte und trieb alle vor sich her, bis König Buiryn das Heer Manetherens versammelt hatte und sich den Saferi an Mideans Furt zum Kampf stellte. Sie hielten die Furt trotz der großen Übermacht des Gegners drei Tage lang, in denen unaufhörlich der Kampf tobte. Der Fluß färbte sich rot, und die Geier verdunkelten den Himmel. Am dritten Tag schwand die Zahl der Verteidiger und ihre Hoffnung dazu. Schließlich erkämpften sich Buiryn und seine Männer in einem verzweifelten Ausfall den Weg über den Fluß. Tief drangen sie in das Heer des Gegners ein und versuchten, ihn zum Zurückweichen zu bringen, indem sie Aedomon selbst töteten. Aber das Heer der Saferi war zu gewaltig. Es schloß sie ein und der Ring der Feinde wurde immer enger. Doch sie kämpften weiter, um den König und das Banner mit dem Roten Adler versammelt. Obwohl ihr Untergang sicher war, ergaben sie sich nicht.

Natael sang davon, wie ihr Mut schließlich sogar Aedomons Herz rührte, so daß er am Ende den Überlebenden freien Abzug gestattete und mit seinem Heer ihnen zu Ehre nach Safer zurückkehrte.

»Zurück über die blutroten Wasser

marschierten sie mit stolz erhobenem Kopf.

Sie hatten sich nicht ergeben,

ihren Stolz nicht dem Feinde geopfert.

Ruhm gebührt diesen Tapferen,

Ruhm, der die Zeit überdauert.«

Er zupfte den Schlußakkord, und die Aiel pfiffen begeistert und trommelten mit den Speeren auf die Lederschilde. Einige heulten sogar langgezogen wie die Wölfe.

Es war natürlich in Wirklichkeit anders verlaufen. Mat erinnerte sich daran — Licht, ich will doch gar nicht! Aber die Erinnerung drängte sich ihm auf. Er dachte daran, wie er Buiryn geraten hatte, das Angebot nicht anzunehmen, worauf der ihm gesagt hatte, daß auch eine geringe Chance besser sei als gar keine. Aedomon, dessen glänzend schwarzer Bart unter dem Gesichtsschutz aus Stahldraht heraushing, zog seine Pikeure zurück und wartete, bis sie alle in einer dünnen Reihe zur Furt marschierten. Dann erhoben sich plötzlich die vorher verborgenen Bogenschützen, und die Kavallerie griff an. Und ob sie wirklich nach Safer zurückkehrten... Mat glaubte es nicht. Seine letzte Erinnerung an die Furt war, daß er bis zur Hüfte im Wasser stand, versuchte, sich auf den Beinen zu halten, und bereits von drei Pfeilen getroffen worden war. Es war später auch noch irgend etwas da, allerdings nur ein Bruchstück: Aedomon, mittlerweile mit ergrautem Bart, der bei einem kurzen und heftigen Gefecht in einem Wald von seinem sich aufbäumenden Pferd stürzte. Den Speer, der in seinem Rücken steckte, hatte ein ansonsten unbewaffneter, bartloser Junge geschleudert. Das war alles noch schlimmer als die Gedächtnislücken vorher.

»Hat Euch das Lied nicht gefallen?« fragte Natael.

Mat brauchte einen Augenblick lang, bis ihm klar wurde, daß der Mann Rand und nicht ihn angesprochen hatte. Rand rieb sich die Hände und spähte in das kleine Feuer, bevor er schließlich erwiderte: »Ich weiß nicht, wie klug es ist, sich auf die Großzügigkeit eines Feindes zu verlassen. Wie denkt Ihr darüber, Kadere?« Der Händler zögerte und blickte die Frau an, die an seinem Arm hing. »Ich denke nicht über solche Dinge nach«, sagte er endlich. »Ich denke an Profite und nicht an Schlachten.« Keille lachte rauh. Jedenfalls bis sie Isendres herablassendes Lächeln wahrnahm. Dann glitzerten ihre dunklen Augen gefährlich hinter diesen Fettpolstern.

Plötzlich erklangen Warnschreie aus der Dunkelheit hinter den Zelten. Die Aiel zogen sich blitzschnell die Schleier vor die Gesichter und nur einen Augenblick später stürmten Trollocs aus der Nacht heran. Mit ihren Schnauzen und den Hörnern auf vielen Köpfen überragten sie die Menschen, heulten wild und schwangen ihre gekrümmten Sichelschwerter, stießen mit harpunenartigen Speeren und mit Widerhaken versehenen Dreizacken zu und hackten mit ihren Dornenäxten drauflos. Myrddraal glitten zwischen ihnen heran wie tödliche, augenlose Schlangen. Es dauerte nur einen Herzschlag lang, aber die Aiel kämpften, als seien sie schon eine Stunde vorher gewarnt worden. Sie begegneten dem Ansturm mit den eigenen zuckenden Speeren.

Mat nahm ganz vage Rand wahr, der plötzlich wieder sein Feuerschwert in der Hand hatte, aber dann wurde er in diesen wahnwitzigen Wirbel hineingerissen, kämpfte mit seinem Speer, indem er sowohl zustach, wie ihn auch bei Bedarf als Bauernspieß zum Zuschlagen zu verwenden. Schlitzen und stoßen und schlagen, und der Schaft wirbelte. Diesmal war er froh über seine Traumerinnerungen, denn sie kamen ihm nun zugute. Es war ihm ein vertrautes Gefühl, mit der Waffe auf diese Art umzugehen, und jetzt benötigte er jedes bißchen Können, auf das er zurückgreifen konnte. Es war der vollkommene Wahnsinn.

Trollocs ragten vor ihm auf und fielen durch seinen Speer oder durch einen Aielspeer, oder sie wurden in das Durcheinander von Schreien, Heulen und dröhnendem Stahl hineingesogen. Myrddraal standen ihm gegenüber. Ihre schwarzen Klingen trafen auf seinen mit Raben gekennzeichneten Stahl, und blaue Blitze zuckten auf, Flächenblitze gar. Sie standen ihm gegenüber und waren im Tumult wieder verschwunden. Zweimal rettete ihn einer der kurzen Speere, zischte an seinem Kopf vorbei und traf einen Trolloc, der ihn gerade von hinten durchbohren wollte. Er jagte seine Schwertklinge an der Spitze des Speers in die Brust eines Myrddraal und wußte, daß dieser sterben würde, denn er fiel wohl nicht, grinste aber mit diesen blutleeren Lippen, sandte mit seinem augenlosen Blick Schauder durch Mats Körper und zog sein schwarzes Schwert zurück. Einen Augenblick später zuckte der Körper des Halbmenschen, als Aielpfeile aus ihm ein Nadelkissen machten. Das Zucken reichte Mat gerade, um aus der Reichweite des Dings zu springen, bevor es endlich zu Boden stürzte. Doch selbst im Fallen und im Liegen versuchte es noch, ihn zu erreichen, auf alles einzustechen, was sich in der Nähe befand.

Ein Dutzend Mal konnte er mit dem eisenharten Schaft seines schwarzen Speers gerade noch den Hieb eines Trollocs ablenken. Der Speer war das Werk von Aes Sedai, und er war froh darüber. Der silberne Fuchskopf auf seiner Brust schien kalt zu pulsieren, als wolle er ihn daran erinnern, daß auch er das Zeichen der Aes Sedai trug. In diesem Augenblick aber war ihm das gleich. Wenn er die Aes Sedai benötigte, um am Leben zu bleiben, dann war er bereit, wie ein Schoßhündchen hinter Moiraine herzurennen.

Er verlor jegliches Zeitgefühl, wußte nicht, ob der Kampf nur Minuten dauerte oder Stunden, aber mit einemmal war kein Myrddraal oder Trolloc mehr auf den Beinen, der sich in Sichtweite befand, obwohl Schreie und Heulen aus der Dunkelheit auf eine Verfolgung schließen ließen. Tote und Sterbende bedeckten den Boden, Aiel wie Schattenwesen. Die Halbmenschen schlugen immer noch um sich. Stöhnen erfüllte die Luft mit Schmerz. Plötzlich wurde ihm bewußt, wie seine Muskeln versagten und seine Lunge brannte. Schwer atmend sank er auf die Knie und stützte sich auf seinen Speer. Flammen wie von Freudenfeuern schlugen aus dreien der Planwagen. Bei dem einen war der Fahrer von einem Trolloc-Speer an die Seite genagelt worden. Auch ein paar der Zelte brannten. Schreie aus der Richtung des Shaidolagers und Feuerschein, der zu groß war für Lagerfeuer, zeigten, daß auch dieses Lager überfallen worden war.

Mit dem Flammenschwert in der Hand kam Rand herüber zu Mat. »Bist du in Ordnung?« Aviendha kam wie ein Schatten hinterher. Irgendwo hatte sie einen Speer und einen Schild aufgetrieben und hatte einfach ihren Schal statt eines Schleiers um ihr Gesicht gewunden. Selbst im Rock wirkte sie noch tödlich.

»Ach, mir geht's gut«, murmelte Mat und erhob sich mühsam. »Nichts geht über einen kleinen Tanz mit Trollocs, um einen so richtig müde zum Schlafen zu machen. Stimmt's, Aviendha?« Sie nahm den Schal vom Gesicht und schenkte ihm ein etwas gezwungenes Lächeln. Der Frau hatte das möglicherweise Spaß gemacht! Er war schweißüberströmt und fürchtete, der Schweiß werde an seinem Körper anfrieren.

Moiraine und Egwene waren mittlerweile zusammen mit zwei der Weisen Frauen — Amys und Bair aufgetaucht, und sie gingen zwischen den Verwundeten umher. Überall, wo Moiraine sie heilen konnte, wanden sich die Verwundeten hinterher in Krämpfen, doch schlimmer war es, wenn sie nur den Kopf schüttelte und weiterging.

Rhuarc kam mit grimmiger Miene heran.

»Schlechte Nachrichten?« fragte Rand leise.

Der Clanhäuptling knurrte: »Abgesehen davon, daß sich Trollocs hier befinden, obwohl sie mindestens vierhundert Meilen von hier entfernt sein sollten? Vielleicht. Etwa fünfzig Trollocs haben das Lager der Weisen Frauen angegriffen. Es wären genug gewesen, um sie zu überwinden, wenn nicht Moiraine Sedai und das Glück auf unserer Seite gewesen wären. Wie auch immer, es scheint, die Shaido wurden von einer kleineren Gruppe überfallen als wir. Da ihres das größere Lager ist, hätte es logischerweise eigentlich umgekehrt sein müssen. Ich glaube beinahe, sie wurden nur angegriffen, um zu verhindern, daß sie uns zur Hilfe kamen. Nicht, daß ich mir dieser Hilfe sicher gewesen wäre bei den Shaido, aber das wissen die Trollocs und die Nachtläufer ja nicht.« »Und hätten sie gewußt, daß sich bei den Weisen Frauen eine Aes Sedai befindet«, sagte Rand, »dann wäre auch dieser Angriff in der Absicht geführt worden, sie von uns fernzuhalten. Ich bringe Euch Feinde ein, Rhuarc. Denkt daran. Wo ich auch sein mag, meine Feinde sind nie fern.« Isendre steckte den Kopf aus dem ersten Wagen. Einen Augenblick später kletterte Kadere an ihr vorbei herunter, und sie zog den Kopf wieder ein. Er schloß die weiß gestrichene Tür hinter sich. Dann sah er sich auf dem Schlachtfeld um. Der Feuerschein seiner brennenden Wagen warf flackernde Schatten auf sein Gesicht. Am konzentriertesten musterte er die Gruppe um Mat herum. Die Wagen schienen ihn überhaupt nicht zu interessieren. Auch Natael stieg aus Keilles Wagen, redete noch mit ihr, als er schon auf der Treppe stand, und blickte derweil bereits Mat und die anderen an.

»Narren«, murmelte Mat in sich hinein. »Sich in den Wagen zu verstecken, als ob das einem Trolloc etwas ausmacht. Drinnen hätte man sie genauso leicht lebendig rösten können.« »Sie leben ja noch«, sagte Rand, und Mat wurde bewußt, daß er sie auch beobachtet hatte. »Das ist immer wichtig, Mat, wer am Leben bleibt. Das ist wie beim Würfeln. Du kannst nicht gewinnen, wenn du nicht spielen kannst, und du kannst nicht spielen, wenn du tot bist. Wer weiß schon, welches Spiel diese Händler spielen.« Er lachte leise, und das Flammenschwert in seinen Händen verschwand.

»Ich werde jetzt ein bißchen schlafen«, sagte Mat und wandte sich ab. »Weck mich auf, falls die Trollocs wieder auftauchen. Oder besser, laß sie mich im Schlaf umbringen. Ich bin viel zu müde, um wieder aufzuwachen.« Rand schnappte nun wirklich beinahe über. Vielleicht konnte er heute nacht Keille und Kadere zum Umkehren überreden. Falls sie mitmachten, würde er dabei sein.

Rand ließ sich von Moiraine behandeln, obwohl er keine äußere Wunde davongetragen hatte. Sie knurrte irgend etwas. Da sie so viele Verwundete versorgen mußte, habe sie keine Zeit und Energie, seine bloße Erschöpfung mit Hilfe der Einen Macht wegzuwaschen.

»Der Angriff galt Euch«, sagte sie dann zu ihm inmitten des Stöhnens der Verwundeten. Die Trollocs schleifte man in die Nacht hinaus, im Notfall mit vorgespannten Packpferden und den Mauleseln der Händler. Die Aiel wollten offensichtlich die Myrddraal liegen lassen, bis sie aufhörten, sich zu bewegen und zu zucken. Sie wollten erst sicher gehen, daß sie wirklich tot waren. Der Wind frischte auf, wie ein Eishauch ohne jede Feuchtigkeit.

»Tatsächlich?« sagte er. Ihre Augen blitzten im Feuerschein auf, bevor sie sich wieder den Verwundeten zuwandte.

Auch Egwene kam zu ihm herüber, aber sie sagte nur in leisem, aber zornigem Flüsterton: »Was du auch machst, um sie wieder aufzuregen — hör auf damit!« Der Blick, den sie an ihm vorbei Aviendha zuwarf, ließ keinen Zweifel daran, wen sie gemeint hatte. Dann ging sie wieder, um Bair und Amys zu helfen. Er hatte keine Gelegenheit, etwas darauf zu sagen. Sie wirkte lächerlich mit diesen beiden Zöpfen und den hineingeflochtenen Bändern. Auch die Aiel schienen das so zu empfinden, denn ein paar von ihnen grinsten offen hinter ihr her.

Stolpernd und frierend suchte er sein Zelt. Er war noch niemals derart müde gewesen. Das Schwert war beinahe nicht erschienen. Er hoffte, daß es nur an seiner Erschöpfung gelegen hatte. Manchmal war überhaupt nichts da, wenn er nach der Wahren Quelle griff, und manchmal bewirkte die Macht nicht das, was er wollte, doch das Schwert war von Anfang an ohne Nachdenken einfach in seiner Hand erschienen. Und ausgerechnet diesmal... Es mußte an der Erschöpfung gelegen haben.

Aviendha bestand darauf, ihm bis zum Zelt zu folgen, und als er am nächsten Morgen erwachte, saß sie mit übergeschlagenen Beinen davor, wenn auch wieder ohne Speer und Schild. Ob sie nun spionierte oder nicht — er war froh über ihren Anblick. Wenigstens wußte er, wo und wer sie war und was sie für ihn empfand.

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