16 Abschiede

Perrin lag auf dem schweißdurchnäßten Bettuch, starrte die Decke an und schließlich bemerkte er, daß sich die Dunkelheit langsam grau färbte. Bald würde sich die Sonne über den Horizont schieben. Der Morgen nahte. Eine Zeit neuer Hoffnung; Zeit, aufzustehen und aktiv zu werden. Neue Hoffnungen. Beinahe hätte er gelacht. Wie lange hatte er wachgelegen? Sicher diesmal mehr als eine Stunde. Er kratzte sich in seinem mittlerweile lockigen Bart und sog scharf die Luft ein. Seine geschundene Schulter war im Schlaf wieder steif geworden. Er setzte sich langsam auf. Schweiß trat ihm aus allen Poren, als er mit dem Arm Gymnastikübungen probierte. Er machte jedoch methodisch weiter damit, unterdrückte das Stöhnen und gelegentlich einen Fluch, und endlich konnte er den Arm wieder richtig bewegen, wenn auch nicht schmerzfrei.

Das bißchen Schlaf, das er genossen hatte, war auch noch unruhig und überhaupt nicht erholsam gewesen. Wenn er wach lag, sah er Failes Gesicht vor sich. Ihre dunklen Augen klagten ihn an. Der Schmerz, den er ihr zugefügt hatte, ließ ihn nicht ruhen. Wenn er schlief, träumte er davon, wie er zum Galgen geführt wurde, wie Faile dabei zusah, oder noch schlimmer, wie sie versuchte, die Hinrichtung zu verhindern, wie sie gegen Weißmäntel mit ihren Lanzen und Schwertern zu kämpfen versuchte, und er schrie, als sie ihm die Schlinge um den Hals legten, schrie, weil die Weißmäntel Faile töteten. Manchmal sah sie ihnen auch mit einem grimmigzufriedenen Lächeln zu, während sie ihn hängten. Kein Wunder, wenn er immer wieder aus solchen Träumen schweißgebadet hochschreckte. Einmal hatte er geträumt, daß aus einem Wald Wölfe zu Hilfe geeilt waren und Faile und ihn gerettet hatten. Doch dafür wurden sie von den Lanzen der Weißmäntel aufgespießt oder von ihren Pfeilen durchbohrt. Es war alles andere als eine ruhige Nacht gewesen. Er wusch sich und zog sich so schnell wie möglich an, und dann verließ er das Zimmer, als könne er auch die Erinnerung an seine Träume dort zurücklassen.

Von dem nächtlichen Angriff waren nur noch wenige Spuren zu sehen. Vereinzelte Schlitze in den Tapeten, die eine oder andere Ecke einer Truhe, die von einer Axt abgesplittert worden war, oder ein heller Fleck am Boden, wo man einen blutgetränkten Läufer entfernt hatte, waren alles. Die Majhere hatte Scharen von Dienern ausgeschickt, und obwohl viele Bandagen trugen, fegten und putzten sie, trugen beschädigte Gegenstände fort und ersetzten sie. Sie humpelte auf einen Stock gestützt dazwischen herum: eine mollige Frau, deren graues Haar durch eine um die Stirn gewickelte Binde hochgeschoben wurde. Mit fester Stimme gab sie ihre Anordnungen in der eindeutigen Absicht, jede noch so kleine Spur des Angriffs auf den Stein zu beseitigen. Sie sah Perrin und knickste kaum sichtbar. Selbst die Hochlords sahen kaum einmal eine weitergehende Ehrenbezeugung von ihr, auch wenn sie gesund war. Trotz all der Putzerei und Schrubberei, trotz des Geruchs nach frischem Bohnerwachs und Seifenlaugen konnte Perrin immer noch einen schwachen Blutgeruch wahrnehmen, beißend metallisch, wo es sich um menschliches Blut gehandelt hatte, faulig stinkendes Trolloc-Blut und hier und da auch den ätzenden Gestank nach Myrddraal-Blut, der ihm in die Nase biß. Er war froh, wenn er von hier weg konnte.

Die Tür zu Loials Zimmer maß eine Spanne in der Breite und war mehr als zwei Spannen hoch. Der Türgriff war übergroß und hatte die Form von ineinander verwundenen Ranken. Er saß etwa in der Höhe von Perrins Kopf. Der Stein verfügte über eine Reihe von selten benützten Ogier-Gästezimmern. Wohl ging der Bau des Steins von Tear auf eine Zeit noch vor der großen Zeit der Ogier-Bauten zurück, aber es war eine Prestigeangelegenheit, wenigstens von Zeit zu Zeit bei Reparaturarbeiten Ogier-Steinmetzen einzusetzen. Perrin klopfte und auf das ›Herein‹ einer Stimme, die wie eine langsame Lawine klang, hob er den Türgriff an und trat ein.

Das Zimmer entsprach dem Größenmaßstab der Tür. Doch Loial, der hemdsärmelig und mit einer langen Pfeife zwischen den Zähnen auf dem mit Blättern verzierten Teppich stand, ließ die Einrichtung durch seine Größe schon wieder normal erscheinen. Der Ogier war größer als ein Trolloc, wenn auch etwas schlanker, und trug hüfthohe Stiefel mit breiten Sohlen. Sein dunkelgrüner Rock, der bis zur Hüfte zugeknöpft war und dann wie ein Kilt weit ausgestellt über die Pumphosen hinwegstand, wirkte mittlerweile nicht mehr belustigend auf Perrin, aber selbst für andere hätte ein Blick genügt, um zu zeigen, daß dies kein gewöhnlicher Mann in einem gewöhnlichen Zimmer sein konnte. Die Nase des Ogiers war so breit, daß sie schon wie ein kleiner Rüssel wirkte, und die Augenbrauen hingen so lang wie ein Schnurrbart neben teetassengroßen Augen herunter. Spitze Ohren mit Haarbüscheln obenauf schoben sich durch buschiges schwarzes Haar, das ihm beinahe bis auf die Schultern reichte. Als er Perrin um den Pfeifenstiel herum angrinste, war das Grinsen so breit, daß es fast sein Gesicht spaltete.

»Guten Morgen, Perrin«, grollte er, und dann nahm er die Pfeife aus dem Mund. »Hast du gut geschlafen? Nicht leicht nach einem Abend wie dem letzten. Ich bin die halbe Nacht aufgeblieben und habe alles aufgeschrieben, was geschehen ist.« Er trug in der freien Hand eine Feder, und auf seinen wurstdicken Fingern waren Tintenflecke zu sehen.

Überall lagen Bücher — auf den Stühlen im Ogierformat, dem riesigen Bett und dem Tisch, dessen Fläche sich auf der Höhe von Perrins Brust befand. Das mit den Büchern war nicht überraschend, aber die Blumen schon. Blumen jeder Art und jeder Farbe. Vasen und Körbe voller Blumen, manche mit einem schönen Band oder sogar auch einmal mit einem Faden zusammengebunden, standen aufgereiht, so daß es wie in einem Garten wirkte. Perrin hatte so etwas noch nie in einem Zimmer gesehen. Ihr Duft erfüllte die Luft. Aber was Perrin besonders auffiel, war die dicke Beule auf Loials Kopf, groß wie eine Männerfaust, und das schwerfällige Hinken des Ogiers. Falls Loial zu stark verletzt war, um die Reise mitzumachen... Er schämte sich, so egoistisch zu denken — der Ogier war schließlich sein Freund —, aber er konnte nicht anders.

»Bist du verwundet, Loial? Moiraine kann dich doch heilen. Ich bin sicher, daß sie es tut.« »Ach, ich schaffe das schon ohne Hilfe. Und es gab so viele, die wirklich ihre Hilfe benötigten. Ich möchte sie nicht belästigen. Ich bin ja auch in meiner Arbeit keineswegs behindert.« Loial blickte dabei kurz zum Tisch hinüber, wo ein großes, ledergebundenes Buch geöffnet neben einer ebenfalls offenen Tintenflasche lag. Das Buch war auch für Loial ziemlich groß, paßte aber dennoch in eine seiner Rocktaschen. »Ich hoffe, daß ich alles korrekt festgehalten habe. Ich habe gestern abend nicht viel gesehen, bis alles vorüber war.« »Loial«, sagte Faile, die mit einem Buch in der Hand hinter einer Blumenbank aufstand, »Loial ist ein Held.« Perrin zuckte sichtlich zusammen. Die Blumen hatten ihren Parfumduft völlig überlagert. Loial gab beruhigende Laute von sich, und seine Ohren zuckten verlegen. Er winkte ihr mit seinen großen Pratzen zu, um sie zum Schweigen zu bringen, aber sie fuhr fort. Ihre Stimme klang kühl, doch ihr Blick ruhte heiß auf Perrins Gesicht.

»Er hat so viele Kinder wie möglich um sich gesammelt und auch einige ihrer Mütter, ist mit ihnen in einen großen Raum gegangen und hat ganz allein während des gesamten Kampfes die Tür gegen die Trollocs und Myrddraal verteidigt. Diese Blumen stammen von den Frauen im Stein und sollen ihm Ehre erweisen und ihre Dankbarkeit zeigen für seinen Mut, seine Standhaftigkeit und Treue.« Die Worte ›Standhaftigkeit‹ und ›Treue‹ klangen für Perrin wie Peitschenhiebe.

Perrin bemühte sich, nicht wieder dabei zusammenzuzucken, aber es gelang ihm gerade so eben. Was er getan hatte, war richtig gewesen, doch er konnte natürlich nicht erwarten, daß sie das einsah. Selbst wenn sie wüßte, warum er das getan hatte, würde sie es wohl nicht einsehen. Es war richtig. Ganz und gar richtig. Er wünschte sich nur, er hätte ein besseres Gefühl dabei. Es war einfach nicht fair, zu wissen, daß er recht hatte, und sich trotzdem im Unrecht zu fühlen.

»Es war doch gar nichts«, sagte Loial mit wild zuckenden Ohren. »Es ist doch bloß so, daß sich die Kinder nicht selbst verteidigen konnten. Das ist alles. Keine Heldentat. Nein.« »Unsinn.« Faile steckte einen Finger in ihr Buch, um ihre Seite nicht zu verlieren, und trat näher an den Ogier heran. Sie reichte ihm nicht einmal bis zur Brust. »Es gibt keine Frau im Stein, die dich nicht heiraten würde, wenn du ein Mensch wärst, und manche würden es wohl auch so tun. Loial ist der richtige Name für dich, denn die Loyalität ist deine zweite Natur. Das muß eine Frau doch lieben.« Die Ohren des Ogiers wurden vor Schreck steif, und Perrin grinste. Sie hatte offensichtlich den ganzen Morgen Loial Honig um den Mund geschmiert, in der Hoffnung, der Ogier werde bereit sein, sie auf jeden Fall mitzunehmen, aber nun war sie, ohne es zu wissen, gewaltig über das Ziel hinausgeschossen. »Hast du etwas von deiner Mutter gehört, Loial?« fragte Perrin mit Unschuldsmiene.

»Nein.« Loial brachte es fertig, gleichzeitig erleichtert und besorgt zu klingen. »Aber gestern habe ich in der Stadt Laefar getroffen. Er war genauso überrascht, mich zu sehen, wie ich, ihn. Wir sind ja in Tear alles andere als ein alltäglicher Anblick. Er kam vom Stedding Schangtai her, um über Reparaturarbeiten an einigen von Ogier erbauten Teilen von Schlössern zu verhandeln. Ich bezweifle nicht, daß seine ersten Worte zu Hause im Stedding sein werden: ›Loial ist in Tear.‹« »Das klingt nach Schwierigkeiten«, sagte Perrin, und Loial nickte betrübt.

»Laefar hat gesagt, daß mich die Ältesten zum Ausreißer erklärt haben und meine Mutter habe ihnen versprochen, mich zu verheiraten und dazu zu bringen, daß ich mich niederlasse. Sie hat mir sogar schon jemand ausgesucht. Laefar wußte nicht, wen. Zumindest behauptete er das. Er hält so etwas für lustig. Sie könnte in etwa einem Monat hier ankommen.« Failes Gesicht war ein Abbild von Verwirrung, was Perrin beinahe wieder zum Grinsen gebracht hätte. Sie behauptete immer, sie wisse soviel mehr von der Welt als er, und eigentlich war das ja auch richtig, aber sie kannte Loial nicht. Das Stedding Schangtai war Loials Heimat oben am Rückgrat der Welt, und da er kaum die neunzig Jahre überschritten hatte, hielt man ihn für zu jung, um auf eigene Faust in die Welt der Menschen hinauszureisen. Ogier hatten eine sehr lange Lebensspanne. Nach ihren Maßstäben war Loial nicht älter als Perrin; vielleicht sogar jünger. Aber Loial war trotzdem losgezogen, um die Welt zu sehen, und seine schlimmste Angstvorstellung bestand darin, seine Mutter könne ihn finden und ins Stedding zurückschleifen, um ihn dort zu verheiraten, so daß er nie mehr wegkönnte.

Während sich Faile bemühte, zu verstehen, was eigentlich vorging, sprach Perrin in das verlegene Schweigen hinein: »Ich muß zurück zu den Zwei Flüssen, Loial. Dort findet dich deine Mutter bestimmt nicht.« »Ja, das ist wahr.« Der Ogier zuckte verlegen die Achseln. »Aber mein Buch. Rands Geschichte. Und deine und die Mats. Ich habe schon so viele Notizen gesammelt, doch... « Er ging um den Tisch herum nach hinten und betrachtete das geöffnete Buch, dessen Seiten mit seiner gestochen sauberen Schrift bedeckt waren. »Ich werde derjenige sein, der die wahre Geschichte des Wiedergeborenen Drachen niederschreibt, Perrin. Das einzige Buch von jemandem, der mit ihm gezogen ist und der dabei war, als die Dinge geschahen. Der Wiedergeborene Drache von Loial, Sohn des Arent, Sohn des Halan, aus dem Stedding Schangtai.« Er runzelte die Stirn, beugte sich über das Buch und stippte seine Feder in die Tintenflasche. »Das hier stimmt nicht ganz. Es war eher... « Perrin legte eine Hand auf die Seite, auf der Loial weiterschreiben wollte. »Du wirst kein Buch schreiben, wenn dich deine Mutter findet. Jedenfalls keines über Rand. Und ich brauche dich, Loial.« »Brauchen, Perrin? Ich verstehe dich nicht.« »An den Zwei Flüssen treiben sich Weißmäntel herum. Sie suchen mich.« »Suchen dich? Aber warum?« Loial blickte beinahe genauso verwirrt drein wie vorher Faile. Die hatte sich andererseits eine Art von gelassener Genugtuung zugelegt, die Perrin Sorgen bereitete. Trotzdem fuhr er fort.

»Die Gründe spielen keine Rolle. Tatsache ist, daß sie mich suchen. Sie werden möglicherweise Menschen etwas antun, meiner Familie zum Beispiel, um mich aufzuspüren. Ich weiß das, denn ich kenne die Weißmäntel. Ich kann es vielleicht verhindern, wenn ich schnell hinkomme, aber es muß sehr schnell gehen. Das Licht allein weiß, was sie schon alles angerichtet haben. Ich brauche dich, damit du mich hinbringst, Loial. Die Kurzen Wege. Du hast mir einmal gesagt, es befinde sich ein Wegetor hier in der Nähe. Und ich weiß, daß in Manetheren eines war. Es muß immer noch dort sein, irgendwo in den Bergen über Emondsfeld. Nichts kann ein Wegetor zerstören, hast du gesagt. Deshalb brauche ich dich, Loial.« »Aber natürlich werde ich dir helfen«, sagte Loial. »Die Kurzen Wege.« Er atmete vernehmlich aus, und seine Ohren welkten ein wenig. »Ich möchte an sich über Abenteuer berichten, aber sie nicht selbst erleben. Nun, ich schätze, einmal mehr wird auch nicht schaden. Das Licht helfe uns«, schloß er.

Faile räusperte sich verlegen. »Vergißt du nicht etwas, Loial? Du hast mir versprochen, mich mit in die Wege zu nehmen, wann immer ich wollte und bevor du irgend jemand sonst dorthin bringst.« »Ich habe versprochen, dir ein Wegetor zu zeigen«, sagte Loial, »und wie es drinnen aussieht. Das kannst du haben, wenn Perrin und ich gehen. Ich denke schon, daß du mit uns kommen könntest, aber man benützt die Wege nicht so leichthin, Faile. Ich selbst würde sie nicht betreten, wenn Perrin nicht meine Hilfe benötigte.« »Faile kommt nicht mit«, sagte Perrin entschlossen. »Nur du und ich, Loial.« Faile ignorierte ihn und lächelte zu Loial empor, als necke er sie nur. »Du hast mir mehr versprochen, als mir ein Wegetor zu zeigen, Loial: mich hinzubringen, wo immer ich hin möchte, und das noch vor jedem anderen. Das hast du mir geschworen.« »Stimmt schon«, protestierte Loial, »aber nur, weil du nicht glauben wolltest, daß ich es dir wirklich zeige. Du sagtest, du würdest mir nicht glauben, wenn ich nicht schwöre. Ich halte mein Versprechen, aber du wirst doch nicht wollen, daß ich dich Perrins Not vorziehe!« »Du hast es geschworen«, sagte Faile gelassen. »Bei deiner Mutter und der Mutter deiner Mutter und der Mutter der Mutter deiner Mutter.« »Ja, habe ich, Faile, aber Perrin... « »Du hast es geschworen, Loial. Hast du vor, deinen Eid zu brechen?« Der Ogier war ein Bild des Jammers. Seine Schultern sackten herab, seine Ohren hingen herunter, die Mundwinkel wiesen nach unten und die Enden seiner langen Augenbrauen streiften seine Wangen.

»Sie hat dich ausgetrickst, Loial.« Perrin fragte sich, ob sie sein Zähneknirschen hören konnten. »Sie hat dich mit voller Absicht an der Nase herumgeführt.« Failes Wangen liefen rot an, aber sie hatte immer noch die Stirn, zu sagen: »Nur weil ich mußte, Loial. Nur weil ein närrischer Mann glaubt, er könne mein Leben so beeinflussen, wie es seiner Absicht entspricht. Sonst hätte ich das nicht getan. Das mußt du mir glauben.« »Ist es dir denn gleich, daß sie dich hinters Licht geführt hat?« wollte Perrin wissen, und Loial schüttelte traurig den mächtigen Kopf.

»Ogier halten immer ihr Wort«, sagte Faile. »Und Loial wird mich zu den Zwei Flüssen bringen. Oder wenigstens zum Wegetor in Manetheren. Ich möchte gern die Zwei Flüsse kennenlernen.« Loial richtete sich zu voller Größe auf. »Aber das bedeutet ja, daß ich Perrin trotzdem helfen kann. Faile, warum hast du das nicht gleich gesagt? So etwas fände nicht einmal Faelar noch lustig.« In seinem Tonfall lag eine Andeutung von Ärger. Es gehörte schon einiges dazu, den Zorn eines Ogiers zu erregen.

»Wenn er mich darum bittet«, sagte sie entschlossen. »Das war ein Teil deines Versprechens, Loial. Nur du und ich, es sei denn, jemand anders bittet mich darum, mitgenommen zu werden. Er muß mich darum bitten.« »Nein«, sagte Perrin zu ihr, während Loial den Mund noch nicht aufbekam. »Nein, ich bitte dich nicht. Lieber reite ich von hier nach Emondsfeld. Oder ich laufe! Also kannst du deine idiotische Idee gleich aufgeben. Loial austricksen und versuchen, dich in etwas hineinzudrängen, wo du nicht... erwünscht bist.« Ihre Ruhe machte nun dem Zorn Platz. »Und bis du ankommst, haben Loial und ich bereits die Weißmäntel erledigt. Es wird alles vorbei sein. Bitte mich gefälligst darum, du amboßköpfiger Grobschmied! Bitte nur, und du kannst mit uns kommen.« Perrin beherrschte sich mühsam. Es gab keine Möglichkeit, sie mit irgendwelchen Argumenten zu überzeugen, aber bitten würde er sie nicht darum. Sie hatte recht: Er würde Wochen brauchen, um die Zwei Flüsse zu Pferde zu erreichen. Durch die Wege könnten sie dagegen in zwei Tagen dort sein. Aber sie darum bitten? — Nein! Nicht, nachdem sie Loial so hereingelegt hat und mich einfach übertölpeln wollte! »Dann gehe ich eben allein durch die Wege nach Manetheren. Ich werde euch beiden folgen. Ich bleibe weit genug zurück, um nicht zu euch zu gehören, so daß Loial seinen Eid nicht brechen muß. Du kannst nicht verhindern, daß ich euch folge.« »Das ist gefährlich, Perrin«, sagte Loial besorgt. »In den Wegen ist es dunkel. Wenn du eine Biegung verfehlst oder zufällig die falsche Brücke überquerst, bist du für immer verloren. Oder, bis Machin Shin dich erwischt. Bitte sie, Perrin. Sie sagte, daß du mitkommen könntest, wenn du willst. Bitte sie darum.« Die tiefe Stimme des Ogiers zitterte, als er den Namen Machin Shin erwähnte, und Perrin lief es auch kalt den Rücken hinunter. Machin Shin. Der Schwarze Wind fraß Seelen auf, das wußte Perrin sehr genau. Nicht einmal die Aes Sedai wußten genau, ob es ein Schattenwesen oder aus dem Verfall der Wege selbst hervorgegangen war. Machin Shin war der Grund, warum man sein Leben riskierte, wenn man die Wege benützte, so behaupteten die Aes Sedai. Doch Perrin brachte es fertig, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen und mit ruhiger Stimme zu sprechen. Ich will versengt werden, wenn ich ihr die Genugtuung gestatte, daß ich nachgebe. »Ich kann nicht, Loial. Und ich werde es auf keinen Fall tun.« Loial verzog das Gesicht. »Faile, es wird gefährlich für ihn, wenn er uns zu folgen versucht. Bitte gib doch nach und laß ihn... « Sie unterbrach ihn abrupt. »Nein. Wenn er schon zu stur ist, um mich darum zu bitten, warum sollte ich dann nachgeben? Warum soll ich mich darum scheren, wenn er dort verlorengeht?« Sie wandte sich Perrin zu. »Du kannst ja nahe bei uns bleiben. So nahe es notwendig ist, aber es muß klar sein, daß du uns lediglich folgst. Du wirst mir wie ein Hündchen hinterherlaufen, bis du mich bittest. Warum tust du es nicht?« »Sture Menschen«, knurrte der Ogier. »Übereilt und stur, selbst wenn einen die Hetzerei direkt in ein Hornissennest führt.« »Ich würde gern heute noch abreisen, Loial«, sagte Perrin, wobei er es vermied, Faile anzusehen.

»Es ist am besten, schnell abzureisen«, stimmte ihm Loial zu, wobei er das Buch auf dem Tisch bedauernd beäugte. »Ich denke, ich kann meine Notizen auch unterwegs überarbeiten. Das Licht weiß, was ich alles versäume, wenn ich nicht bei Rand bleibe.« »Hast du mich verstanden, Perrin?« wollte Faile wissen.

»Ich werde mein Pferd holen und ein paar Vorräte, Loial. Am Vormittag können wir aufbrechen.« »Seng dich, Perrin Aybara, antworte mir gefälligst!« Loial musterte sie besorgt. »Perrin, bist du sicher, daß du nicht doch lieber... « »Nein«, unterbrach ihn Perrin sanftmütig. »Sie ist starrköpfig wie ein Maulesel und sie legt einen gern herein. Ich spiele nicht den Tanzbär, damit sie sich amüsiert.« Er überhörte den Laut, der Failes Kehle entwich, wie der einer Katze, die einen fremden Hund beobachtet und auf einen Angriff vorbereitet ist. »Ich lasse es dich wissen, wenn ich aufbruchbereit bin.« Er ging zur Tür und sie rief ihm zornig nach: »Das ›Wann‹ ist meine Entscheidung, Perrin Aybara. Hörst du mich? Meine und Loials. Du solltest besser in zwei Stunden fertig sein, sonst lassen wir dich hier zurück. Du kannst uns am Stall beim Drachenbergtor finden, falls du mitkommst. Hörst du mich?« Er nahm noch eine Bewegung wahr und schloß schnell die Tür hinter sich. Fast im gleichen Moment krachte etwas hart gegen die Tür. Ein Buch wahrscheinlich. Das hätte sie wohl besser nicht getan. Es war leichter, Loial eins über den Schädel zu geben, als einem seiner Bücher Schaden zuzufügen.

Einen Augenblick lang lehnte er sich verzweifelt an die Tür. Alles, was er getan hatte, was er durchgemacht hatte, damit sie ihn hassen sollte, und nun würde sie doch dabeisein, wenn er starb. Und jetzt konnte er ihr höchstens noch viel Vergnügen dazu wünschen. Stures, mauleselköpfiges Weib!

Als er sich zum Gehen wandte, näherte sich ihm einer der Aiel, ein hochgewachsener Mann mit rötlichem Haar und grünen Augen, der gut und gern Rands älterer Cousin oder sein jüngerer Onkel hätte sein können. Er kannte den Mann und konnte ihn gut leiden, besonders — aber nicht nur deshalb — weil Gaul niemals seine gelben Augen auch nur zu bemerken schien. »Ich wünsche dir, daß du heute morgen Schatten findest, Perrin. Die Majhere sagte mir, daß du hierhergegangen seist, obwohl sie mir wohl lieber einen Besen in die Hand gedrückt hätte. Genauso hart wie eine der Weisen Frauen.« »Ich wünsche dir auch, daß du heute morgen Schatten findest, Gaul. Wenn du mich fragst, sind sowieso alle Frauen Dickschädel.« »Vielleicht, wenn du nicht weist, wie du das umgehen kannst. Ich hörte, daß du zu den Zwei Flüssen ziehen willst.« »Licht!« grollte Perrin, bevor der Aiel weitersprechen konnte. »Weiß das etwa schon der ganze Stein?« Falls Moiraine Bescheid wußte... Gaul schüttelte den Kopf. »Rand al'Thor hat mich beiseite genommen und mit mir darüber gesprochen. Er hat mich auch gebeten, es nicht weiterzusagen. Ich glaube, daß er noch mit anderen gesprochen hat, aber ich weiß nicht, wie viele mit dir gehen wollen. Wir sind schon ziemlich lange auf dieser Seite der Drachenmauer gewesen, und viele würden nur zu gern ins Dreifache Land zurückkehren.« »Mit mir kommen?« fragte Perrin wie betäubt. Wenn er Aiel mitbringen könnte... Das waren Möglichkeiten, über die er nicht gewagt hatte, überhaupt nachzudenken. »Rand hat dich gebeten, mich zu begleiten? Zu den Zwei Flüssen?« Gaul schüttelte noch einmal den Kopf. »Er sagte nur, daß du gehen würdest und daß es dort Männer gäbe, die versuchen würden, dich zu töten. Ich für meinen Teil würde dich aber schon gern begleiten, falls du das Angebot annimmst.« »Falls?« Perrin hätte beinahe gelacht. »Und wie ich es annehmen werde! Wir gehen in ein paar Stunden in die Kurzen Wege.« »Die Wege?« Gauls Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber seine Augen weiteten sich ein wenig.

»Ändert das etwas an deinem Entschluß?« »Der Tod ereilt uns alle früher oder später, Perrin.« Die Antwort war auch nicht gerade beruhigend.

»Ich kann nicht glauben, daß Rand so grausam ist«, sagte Egwene, und Nynaeve fügte hinzu: »Zumindest hat er nicht versucht, dich aufzuhalten.« Sie saßen auf Nynaeves Bett und teilten sich das Gold untereinander auf, das ihnen Moiraine gegeben hatte. Für jede waren es vier prall gefüllte Beutel, für die sie Taschen unter Elaynes und Nynaeves Rock eingenäht hatten, und einen weiteren, nicht groß genug, um aufzufallen, würden sie dann jede in ihrer Gürteltasche tragen. Egwene nahm weniger mit, da sie in der Wüste wohl kaum viel Gold brauchen würde.

Elayne blickte zweifelnd die beiden sauber verschnürten Bündel und die Ledertasche an, die neben der Tür lagen. Darin steckten all ihre Kleider und andere Sachen: ein Besteckkasten, Haarbürste und Kamm, Nadeln, Faden, Fingerhut, Schere, eine Zunderschachtel und ein zweites Messer, kleiner als das an ihrem Gürtel. Dazu Seife und Badesalz und... Es war lächerlich, im Geist die ganze Liste nochmals durchzugehen. Egwenes Steinring lag sicher in ihrer Gürteltasche. Sie war aufbruchbereit. Es gab nichts, was sie noch hier halten konnte.

»Nein, hat er nicht.« Elayne war stolz darauf, wie ruhig und gesammelt sie wirkte. Er schien beinahe erleichtert! Erleichtert! Und ich mußte ihm diesen Brief in die Hand drücken, ihm mein ganzes Herz öffnen wie eine blinde Närrin, die ich bin. Nun, wenigstens wird er ihn nicht öffnen, bevor ich weg bin. Sie fuhr zusammen, als Nynaeves Hand sich auf ihre Schulter legte.

»Hast du dir gewünscht, daß er dich bittet hierzubleiben? Du weißt doch selbst, was du geantwortet hättest. Oder?« Elayne preßte die Lippen aufeinander. »Natürlich. Aber er mußte deswegen nicht gleich so glücklich dreinschauen.« Das hatte sie eigentlich nicht sagen wollen.

Nynaeve blickte sie verständnisvoll an. »Männer sind selbst in besten Zeiten noch schwierig.« »Ich kann immer noch nicht glauben, daß er so... so...«, begann Egwene in ärgerlichem Tonfall. Doch Elayne erfuhr nie, was sie hatte sagen wollen, denn in diesem Augenblick wurde die Tür so heftig aufgestoßen, daß sie gegen die Wand krachte und zurückprallte.

Elayne griff nach Saidar, bevor sie noch zusammengezuckt war, doch dann fühlte sie Verlegenheit in sich aufsteigen, als Lans ausgestreckte Hand die zurückprallende Tür abfing. Nach einem weiteren Augenblick jedoch beschloß sie, noch ein wenig an der Macht festzuhalten. Der Behüter füllte mit seinen breiten Schultern die ganze Tür aus. Sein Gesichtsausdruck glich dem eines heranstürmenden Gewitters. Hätten seine Augen Blitze schleudern können, dann wäre Nynaeve wohl nun verglüht. Auch Egwene war vom Glühen Saidars umhüllt und dachte nicht daran, es aufzugeben.

Lan schien nur Augen für Nynaeve zu haben und beachtete die beiden anderen Frauen gar nicht. »Du hast mich in dem Glauben gelassen, ihr würdet nach Tar Valon zurückkehren!« fuhr er sie an.

»Das hast du vielleicht geglaubt«, sagte sie ruhig, »aber ich habe das nie behauptet.« »Nie behauptet? Nie behauptet? Du hast davon erzählt, daß ihr heute aufbrecht und das immer im Zusammenhang damit, daß diese Schattenfreunde nach Tar Valon gebracht werden. Immer! Was hast du mich glauben machen wollen?« »Aber ich habe nie gesagt... « »Licht, Frau!« brüllte er. »Verdrehe mir nicht das Wort im Mund!« Elayne tauschte einen besorgten Blick mit Egwene. Dieser Mann verfügte über eine eiserne Selbstkontrolle, doch nun war er offensichtlich am Zerbrechen. Nynaeve war sonst diejenige, deren Gefühle mit ihr durchgingen, aber jetzt sah sie ihn ganz kühl an, den Kopf hoch erhoben und Gelassenheit im Blick. Die Hände lagen auf ihrem grünseidenen Rock.

Lan beherrschte sich mühsam. Schnell kehrte seine sonstige steinerne Miene zurück. Er hatte sich offensichtlich wieder unter Kontrolle, doch Elayne war sicher, daß dies nur nach außen hin der Fall war. »Ich hätte nicht einmal gewußt, wohin ihr fahrt, wenn ich nicht gehört hätte, daß ihr eine Kutsche bestellt habt, um euch zu einem Schiff nach Tanchico zu bringen. Ich weiß nicht, warum euch die Amyrlin überhaupt gestattete, die Burg zu verlassen, oder warum euch Moiraine einsetzte, um die Schwarzen Schwestern zu verhören, aber ihr drei seid eben Aufgenommene. Aufgenommene, und keine Aes Sedai. Tanchico ist im Augenblick kein Ort für andere als Aes Sedai mit einem Behüter, der ihnen den Rücken deckt. Ich lasse dich dort nicht hin!« »Tatsache?« sagte Nynaeve leichthin. »Du stellst Moiraines Entscheidungen in Frage und auch noch die der Amyrlin. Vielleicht habe ich die Behüter bisher falsch gesehen. Ich glaubte, ihr schwört, zu akzeptieren und zu gehorchen — neben anderen Dingen. Lan, ich verstehe ja deine Sorge, und ich bin dankbar dafür — mehr als dankbar —, aber wir alle haben Aufgaben zu erfüllen. Wir brechen auf, und du mußt diese Tatsache hinnehmen.« »Warum? Um des Lichts willen, du mußt mir wenigstens sagen, warum! Ausgerechnet nach Tanchico!« »Wenn Moiraine dir das nicht gesagt hat«, sagte Nynaeve sanft, »hat sie vielleicht ihre Gründe dafür. Wir müssen unsere Aufgabe erfüllen, so wie du deine.« Lan zitterte. Er zitterte tatsächlich! Dann schloß er energisch den Mund. Als er schließlich wieder sprach, kamen die Worte eigenartig zögernd heraus: »Ihr werdet jemanden brauchen, der euch in Tanchico hilft. Jemand, der die Straßenräuber aus Tarabon davon abhält, euch ein Messer in den Rücken zu stoßen, um an eure Geldbeutel zu kommen. Tanchico war schon eine solche Stadt, bevor der Krieg begann, und allen Informationen nach geht es dort mittlerweile noch viel schlimmer zu. Ich könnte... Ich könnte dich beschützen, Nynaeve.« Elaynes Augenbrauen schossen hoch. Er wollte doch wohl nicht vorschlagen... Das konnte einfach nicht sein.

Nynaeve ließ sich nichts anmerken, daß er etwas Außergewöhnliches gesagt hatte. »Dein Platz ist bei Moiraine.« »Moiraine.« Schweiß stand auf dem harten Gesicht des Behüters. Er kämpfte mit den Worten. »Ich kann... ich muß... Nynaeve, ich... ich... « »Du wirst bei Moiraine bleiben«, sagte Nynaeve in scharfem Ton, »bis sie dich von deinem Eid entbindet. Du tust, was ich sage.« Sie zog ein sorgfältig gefaltetes Blatt aus ihrer Tasche und gab es ihm in die Hand. Er runzelte die Stirn, las, was darauf stand, blinzelte und las es noch mal.

Elayne wußte, was darauf stand.

Was die Trägerin tut, geschieht auf meinen Befehl hin, und ich trage dafür die Verantwortung.

Gehorcht und schweigt gemäß meinem Befehl.

Siuan Sanche Wächterin über die Siegel Flamme von Tar Valon Der Amyrlin-Sitz

Ein weiterer Brief gleichen Wortlauts steckte in Egwenes Tasche, aber beide waren nicht sicher, daß ihnen das Schreiben dort etwas nützen würde, wo sie sich hinbegaben. »Aber das gestattet euch ja, alles zu tun, was euch gefällt«, protestierte Lan. »Ihr könnt im Namen der Amyrlin sprechen! Wieso gibt sie einer Aufgenommenen so etwas in die Hand?« »Stelle mir keine Fragen, denn ich kann sie nicht beantworten«, sagte Nynaeve. Dann fügte sie mit der Andeutung eines Grinsens hinzu: »Schätze dich lieber glücklich, daß ich dir nicht befehle, nach meiner Pfeife zu tanzen.« Elayne unterdrückte ein Lächeln. Egwene gab einen erstickten Laut von sich, als habe sie ihr Lachen gerade heruntergeschluckt. Das waren die Worte gewesen, die Nynaeve benutzt hatte, als ihnen die Amyrlin die Schreiben aushändigte. Damit könnte ich einen Behüter nach meiner Pfeife tanzen lassen. Keine von ihnen hatte damals Zweifel gehabt, welchen Behüter sie im Sinn hatte.

»Tust du das nicht? Du stellst mich glatt in die Ecke. Mein Eid, und damit hat sich's. Und dieser Brief.« Lan hatte ein gefährliches Funkeln im Blick, das Nynaeve nicht zu bemerken schien, als sie ihm den Brief wieder abnahm und in ihre Gürteltasche zurücksteckte.

»Du bist so selbstgerecht, al'Lan Mandragoran. Wir tun, was wir tun müssen, und du wirst dich nicht anders verhalten.« »Selbstgerecht, Nynaeve al'Meara? Ich bin selbstgerecht?« Lan bewegte sich so schnell auf Nynaeve zu, daß ihn Elayne beinahe unwillkürlich mit Strängen der Luft gefesselt hätte. Im ersten Augenblick stand Nynaeve da und hatte gerade noch Zeit, die Augen aufzureißen, als der hochgewachsene Mann auf sie zusprang, und im nächsten baumelten ihre Schuhe einen Fuß über dem Boden, und sie wurde gründlichst geküßt. Zuerst trat sie ihm ans Schienbein, hämmerte mit den Fäusten auf ihn ein und gab erstickte, wütende Protestlaute von sich, doch dann wurden ihre Tritte schwächer und hörten ganz auf. Schließlich hielt sie sich an seinen Schultern fest und protestierte absolut nicht mehr.

Egwene senkte verlegen den Blick, aber Elayne sah interessiert zu. Hatte sie genauso ausgesehen, als Rand... Nein! Ich werde nicht an ihn denken. Sie fragte sich, ob noch Zeit war, ihm einen weiteren Brief zu schreiben, in dem sie alles zurücknahm, was sie im ersten geschrieben hatte und ihn wissen ließ, daß er sie nicht so auf die leichte Schulter nehmen dürfe. Aber wollte sie das wirklich?

Nach einer Weile stellte Lan Nynaeve wieder auf den Boden. Sie schwankte ein wenig, doch dann strich sie sich Kleid und Haare wütend glatt. »Du hast kein Recht...«, begann sie etwas atemlos, schluckte jedoch dann erst einmal. »Ich lasse mich doch nicht so vor aller Welt... be... behandeln! Das lasse ich mir nicht gefallen!« »Nicht vor aller Welt«, antwortete er. »Aber wenn sie zuschauen können, können sie es auch ruhig hören. Du hast einen Platz in meinem Herzen gewonnen, obwohl ich glaubte, dort sei kein Raum für eine Frau. Du hast Blumen erblühen lassen, wo ich nur Staub und Steine düngte. Denk daran auf dieser Reise, die du unbedingt unternehmen willst. Falls du stirbst, werde ich dich nicht lang überleben.« Er schenkte Nynaeve eines seiner seltenen Lächeln. Das ließ sein Gesicht nicht unbedingt weicher erscheinen — nur etwas weniger hart. »Und denke auch daran, daß ich mich nicht immer so leicht herumkommandieren lasse, nicht einmal mit einem Brief der Amyrlin in der Hand.« Er machte eine elegante Verbeugung. Einen Moment lang glaubte Elayne sogar, er wolle auf ein Knie herabsinken und Nynaeves Ring mit der Großen Schlange küssen, doch das ließ er bleiben. »Wie Ihr befehlt«, murmelte er, »so werde ich gehorchen.« Es war schwer zu sagen, ob er das spöttisch meinte oder ernst.

Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sank Nynaeve auf ihre Bettkante, als versagten ihr nun endlich die Knie. Sie blickte mit nachdenklich gerunzelter Stirn die Tür an.

»›Wenn du den friedlichsten Hund einmal zu oft trittst‹«, zitierte Elayne, »›dann beißt er.‹ Nicht, daß Lan besonders friedlich ist.« Sie bekam einen scharfen Blick und ein Schniefen von Nynaeve ab.

»Er ist unerträglich«, sagte Egwene. »Manchmal ist er das wirklich. Nynaeve, warum hast du das getan? Er war bereit, mit dir zu kommen. Ich weiß, daß du nichts lieber tätest, als ihn von Moiraine wegzuholen. Streite es gar nicht erst ab.« Nynaeve stritt es nicht ab. Statt dessen fummelte sie an ihrem Kleid herum und strich die Bettdecke glatt. »Nicht auf diese Art«, sagte sie schließlich. »Ich will, daß er mir gehört. Der ganze Lan. Ich werde nicht zulassen, daß er immer einen Meineid Moiraine gegenüber mitschleppt. Das darf nicht zwischen uns stehen. Das ist wichtig für ihn und auch für mich.« »Aber wird sich das ändern, wenn du ihn dazu bringst, daß er Moiraine bittet, ihn von seinem Eid zu entbinden?« fragte Egwene. »Lan ist die Art von Mann, die das genauso betrachtet wie du. Es bleibt eigentlich nichts anderes übrig, als sie irgendwie dazu zu bringen, daß sie ihn aus eigenem Antrieb laufen läßt. Wie könntest du das erreichen?« »Ich weiß nicht.« Nynaeve atmete durch und ihre Stimme klang wieder fester: »Aber was sein muß, kann erreicht werden. Es gibt immer einen Weg. Doch das wird später kommen. Es gibt Arbeit zu tun, und wir sitzen hier und klatschen über Männer. Bist du sicher, daß du alles eingepackt hast, was du in der Wüste brauchst, Egwene?« »Aviendha richtet alles her«, sagte Egwene. »Sie scheint immer noch unglücklich, aber sie sagt, wir könnten Rhuidean in wenig mehr als einem Monat erreichen, wenn wir Glück haben. Ihr werdet dann auch in Tanchico sein.« »Vielleicht früher«, sagte Elayne, »falls es stimmt, was man sich über die Schiffe des Meervolks erzählt. Du wirst doch vorsichtig sein, Egwene? Selbst mit einer Aviendha als Führerin ist die Wüste noch lange kein sicherer Ort.« »Werde ich. Ihr aber bitte auch. Beide! Tanchico ist wohl auch jetzt kaum sicherer als die Wüste.« Plötzlich lagen sie sich alle in den Armen, mahnten sich immer wieder gegenseitig zur Vorsicht und versicherten sich, ihren Plan genau im Kopf zu haben, wie sie sich in Tel'aran'rhiod treffen wollten — im dortigen Stein von Tear.

Elayne wischte sich Tränen von den Wangen. »Gut, daß Lan gegangen ist und das nicht sieht.« Sie lachte melodisch. »Er würde uns alle für närrisch halten.« »Nein, würde er nicht«, warf Nynaeve ein. Sie war dabei, ihren Rock hochzuziehen, um einen Beutel mit Gold in die eingenähte Tasche zu stecken. »Er ist wohl ein Mann, aber doch nicht völlig gefühllos.« Es mußte doch ein wenig Zeit bleiben, bevor die Kutsche abfuhr, sagte sich Elayne, und da wollte sie Papier und eine Feder auftreiben. Sie würde sich die Zeit nehmen. Nynaeve hatte recht. Männer brauchten eine feste Hand. Rand würde schon merken, daß er ihr nicht so schnell entkommen konnte. Und er würde feststellen, wie schwer es war, ihre Gunst wiederzuerlangen.

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